p-4H. HöffdingF. MauthnerW. SchuppeWindelbandR. Hönigswald     
 
BENNO ERDMANN
Umrisse zur
Psychologie des Denkens

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"Es ist ein alter, immer wieder auflebender Fehler der Logiker, die Forderungen für das der logischen Normierung unterstehende vollständig formulierte Denken so zu gestalten, als ob dieses das allein wirkliche, ein unvollständig formuliertes Denken also ausgeschlossen sei. Sie haben dadurch nicht nur, ihren logischen Gesichtskreis ungehörig verengt, sondern auch die psychologische Betrachtung des Denkens vielfach gestört."

"Die Logik beschneidet sich ihre Aufgabe, die Weisen des wissenschaftlichen Denkens zu normieren, selbst ungehörig, wenn sie die  Fragen,  in denen wir jedes Problem als solches, als etwas der Lösung Bedürftiges, zu formulieren haben, aus ihrem Gebiet ausscheidet. Sie verschließt sich, wo sie so verfährt, der unerläßlichen Aufgabe, die Antriebe für die fortschreitende Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu normieren. Sie vermöchte bei einem solchen Ausschluß nicht einmal allgemeingültige Formen für ihre eigenen Fragestellungen zu finden. Die Logik ist demnach nicht nur in der Lage, sondern sogar verpflichtet, die grundlegenden Operationen des Denkens so zu fassen, daß sie die Fragen mitenthalten. Analoges gilt endlich auch von Prädikationen, in denen wir nicht aussagen, was ist, war, sein kann oder sein wird, sondern was sein  soll  oder was dem vorgestellten Sollen widersprechend geschieht, geschehen ist oder geschehen wird. Diese gehören ebenfalls zum Bestand des Denkens und zwar in allen Abstufungen von der Formulierung des leisesten Wunsches oder der schwächsten Hoffnung an bis zu der Formel für einen allgemeingültigen kategorischen Imperativ."

Andere Arten  des Denkens ergeben sich nämlich, wenn wir jede der beiden Vorstellungsreihen, die sich im vollständig formulierten Denken prädikativ verflechten, durch die Abstufungen hindurch verfolgen, die ihnen eigen sind. Die eine von ihnen bleibt  innerhalb der Funktionen der Sprache die anderen führen in entgegengesetzten Richtungen  aus dem Sprachleben hinaus. 

Für die erste dieser Arten, also eine  zweite  Art des Denkens, ist daran zu erinnern, daß die Wahrnehmungsurteile, durch die das vollständige Denken tief in das Gebiet der Wahrnehmung hineinschneidet, zwar eine grundlegende Form der prädikativen Urteile bilden, aber doch nur einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtgebiet des formulierten Urteilens ausmachen. In zahlreichen Fällen sind uns die Gegenstände unserer Urteile nicht als gegenwärtig wahrgenommene, sondern teilweise oder vollständig als Gegenstände des Erinnerns, Einbildens oder der Abstraktion gegeben. Nicht notwendig heben ferner die reproduktiven Vorgänge, die zum vollständigen formulierten Urteil führen, wie wir bisher vorausgesetzt haben, mit dem sachlichen Inhalt der Prädikation an. In den nicht minder zahlreichen Fällen des entwickelten Sprachlebens, in denen wir Urteile aufgrund von lautlicher oder schriftlicher  Mitteilung,  also aufgrund von akustischen oder optischen Wortwahrnehmungen bilden, geht die Reproduktion den umgekehrten Weg, wird sie also von den Wortvorstellungen aus herbeigeführt. In den erstgenannten wie in diesen Fällen ist es eine häufig, leicht und sicher konstatierbare Tatsache, daß die Reproduktion, sei es unmittelbar im Erinnern, sei es mittelbar in der Einbildung oder Abstraktion, die sachlichen Elemente des Urteils, die Bedeutungsinhalte der Worte,  nicht vollständig  über die Schwelle des Bewußtseins hebt. Wir verstehen das Gehörte oder Gelesene tausendfach, ohne daß die Bedeutungen, die den wahrgenommenen Worten entsprechen, uns durchgängig bewußt, d. h. als Vorstellungen gegenwärtig sind. Dies geschieht umso sicherer, je geläufiger uns die sachlichen Inhalte sind, je schneller uns die Worte entgegengebracht oder von uns gelesen werden, je weniger wir Anlaß finden, diesen Inhalten unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das Gleiche tritt ein, wenn wir uns lautlos, im stillen Denken oder laut, etwa im vorbereiteten Vortrag oder im Gespräch, geläufige Gedankengänge formulieren. In allen Gestalten kann diese Verkürzung der Bedeutungsreproduktionen eintreten: von einzelnen Lücken in den Bedeutungen des Gehörten oder Gesprochenen an bis zu den gar nicht seltenen Fällen, in denen die Worte gegeben sind oder sich einstellen, verstanden oder sinnvoll gebraucht werden, während kaum eine Spur der "Begriffe", die sie bedeuten, in unserem Vorstellen gegenwärtig ist.

Es ist klar, wie diese Tatsachen zu deuten sind. Es handelt sich um allbekannte Wirkungen der Gewohnheit, die für unser Vorstellen nicht minder bedeutsam sind, als für unsere Bewegungen. Die Besonderheit dieser Wirkungen im Vorstellungsleben wird verständlich, wenn wir uns die Reproduktionsvorgänge verdeutlichen, die trotz der Lücken oder dem Ausbleiben der Bedeutungsrepräsentation postuliert werden müssen.

Eine terminologische Bestimmung sei vorangestellt. Wir haben stillschweigend die jetzt landläufige Dreiteilung der seelischen Vorgänge in Gefühle, Vorstellungen und Willensvorgänge benutzt, weil uns hier der Anlaß fehlt, die notwendige Reduktion vorzunehmen. Dementsprechen haben wir, was auch nach einer solchen Reduktion gültig bleibt, die Wahrnehmungen - selbstverständlich mit Einschluß der Wahrnehmungen spezifischer Worte - den Vorstellungen zugeordnet. Die Wahrnehmungsinhalte sind ja gegenständlich im eigentlichsten Sinne; sie sind überdies im entwickelten seelischen Leben ausnahmslos durch apperzeptive Verschmelzungen mitbedingt und in ihrem Bestand fast stets von assoziativen oder apperzeptiven Ergänzungen durchzogen. Das Gemeinsame, das dem nach seinem Material unterschiedenen Vorstellen in allen seinen Arten, als dem Wahrnehmen, Erinnern, Einbilden, Abstrahieren und den auf ihnen sich aufbauenden Komplikationen, sowie unserem Fühlen und Wollen innewohnt, soweit alle diese Vorgänge als gegeben vorausgesetzt werden, bezeichnen wir hier mit dem Wort  Bewußtsein Wir gebrauchen das Wort "Bewußtsein" daher in einem Sinne, der psychologisch mehrfach verwendet worden, jedoch nicht allgemein aufgenommen ist. Er ist vielmehr nicht allein vom Sprachgebrauch des praktischen Vorstellens, sondern auch vom medizinischen, sowie denjenigen psycho-physiologischen unterschieden, denenzufolge das Bewußtsein mit dem "assoziativen Gedächtnis" zusammenfällt oder nach der verwirrenden Terminologie angesehener Tierphysiologen nur die verwickelteren seelischen Vorgänge bezeichnet, die den Wirbeltieren eigen sind. Wie jenes Vorstellen, Fühlen und Wollen als  Bewußtsein,  so bezeichnen wir die Vorstellungs-, Gefühls- und Willensinhalte als  bewußt,  verwenden also Bewußtsein und bewußt im logischen Sinne von Wechselbegriffen. Das Bewußtsein ist daher in diesem Sinn nichts unmittelbar Gegebenes, sondern ein nur durch gleichviel wie ausführbare Abstraktion gewinnbares Gemeinsames, der Gattungsbegriff zu den seelischen Vorgängen, die wir in den einzelnen Vorstellungen, Gefühlen und Willensvorgängen unmittelbar als wirklich erleben.

Von hier aus haben wir festzuhalten, daß wir nur das als im Bewußtsein gegeben ansehen dürfen, was im Bestand unseres Vorstellens, Fühlens oder Wollens als Glied nachweisbar ist. Fehlen demnach unter dem geschilderten Einfluß der Gewohnheit die Bedeutungsinhalte des formulierten Denkens teilweise oder ganz im Bereich unseres Vorstellens, so haben wir zu sagen, sie sind nicht bewußt oder  unbewußt.  Wir wollen diese Art des Denkens als  unvollständiges formuliertes  bezeichnen.

Über die notwendige Forderung, die sich aus diesem Bestand des unvollständigen formulierten Denkes ergibt, kann kein Streit bestehen. Die Wirkungen, die den Bedeutungsinhalten im vollständig formulierten Denken zukommen, fallen im unvollständig formulierten Denken nicht aus. Wir verstehen auch in seinem Verlauf das Gehörte oder Gelesene. Ebenso bleibt in ihm das sinnvolle Eigensprechen und Eigenschreiben sowie ein sinnvoller stiller Sprachverlauf für die im Bewußtsein ausfallenden Bedeutungen bestehen. Kraft der Gewohnheitswirkungen, die es voraussetzt, vollzieht sich sogar das Verständnis oder der sachliche Zusammenhang in diesem Denken schneller und im allgemeinen sicherer, als beim vollständig formulierten die Regel ist. Die Funktionen, die im vollständigen Verlauf des formulierten Denkens von Bedeutungen ausgeübt werden, fallen demnach im unvollständigen den Gedächtnisresiduen dieser Bedeutungen zu, mit denen die im Bewußtsein auftretenden spezifischen Wortvorstellungen assoziativ verknüpft sind. Nach den Regeln der assoziativen Reproduktion sind jene Residuen durch den Bewußtseinsverlauf der spezifischen Wortvorstellungen gleichfalls erregt, obgleich diese reproduktive Erregung kein Bedeutungsbewußtsein erzeugt. Sie müssen als als  unbewußt erregt  postuliert werden. Und die Symptome dieser Erregung machen sich im Bewußtsein bemerkbar. Entgegen den gleichsam ruhenden Gedächtnisresiduen, die mit dem gegenwärtigen Bewußtseinsbestand nur wie in weiter Ferne assoziativ verknüpft sind, melden sie sich als  Dispositionen  möglichen Bedeutungsbewußtseins, sobald die unbewußt machenden Gewohnheitswirkungen irgendwie aufgehoben werden, z. B. durch anschwellende Aufmerksamkeit auf den Bedeutungsbestand.

Durch welche Hypothesen wir diese Forderung unbewußt bleibender reproduktiver Erregung der Bedeutungsresiduen zu erfüllen haben, ist eine Aufgabe weiterer, hier abliegender Untersuchung. Es ist bekannt, wie verbreitet die Neigung ist, jene Residuen als rein körperliche und diese ihre Erregung als rein mechanische anzunehmen. Aber diese Meinung kann gerade von den Daten des Sprachlebens aus, die im unvollständigen formulierten Denken vorliegen, sowie in Rücksicht auf die Postulate für den mechanischen Zusammenhang der physiologischen Lebensvorgänge als unhaltbar aufgewiesen werden. Auch ich habe einen solchen Beweis an anderem Ort zu geben versucht; ebenso neuerdings RICHARD HERBERTZ.

Es ist ein alter, immer wieder auflebender Fehler der Logiker, die Forderungen für das der logischen Normierung unterstehende vollständig formulierte Denken so zu gestalten, als ob dieses das allein wirkliche, ein unvollständig formuliertes Denken also ausgeschlossen sei. Sie haben dadurch nicht nur, wie gleich zu zeigen sein wird, ihren logischen Gesichtskreis ungehörig verengt, sondern auch die psychologische Betrachtung des Denkens vielfach gestört. Denn sie haben dadurch die Neigung unterstützt, die tatsächlichen Vorgänge des Denkens nach dem Schema der logischen Normierungen zu deuten. Man darf allerdings nicht sagen, daß HELMHOLTZ in seiner Hypothese der "unbewußten Schlüsse" dieser Neigung erlegen sei. Er hat vielmehr schon in seinen älteren Auslassungen deutlich hervorgehoben, daß er mit jener Annahme nicht Vorstellungsvorgänge beschreiben und erklären, sondern lediglich den Sinn ihrer Gültigkeit ableiten wollte. Aber er hat in der Tat nicht versucht, die Postulate zu erörtern, auf die sich die psychologische Theorie der reproduktiven Einflüsse in das Wahrnehmen aufzubauen hat. So blieb der Ausdruck mißverständlich, ganz abgesehen davon, daß bei den logischen und erkenntnistheoretischen Prüfungen der Wahrnehmung durchaus nicht bloß induktive und Analogieschlüsse als Geltungsformulierungen in Betracht kommen und die Berufung auf STUART MILLs Theorie der Induktion gewiß nicht geeignet war, der ganzen Deutung Halt zu geben.

Auch die Logik hat auf dieses unvollständige formulierte Denken vielmehr schon deshalb Rücksicht zu nehmen, weil es durch fließende Übergänge mit dem vollständig formulierten verbunden ist, ja sogar im entwickelten Bewußtsein tatsächlich die Regel des formulierten Denkens bildet. Das vollständig formulierte Denken ist eine Ausnahme und zwar eine seltene Ausnahme. Sobald der gegenständliche Urteilsbestand über eine vorliegende Wahrnehmung hinausgeht, wird es ein der logischen Norm entsprechender Grenzfall des unvollständigen formulierten Denkens. Anders gefaßt: die extremen Formen des unvollständig und des vollständig formulierten Denkens sind konträr entgegengesetzte repräsentative Typen; der tatsächliche Verlauf des formulierten Denkens vollzieht sich in Zwischenformen zwischen beiden.

Von hier aus hat die Logik die Bedeutung dieses unvollständigen Denkens in ihrer Methodenlehre zu würdigen und zwar in zweifacher Hinsicht. Es vereinigt fürs erste in sich alle die Bande, die unser Denken an den Bestand der Überlieferung fesseln. Alles das Selbstverständlich, Unbesehene, Ungeprüfte, mit dem uns der gewohnte Bestand des Lebens und Erkennens umschlingt, gehört in seinen Bereich. Ebenso stecken in ihm die Fesseln des individuellen Irrtums in allen seinen Variationen, vom flüchtigen Übersehen an bis in jene Regionen der Gefühls- und Willenseinflüsse, die uns zu Sophisten unserer Wünsche und Neigungen, unserer Hoffnungen und Befürchtungen, unserer Begeisterung für die Sache - und unseres Egoismus machen, von dem noch kein Streit auch über wissenschaftliche Überzeugungen freigeblieben ist. Das unvollständige formulierte Denken ist jedoch nicht bloß ein Zeichen unserer geistigen Schwäche, sondern zugleich eine Funktion unserer intellektuellen Stärke. Es muß als eine Wirkung der verkürzenden, Zeit und Arbeit ersparenden Energie der Sprache angesehen werden, deren Symbolik unser Denken den dürftigen Ansätzen zu einem solchen im Leben der Tiere weit überlegen macht. Wir werden uns allerdings hüten, diese Wirkungen in einem der Mechanik entlehnten "Gesetz" des kleinsten Kraftmaßes oder der Sparsamkeit oder Ähnlichem zusammenzufassen. So einfach, daß sie in einem solchen Pseudogesetz auf einen kurzen und zugleich treffenden Ausdruck gebracht werden könnten, sind diese Vorgänge des beseelten Lebens so wenig wie die anderen geistigen Veränderungen, die man derartigen Formeln unterstellt hat.

Als das Gemeinsame der beiden bisher beschriebenen Arten des Denkens, des vollständigen wie des unvollständigen formulierten, ergibt sich demnach für die psychologische Analyse die sprachliche, prädikative Verknüpfung mit allen den Zwischenformen, die diese Gliederung als eine Typen-Einteilung erweisen.

Damit sind wir wiederum vor die Frage gestellt, die wir schon zweimal berührt haben. Dürfen wir nämlich nach dem Vorstehenden das Recht zu dieser Zusammenfassung zweier Arten des formulierten Denkens zum formulierten Denken überhaupt als gesichert ansehen, so ist doch unentschieden geblieben, inwieweit diese weite Fassung des formulierten Urteils die logischen Normierungen für das Urteil freiläßt.

Unser Ausgehen von der formulierten bejahenden Aussage zeigt sich nur dann als gerechtfertigt, wenn alle Arten der Urteile, deren Geltungsbedingungen die Logik aufzuweisen und systematisch abzuleiten hat, sich als Verzweigungen dieses Stammes erkennen lassen. Es ist Aufgabe der Logik, diesen Zusammenhang darzulegen. Ich hebe aus dem Lösungsversuch, den ich an einem anderen Ort gegeben habe, nur die leitenden Gedanken heraus.

Aus der vorstehenden psychologischen Analyse folgt fürs erste, daß  jede  Aussage in das Gebiet des Urteils hineinzunehmen ist, also jeder Inbegriff von Vorstellungen, deren Gegenstände als Subjekt und Prädikat durch Wortvorstellungen aufeinander bezogen sind. Demnach gehören nicht nur die prädikativen Behauptungen jeder Art, die Bejahungen, sowie die Verneinungen, d. i. Aussagen, in den wir das Mißlingen einer versuchten Bejahung formulieren, in den Umkreis der Urteile, sondern auch drei Gruppen von Aussagen, die in ihren typischen Repräsentanten von den Behauptungen wohl zu unterscheiden sind: die prädikativen  Benennungen,  die  Fragen,  sowie die  Wunsch-,  Befehls- und Ausrufformulierungen. Die behauptenden Aussagen sind, wenn auch in unzulässiger Koordination der Verneinungen mit den Bejahungen und in sehr verschiedener Anordnung ihrer Verzweigungen mit den Bejahungen und in sehr verschiedener Anordnung ihrer Verzweigungen, stets den Urteilen eingeordnet worden. Die Benennungen, die Fragen und die imperativen Formulierungen im weitesten Sinne haben dagegen ein verschiedenartiges logisches Schicksal gehabt.

Die  Benennungen  oder Nominaldefinitionen sind von der Logik seit alters her neben den Behauptungen als Urteile anerkannt, wennschon von jenen zumeist nicht reinlich unterschieden worden. Gegen die Einfügung der  Fragen,  natürlich der eigentlichen, im wissenschaftlichen Denken der adäquaten Formulierungen für Probleme, erhebt sich jedoch fast die gesamte logische Überlieferung. Indessen zu Unrecht. Dafür zeugt erstens, daß sie sich von den Behauptungen gar nicht trennen lassen: die hyothetisch-problematischen Urteile, durch die wir unser Nichtwissen formulieren (der Mars kann Bewohner haben), stehen mit den Fragen, die in ihrer prädikativen Form ebenfalls die Unwissenheit urteilsmäßig gestalten, jedoch durch den Antrieb zum Wissen mitbedingt sind, auf gleicher Stufe und sind nur durch dieses Wissenwollen von den hypothetisch-problematischen Aussagen getrennt. Ebensowenig ist die ebengenannte Art problematischer Urteile von den problematischen Urteilen realer Möglichkeit scharf zu sondern. Dazu kommt, daß die Logik sich ihre Aufgabe, die Weisen des wissenschaftlichen Denkens zu normieren, selbst ungehörig beschneidet, wenn sie die Fragen, in denen wir jedes Problem als solches, als etwas der Lösung Bedürftiges, zu formulieren haben, aus ihrem Gebiet ausscheidet. Sie verschließt sich, wo sie so verfährt, der unerläßlichen Aufgabe, die Antriebe für die fortschreitende Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu normieren. Sie vermöchte bei einem solchen Ausschluß nicht einmal allgemeingültige Formen für ihre eigenen Fragestellungen zu finden. Die Logik ist demnach nicht nur in der Lage, sondern sogar verpflichtet, die grundlegenden Operationen des Denkens so zu fassen, daß sie die Fragen mitenthalten. Analoges gilt endlich auch von der  dritten  obengenannten Gruppe von Prädikationen, in denen wir nicht aussagen, was ist, war, sein kann oder sein wird, sondern was sein  soll  oder was dem vorgestellten Sollen widersprechend geschieht, geschehen ist oder geschehen wird. Diese gehören ebenfalls zum Bestand des Denkens und zwar in allen Abstufungen von der Formulierung des leisesten Wunsches oder der schwächsten Hoffnung an bis zu der Formel für einen allgemeingültigen kategorischen Imperativ. Aber die logische Tradition weiß nur die Imperative im engeren Sinn als selten genauer geprüfte Denkformen aufzuführen; die oben genannten Vorstufen zu ihnen mitzubeachten hat sie unter ihrer Würde gehalten.

Auf eine zweite logische Konsequenz unserer psychologischen Begrenzung, daß nämlich alle Urteile, die der logischen Normierung unterstehen, auf Prädikationen zurückzuführen sind, sei hier nur hingewiesen. Sie versteht sich insofern von selbst, als die Logik - wie jede Wissenschaft - von gar keinem Urteil Notiz nehmen kann, das sie nicht zu formulieren vermöchte und - wie jede Wissenschaft - kein Urteil zu formulieren vermag, ohne es in seinen Elementen prädikativ zu gestalten. Es kann deshalb nicht in diesem Sinne gleichsam subprädikative Urteile geben. Auch die Existenzialsätze sowie die sogenannten Impersonalien zeigen in ihrem logisch gefaßten Bestand den Stempel des prädikativen Gefüges. Es ist nach allem Vorstehenden leicht deutlich, daß die von manchen Logikern behauptete Prädikatlosigkeit der ersten ebenso wie die grammatisch verfochtene Subjektlosigkeit der zweiten einen Widerspruch in sich selbst einschließt. Und dies angesichts der Tatsache, daß keines dieser Urteile jemals als prädikat- oder subjektlos angesehen worden ist, ohne zugleich prädikativ gefaßt, sprachlich formuliert vorgelegen zu haben! Ebensowenig aber bietet sich innerhalb der Grenzen logischer Normierung das Recht, gleichsam transprädikative Urteile anzunehmen. Die einzigen, die hier für das formulierte Denken in Betracht kommen könnten, sind die hypothetischen Gefüge, die aus dem Inbegriff der elementaren Urteile und der gleichfalls prädikativen Beurteilungen, sowie der disjunktiven Gefüge ausgeschieden werden müssen. Aber sie sind doch nur deshalb von allen diesen Urteilsformen zu trennen, weil in ihren repräsentativen Formen der Zusammenhang von Grund und Folge die Stelle der prädikativen Beziehung einnimmt, also die Funktion der logischen Kopula erhält. Daraus erwächst jedoch lediglich die Aufgabe zu fragen, inwieweit wesentliche Elemente der prädikativen Beziehung, wie sie die Logik in ihrer oben berührten Urteilstheorie festzulegen hat, in der Konsequenz-Verknüpfung der logisch grundlegenden hypothetischen Kombinationen erhalten bleiben. Und die logische Beantwortung dieser Frage läßt erkennen, daß nur die psychologisch wie logisch gleich ausgeschlossenen Umfangstheorien des formulierten Urteils die Reduktion unzulänglich machen, daß dagegen vom Standort der Einordnungstheorie die analytische Beziehung, die das Prädikat mit dem prädikativen Subjektsinhalt in jeder Aussage verbindet, in der hypothetischen Konsequenz-Beziehung erhalten bleibt.

Die prädikative Urteilstheorie ist demnach in der Tat in der Lage, die grundlegenden Arten des formulierten Denkens zu umspannen. Trotzdem hat der Versuch sie durchzuführen nicht nur in einzelnen Punkten, sondern prinzipiellen Widerspruch gefunden.

Ginge dieser Widerspruch lediglich daraus hervor, daß die psychologische Einsicht in das Wesen des formulierten Denkens nach wie vor unberücksichtigt bliebe, so wäre alles weitere der Entwicklung dieses jüngsten Gebietes der neueren psychologischen Forschung überlassen. Es läßt sich jedoch nicht verkennen, daß er auf einem tieferen Grund beruth. Der tatsächliche Bestand unseres Vorstellens läßt erkennen, daß das formulierte Denken in seinen beiden besprochenen Arten das Wesen des Denkens, das sich wissenschaftlich wie praktisch betätigt, nicht erschöpft.

Aus psychologischen Gründen sind wir nicht weniger als aus logischen und erkenntnistheoretischen gezwungen, den Begriff des Denkens weit über die Grenzen der Prädikation hinaus zu erweitern. Die psychologischen Gründe hierfür liegen in eben den Aufstellungen, die uns zur prädikativen Fassung des formulierten Denkens führten. Sie werden deutlich, sobald wir den Daten nachgehen, die aus den  sachlichen  Vorstellungsreihen der prädikativen Verflechtungen abfließen, den Weg also einschlagen, der nach dem obigen zu einer  dritten  Art des Denkens leitet, wenn wir das vollständige und das unvollständig formulierte Denken im Sinne einer Typeneinteilung als zwei selbständige Arten nehmen.

Fürs erste müssen wir daran festhalten, daß die sachlichen Bewußtseinsinhalte, die sich im formulierten Denken mit den Wortvorstellungen verflechten, durch die Sprache nicht geschaffen, sondern nur bezeichnet und dadurch zu Bedeutungsinhalten von Wortvorstellungen verflechten, durch die Sprache nicht geschaffen, sondern nur bezeichnet und dadurch zu Bedeutungsinhalten von Worten umgebildet werden. Daß die Benennung, auch nur die innerlich vollzogene, keine notwendige Bedingung für das Wahrnehmen ist, folgt schon daraus, daß wir einen durch Wahrnehmung gegebenen Gegenstand erst benennen können,  nachdem wir ihn erkannt haben.  Denn die stillen oder gesprochenen Worte der Lautsprache sind, wie bereits betont wurde, bei den Wahrnehmungsurteilen Bestandteile der apperzeptiven Ergänzung des vorliegenden Wahrnehmungsinhalts. Sie entstehen in unserem entwickelten Bewußtsein dadurch, daß die Gedächtnisresiduen früherer Wahrnehmungen desselben Gegenstandes oder ähnlicher Gegenstände, die durch die vorliegenden Reize erregt und in den vorliegenden Wahrnehmungsbestand eingeschmolzen sind, diese ihre apperzeptive Erregung auf die mit ihnen verflochtenen Gedächtnisresiduen der Wortvorstellungen übertragen. Das wahrnehmende Erkennen ist also vielmehr eine notwendige Bedingung für die mögliche Benennung. In welchem Umfang ferner Erinnerungsbilder und Gegenstände der Einbildung jeder Art in unserem Bewußtsein ohne jede Hilfe bezeichnender Worte auftauchen können, zeigt jedem die alltägliche Erfahrung. Das formulierte Denken kann auch diese Arten von Vorstellungen begleiten und bestimmen; aber es ist keine notwendig Bedingung ihres möglichen Ursprungs und Bewußtseins. Selbst die abstrakten Vorstellungsinhalte bedürfen trotz einer alten, noch gegenwärtig verbreiteten Überlieferung der sprachlichen Vermittlung weder zu ihrem Ursprung, noch zu ihrem Bewußtseinsbestand. Abstrakte Einzel- und Allgemeinvorstellungen entstehen überall da, wo dieselben veränderlichen oder einander ähnliche Gegenstände in wiederholter Wahrnehmung gegeben werden und dem wahrnehmenden Subjekt Gedächtnis eigen ist. Nicht einmal die Aufmerksamkeit ist eine notwendige Bedingung für den Ursprung und den Bewußtseinsbestand abstrakter Gebilde. Ich denke, daß die Erörterungen, die ich an anderer Stelle über den Unterschied der sachlichen Abstraktioni, die oben allein in Frage stand, von der sprachlichen und der verbalen gegeben habe, dies außer Zweifel gestellt haben. Gewiß werden zahlreiche Gegenstände, die dem Einzelnen vor dem Beginn sowie im Verlauf der individuellen Sprachentwicklung gegeben werden, zu Bedeutungsinhalten, indem sie sich mit spezifischen Wortvorstellungen assoziativ verflechten; und noch größer ist die Anzahl der Bedeutungsinhalte, die wir im Verlauf des formulierten Denkens erst aufgrund des prädikativen Zusammenhangs von mündlichen und schriftlichen Mitteilungen bilden. Aber kaum minder groß bleibt auch für das entwickelte Bewußtsein der Reichtum der Gegenstände, die zeitweilig ohne prädikative Vermittlung auftauchen oder von dieser Formulierung noch nicht ergriffen sind.

Damit ist das gegenständlich Material zu einer Art des Denkens gegeben, das wir gegenüber den beiden Arten des formulierten als ein  unformuliertes  bezeichnen dürfen. Denn auch das Vergleichen und Unterscheiden im oben erörterten Sinn bedarf der Hilfe prädikativer Formulierung nicht. Was dieser logischen Fassung der Funktionen des Denkens allgemein, d. h. abgesehen von der im Prinzip prädikativen Formulierung tatsächlich zugrunde liegt, beruth auf einem Vorgang der Aufmerksamkeit. Diese hält die Bestandteile der wahrgenommenen, erinnerten, eingebildeten oder abstrahierten Gegenstände gleichzeitig oder nacheinander in der Beziehung fest, der sie zugespannt ist. Jede Beziehung - so habe ich geglaubt, den nächstliegenden Sinn dieses Wortes zu logischem Zweck formulieren zu dürfen - besteht in einem bewußten Beisammen von Gegenständen unseres Vorstellens. In zahlreichen solchen Beziehungen werden uns die Gegenstände aller Arten des genetisch unterschiedenen Vorstellens  gegeben zuletzt in den zeitlichen und räumlichen Beziehungen. Andere Beziehungen dieser Art werden durch den gegenständlichen Wechsel unserer Aufmerksamkeit  hervorgebracht,  um den zuletzt sinnlich gegebenen Bestand von Wahrnehmungsinhalten in ihren raumzeitlichen Beziehungen erklärlich zu machen. So führt die Gleichförmigkeit des simultanen Beharrens der sinnlich gegebenen Qualitäten zur Beziehung der realen Inhärenz, die Regelmäßigkeit der zeitlichen Folge zur Beziehung der Kausalität usw., kurz zu  gedanklichen  Beziehung der Identität eines jeden Gegenstandes mit sich selbst, eigen, daß sie mindestens zwei Elemente oder Glieder besitzen. Diese Zweigliedrigkeit jeder Beziehung, z. B. der Inhärenz (Ding und Eigenschaft) und der Kausalität (Ursache und Wirkung) oder der logischen Konsequenz (Grund und Folge), führt dazu, daß wie die beiden einander koordinierten, d. i. sich wechselseitig bedingenden gedanklichen Beziehungen des Vergleichens und Unterscheidens zu den typischen Repräsentanten aller Beziehungen und damit zum unterscheidenden Merkmal des Denkens überhaupt machen dürfen. Das Denken reicht also so weit wie die (vergleichende und unterscheidende) Aufmerksamkeit. Diese aber ist an die prädikative, sprachliche Beziehung nicht gebunden. Sie setzt bei uns vor dem Beginn der individuellen Sprachentwicklung ein und reicht tief in die Tierreiche bis zu Organismen hinunter, denen jeder Ansatz zu prädikativer Formulierung fehlt.

Die Belege für dieses unformulierte Denken sind leicht zu finden. Es durchzieht die praktische Weltanschauung, die einzelwissenschaftliche Forschung und die theoretische Weltauffassung, deren Aufbau der Philosophie zufällt, in gleicher Weise. Unser praktisches wie unser wissenschaftliches Wahrnehmen ist von vergleichender und unterscheidender Aufmerksamkeit durchsetzt, auch wo keine Spur eines formulierten Wahrnehmungsurteils, also einer prädikativen Fassung des Wahrnehmungsbestandes, in unserem Bewußtsein anzutreffen ist. Die praktisch gerichtete, die künstlerische und die wissenschaftliche Beobachtung zeigt ein solches Denken in besonderem Maße dann, wenn der Beobachter völlig in den wahrgenommenen Gegenstand vertieft ist. Die Beziehungen der Wahrnehmungsinhalte zu den sie bezeichnenden Worten scheinen in solchen Fällen hingebender Beobachtung wie gelöst. Es gilt das ferner nicht nur für den spezifischen Wahrnehmungsinhalt der Beobachtung, sondern ebenso auch für alles, was die Erinnerung, die Phantasie und das abstrakte Vorstellen, den Wahrnehmungsbestand apperzeptiv ergänzend, diesem zuführt. Auch der sachliche Bestand des aufgrund der Wahrnehmung Erinnerten, durch die Phantasie Gestalteten und Abstrakten kann, wie er völlig frei von der sprachlichen, selbst der bloß innerlich sprachlichen Formulierung einzutreten vermag, so auch völlig unabhängig von einer solchen Formulierung der gedanklichen Bearbeitung unterliegen. Es ist nach dem, was ich in einem Aufsatz über die Funktionen der Phantasie ausgeführt habe, nicht notwendig, dies auch für diejenigen Vorstellungsverläufe der Erinnerung, Einbildung und Abstraktion darzulegen, die unabhängig von einer gegenwärtigen Wahrnehmung, aus inneren Reizen in uns lebendig werden.

Als ein  intuitives  können wir das unformulierte Denken deshalb bezeichnen, weil das Vergleichen und Unterscheiden in ihm auf den sachlichen Bestand der Gegenstände gerichtet ist, die im formulierten als Bedeutungsvorstellungen gegeben oder als dispositionelle Erregungen vorauszusetzen sind. Wir nehmen uns dabei nur die Freiheit, den Begriff der Anschauung (intuitio) über das in der  Präsenz  der Gesichtswahrnehmung, ja der Wahrnehmung überhaupt Gegebene hinaus zu erweitern, also auf das ganze Gebiet der aus den Wahrnehmungen abgeleiteten Vorstellungen oder der  Repräsente  zu übertragen. Denn es sind in allen diesen Fällen Bilder von sachlichen Gegenständen, an denen es sich vollzieht; und diese Bilder besitzen selbst dann zumeist das Gepräge des Anschaulichen, also der visuellen Wahrnehmung, wenn ihre Elemente anderen Sinne oder der Selbstwahrnehmung entstammen und sie selbst durchweg abstrakten Wesens sind. Ein der Gesichtswahrnehmung entspringender Schematismus macht unser sachliches Vorstellen fast durchweg zu einem symbolischen visuellen.

Trotzdem wäre es irrig zu schließen, daß das intuitive Denken durch diese zuletzt der Sinneswahrnehmung entstammenden Bestandteil gegenüber dem formulierten ein mehr sinnliches Gepräge erhielte.

Der eben geschilderte intuitive Charakter fehlt fürs erste auch dem formulierten Denken nicht. Denn der Bedeutungsbestand des formulierten Denkens ist kein anderer als der gegenständliche Gehalt des intuitiven; er beruth vielmehr, soweit die Bedeutungsvorstellungen der Worte sachlicher, nicht grammatischer Art sind, lediglich auf dem Vorstellungsmaterial, das auch dem intuitiven Denken zur Verfügung steht. Dieses Material ist im formulierten Denken nur mit Wortvorstellungen assoziativ verflochten.

Unsinnlich ist das intuitive Denken, obgleich ihm die prädikative Formulierung fehlt, auch deshalb nicht weniger als das formulierte, weil das ihm eigene Wesen, also logisch gefaßt das Vergleichen und Unterscheiden, psychologisch die Aufmerksamkeit, hier wie dort nicht im Wahrnehmungsbestand gegeben ist, sondern zu ihm aus den Vorstellungs- und Gefühlsbedingungen des Subjekts hinzutritt. Selbst die sogenannte "sinnliche" Aufmerksamkeit ist nur auf Gegenstände der Sinne gespannt, nicht aber selbst etwas im Bestand des sinnlich Wahrgenommenen Enthaltenes. Deutlicher noch ergibt sich das unsinnliche Wesen auch des intuitiven Denkensaus folgenden Erwägungen, durch die wir frühere Bemerkungen über das formulierte Denken und den Sinn der Beziehungen ergänzen. Der im Wesen der Beziehung liegende gegenständliche Wechsel der Aufmerksamkeit, der sie selbst in allen Fällen zu einem inneren Geschehen macht, setzt, sobald das eine Glied der Beziehung bei der Spannung auf das andere zum Teil oder ganz dem Bewußtsein entschwindet, voraus, daß das erste Glied nicht verloren geht, sondern irgendwie im Gedächtnis festgehalten bleibt. Er fordert ferner, sofern jenes erste Glied bei dem Übergang zum zweiten und dem Verweilen bei diesem zweiten bewußt bleibt oder im Bewußtsein reproduziert wird, daß dieses zweite in einem neuen Moment des Bewußtseins als eben dasselbe gedacht ist, "was wir einen Augenblick zuvor dachten". Diese tiefgreifenden kantischen Bestimmungen der "Synthesis" (Kritik der reinen Vernunft, Seite 100f) bleiben für jede mögliche Analyse des Vergleichens und Unterscheidens bestehen, auch wenn diesem, wie wir schon oben tun mußten, der Charakter einer Handlung abgesprochen, jene Momente der "Reproduktion" und "Rekognition" kantischer Bezeichnungsweise also nicht auf eine vorausgesetzte "Synthesis der Apprehension [des bewußt Gemachten - wp] " bezogen werden.

Dazu kommen noch andere Gründe, die aus dem Wesen der Aufmerksamkeit abfließen. Es wäre unratsam, auf die umstrittene Frage nach diesem Wesen hier spezieller einzugehen. Sicher aber ist die Aufmerksamkeit, die wir vorläufig lediglich im engeren Sinn, mit Ausschluß der Erwartungsspannung, nehmen, ein Bewußtseinsvorgang zusammengesetzter Art. Sie ist ein Vorgang unseres Vorstellens, den ein ihm als Zustand des Bewußtseins eigenes Spannungsgefühl charakterisiert. In diesem Gefühl und dem gegenständlichen, unter Umständen willkürlich erregten Wechsel der Aufmerksamkeit besteht das Bewußtsein der Tätigkeit, das von der voluntaristischen Psychologie als das eigentliche, nach verbreiteten Annahmen von der Reproduktionspsychologie scheinbar nicht faßbare Wesen der Aufmerksamkeit angesehen wird.

Durch jene Doppelbestimmung der Aufmerksamkeit soll jedoch dem intuitiven Denken nicht zugeschrieben werden, was nach den früheren Bemerkungen dem formulierten abzusprechen war. Wenn wir erstens von einer Tätigkeit in den zahllosen Fällen reden, in denen die Aufmerksamkeit  unwillkürlich  erregt ist, so können wir jene nur auf den gegenständlichen Wechsel beziehen, der ihr infolge ihrer reproduktiven Energie eigen ist, sowie auf das allem Anschein nach lediglich durch diese Energie bedingte Spannungsgefühl. Unser Ich, das Subjekt des Bewußtseins, zeigt sich dabei so wenig als wirkende Substanz, daß wir vielmehr gerade in den Fällen konzentrierter Aufmerksamkeit uns ganz dem Gegenstand hingegeben und insofern leidend finden. Ist sie ferner  willkürlich  erregt, so wird die der Aufmerksamkeit selbst zuzuschreibende "Tätigkeit" keine andere. Denn was bei solchem willkürlich erregten Denken hinzukommt, hängt nicht an der Aufmerksamkeit, die willkürlich erregt wird, sondern am Willen, der sie erregt. Diese besteht aus denselben Momenten wie die unwillkürlich erregte. Die voluntaristischen Deutungen des Seelenlebens machen das entwicklungsgeschichtlich Spätere zum entwicklungsgeschichtlich Früheren, wenn sie die willkürlich erregte Aufmerksamkeit zum Vorbild für die unwillkürliche stempeln oder gar die Aufmerksamkeit selbst als einen Willensvorgang fassen. Und auch, wenn das zutreffend wäre, würde eine spezifische Tätigkeit durch den Hinzutritt des Willens nur gegeben sein, falls ein Recht bestände, den Willen als eine solche, also den Ausfluß einer selbsttätig wirkenden seelischen Substanz anzusehen. Dem widersprechen jedoch alle Tatsachen, die aus dem Bestand unseres Willensbewußtseins und seiner Entwicklungsgeschichte abfolgen.

Die voluntaristische Hypothese, deren Wurzeln in KANTs Primat der praktischen Vernunft liegen, deren Fortbildung die metaphysische Reaktion gegen KANTs Kritizismus in der Fassung des Absoluten bei FICHTE, SCHELLING und HEGEL, sowie in SCHOPENHAUERs Willenslehre kennzeichnet, hat eine nicht geringe Leistung vollführt. Sie hat dem Intellektualismus der Psychologie, dem noch HERBART huldigt, ein Ende bereitet. Aber sie ist auch in ihrer scheinbar rein psychologischen Wendung ein Produkt stiller metaphysischer Voraussetzungen, die durch die psychologische Analyse des Bewußtseins, speziell des Willensbewußtseins, nicht gestützt werden. Mit ihr steht und fällt der Begriff einer Aktivität, die sich nicht als Reaktivität in den Rahmen er übrigen Lebensvorgänge einordnen ließe.

Die Analyse des unformulierten Denkens führt also, wird die Unzulässigkeit der voluntaristischen Deutung vorausgesetzt, für die Frage nach der dem Denken eigenen Tätigkeit zu keinem anderen Ergebnis, als die Untersuchung des formulierten.

Wie das unformulierte, so fordert auch das formulierte Denken speziellere Scheidungen. Es zerfällt in zwei repräsentative Arten, die gegenüber dem formulierten Denken, dem eigentlichen Gegenstand der logischen Normierungen, als  hypologisches  und  metalogisches  unterschieden werden können. Zählen wir weiter, wie wir beim formulierten Denken gezählt haben, so gelangen wir in jenem zu einer  dritten,  in diesem zu einer  vierten  Art des Denkens.

Hypologisch  habe ich dasjenige intuitive Denken genannt, das unterhalb der Bedingungen möglicher Formulierung durch das denkende Subjekt liegt. Ein solches Denken findet sich im intuitiven Vergleichen und Unterscheiden des Kindes, das noch außerstande ist, die Gegenstände seines Denkens prädikativ zu fassen, also sprachlich zu bezeichnen. Es liegt demnach im Entwicklungsstadium des Kindes vor dem Beginn des Sprachverständnisses. Daß wir auch in diesem Stadium des geistigen Lebens schon ein Denken anzunehmen haben, zeigen die Beobachtungen über die reagierenden Bewegungen, die ein aufmerksames Vergleichen und Unterscheiden an den Gegenständen der Sinneswahrnehmung und der beginnenden Erinnerung schon nach dem ersten Lebensmonat erschließen lassen. Ein solches Denken reicht dementsprechend in das ansetzende Sprachverständnis und weiterhin in das Eigensprechen so weit hinein, wie innerhalb dieser Entwicklungsstadien Worte und Wendungen zur prädikativen Formulierung noch fehelen. Im praktischen Denken derjenigen, deren Bedürfnis nach sprachlicher Fassung gering bleibt, sei es aus inneren Gründen, sei es infolge des Milieus, in dem sie leben, spielt es auch späterhin eine nicht geringe Rolle. Es ist ferner auch dann vorhanden, wo Entwicklungs-Hemmungen oder -Verbildungen den normalen Verlauf der Sprachentwicklung beeinträchtigen sowie in mannigfaltigen Formen der aphatischen Sprachstörungen. Was das hypologische Denken demnach charakterisiert, besteht in der subjektiven Unfähigkeit zur prädikativen Formulierung, einer Unfähigkeit also, die nicht am Gehalt der Gedanken, sondern am Fehlen oder der mangelnden Entwicklung der Bedingungen zur gedanklichen Formulierung liegt.

Das hypologische Denken reicht jedoch weiter, tief unter die Grenzen der uns eigenen seelischen, der spezifisch sogenannten geistigen Vorgänge hinab. Es war schon oben darauf hinzuweisen, daß die Vorstellungsverläufe des Wahrnehmens, Erinnerns, Einbildens und Abstrahierens und damit auch die aufmerksamen Vergleichungen und Unterscheidungen dieser verschiedenen Arten von Gegenständen und ihrer Verflechtungen, vom Verlauf des formulierten Denkens unabhängig sind. Alle jene Vorstellungsverläufe aber und mit ihnen die Arbeit der vergleichenden und unterscheidenden Aufmerksamkeit auf dieses Material, sind nicht einmal der ausschließliche seelische Besitz der Wirbeltiere, geschweige denn des Menschen. Der Analogieschluß, der den Tieren ein hypologisches Denken zuschreibt, ist demnach so weit gesichert, wie ihre reagierenden Bewegungen dieses Vorstellungsmaterials und jenes Aufmerken auf ihren Bestand und ihre Beziehungen annehmen lassen. Man muß sich freilich hüten, diesen seelischen Bestand der weniger entwickelten tierischen Organismen zu überschätzen. Es bleibt selbstverständlich, daß ihr hypologisches Denken lediglich ihren praktischen Bedürfnissen dient und daß diese Bedürfnisse zumeist sehr viel weniger verwickelt und stets sehr viel enger sind, als die Ziele auch nur des praktisch abgezweckten Tuns und Lassens in den einfachsten Gestaltungen unserer Kulturgemeinschaft. Außerdem bleibt die Fähigkeit auch der intellektuell höchststehenden Tiere, ihrem  Vorstellungs verlauf Ausdruck zu geben, auf Formen beschränkt, die den niedersten Vorstufen des Sprachlebens angehören. Das formulierte Denken ist, wenn der Ausdruck erlaubt wird, ein Naturprodukt der menschlichen Kultur, das in einer Jahrtausende umfassenden Entwicklung erzeugt ist. Was an Analogien zu den Vorstufen der Sprache bei den Tieren erschlossen werden kann, trifft deshalb fast ausnahmslos Ausdrucksweise für  Gefühle  und damit auch für Strebungen, nicht dagegen Symbole für Urteile oder Gedanken. Nur in dieser Hinsicht dürfen wir eine Vorstufe des formulierten und des uns eigenen hypologischen Denkens bei den Tieren annehmen. Dennoch ist diese untermenschliche Erweiterung des Gebiets für das intuitive Denken nicht bedeutungslos. Wir sehen noch davon ab, daß sie überlieferte Wertungen des intuitiven Denkes zerstört. Aber wir dürfen schon hier sagen, daß das hypologische Denken deshalb auch seinen Namen verdient, weil es sich, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, als eine  Vorstufe  des uns eigenen Denkens erweist.

Eine zweite wohl charakterisierte Art des intuitiven Denkens ist dasjenige, das wir nach Analogie der eben festgelegten Namensgebung als  metalogisches  bezeichnen dürfen. Gewiß kann nichts so Hohes, nichts so Tiefes, nichts so Schwaches und Feines in unserem Bewußtsein aufgewiesen werden, das der prädikativen Formulierung durch die Berufenen und gar die Auserwählten unzugänglich wäre. Weder der Scharfsinn, der die verborgensten Unterschiede der Gegenstände aufspürt, noch der Tiefsinn, der im Verschiedenartigen das Gemeinsame erfaßt, ist an die Sprache gebunden. Je kräftiger die Reproduktion auf irgendwelchen Gebieten des Vorstellens wirkt, je schärfer die abstrahierende Aufmerksamkeit einsetzt, je mehr ihre reproduzierende Kraft durch eine Fülle leicht erregbarer Assoziationen fruchtbar gemacht wird, desto weniger ist das Denken an die Symbolik gebunden, welche die Gegenstände dieser Aufmerksamkeit durch das Wort zusammenfaßt und stützt. Dies gilt vom Geschäftsmann, der verwickelte Handelskombinationen überlegt, nicht weniger als etwa vom Physiker, dem ein ansich geringfügiges Residuum eines Experiments eine Fülle von Möglichkeiten lebendig macht; vom Techniker, dem sich das Getriebe einer komplizierten Maschine in der Einbildung als zusammenstimmend darstellt, nicht anders als vom Historiker, der aus den Trümmern einer vergangenen Welt diese selbst erstehen sieht; vom Staatsmann, der sich zum Herrn einer verwickelten politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Situation macht ebenso wie vom Künstler, der aus der Fülle innerer Gesichte heraus schafft; vom religiös Ergriffenen, den der Menschheit ganzer Jammer anfaßt, wie vom Philosophen, dem sich die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu einem einheitlichen Ganzen verwebt. Ihrer aller geistige Arbeit pflegt im wesentlichen fertig zu sein, wenn sie versuchen, das, was sie geschaut haben, festzuhalten, es in die Wirklichkeit einzuführen, zu konstruieren, zu gestalten, zu formulieren. Denn in allen diesen Realisierungen steckt die Symbolik, deren präziseste Form die Sprache ist. Und sie alle empfinden, auch sofern sie sich eben der Sprache zu bedienen haben, wie wenig es oft gelingt, den Reichtum des intuitiv Erfaßten vollständig wiederzugebn, wie viel auf diesem Weg gerade vom Feinsten und Tiefesten verloren geht, wie vermittelt und langsam nur darzustellen ist, was unmittelbar und fast simultan erfaßt wurde, wie matt selbst für das eigene Verständnis die Formulierung wiedergibt, was in voller Lebendigkeit gewonnen worden war. Nicht bloß unser Wissen, auch unser Darstellen des von uns im Wissen Erfaßten bleibt Stückwerk.

Als ein metalogisches, wenn anders das formulierte Denken den eigentlichen Gegenstand der logischen Untersuchung bildet, ist dieses Denken noch jedem erscheinen, der seiner inne wurde und versucht hat, es in der Weise des formulierten Denkens zu umgrenzen. Denn wir erkennen dieses Denken im "höheren" Glied jener Scheidung wieder, die in der Einleitung anzudeuten war. Wir finden es in der Wiedererinnerung PLATONs, in der Ekstase PLOTINs, bei NIKOLAUS CUSANUS und GIORDANO BRUNO, in MALEBRANCHEs Schauen der Dinge in Gott, in SPINOZAs Erkenntnis  sub specie aeternitatis  [im Licht der Ewigkeit - wp], im "inneren Sinnenwerkzeug" FICHTEs, "durch welche eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist", in der intellektuellen Anschauung bei SCHELLING, sowie bei SCHOPENHAUER und dessen Antipoden HEGEL; es ringt nach Gestaltung in der gesamten Entwicklung des religiösen Mystizismus.

Aber dieser metalogische Charakter darf uns nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß ein solches Denken psychologisch vom hypologischen Denken sich nur durch den Reichtum seiner Objekte und die Höhe seiner Gesichtspunkte, nicht durch die Prozesse unterscheidet, in denen es sich vollzieht. Es ist hier wie dort impulsive, unwillkürliche Aufmerksamkeit auf ein Gebiet von Vorstellungsinhalten, die reproduktiv ausgelöst sind und unter der Leitung jener Aufmerksamkeit auslösend wirken. Der sachliche Zusammenhang ferner, den es bewältigt, ist in der tiefsten wie in der höchsten Betätigung dieses Denkens kein anderer als der Zusammenhang der Gegenstände, der auch dem formulierten Denken zugrunde liegt. Nichts endlich verleiht uns das Recht, in ihm etwas anderes als ein Geschehen anzunehmen, das in sich selbst nicht notwendig eine Handlung oder eine spezifische Tätigkeit enthält. Gerade in seiner höchsten Form besitzt es gleichfalls den Charakter einer fast vollständigen Beziehungslosigkeit auf unser Ich: nicht wir behandeln die Geister der Reproduktion, die uns in ihm erregen, sondern sie uns. Wir selbst treten in jedem Zustand höchster Konzentration der Aufmerksamkeit hinter den Gegenständen zurück, denen sie zugespannt ist. Auch das hat nicht bloß der große Dichter, der es ein eminentem Maß besaß und auch in seinen wissenschaftlichen Forschungen bestätigte, sondern jeder zum Ausdruck zu bringen gesucht, der es erlebt und zu charakterisieren unternommen hat. Eine solche Charakteristik liegt in der  ekstasis  PLOTINs wie im "klaren Weltauge" SCHOPENHAUERs, inm unsinnlichen Schauen des wahrhaft Seienden bei PLATON, sowie im Sichaufgeben in Gott, als das es sich der religiösen Mystik darstellt.

Und doch müssen wir zugeben, daß auch in ihm etwas zwar nicht liegt, aber doch scheinbar als liegend gefunden werden kann, was den Gedanken an eine Handlung oder Tätigkeit, sogar an eine Selbsttätigkeit nahelegt. Denn die nachträgliche Reflexion macht uns sicher, daß wir selbst es waren, die, wenn auch willenlos, eben das gewonnen haben, was wir als Inhalt eines solchen weitgreifenden Schauens besitzen, daß unsere eigene Individualität es ist, der wir eben jenes Schauen selbst zuzurechnen haben. Wir dürfen so sagen. Denn was sich uns eben als eine Eigentümlichkeit einiger Auserwählten dargestellt hat, ist auch dem Durchschnitt der Menschen nicht ganz fremd. Wie überall, so ist es auch hier nur ein Mehr oder Weniger, was die Individualitäten voneinander scheidet. Schließlich ist jedem auch in diesem Sinne nichts Menschliches fremd. Ja, wir könnten paradox sagen, daß um die Leistungen der uns weit Überlegenen auch nur als erstaunlich anzuerkennen, ein Stück dessen, was jene Leistungen möglich machte, unser eigenes geistiges Fleisch und Blut sein muß. Aber es bleibt trotzdem nur zu sagen, daß dieser Schein von Spontaneität erst entsteht, wenn eine Reflexion hinzutritt, die dem ursprünglichen Denken selbst fremd war. Wir machen uns also wiederum jenes öfter gerügten  posterius-prius  [nachher-vorher - wp] schuldig, wenn wir das Ergebnis einer solchen Reflexion in den ursprünglichen Vorgang hineindeuten, es gar als Bedingung von dessen Möglichkeit fassen.
LITERATUR - Benno Erdmann, Umrisse zur Psychologie des Denkens, Tübingen 1908