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LUDWIG BUSSE
Der Skeptizismus
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"Alles Denken ist subjektiv, alle Entscheidungen über Wahr und Falsch müssen wir nach den Gesetzen unseres subjektiven Denkens treffen. Eben weil dies so ist, und wir ein "objektives" Denken gar nicht haben, müssen wir aber auch unser subjektives Denken als die höchste Autorität anerkennen, das was es für wahr erklärt, auch für wahr halten, und dürfen nicht den aberwitzigen Versuch machen, noch hinter das Denken selbst - durch Denken - zu gelangen, dürfen nicht seine Autorität durch das - selbst wieder erst auf dem Boden eben dieses Denkens gewachsene - Argument der Subjektivität verdächtigen."


II. Der Subjektivismus

Der allgemeine Charakter dieses Standpunkts ist bereits oben gekennzeichnet worden. Der Subjektivismus hält es nicht für überhaupt unmöglich, daß es wahre Erkenntnis geben kann, er bezweifelt nur, daß unsere Erkenntnis die richtige ist. Die wahre Erkenntnis ist die, welche mit den Dingen übereinstimmt, und die sie beherrschenden Gesetze sind objektiv gültig. Ob aber die Gesetze und Formen unseres Denkens die richtigen sind, das, klagt der Subjektivismus, können wir nicht wissen und können es nie erfahren. Denn, da die subjektive Vorstellung nie über sich selbst hinaus und in die Dinge hinein kann so können wir unsere subjektiven Erkenntnisformen nicht mit den Dingen vergleichen und ihre Übereinstimmung mit ihnen konstatieren. So bleibt dann die Möglichkeit, daß die Dinge sich ansich ganz anders sind als wie sie gemäß den Gesetzen unseres subjektiven Denkens denken und vorstellen müssen, durchaus bestehen, mit ihr aber auch der Zweifel an der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis.

1.a) Den Nachweis der Falschheit dieses Standpunktes beginne ich mit einem Zugeständnis an denselben.

Die Subjektivität unserer Erkenntnis in dem Sinne, daß wir die Dinge so denken, wie wir sie gemäß den Gesetzen unseres Denkens denken müssen, und daß unsere Gedanken über das Ding eben unsere Gedanken und in unserem Bewußtsein befindlich sind, muß durchaus zugegeben werden. Eine absolute Erkenntnis, die niemandes Erkenntnis und von gar keinen Denkbedingungen abhängig wäre, kann es natürlich nicht geben. Immer wird es sich, wie in allen Wissenschaften, so auch in der Metaphysik nur darum handeln, festzustellen, wie wir die Dinge denken müssen. Hiervon macht auch die Frage selbst, ob das Denken objektiv gültig ist, keine Ausnahme. Auch sie kann natürlich nur aufgrund unseres Denkens und gemäß den Gesetzen desselben entschieden werden. Ist es aber unser Denken, welches über die objektive Gültigkeit oder Nichtgültigkeit der Erkenntnis zu entscheiden hat, so folgt, daß, wenn nun das Denken sich für die objektive Gültigkeit der Erkenntnis entscheidet, gegen diese Entscheidung das Argument der Subjektivität nicht wieder geltend gemacht werden darf. Denn damit würde nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Gültigkeit aufgehoben, und es versänke alles in den Abgrund des absoluten Skeptizismus. Wenn der Gedanke, daß das Denken objektiv gültig ist, seiner Denknotwendigkeit ungeachtet doch, weil es subjektiv ist, zweifelhaft sein kann, so muß auch der andere Gedanke, der den Zweifel an der objektiven Gültigkeit des Denkens enthält, zweifelhaft sein, da ja auch es subjektiv ist, - und so treiben wir den Strudeln des absoluten Skeptizismus entgegen.

Mit diesem Argument kann man also die Ungewißheit des Satzes: das richtige Denken ist objektiv gültig, nie darlegen. Es müßten andere, sachliche Gründe beigebracht werden, aus denen sich seine Ungewißheit erhellt. Würden sie beigebracht, so müßte der Satz als falsch oder unsicher zurückgezogen werden. Aber sie können nicht beigebracht werden, weil, wer die Notwendigkeit sachlicher Gründe zur Widerlegung des Satzes anerkennt, amit den Satz selbst zugesteht. Denn er gesteht ja zu, daß ein Gedanke, der ansich richtig ist, auch gültig ist, und das ist es ja gerade, was der Satz behauptet.

Was wir diesem einen Satz zugestehen, müssen wir aber auch allen anderen nach unseren Denkgesetzen richtigen Gedanken umso mehr zugestehen, da wir durch die Weigerung, irgendeinem subjektiv denknotwendigen Satz die Gültigkeit zuzugestehen, ja das obige Zugeständnis, daß, was nach den Gesetzen unseres Denkens richtig ist, auch objektiv wahr ist, wieder aufheben würden. Eben weil unsere Ansichten über Gültigkeit und Ungültigkeit nur nach den Prinzipien unseres menschlichen Denkens gebildet werden können, muß auch der Erkenntnistheoretiker die Gültigkeit oder Ungültigkeit aller Erkenntnis nach diesen Prinzipien beurteilen und muß das, was nach ihnen gültig erscheint, auch für gültig halten. Einer Metaphysik gegenüber, die aus lauter denknotwendigen Sätzen bestände, könnte daher auch der verbissenste Subjektivist seine Zweifel nicht aufrecht erhalten. Denn da die Gesetze seines Denkens dieselben sind, wie die, welche der Metaphysiker zum Aufbau seiner Metaphysik benutzt, so müßte auch er die Sätze der letzteren für notwendig halten und könnte ihre Wahrheit nicht wieder durch das Argument der Subjektivität verdächtigen. Dies erkennt KANT in den Prolegoma § 4 auch durchaus an.
    "Wäre Metaphysik, die sich als Wissenschaft behaupten könnte, wirklich, könnte man sagen: hier ist Metaphysik, die dürft ihr lernen und sie wird euch unwiderstehlich und unveränderlich von ihrer Wahrheit überzeugen, so wäre die Frage (Ist überal Metaphysik möglich?) unnötig und es bliebe nur diejenige übrig, die mehr eine Prüfung unserer Scharfsinnigkeit, als den Beweis von der Existenz der Sache selbst beträfe, nämlich wie sie möglich ist, und wie die Vernunft es anfängt, dazu zu gelangen."
Nun wird aber trotzdem, um die Unmöglichkeit aller Metaphysik zu erweisen, auch gegen eine solche Metaphysik wieder das Argument der Subjektivität aller Erkenntnis ausgespielt. Auch wenn es eine derartige Metaphysik gäbe, auch wenn sie so sonnenklar, so überzeugend, so zwingend wäre, daß kein Mensch, der vernünftig denken kann, ihr seine Zustimmung versagen könnte, so wäre sie dennoch nur unsere subjektive Ansicht, eine für uns nötige Art und Weise, die Dinge vorzustellen. Ob die Dinge ansich wirklich so sind, wie wir sie denken müssen, bliebe nach wie vor zweifelhaft. Daher gibt uns der Subjektivismus den Rat, es zu einem allgemeinen Grundsatz zu machen,
    "durchaus mißtrauisch zu sein und ohne Dokumente, die eine gründliche Deduktion verschaffen kann, selbst auf den klarsten dogmatischen Beweis nichts dergleichen zu glauben und anzunehmen." (9)
Aber diese Verwendung des Arguments der Subjektivität sogar gegen das subjektiv Denknotwendige und Gewisse führt zu einem unerträglichen Spiel mit dem Begriff des Denknotwendigen, zu einer Verfälschung desselben und völligen Aufhebung der Autorität - auch der subjektiven - des Denkens überhaupt. Denn was bedeutet es, daß etwas richtig und denknotwendig ist? Nicht, daß nur mein Gedanke meinen Denkgesetzen zufolge so sein muß, sondern daß die Sache so sein muß, wie sie notwendig gedacht wird. Der Sinn des Begriffes "denknotwendig" ist also ein durchaus objektiver; etwas für denknotwendig halten heißt: etwas für objektiv wahr halten. Der Begriff verträgt durchaus keine subjektivistische Interpretation: Ich bin so eingerichtet, daß ich denken muß, p ist q, - mit der reservatio mentalis [geistigen Vorbehalt - wp], daß es sich vielleicht ansich doch anders verhält. Sobald ich diese reservatio mache, bekunde ich damit eben, daß ich nicht denken muß, p ist q, da ich mir ja die Freiheit nehme, zu denken, es könnte auch anders sein. Muß ich aber im Ernst denken, p ist q, und kann ich gar nicht anders als so denken, - so kann ich auch nicht sagen, p ist vielleich ansich nicht q. Das heißt: sagen kann ich es natürlich, aber ich kann es nicht denken, solange zumindest nicht, wie ich unter Denken noch etwas anderes verstehe als ein bloßes Reden.

Alles Denken ist subjektiv, alle Entscheidungen über Wahr und Falsch müssen wir nach den Gesetzen unseres subjektiven Denkens treffen. Eben weil dies so ist, und wir ein "objektives" Denken gar nicht haben, müssen wir aber auch unser subjektives Denken als die höchste Autorität anerkennen, das was es für wahr erklärt, auch für wahr halten, und dürfen nicht den aberwitzigen Versuch machen, noch hinter das Denken selbst - durch Denken - zu gelangen, dürfen nicht seine Autorität durch das - selbst wieder erst auf dem Boden eben dieses Denkens gewachsene - Argument der Subjektivität verdächtigen.

Wer die Denknotwendigkeit und Richtigkeit irgendeines Gedanken anerkennt, d. h. wen sein eigenes Denken zwingt, ihn für wahr zu halten, der muß ihn auch für wahr halten. Das gilt für den Erkenntnistheoretiker so gut wie für jeden anderen Sterblichen. Wer ihn aber nicht für wahr hält, kann ihn auch nicht für denknotwendig halten. Er muß dann die Denknotwendigkeit, die dem Gedanken anzuhaften scheint, für einen trügerischen Schein halten, einen Schein, der aber in dem Moment, in dem er als Schein entdeckt wird, auch aufhört zu betrügen. Ein immerwährender Schein, der auch nach seiner Entdeckung noch anhalten würde, ist auf dem Gebiet des Denkens ein Unding. Ein solcher Schein wäre von Wahrheit schlechterdings nicht zu unterscheiden und könnte nie als Schein erkannt werden. Seine Aufdeckung als Schein würde ja eben beweisen, daß er uns nicht immer täuscht.

Bei allen Sätzen, die für Erkenntnis gehalten sein wollen, sie mögen nun metaphysische sein oder nicht, kann es sich daher immer nur um die Frage handeln: sind sie denknotwendig oder nicht? Einen Satz in einem Atem für denknotwendig und doch für "bloß subjektiv", d. h. für zweifelhaft zu erklären, zu bekennen, daß man von seiner Wahrheit fest überzeugt ist, und ihn in demselben Moment bezweifeln, heißt allen Unterschied von Wissen und Meinen, alles Denken und alle Vernunft aufheben, heißt auf den Standpunkt des bedingungslosen Skeptizismus zurückzufallen. Zugleich bedeutet ein solches Verfahren den Selbstmord des Subjektivismus, da in den Strudeln des radikalen Skeptizismus auch er selbst verschwinden müßte. Denn auch er muß, will er für eine wissenschaftliche Ansicht und nicht für eine bloße Laune gelten, die Denknotwendigkeit seines Standpunktes darlegen. Eine andere als die subjektive Denknotwendigkeit kann aber auch er nicht für sich in Anspruch nehmen. Ist nun alle bloß subjektive Notwendigkeit zweifelhaft, so ist auch der Subjektivismus zweifelhaft und kann keinen Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit erheben. Hiergegen einzuwenden, daß das Denken, solange es innerhalb seiner eigenen Sphäre bleibt, d. h. solange es nicht über transzendente Dinge urteilt, kompetent ist, dagegen, sobald es sich unterfängt, über dasjenige, was außerhalb des Denkens liegt zu urteilen, seine Kompetenz - eben aufgrund von Subjektivität - einbüßt, ist nicht erlaubt, da auch dieses Argument wieder das frivole Spiel mit dem Begriff des Denknotwendigen einschließt. Denn hier würde, mit einer allem wissenschaftlichen Verfahren Hohn sprechenden Willkür, einem Teil des Denknotwendigen, nämlich dem, welcher sich auf transzendente Dinge bezieht, die Gültigkeit seiner Denknotwendigkeit zum Trotz abgesprochen, für einen anderen - dem, welcher sich innerhalb der Sphäre des Subjektiven hält - die Gültigkeit wegen seiner Denknotwendigkeit in Anspruch genommen. Das heißt aber nichts anderes, als die Autorität des Denkens durch das Denken aufheben. Vergeblich würde man versuchen, dem Vorwurf unwissenschaftlicher Willkür durch den Nachweis der Wahrheit der Behauptung, daß die metaphysische Denknotwendigkeit ungültig, die immanente gültig ist, zu entgehen. Denn auch diese Wahrheit wäre eine subjektive und stände der metaphysischen genauso gegenüber, wie die immanente, deren Gültigkeit eben den Inhalt ihrer Behauptung bildet. Unberechtigte Willkür wäre es, ihr aufgrund des subjektiven Nachweises, den sie bringt, das Wahrheitspatent zu erteilen, dem metaphysischen Satz aber, welcher denselben Nachweis erbringt, es zu versagen. Mit der subjektiven Wahrheit der ersteren ist es überdies schlecht bestellt. Daß es einen Unterschied für das Denken bedeutet, ob es über transzendente oder immanente Objekte urteilt, ist eine ganz ungerechtfertigte, sachlich falsche Behauptung. Wie schon weiter oben gelegentlich des skeptischen Idealismus bemerkt, steht das Denken den immanenten Objekten, den "Erscheinungen" und Vorstellungen, kurz dem Erkennen genauso gegenüber wie den "transzendenten" Objekten. Auch die immanenten sind jedenfalls außerhalb des Gedankens, durch den das Denken über sie urteilt, auch sie kann das letztere nur in der ihm eigentümlichen Form und nur soweit diese eben durch ihre eigene Evidenz Wahrheit verbürgt, erkennen. Auf sich selbst schließlich kann die Behauptung, daß nur die immanente Erkenntnis absolut sicher, die transzendente aber unsicher ist, dieses Prinzip zur Rechtfertigung ihrer eigenen Wahrheit nicht anwenden. Denn sie selbst, welche die Ansprüche der immanenten und der transzendenten Erkenntnis gegeneinander abwägt, geht ja über das Immanente hinaus, ist nicht selbst wieder bloß immanente Erkenntnis. Sie müßte also nach ihrem eigenen Prinzip zumindest unsicher sein. Daß sie nicht nur nicht immanent ist, sondern zu ihrer eigenen Begründung sich genötigt sieht, eine ganze Anzahl metaphysisch-dogmatischer Voraussetzungen zu machen, wird weiter unten gezeigt werden.

b) Dies, die objektive Wahrheit des richtig Gedachten, war es, was einst SOKRATES gegen die Sophisten geltend machte. Daß aber mehr als 2000 Jahre nach SOKRATES der Subjektivismus trotz seines offenbaren Widerspruchs von scharfsinnigen Männern noch verfochten, ja als eine große Errungenschaft gefeiert wird, wäre völlig unerklärlich, wenn nicht die besonderen Umstände, welche in neuerer Zeit zu einer Neubegründung der subjektivistischen Theorie geführt haben, es zugleich psychologisch begreiflich machen würden, daß man den Widerspruch übersehen konnte. Diese Umstände, welche allerdings geeignet waren, ihn zu verdecken, bestehen aber in Folgendem:

α Anstatt von einem allein gegebenen Subjekt der unmittelbaren inneren Erfahrung und seinem logischen Denken auszugehen, konstruiert sich der Erkenntnistheoretiker in künstliches Subjekt der Erkenntnis (s), dem er bestimmte Erkenntnisanlagen oder -Vermögen beilegt, und dem er nun die "Dinge", auf welche sein erkennender Blick eingestellt ist, gegenüberstellt. Er findet nun, daß es mit seiner Erkenntnis nie an die Dinge herankommen, daß es, ewig in die enge Sphäre seines Bewußtseins gebannt, von seinem ungünstigen subjektiven Beobachtungsplatz aus nie erkennen kann, ob die ihm notwendigen Annahmen und Voraussetzungen seines Denkens auch für die Dinge außerhalb von ihm irgendeine Geltung besitzen. Natürlich könnte der Erkenntniskritiker, wenn er mit s identisch ist, und dieses wirklich nicht an die Dinge heran kann, die Einsicht in die Subjektivität und Unsicherheit des Denken eben nicht gewinnen: sie kann nur ein gewissermaßen über s und den Objekten stehender, beide vergleichender Beobachter haben, für den dann die subjektive Denknotwendigkeit, an die s gebunden ist, auch nicht existiert. In der Stellung eines solchen Beobachters befindet sich tatsächlich der Erkenntniskritiker, wenn er den Anspruch des erkennenden Subjekts auf objektive Gültigkeit seiner Gedanken in Zweifel zieht. Indem er nun aber, nachdem er die Entdeckung der Subjektivität des Denkens gemacht hat, sich selbst mit ihm identifiziert und die beiden Subjekte, das beobachtende (kritische) und das beobachtete (dogmatische), einerseits zu einem Subjekt vereinigt, andererseits doch noch auseinandergehalten werden (10), scheint es, es könne ein und dasselbe Subjekt sowohl etwas für objektiv halten, wie es auch das für wahr Gehaltenes seiner Subjektivität wegen bezweifeln, und tritt der hierin liegende Widerspruch nicht klar und scharf hervor.

β Häufiger als in der beschriebenen, wird die Unterscheidung von subjektiv-dogmatischre und kritisch-transzendentaler Erkenntnis in einer anderen - sachlich doch nicht wesentlich von jener verschiedenen - Form gemacht.

In demselben Subjekt werden zwei Arten Vernunft unterschieden: die kritische und die vorkritische oder dogmatische.

Die vorkritische oder unkritische (dogmatische) Vernunft macht nun nach den ihr eigentümlichen subjektiven Denkgesetzen allerhand für sie denknotwendige Annahmen über die Dinge, die aber vor dem Richterstuhl der kritischen oder transzendentalen, über die "subjektive Denknotwendigkeit" erhabenen Vernunft nicht bestehen können, sondern von ihr als Blendwerk aufgedeckt werden. Sehr viel nutzen tut die von der transzendentalen Vernunft vollzogene kritische Reinigung allerdings nicht, denn die dogmatische Vernunft fährt auch nach der Aufklärung durch die kritische fort, ihre Prinzipien für völlig zuverlässig und das durch sie Geforderte für wahr zu halten, wie es KANT mit sehr bestimmten Worten ausspricht:
    "Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verwirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen." (11)
Allein eine derartige Spaltung der Vernunft in eine dogmatisch-unkritische und eine kritisch-transzendentale, von denen die eine etwas für unbedingt wahr hält, dessen Unhaltbarkeit die andere einsieht, und fortfährt, es für wahr zu halten, nachdem der Irrtum konstatiert ist, ist ein ganz unerträglicher Gedanke. Eine kritische und eine vorkritische Vernunft kann es immer nur in dem Sinne geben, daß die kritische eine falsche Meinung, welche die unkritische Vernunft für wahr gehalten hatte, berichtigt. Alsdann ist die Aufklärung, welche sie gibt, ein Appell ab intellectu male informato ad intellectum melius informandum [Ich appelliere vom schlecht informierten Verstand an den besser zu informierenden Verstand - wp] eine Zensur, wie KANT sagt. Sobald die Aufklärung in überzeugender Weise erfolgt ist, muß dann auch die vorkritische Vernunft, wenn sie noch Vernunft sein will, dies annehmen, und kann nicht fortfahren, das früher Geglaubte, dessen Ungültigkeit ihr ad oculos [vor Augen - wp] demonstriert wird, für wahr zu halten. Ich kann doch nicht etwas mit der einen Hälfte meines Bewußtseins für wahr, mit der anderen aber für falsch halten, mit der einen a, mit der anderen das Gegenteil behaupten! Es ist nur eine Vernunft, und die kann (wo sie in der Lage ist, ein Urteil zu fällen) immer nur etwas entweder für wahr oder für falschen halten, nicht aber für wahr und falsch zugleich. Im Grunde gibt KANT das auch zu, wenn er, statt den Widerspruch zwischen Thesis und Antithesis in den Antinomien einfach als ein gegebenes Faktum hinzunehmen, eine kritische Lösung desselben zu geben versucht. Das heißt doch nichts anderes als: das kann nicht sein, daß die menschliche Vernunft ewig dazu verdammt sein soll, zwei sich absolut widersprechende Sätze für gleich wahr, als jeden für wahr und für falsch zu halten, sondern es muß irgendeine die Vernunft befriedigende Lösung der Schwierigkeit geben. Die Lösung freilich, welche KANT in der transzendentalen Dialektik gibt, unterliegt den schwersten Bedenken. Daß die ganze Verlegenheit der Vernunft daher rührt, daß sie die zeitlich-räumliche Welt, welche nur Erscheinung ist, für die ansich seiende Wirklichkeit ansieht, mit der Einsicht in die Phänomenalität des räumlich-zeitlichen Realen also verschwindet, ist eben nicht wahr.

Was zunächst die beiden ersten Antinomien anbetrifft, so liegt es auf der Hand, daß der Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt dadurch nicht beseitigt wird, daß diese Welt nun nicht mehr eine Welt ansich, sondern Erscheinungswelt ist. Sehen wir ganz davon ab, daß die Sinnenwelt als Erscheinung eines ansich Seienden doch auch in ihrer Endlichkeit oder Unendlichkeit die endliche oder unendliche Natur desselben widerzuspiegeln und folglich der unlösbare Widerspruch von Endlichkeit und Unendlichkeit, mit dem sie behaftet ist, die Erscheinung der ansich widerspruchsvollen Natur der Wirklichkeit ansich sein muß (12); so bleibt in Bezug auf die räumlich-zeitliche Welt, in der wir leben, der Widerspruch in ungeminderter Schärfe bestehen. Sie selbst wird keine andere dadurch, daß sie nun "Erscheiung" und nicht mehr Ding-ansich ist und von ihr fährt die Vernunft nach wie vor fort zu behaupten, daß sie endlich, und auch, daß sie unendlich ist. Nur die Unrichtigkeit der Annahme, daß W ein x, ein Ding ansich ist, stellt die kritische Einsicht in die Phänomenalität des W fest; den davon ganz unabhängigen Gegensatz der Urteile: W ist endlich, und W ist unendlich, vermag sie aber nicht zu beheben. Wollte die kritische Vernunft behaupten, daß, weil W eine Erscheinung ist, deshalb weder das Prädikat der Endlichkeit noch das der Unendlichkeit von ihm gilt, so würde sie damit behaupten, daß vor dem höheren Verstand der kritischen Vernunft das dogmatische Vorurteil der gemeinen Logik, wonach zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile nicht beide falsch sein können, sondern die Falschheit des einen auch die Wahrheit des anderen bedingt, nicht mehr gilt, sondern Thesis und Antithesis gleich falsch sind. Gegen dieses salomonische Urteil der kritischen Vernunft, welche wie Zeus in der Fabel zu den beiden Stieren sagt: "Ihr seid beide Ochsen", würden sich aber Thesis und Antithesis mit Recht, auf ihre Denknotwendigkeit pochend, wehren, und so hätten wir dann statt einer eine zweifache Antinomie: einmal eine innerhalb der dogmatischen Vernunft selbst als Thesis und Antithesis und dann eine zweite zwischen der dogmatischen Vernunft, welche behauptet, von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen sei notwendig eines wahr und der kritischen Vernunft, welche behauptet, sie seien alle beide falsch, und diese Behauptung als Synthesis, als Lösung des Widerspruchs betrachtet wissen will. Daß in dieser Antinomie der Vorteil durchaus auf Seiten der dogmatischen Vernunft sein würde, die sich auf eine von der kritischen als "subjektiv gültig" anerkannte Denknotwendigkeit stützt, während sie die Denknotwendigkeit der kritischen Entscheidung ihrerseits nicht anerkennt, bedarf keiner näheren Auseinandersetzung. Aber auch wenn der Entscheidung der kritischen Vernunft die ihr mangelnde logische Notwendigkeit wirklich zukäme, stände ihr die dogmatische Vernunf mit ihrem Anspruch immer noch als gleichberechtigt gegenüber, und es wäre einfach Willkür, zu meinen, daß die kritische Vernunft, weil sie die kritische ist, auch eine größere Gewähr absoluter Unfehlbarkeit gibt.

In der Tat entspricht nun die Lösung der Antinomien, welche KANT gibt, den berechtigten Forderungen der dogmatischen Vernunft weit mehr, als es nach Obigem den Anschein hat. Die "Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen von einem Weltganzen" und "der kosmologischen Idee von der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung" entscheidet sich im Sinne eines "regulativen Prinzips" für das eine der beiden antinomischen Glieder, die Antithesis, welche die Unendlichkeit behauptet, und genügt so der Forderung der dogmatischen Vernunft, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen das eine wahr und das andere falsch sein muß. (13)

Hat nun die Vernunft sich einmal wie auch immer über die Antinomie entschieden, so kann - solange die Entscheidung der Vernunft ihre Gültigkeit behält - auch der ihrer Entscheidung entgegengesetzten Annahme (in unserem Fall der Thesis) nicht mehr dieselbe Denknotwendigkeit und Gültigkeit zugesprochen werden, wie vorher. Sie muß als eine irrtümliche angesehen und ihr Anspruch zurückgewiesen werden. Es ist zu beklagen, daß KANT diese Konsequenz nicht mit der Entschiedenheit und der Schärfe gezogen hat, die ihrer fundamentalen Wichtigkeit entspricht.

Bei der dritten und vierten Antinomie ist die Sachlage insofern eine andere, als hier die Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich wirklich zur Auflösung der Antinomie benutzt wird. Es wird gezeigt, daß Thesis und Antithesis sich auf ganz verschiedene Subjekte beziehen, die erste auf das Noumenon, die zweite auf das Phänomenon. In dieser Weise widersprechen sie sich nicht; ein Widerspruch würde nur dann vorhanden sein, wenn beiden von demselben Subjekt und in derselben Beziehung behaupten würden, es ist frei und es ist unfrei, schlechthin notwendig, oder bedingt. Läßt man die Lösung gelten, so wird man aber auch hier sagen müssen, daß, nachdem einmal die Vernunft gezeigt hat, daß Freiheit und Notwendigkeit, Bedingtheit und Unbedingtheit nicht demselben, sondern verschiedenen Subjekten zukommen, sie nicht fortfahren kann, die kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikate von ein und der selben zu behaupten. Und man hat ein Recht, hinzuzufügen, daß dies auch nie geschehen ist. Wer da gemeint hat, daß alles notwendig ist, hat auch die These: daß es Freiheit gibt, nie anerkannt; wer letztere verfochten hat, hat dagegen nie zugleich die ausnahmslose Gültigkeit des Kausalgesetzes anerkannt, vielmehr es ausdrücklich auf einen Teil der Welt, nämlich das Naturgeschehen, eingeschränkt, einen anderen, das geistige Geschehen, ihm aber entzogen. Nicht anders verfährt auch die kritische Vernunft, nur daß sie den Strich, der beide Gebiete voneinander scheidet, an anderer Stelle zieht. An die Stelle der Scheidung in Naturgeschehen und geistiges Geschehen setzt sie die zwischen phänomenalem und noumenalem Sein - deren besseres Recht zumindest sehr fraglich ist - und reserviert das letztere für die Freiheit, während sie das erstere dem Kausalgesetz überläßt. Da somit die Lösung des scheinbaren Widerspruchs dadurch herbeigeführt wird, daß der Anspruch von Thesis und Antithesis auf unbedingte und unbeschränkte Gültigkeit als irrtümlich abgewiesen, die unbedingte Notwendnigkeit beider geleugnet wird, so kann auch nach dieser Erkenntnis die Vernunft nicht fortfahren, Thesis oder Antithesis für absolut allgemeingültig und notwendig zu halten. In Kraft bleibt allein die Einsicht der Vernunft, daß Thesis und Antithesis nur beschränkte, ihrer Ausdehnung nach genau bestimmte Gültigkeit haben, eine Einsicht, deren logische Struktur von keiner anderen Art ist, als die, welche sich als "subjektive Denknotwendigkeit" zu erkennen gibt, und die von keiner besonders veranlagten "kritischen", sondern auch nur von einer dogmatischen "allgemeinen Menschenvernunft" herrührt, dem einzigen Richter, welche die menschliche Vernunft anerkennt. (14)

Hätte KANT sich die Notwendigkeit, daß die "kritische" Vernunft gar keine andere sein kann, als die subjektiv-dogmatische, und daß daher alles, was für die letztere notwendig ist, auch für sie notwendig gelten muß, klarer gemacht, als er es leider getan hat, so wäre er nicht immer wieder in den verhängnisvollen Irrtum - den fundamentalen der ganzen Kritik - gefallen, als könne eine kritische Vernunft Dinge leisten, die der dogmatischen Vernunft gänzlich versagt sind, und als könne die erstere aus einem höheren Gesichtspunkt etwas für falsch erklären, was die letztere nach den Gesetzen ihrer Natur für absolut notwendig halten muß und demnach auch nach der Korrektur der reinen Vernunft fortfahren muß dafür zu halten: ein "kritisches Vorurteil", von dem KANT, wie die Dinge liegen, nicht freizusprechen ist. Wenn er im Abschnitt: "Die Disziplin der reinen Vernunft in Anbetracht ihrer Beweise" der "transzendentalen Methodenlehre" die transzendentale Beweisart aus dem Gesichtspunkt der Möglichkeit der Erfahrung als die allein mögliche und richtige hinstellt und von den Gegnern unter Ablehnung aller Beweise, die sie etwa nach ihren Prinipien führen möchten, verlangt, daß sie ihre Sätze nach der transzendentalen Beweisart beweisen sollten, so mutet er ihnen damit zu, von vornherein den kritischen Standpunkt, dessen Berechtigung sie eben bestreiten, als den richtigen anzuerkennen und sich ungeachtet der Evidenz ihrer dogmatisch-metaphysischen Sätze auf ihn zu stellen, - womit dann freilich der Prozeß "Kritizismus contra Dogmatismus" sich sehr schnell zugunsten des ersteren erledigt.
    "Sind dergleichen (d. h. dogmatische) angebliche Beweise schon vorhanden: so setzt der trüglichen Überzeugung das non liquet [es ist nicht klar - wp] eurer gereiften Urteilskraft entgegen, und, obgleich ihr das Blendwerk derselben noch nicht durchdringen könnt, so habt ihr doch völliges Recht, die Deduktion der darin gebrauchten Grundsätze zu verlangen, welche, wenn sie aus bloßer Vernunft entsprungen sein sollen, euch niemals geschafft werden kann. Und so habt ihr nicht einmal nötig, euch mit der Entwickung und Widerlegung eines jeden grundlosen Scheins zu befassen, sondern könnt alle an Kunstgriffen unerschöpfliche Dialektik am Gerichtshof eurer kritischen Vernunft, welche Gesetze verlang, im ganzen Haufen auf einmal abweisen." (15)
Die kantische Schule teilt natürlich die Voreingenommenheit für den kritischen Standpunkt, indem sie wohl die dogmatische Metaphysik durch die logische Evidenz des Kritizismus "im ganzen Haufen auf einmal" abweisen läßt, von einer Aufhebung des kritischen Standpunkts durch die siegreiche Wahrheit einer logisch-denknotwendigen Metaphysik aber nichts wissen will. Hierfür sei es mir gestattet noch ein sehr instruktives Beispiel anzuführen, das ich VAIHINGERs Kommentar zu KANTs "Kritik der reinen Vernunft", Bd. II, Seite 109 und 110 entnehme. An dieser Stelle weist VAIHINGER auf die merkwürdige Tatsache hin, daß aus der Ansicht, daß das Ding ansich aus der der Analyse des Erscheinungsobjekt gewonnen wird, die Beurteiler KANTs je nach ihrer Stellung zum Kritizismus ganz entgegengesetzte Folgerungen gezogen haben, STADLER ("Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der kantischen Philosophie", Seite 38) die, daß das Ding ansich eine notwendige Täuschung, HEBLER (Philosophische Aufsätze, Seite 27f) und RIEHL (Philosophischer Kritizismus, Bd. I, Seite 207 und 433f) die, daß es ein völlig legitimer Gedanke ist. Die Absicht STADLERs ist, durch seine Deduktion des Dings-ansich den transzendenten Gebrauch der Kategorie der Kausalität zu vermeiden. Indem der Verstand das Erscheinungsobjekt in seine Eigenschaften aufzulösen versucht, bleibt ihm immer ein unauflöslicher Rest übrig. Infolgedessen erscheint ihm das Auflösen des Dings in seine Eigenschaften als ein Ablösen der letzteren vom Ding, das nun nach Ablösung aller erkennbaren Eigenschaften als "Ding-ansich" übrig bleibt.

Ob diese Deduktion ihren Zweck, die Anwendung der Kausalität über die Erscheinung hinaus zu vermeiden, erreicht - den transzendenten Gebrauch der Kategorie der Substanz kann auch sie, wie VAIHINGER, a. a. O., Seite 111 sehr richtig bemerkt, nicht vermeiden -, geht uns hier nichts an. Was ich an dieser Stelle von STADLERs Deduktion entgegensetzen möchte, ist dies: Welches Recht haben wir, den Gedanken des Dings-ansich, der also entsteht, für eine "notwendige Täuschung" zu halten? Worauf stützt sich diese kritische Behauptung? Nach STADLERs eigenen Worten gelingt es dem Verstand eben durchaus nicht, das Erscheinungsobjekt in seine Eigenschaften aufzulösen. Es muß denken, daß ein Ding-ansich existiert; der Gedanke ist ein notwendiger.
    "Gerade die Einsicht, daß die meisten für objektiv gehaltenen Qualitäten nur subjektive Eindrücke sind, erzeugt im Verstand, wie durch Kontrastwirkung, das negative Streben, sich Eigenschaften zu denken, die er seinem Etwas gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts anhaften könnte."
Andererseits muß, wie der kritische Verstand anerkennt, dieses durchaus notwendige Verfahren ebenso notwendig stets mißlingen. Der Verstand wird des Dings-ansich nie habhaft, es zerrinnt ihm immer wieder unter den Händen, auf der vorsichtigste Versuch führt, "jedesmal durch Empfindung, Raum und Zeit in das Subjekt zurück". Somit stehen wir vor einer Antinomie des Denkens. Einmal erkennt der Verstand (als kritischer), daß das Objekt gar nichts weiter ist als "Empfindung, Raum und Zeit", auf der anderen Seite muß er aber auch (als vorkritischer) den Gedanken eines Dings-ansich für durchaus richtig halten. Hier steht nun Behauptung gegen Behauptung, Notwendigkeit gegen Notwendigkeit. Es erscheint unbillig, der des kritischen Verstandes einfach ex tripode [von einem Stativ aus - wp] eine höhere Berechtigung zuzuerkennen. Das logische Schlußverfahren ist bei beiden dasselbe. Aus der Unmöglichkeit, das Objekt in das Subjekt aufzulösen - weil der Versuch stets mißling -, schließt der vorkritische Verstand: es gibt ein Ding-ansich. Aus der Unmöglichkeit, das Ding ansich aus den subjektiven Umhüllungen herauszuschälen - weil der Versuch stets mißling -, schließt der kritische Verstand: es gibt kein Ding-ansich. STADLER erklärt den Schluß des kritischen Verstandes für richtig, den des vorkritischen für eine "notwendige Täuschung". Aber das ist doch eine ganz unkritische willkürliche Parteinahme für den kritischen Standpunkt! Ist es weniger berechtigt, dem vorkritischen Verstand Recht zu geben und den Schluß des kritischen Verstandes für eine "notwendige Täuschung" zu erklären? Mit welchen Entrüstungsrufen würden die Anhänger des Kritizismus die Zumutung, ihren so einleuchtenden, so klar bewiesenen Standpunkt für eine "notwendige Täuschung" zu halten, aufzunehmen - und doch ist dies dieselbe Zumutung, die sie ihren dogmatishen Gegnern als die selbstverständlichste Sache von der Welt ganz unbefangen machen!

Aber wie es eine ganz unerlaubte Willkür wäre, dem kritischen Standpunkt bloß deshalb, weil er sich kritisch nennt, eine höhere Berechtigung zuzuerkennen, so ist die ganze Annahme, daß es zwei verschiedene Vernunftarten gibt und für die eine wahr sein kann, was für die andere falsch ist, unhaltbar. Es gibt nur eine Vernunft, und die kann nicht Entgegengesetztes für gleich wahr oder das eine für wahr, das andere aber für noch wahrer halten. Kommt sie im Verlauf ihres Nachdenkens zu einer Antinomie, so muß sie, gestützt auf den Satz des Widerspruchs, nach dem p und non p nicht zugleich wahr sein können, a priori entweder den Gegensatz, die Antinomie (und dann können beide Sätze wahr oder beide Sätze falsch sein), oder den einen der beiden kontradiktorisch entgegengesetzten Sätze für einen Irrtum halten. Sie kann zugestehen, daß sie zur Zeit nicht imstande ist, zu entscheiden, ob das eine oder das andere der Fall und eventuell, welcher von den beiden Sätzen falsch ist, sie mag selbst daran zweifeln, daß es ihr je gelingen wird, die Schwierigkeit aufzulösen (obwohl sie das nie gewiß wissen kann): das aber wird sie sich nicht ausreden lassen, daß ansich ein solcher Widerspruch nicht denknotwendig sein kann, und ebensowenig wird sie sich einreden lasen, daß sie, nachdem sie nach den ihr innewohnenden Denkprinzipien den Widerspruch gelöst hat, doch fortfahren sollte, sich nach denselben Denkgesetzen weiter in ihn zu verstricken und das Falsche für wahr zu halten. Es gibt nur eine Autorität für alles Denken: die Gesetze des Denkens, nach denen wir Wahr und Falsch unterscheiden. Sie sind es, welche sowohl die kritische wie die vorkritische Vernunft als Kriterien der Wahrheit anerkennen müssen. Wer aber die Autorität dieser Gesetze anerkennt, muß auch das Gesetz des Widerspruchs, welches das höchste Gesetz des Denkens ist, anerkennen, und muß folglich anerkennen, daß ein Satz nicht für die Vernunft einerseits notwendig und gültig, andererseits eine "Täuschung" und ungültig - beides nach denselben Gesetzen erkannt und festgestellt! - sein kann -, oder er treibt mit dem Begriff des Denknotwendigen ein zweideutiges Spiel.

Erkennt die kritische Vernunft die Gesetze unseres Denkens als maßgebend auch für sie an, so ist sie nicht von der dogmatischen verschieden, und die Behauptung, daß es eine vorkritische und eine kritische Vernunft gibt, ist nicht wahr. Zwei verschiedene Vernunftarten würden sie nur dann sein, wenn die Gesetze, nach denen sich die eine richtet, ganz andere wären als die, nach denen die andere verfährt. In diesem Fall würde ich bitten, mit diese anderen Gesetze zu zeigen, damit ich wenigstens bekenne, zwei verschiedene Methoden zu denken nicht zu besitzen. Was mir bisher vom anderen Standpunkt bekannt geworden ist, hat auf mich zwar den Eindruck gemacht, daß es falsch gedacht ist, aber doch nicht den, daß es nach anderen als den bekannten, für mein Denken verbindlichen Gesetzen gedacht ist. Weiter unten werde ich Gelegenheit haben, zu zeigen, daß der Subjektivismus jedenfalls nicht nur dieselben Denkgesetze, wie die dogmatische Vernunft, sondern sogar nich wenige nach ihnen gemachte, zum Teil sogar recht verwegene dogmatisch-metphysische Annahmen voraussetzt.

Wäre aber das Vorhandensein zweier verschiedener, nach verschiedenen Denkmethoden verfahrender Vernunftarten, wie auch immer nachgewiesen, so würde ich noch die Berechtigung bestreiten, die "kritische" die höhere zu nennen. Sie selbst würde sich natürlich so vorkommen, aber die "vorkritische" Vernunft würde ihr diesen Vorzug ebenso energisch streitig machen, und es gäbe kein Kriterium, nach dem wir die widerstreitenden Ansprüche beider vergleichen könnten. Und wäre selbst dies möglich, wäre der höhere kritische Standpunkt zweiter Ordnung zur Beurteilung der kritischen und vorkritischen Vernunft gefunden: welche Garantien könnte man dafür beibringen, daß dann nicht vor dem höheren Richterstuhl dieser kritischen Vernunft die Ansprüche beider, der kritischen wie der vorkritischen, ebenso verworfen werden würden, wie die kritische Vernunft die Ansprüche der dogmatischen verwarf? Und wie könnte man sich gegen die Möglichkeit schützen, daß auch dieser Vernunft wieder dasselbe Schicksal von einer noch höheren Vernunft - denn man kann nicht wissen, zu welchen Entdeckungen die kritische Erkenntnistheorie noch gelangen mag - und so fort in infinitum bereitet wird?

Daß in der Tat auch die Annahme verschiedener Vernunftarten zum dem Zweck, die skeptische Zurechtweisung der Vernunft durch die Vernunft ohne Widerspruch zu ermöglichen, diesen Zweck nicht erreicht, deshalb nicht, weil, von anderen Unmöglichkeiten abgesehen, auch jede höhere, das kritische Richteramt ausübende Vernunft wieder denselben Maßregelung unterliegen würde; daß wir daher auch mit ihr uns vor die Alternative gestellt sehen, entweder irgendwo einmal die subjektive Denknotwendigkeit als ausreichend anzuerkennen (welches Zugständnis wir dann auch der dogmatischen Vernunft machen müssen), oder die Autorität des Denkens zu negieren, d. h. den absoluten Skeptizismus zu bekennen: dies mag noch in einer zweiten Betrachtung kurz ausgeführt werden.

γ Die subjektivistische Annahme verschiedener Vernunft- oder Erkenntnisarten pflegt häufig in einer anderen als der eben besprochenen Gestalt aufzutreten. Die Jeremiaden [Klagelieder - wp] über die Subjektivität und Unsicherheit der Erkenntnis gelten, zwar nicht immer ausdrücklich, aber tatsächlich, der menschlichen Erkenntnis. Ob die Erkenntnis, welche wir Menschen haben und welche durch die Gesetze unseres menschlichen Denkens bedingt ist, die richtige ist, das wird als zweifelhaft hingestellt. Der unsicheren menschlichen Erkenntnis wird aber eine mögliche ideale, etwa die göttliche oder auch die vollkommenerer Wesen, gegenübergestellt, welche in eben dem Maße sicher erscheint, wie die unsrige unsicher ist. Könnten wir auf irgendeine Weise, etwa durch Offenbarung, diese höhere Erkenntnis erlangen, so würde die Unsicherheit, die uns jetzt bedrückt der erfreulichsten Gewißheit Platz machen. Aber es bedarf keiner sehr tiefen Überlegung, um zu sehen, daß es uns mit dieser sicheren Erkenntnis gehen würde, wie es uns angeblich mit dem Ding-ansich geht; sie würde uns, kaum erlangt, wieder aus den Händen entschwinden. Denn hätten wir die vollkommenere Erkenntnis auf welche Weise auch immer erlangt und stimmte sie mit unserer jetzigen Erkenntnis überein, so müßte der Zweifel, der uns jetzt quält, sich notwendig auch der höheren Erkenntnis wieder bemächtigen. Denn wir dächten ja dann ebenso, wie wir jetzt denken, und müßten also auch die höhere Erkenntnis, die ja auch subjektiv ist, ihrer Subjektivität wegen für unsicher halten - wodurch dann freilich das auszeichnende Prädikat "höhere", das wir ihr beilegten, vollends illusorisch werden würde. Wäre aber die neue Erkenntnis von unserer jetzigen verschieden, so würden wir - falls nicht die neue Denkweise von der alten so grundverschieden sein soll, daß wir uns gar nicht mehr in die alte hineinversetzen und sie mit der neuen vergleichen können, - die alte zwar als irrig (obgleich für die in ihr Verharrenden notwendig), erkennen, aber nur, um im nächsten Augenblick auch die neue mit dem nämlichen Mißtrauen wieder zu betrachten, als früher die alte. Denn wie sehr auch im Übrigen die neue Erkenntnis von der alten verschieden sein mag: darin würde sie doch, falls sie überhaupt Erkenntnis sein will, ihr gleichen müssen, jemandes Erkenntnis, mithin subjektiv zu sein. Wären wir aber erst einmal so weit, die neue Erkenntnis ihrer Subjektivität wegen für unsicher zu halten, so könnten wir leicht dahin kommen, nunmehr die alte Erkenntnis für die bessere zu halten. Nach unseren jetzigen subjektiven Denkgesetzen, müßten wir uns sagen, ist zwar die alte Erkenntnis falsch, eine bloße Einbildng, ein dialektischer Schein; da aber unsere jetzigen Denkgesetze subjektiv, folglich ihrer objektiven Gültigkeit nach unsicher sind, so kann man gar nicht wissen, ob nicht ansich die für uns falsche Erkenntnis die richtige, unsere aber die falsche ist. Wie unsere Erde, vom Mond oder Mars aus betrachtet, sich ungefähr so ausnimmt, wie diese Himmelskörper von der Erde aus betrachtet, so würde auch die menschliche Erkenntnis, vom Standpunkt einer anderen Erkenntnis aus betrachtet, ähnlich aussehen, wie diese andere Erkenntnis jetzt uns erscheint. Ich brauche nicht weiter auszuführen, daß dies für alle denkbare Erkenntnis ohne Ausnahme gilt, daß es auf jedem Erkenntnisstandpunkt Subjektivisten geben könnte, die den auf die Subjektivität der Erkenntnis gestützten Zweifel erneuern und uns des neuen Besitzes nicht froh werden lassen würden.

So erweist sich die Annahme mehrerer verschiedener Vernunftarten, in welcher Weise man sie auch machen mag, als unvermögend, den Widerspruch zwischen dem Inhalt der Behauptung des subjektivistischen Standpunktes und der Behauptung dieses Inhalts zu beseitigen. Stets sehen wir uns wieder der Notwendigkeit gegenüber, entweder die Gültigkeit des Denkens anzuerkennen, damit aber den Subjektivismus zu verneinen, oder alle Autorität des Denkens, damit allen Unterschied von Wahr und Falsch, und damit wieder die Wahrheit des Subjektivismus aufzuheben.

c) Fragen wir aber auch hier wieder, wie es den psychologisch möglich ist, daß ein solcher, in sich unmöglicher und zu so ungeheuerlichen Konsequenzen führender Standpunkt von scharfsinnigen Denkern aufgestellt und zäh festgehalten werden kann, so werden wir die psychologische Erklärung dieses Phänomens in Folgendem finden: Die Lehre von der Subjektivität des Denkens ist eng verknüpft mit einer Auffassung des Begriffs des Denknotwendigen, welche die logische oder erkenntnistheoretische Notwendigkeit der psychologischen Notwendigkeit, wie sie in der mechanischen Assoziation der Vorstellungen und ebenso in unserer Sinnlichkeit herrscht und hier auch in den Sinnestäuschungen sich dokumentiert, gleichstellt oder mit ihr verwechselt. Diese Behandlung der logischen Denknotwendigkeit verdeckt den Widerspruch des Standpunkts, der bei eindeutiger Auffassung der logischen Notwendigkeit sofort in die Augen springen würde. Indem die logische Notwendigkeit der psychologischen einerseits gleichgesetzt, andererseits doch wieder von ihr unterschieden wird, scheint es, als könne das Denken Annahmen mit innerer Notwendigkeit entwickeln, die vor dem Richterstuhl einer kritischen Vernunft doch nicht bestehen können, und als könne es, gleich dem sinnlichen Schein, auch nach erfolgter Kritik seinen Standpunkt mit derselben Notwendigkeit festhalten.

KANT selbst ist von dem Vorwurf nicht freizusprechen, daß er zu dieser verhängnisvollen zweideutigen Auffassung der Denknotwendigkeit der dogmatischen Vernunft zumindest den Anstoß gegeben hat, obwohl er sonst die Gleichstellung des apriorischen spontanen Denkens mit der Wirkung bloßer psychischer Assoziation mit ebensoviel Recht als Erfolg bekämpft. Aber die "subjektive Denknotwendigkeit", die aus bloß der bloßen Assoziation hervorgeht (16), hat er von der subjektiven Denknotwendigkeit der dogmatischen Vernunft, der er den höheren Standpunkt der kritischen Vernunft entgegensetzt, nicht genügend geschieden, und die Vergleichung zumindest des dialektischen notwendigen Scheins der dogmatischen Vernunft mit dem psychologischen Zwang der Sinnestäuschung hat er selbst ausgeführt. Die Ursache, daß der dialektische Schein nach seiner Entlarvung nicht verschwindet, ist nach ihm diese:
    "daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer Verknüpfung unserer Begriffe, zugunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge-ansich, gehalten wird. Eine Jllusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheint, wie am Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgang nicht größer scheint, obgleich er durch den Schein nicht betrogen wird." (17)
Das Auskunftsmittel, dem Konflikt zwischen den denknotwendigen Annahmen des metaphysischen und den gleichfalls denknotwendigen Annahmen des kritischen Denkens dadurch auszuweichen, daß die Notwendigkeit, welche die metaphysischen Postulate für sich in Anspruch nehmen, so weit wie irgendwie möglich von der logischen Notwendigkeit abgerückt und der psychologischen entsprechend angenähert wird, sodaß sie eine unklare Mittelstellung zwischen beiden einnimmt, ist bei den nachkantischen Erkenntnistheoretikern sehr beliebt. Insbesondere wenn es sich um den Stein des Anstoßes der Erkenntnistheorie, das "leidige" Ding-ansich, das zu einem ebenso notwendigen wie ungültigen Gedanken gemacht werden soll, handelt, wird es mit Vorliebe herangezogen. α In dieser Beziehung ist eine Richtung charakteristisch, welche das Ding-ansich, das auch sie nicht loswerden kann, obwohl sie mit Invektiven [Beleidigungen - wp] gegen dasselbe nicht sparsam ist, aus der Sphäre des Denkens herauszunehmen und in die des Gefühls zu legen versucht. Das Ding-ansich ist ein Gefühl.
    "Es ist das, was in Beethovens neunter Symphonie unser Innerstes durchwettert und durchbraust ... was Rafael in der sixtinischen Madonna ... uns entgegenleuchten läßt, ... wonach Goethes Faust überall vergeblich sucht. Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist Alles." (18)
Aber bei diesem bloß gefühlten Ding-ansich kann natürlich niemand, auch nicht die in Rede stehende Richtung, stehen bleiben. Is das Ding-ansich wirklich bloß Gefühl, das in Begriffe zu fassen, zu denken unmöglich ist, so existiert es für den Verstand überhaupt nicht. Er kennt es gar nicht, und Metaphysik, sofern sie Erkenntnis des Dings-ansich bedeutet, ist nicht einmal der Idee nach vorhanden. Die Versuche, ihre Nichtigkeit nachzuweisen, könnten dann ebenso gespart werden, wie die Invektiven, welche LIEBMANN gegen das Ding-ansich schleudert. Versteht aber das Denken das Sehnen des Gefühls und gibt es ihm im Begriff des Dings-ansich einen verstandesmäßigen, logischen Ausdruck, so erhebt sich damit das Ding-ansich aus der Sphäre des Gefühls in die des Denkens, und das letztere hat sich nach wie vor mit der Schwierigkeit abzufinden, wie es den Gedanken des Dings-ansich zugleich notwendig bilden und als ungültig erkennen kann. Das Verständnis ist nun, wie LIEBMANNs obige sehr schöne Interpretation zeigt, vorhanden. Das Denken sagt zum Gefühl: Das "Unsagbare", das Du fühlst, das ist das Ding ansich. Es verwirft nicht die Ansicht des Gefühls als ganz unsinnig und nichtig, sondern erkennt sie ausdrücklich als berechtigt an und versucht ihren Gegenstand begrifflich zu formulieren. Dies ist der entscheidende Punkt. Woher das Denken die erste Anregung zur Bildung eines Gedankens geschöpft hat, ob aus sich selbst oder anderswoher, etwa aus dem Gefühl, ist gleichgültig; nur darauf kommt es an, welchen logischen Wert es seinem Gedanken, nachdem es ihn gebildet hat, beimißt. Diesen kann es nicht wieder aus dem Gefühl nehmen, sondern muß ihn aus sich selbst nach den ihm eigentümlichen Prinzipien schöpfen. Wer daher den Begriff des Dings-ansich für notwendig und unaufgebbar hält, hält das Ding ansich für einen denknotwendigen Begriff, und muß sich daher, wenn er ihm die objektive Gültigkeit abstreitet, auch gegen die Anklage des Selbstwiderspruchs, die wir oben erhoben haben, verteidigen. Es hilft nichts, der Denknotwendigkeit noch dadurch ausweichen zu wollen, daß man das Ding-ansich als "Frage" oder "Aufgabe" (19) faßt. In dieser Form erscheint der Gedanke freilich harmloser. Wenn ich bloß frage, ob ein Ding-ansich existiert, oder es mir als Aufgabe stelle, so sage ich damit nicht, daß es existiert. Die Frage mag notwendig sein, der Gedanke, daß ein Ding-ansich existiert, erscheint nicht notwendig, denn es ist ja nicht gesagt, daß das Denken die Frage mit Ja beantwortet oder die Aufgabe in einem positiven Sinn löst; es wird uns im Gegenteil versichert, daß es die Frage gar nicht beantwortet, die Aufgabe gar nicht lösen kann. So scheinen wir dann auf eine feine Weise das Ding ansich als problematischen Begriff festhalten und doch dem bösen Widerspruch, seine Notwendigkeit und zugleich seine Nichtnotwendigkeit behaupten zu müssen, entgehen zu können. Aber es erfordert kein sehr tiefes Nachdenken, um zu erkennen, daß auch dieser Standpunkt bloß eine Vertuschung, aber keine wirkliche Lösung des Widerspruchs enthält. In der "Frage" oder "Aufgabe" präsentiert sich die alte Denknotwendigkeit des Dings-ansich nur in einer neuen Verkleidung. Es zeigt sich, daß das Denken, wenn es die Frage nach dem Ding-ansich aufwirft oder es sich als Aufgabe stellt, sie schon, und zwar in einem positiven Sinn, gelöst hat und ohne eine solche Lösung die Frage oder Aufgabe sich gar nicht hätte stellen können. Denn wie kommt doch das Denken dazu, sich diese Frage oder Aufgabe überhaupt, und zwar notwendig, zu stellen? Sähe es, endlos an der Kette der Ursachen fortschreitend, sich genötigt, ein Letztes, Unbedingtes anzunehmen, so würde es auch nie die Veranlassung haben, die Frage nach dem Ding-ansich aufzuwerfen, so existierte, wie schon oben bemerkt, Metaphysik nicht einmal in der Einbildung und man könnte sich die Mühe sparen, ihre Unmöglichkeit weitläufig zu beweisen. Nach Dingen, die gänzlich außerhalb unseres Denkens liegen, fragen wir nicht, weil nach etwas fragen doch zugleich an etwas denken bedeutet und die absolute Jenseitigkeit, d. h. Undenkbarkeit des Gegenstandes die Möglichkeit, nach ihm zu fragen, eben ausschließt. Die einfachste Frage, wie die: ob es morgen regnen wird, setzt voraus, daß ich den Regen und die Möglichkeit seines Eintritts denken kann. Die Frage nach dem Ding-ansich soll aber sogar eine notwendige sein. Was heißt das? Daß ich notwendig immer wieder die Frage nach dem Letzten, dem Unbedingten, dem Ding-ansich erheben muß, heißts nichts anderes, als daß ich es notwendig denken muß. Die Notwendigkeit der Frage oder Aufgabe ist nur ein anderer Ausdruck für die Notwendigkeit des Gedankens des Dings-ansich. Ist das aber der Fall, so kann die Frage oder Aufgabe sich im eigentlichen Sinn nie auf das Daß, sondern immer nur auf das Was des Dings ansich beziehen und wir stehen aufs Neue vor dem Widerspruch, daß wir das Ding-ansich notwendig denken müssen und zugleich dem Gedanken jede objektive Berechtigung absprechen.
LITERATUR - Ludwig Busse, Philosophie und Erkenntnistheorie, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    9) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 195, ERDMANN 190). Vgl. auch das non liquet [es ist nicht klar - wp] (KEHRBACH 598, ERDMANN 536 und Prolegomena § 5.
    10) Vgl. meinen Aufsatz: "Zu Kants Lehre vom Ding ansich" in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 102, Seite 171f, insbesondere Seite 178-181.
    11) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 264, ERDMANN 254).
    12) LOTZE, Metaphysik, Seite 105-107 und 201-207
    13) Allerdings nicht, ohne einen Versuch zu machen, das Entweder - Oder durch eine Vermittlung der Gegensätze zu umgehen. KANT unterscheidet in der Auflösung der 1. Antinomie (KEHRBACH 419f, ERDMANN 375f) den regressus in indefinitium vom regressus in infinitum. Nur auf den ersteren bezhieht sich das regulative Prinzip, kein Glied in der reihe der Erscheinungen als das letzte zu betrachten; er selbst ist weder endlich noch unendlich. - Wollte man jedoch das indefinitum ernsthaft als ein Drittes betrachten, das nicht endlich und auch nicht unendlich ist, so würde die Auflösung der Antinomie in der Leugnung des kontradiktorischen Gegensatzes von Endlich und Unendlich bestehen; zwischen ihnen wäre dann noch ein Mittleres möglich, und das principium exclusi medii [Satz vom ausgeschlossenen Dritten - wp], das von a und non a gilt, fände keine Anwendung. Es ist aber klar, daß, um diese Lösung zu gewinnen, man nicht nötig hätte, auf den Gegensatz von Phaenomenon und Noumenon zu rekurrieren. Auch von der Welt als einem Ding-ansich könnte man alsdann behaupten, daß sie weder endlich noch unendlich, sondern ein indefinitum ist. Nun ist das nicht möglich; ist die Welt nicht endlich, so ist sie eben unendlich: tertium non datur [ein Drittes gibt es nicht - wp]. Dasselbe gilt aber auch vom regressus der Synthesis, den KANT an die Stelle der "Welt" setzt. Auch er ist, wenn er nicht endlich ist, notwendig unendlich, eben deshalb auch seiner Ausführung nach ewig indefinit. Nicht, daß wir das Ende bisher noch nie erreicht haben, sondern daß wir im weiteren Fortgang nie auf ein letztes Glied stoßen werden, bildet das eigentümliche Merkmal des nicht-endlichen Regressus, und nichts anderes enthält auch der Begriff des Unendlichen als des über jede angebbare Größe Hinausgehenden. Der Regressus geht daher, wenn er nicht abgeschlossen werden kann, allerdings ins Unendliche. Demnach ist auch die Erscheinungswelt nicht etwas, das zwischen Endlich und Unendlich in der Mitte schwebt, sondern unendlich und die Auflösung gibt - mag es KANT zugeben oder nicht - tatsächlich der Antithesis Recht. - - - Die Worte KANTs: "Auf die kosmologische Frage also, wegen der Weltgröße, ist die erste und negative Antwort: die Welt hat keinen ersten Anfang der Zeit und keine äußerste Grenz dem Raum nach", weil sie "im entgegengesetzten Fall durch die leere Zeit einer- und durch den leeren Raum andererseits begrenzt sein würde", die Weltenden aber in einer möglichen Erfahrung nicht gegeben werden können, lassen auch vernünftigerweise gar keinen anderen Sinn zu. Was durch kein Leeres begrenzt sein kann, was keine äußerste Grenze hat, ist unendlich. Daran vermag keine transzendentale Tüftelei etwas zu ändern.
    14) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 575, ERDMANN 515)
    15) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 598, ERDMANN 536)
    16) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 596, 649; ERDMANN 534, 30)
    17) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 263; ERDMANN 253,254)
    18) LIEBMANN, Kant und die Epigonen, Seite 67, 68
    19) KANT, Kr. d. r. V. (KEHRBACH 257; ERDMANN 247)