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FRITZ MAUTHNER
Möglichkeit der Philosophie
I -40

"Die Aufgabe, sich selbst zu verstehen, hat der menschliche Geist sich zuerst im Stande seiner Unschuld gestellt, wie überhaupt die Kinder es sind, die die großen Fragen stellen; in reiferen Jahren fragen die Schüler und die Völker nicht mehr: Wer sind wir? Woher kommen wir?"

Statistik und Nationalökonomie sind neue Wissenschaften, Wissenschaften, an die man noch nicht so recht religiös glaubt, und denen man es darum keck nachsagt, daß sie ohne eigene Ziele nur dem jeweiligen Machthaber und seinen immer kurzsichtigen Absichten mit ihren Formeln dienen, wie andere Pfaffen mit ihren Kultusformeln dem Throne, der ihren Altar stützt. Statistik und Nationalökonomie geben auch nicht einmal die Realgründe des herrschenden Handelns, sondern nur die falschen Erkenntnisgründe für die Zeitgenossen und Untertanen. Diese neuen Wissenschaften haben die Stellung vortragender Räte, welche den leitenden Staatsmann beileibe nicht etwa beraten sollen, sondern ihm nur für die begleitenden Reden ein brauchbares Wortmaterial bereit halten.

Dasselbe Amt haben von jeher die ehrwürdigen und darum feierlich genommenen philosophischen Systeme der Zeitphilosophen gehabt, nur in viel größerer Breite, indem sie sich nicht nur den jeweiligen Staatsmännern gefällig zur Verfügung stellten, fünf gerade und eins drei sein ließen, sondern indem sie als Popularphilosophie auch dem einfachen Manne dazu dienten, bei Hochzeit, Geburt, Tod und ähnlichen der religiösen Ausbeutung gewidmeten Anlässen, bei Erdbeben, Seuchen, Blitzschlägen und Lotterietreffern, irgend etwas Pfäffisches zum Nachbar zu sagen, worauf die Gemeinheit wieder zu ihrem Rechte kommen durfte.

So hat beispielsweise die platonische Philosophie bei Lebzeiten ihres gar nicht so verträumten Stifters die Livree der athenischen Aristokratie getragen, und hat dann die Livreen häufiger gewechselt, als es einem kurz lebenden Einzelmenschen möglich wäre. Platonische Philosophie steckte sich in die Toga römischer Stoiker (ich weiß, daß die Stoa sich nicht selbst platonisch nannte), vermummte sich in die Dalmatica alexandrinischer Bischöfe und in die Brokatgewänder byzantinischer Kaiser; platonische Philosophie beschmutzte sich in und mit den Kutten mittelalterlicher Mönche, besudelte sich in den Seidenkleidern der Renaissancemenschen und hat heute noch nicht aufgehört, um den geringsten Lohn eine Stellung bei Herrschaften zu suchen, wenn auch unter falschem Namen, mit einem falschen Dienstbuch.

Die redende Philosophie ist der Schwatzdiener der Menschheit, je nach Umständen ihr Hurraschreier, ihr Krankheitsbesprecher, ihr Klageweib. Im Wappen führt diese Philosophie den Wahlspruch: "Ich diene", über dessen Sinn und Herkunft die Historiker streiten, wie über die gemeinsten Wahlsprüche der Philosophie. Sechzig Geschlechtern der redenden Menschheit hat PLATON gedient, in immer neuen Verkleidungen; dem dritten Geschlechts - die Zeit seines Verschwindens abgerechnet - dient SPINOZA; dem vierten oder fünften Geschlechte dient KANT. Die Philosophiegeschichte nennt dieses Dienen gern ein Herrschen.

PLATON, SPINOZA, KANT hören darum nicht auf, überlebensgroße Persönlichkeiten zu sein, weil ihre Systeme nicht lebendig geblieben sind. Noch niemals hat ein System wirkend eingegriffen und einen Wert behauptet in der Geschichte der Menschheit; man kann aber auch mit Bestimmtheit vorhersagen, daß ein System niemals einen Wert haben wird. Wenn trotzdem bedeutende Köpfe nicht aufhören, ihre Einfälle systematisch zu ordnen, anstatt sie als Weihnachtsschmuck um den Baum des Lebens zu hängen, so kann das nur an dem spielerischen Zug des Menschengehirns liegen. Der Künstler ordnet am Abend, was der Denker tagsüber gesammelt hat. Das Ordnen, ob man wie GOETHE einmal die Brotkügelchen ordnet, die GRILLPARZER neben ihm bei Tische gedreht hat, ob ein sterbender Maler mit dem Blute aus seiner Todeswunde noch Arabesken auf den Fußboden zieht, - das Ordnen ist das ländliche Vergnügen des sammelnden Reichtums, es ist ein Bedürfnis zweiten Ranges, es hat nichts zu tun mit dem Wahrheitsdrang. Es ist mehr Sache von Bibliothekaren als von Bibliographen. Besser: mehr Sache von Steinmetzen und von Architekten, als von den Cyklopen, die Berge aufeinander türmen und Steine aus den Bergen brechen.

Aber auch unmöglich, für alle Zeiten unmöglich, ist ein bleibendes System, denn es wäre die Wahrheit. Die Erkenntnis der Menschheit wächst aber so wie eine Korallenbank, wo doch an allen Enden gleichzeitig die einzelnen winzigen Wesen nicht höher als um ihre eigene Leibeslänge über ihren Boden hervorragen können, also den Boden der Bank erhöhen können, der ihre Vergangenheit ist. Der einzelne Mensch ist schon von ungewöhnlicher Geisteskraft, wenn er irgend eine neue Vorstellung faßt, und infolgedessen irgend ein altes Wort der Sprache neu vernimmt oder ein neues bildet. Wohl wird er dann in seinem geistigen Spieltrieb geneigt sein, seine ganze Weltanschauung an dieses sein neues Wort zu knüpfen, und wohl werden die Nachbarworte seiner neuen Vorstellung zu ihr ein Verhältnis suchen müssen; aber so wenig ist die lebendige Welt an den Verstand gekettet, so wenig ist die Sprache ein Korrelat des Lebens, daß - während die Wirklichkeit gerade ihren deutschen Namen davon hat, daß in unendlicher Verstrickung eines auf alles und alles auf eines wirkt - die Sprache an irgend einer Stelle allein weiter gehen kann. Wäre die Sprache wirklich, entspräche die Logik der Welt, wären die Worte lebendige Symbole der Dinge, dann könnte einmal ein System werden. So aber gleicht das Wesen, das von seiner persönlichen Apperzeption aus die Welt nun begreifen will, etwa einem Korallentierchen, das sich auf ein Raketchen setzte, um emporgeschossen das Inselchen gleich um einige Fuß zu erhöhen. Alle Systeme sind solche blitzende Raketen, die nach einer Weile erlöschen und ihre Bestandteile zur Erde zurückfallen lassen.

Was der einzelne zum Fortschritt der menschlichen Erkenntnis neu apperzipiert hat, ist eben darum immer nur ein Apercu [geistreiche Bemerkung - wp]. Die älteste griechische Philosophie ist darum so reizvoll, weil wir nur Apercus von ihr übrig haben: die persönlichen Ausgangspunkte. Von PLATON bis KANT haben wir aber die Systeme vollständig konserviert. Und die Geschichteschreiber der Philosophie gießen noch Wasser ins Meer, indem sie sich bemühen, ein System in die Systeme zu bringen. Ein DIOGENES LAERTIUS tut uns not, der naiv die Apercus sammelte. Die neuesten Philosophen kommen dieser Sehnsucht dadurch entgegen, daß sie mitunter das Wesentliche, das Neue, das sie zu sagen haben, mit den wenigen Silben ihres Buchtitels ausdrücken. Das geniale Apercu SCHOPENHAUERs war: "Die Welt ist Wille und Vorstellung". Im Buch stehen außerdem noch viele Worte. EDUARD von HARTMANN fügte dem hinzu: "Aber die Philosophie muß das Unbewußte beachten". Und als FRIEDRICH NIETZSCHE mit SCHOPENHAUER in inbrünstiger Umarmung kritisch fertig geworden war, da konnte er nichts stammeln als das neue Apercu: "Jenseits von Gut und Böse". Der Gedanke steht auf dem Titelblatt; der Inhalt des Buches sind künstlerische Zierate und Schnörkel.

Wenn daraus der Pöbel der Gebildeten eine Entschuldigung dafür schöpfen sollte, daß er die Bücher nur nach ihren Titeln kennt, so denkt er pöbelhaft. Denn ein Apercu versteht völlig nur, wer es selbst apperzipiert hat. Mitteilen läßt es sich nur auf dem langen Umwege dicker Bücher. Der Entdecker des neuen Gedankens täuscht sich über die lange Weile des Umwegs eben durch das Spiel mit einem System, wie ein Kind die endlose Eisenbahnfahrt dadurch abzukürzen sucht, daß es sich die Stationen notiert.

Die Aufgabe, sich selbst zu verstehen, hat der menschliche Geist sich zuerst im Stande seiner Unschuld gestellt, wie überhaupt die Kinder es sind, die die großen Fragen stellen; in reiferen Jahren fragen die Schüler und die Völker nicht mehr: Wer sind wir? Woher kommen wir?

So kann man die alte Frageschule der Menschheit, die Philosophie recht wohl auffassen als eine Schule, in welcher immer nur eine und dieselbe Aufgabe bearbeitet wird, in welcher diese eine Aufgabe nie gelöst werden kann, weil die Arbeit länger dauert als eine Generation von Lehrern oder Schülern. Die Menschheit sendet nach jeden Wehen neue Schüler hinein, und für jeden neuen Schüler muß die Arbeit neu beginnen. Der Tod löst die Lehrer ab, und jeder Lehrer muß neu beginnen. Ewig aber steht auf der schwarzen Tafel die Frage, an deren Beantwortung die Geschlechter sich abmühen. Jedes vorangehende Geschlecht glaubt dem folgenden vorzuarbeiten, und jedes folgende muß von vorne beginnen. Denn das Fragezeichen auf der schwarzen Tafel ist selbst nicht unveränderlich, es ist ja ein Zeichen, es ist Sprache. Und vielleicht ist, was wir Philosophie nennen, eben nur der fragende Blick der Menschheit, die Frage an sich, eine Frage ohne Inhalt.

Wie man den Gang der Kulturgeschichte mit einer Schneckenlinie verglichen hat - weil er nämlich stets im Kreise um den Berg herum zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, aber jedesmal etwas höher eintrifft als der vorige Rundgang - so könnte man die Entwicklung der Sprache oder die Philosophie mit einer Schneckenlinie vergleichen, die langsam um den Berg herum aufwärts führt. Nur daß ein Gipfel nicht erreicht werden kann, weil der Berg nicht fest ist, weil er sich bewegt. Wir lieben es, zu sagen, er bewege sich nach oben, er wachse.

Der Wanderer aber, der dies erkannt hat, wenn und weil er müde geworden ist, wischt sich die bleiche Stirn und stirbt. Marterkreuze bezeichnen den Weg. Wer an vielen Marterkreuzen vorübergekommen ist, der erfährt das Geheimnis zu spät.

Philosophie als ein Überblick, als ein überlegenes und vergleichendes Zusammenfassen leitender Gedanken der Einzelwissenschaften, ist möglich von Tag zu Tag, von dem einen überragenden Kopfe zu dem anderen; Philosophie in diesem bescheidenen Sinne ist möglich, für den Philosophen selbst wenigstens, in welchem die Menschheit sich beschaulich ausruht, so zwar, daß er auf dem Marsche der Menschheit zurückbleiben muß, um auf den zurückgelegten Weg oder auf die Aussicht von der eben erreichten Stelle achten zu können.

Soll aber Philosophie "Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes" sein, so ist sie einfach nicht möglich. Denn der "menschliche Geist" ist die Summe der menschlichen Sprache, mag man beides nun am Individuum oder an der Menschheit betrachten. Der "menschliche Geist" ist das Gedächtnis des Individuums, oder eines Volkes, oder der Menschheit, wie es (das Gedächtnis) sich als Gebrauch der Wortzeichen entwickelt hat. Selbsterkenntnis der Sprache ist aber entweder eine sinnlose Wortzusammenstellung oder es bedeutet die aussichtslose Sehnsucht, mit Hilfe der Sprache in die Tiefe der Sprache einzudringen.

Dazu kommt aber noch eine traurige Schwierigkeit.

Es ist ja nicht wahr, daß die Wirklichkeitswelt unverändert nach irgend einem Schöpfungsplane fortbesteht. Die Welt entwickelt sich. Hinter ihr her, ihr nachhinkend, entwickelt sich die Sprache. Es kann also die Sprache schon aus diesem Grunde kein richtiges Weltbild geben.

Aber der Sprachschatz oder der Menschengeist, während er sich entwickelt und ziemlich lebhaft entwickelt, soll zugleich Objekt und Subjekt der Erkenntnis sein. Wäre das Objekt allein veränderlich, so könnte schon die Erkenntnis niemals ein geschlossenes System werden, ein Gedankenkreis; dieser ist aber vollends unmöglich, wenn dieser selbe Menschengeist oder der Sprachschatz zugleich Subjekt der Erkenntnis sein muß.

So mag sich der Mond (vom Erdenstandpunkt) in einer geschlossenen Ellipse um die Erde drehen; er beschreibt dennoch keine geschlossene Kurve, sondern eine sehr komplizierte Linie, weil doch die Erde sich mit ihm um die Sonne dreht. Und auch diese komplizierte Linie kehrt nicht in sich zurück, weil doch die Sonne sich mitsamt der Erde und ihrem Monde wieder um irgend ein Zentrum dreht.

So ist jedes geschlossene System eine Selbsttäuschung, so ist Philosophie als Selbsterkenntnis des Menschengeistes ewig unfruchtbar, und so kann Philosophie, wenn man schon das alte Wort beibehalten will, nichts weiter sein wollen, als kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache. Philosophie kann dem Organismus der Sprache oder des Menschengeistes gegenüber nicht mehr tun, als ein Arzt gegenüber dem physiologischen Organismus; sie kann aufmerksam zusehen und die Ereignisse mit Namen benennen.

Von der Philosophie gilt heute noch, was der alte W.T. KRUG in seinem Lexikon von ihr sagte: "Es ist ein Ausdruck, über dessen Bedeutung die Philosophen selbst bis jetzt noch nicht einig sind." Vielleicht ließe sich die Schwierigkeit der Definition durch das Paradoxon hinausschieben: Es gibt keine Philosophie, wohl aber gibt es Philosophen. Bekanntlich ist das Wort Philosoph älter als das Wort Philosophie. Ein Weiser hieß in älterer Zeit, wer wußte, was irgend seine Zeitgenossen wußten. Dem PYTHAGORAS wird von altersher die hübsche Erfindung des Wortes  Philosoph  zugesprochen. Er fand es unbescheiden, sich einen Weisen zu nennen, nur ein Freund der Weisheit, nur ein Strebender wollte er heißen, vielleicht schon mit dem tiefen Gefühl, das LESSING in seinem berühmten Worte vom Streben nach der Wahrheit geäußert hat.

Genug, es gab seit der Zeit des PYTHAGORAS Menschen, weiche Philosophen genannt wurden, nicht aber in dem Sinne, wie man heute noch Sonderlinge, Menschen, die nicht die gemeinen Zwecke verfolgen, halb spöttisch, halb achtungsvoll Philosophen nennt, sondern doch wohl so, daß man sie unphilosophisch als die Besitzer einer besonderen lehrbaren Wissenschaft betrachtete. Von den gemeinen Leuten wurde diese unbekannte Kenntnis der Philosophen Philosophie genannt, wenn nicht einzelne praktische Philosophen selbst ihre angeblich lehrbare Wissenschaft Philosophie genannt haben. Seit jener Zeit gibt es im Sprachgebrauche der abendländischen Völker eine angebliche Wissenschaft Philosophie, und von jeher haben nur wenige gewußt, daß diese vermeintliche Wissenschaft nur eine Tönung des Wissens ist. Faust ist ein Philosoph, nicht weil er neben Juristerei, Medizin und Theologie, ach! Philosophie durchaus studiert hat, sondern weil er sieht, daß wir nichts wissen können, und weil das ihm schier das Herz verbrennen will.

Die Geschichte der Philosophie lehrt, daß es wohl etwa alle hundert Jahre einmal einen Philosophen, daß es aber noch niemals eine Wissenschaft Philosophie gegeben habe. Der Unwissenheit gegenüber machen die philosophischen Disziplinen natürlich einen höchst wissenschaftlichen Eindruck; neben dem stolzen vermeintlichen Wissen ist jede Stimmung echter Philosophen das Bekenntnis zum Nichtwissen gewesen.

Gäbe es in und neben den lebendigen Philosophen und ihrer Wissensstimmung noch eine besondere lehr- und lernbare Wissenschaft Philosophie, so könnte diese Wissenschaft, da sie mit allen anderen Wissenschaften die Welt mitsamt dem Menschen zum Gegenstands und den Verstand zum Werkzeug hat, nichts anderes sein als die Gesamtheit der Wissenschaften. Die Philosophie im Kopfe des Philosophen würde dann etwa einem idealen Konversationslexikon entsprechen, einer wirklichen Enzyklopädie; nur daß jedes derartige Buch an dem Zufallsfaden des Alphabets aufgereiht werden muß und niemals eine in sich zurückkehrende Kreislinie bilden kann, nur daß auch im Kopfe eines Alleswissers die Kenntnisse ebenfalls an dem Zufallsfaden der Assoziationen aufgereiht wären und er wegen der Enge des Bewußtseins nicht mehr auf einmal in seinem Kopfe übersähe als im Buche.

Um die Philosophie als eine besondere Wissenschaft zu retten, hat man ihr bald bescheiden eine Mittelstellung zwischen Wissen und Religion angewiesen, bald sie weniger bescheiden als die Wissenschaft von den Wissenschaften aufgefaßt.

Die Vergleichung mit der Religion wäre so übel nicht, wenn man nur dabei bedächte, daß die Religion ihrem Wesen nach ein Glauben, d.h. ein Nichtwissen ist. Credo quia absurdum est. Das Wort des Kirchenvaters TERTULLIANUS scheint mir viel geistreicher, als es von der Kirchengeschichte und vielleicht von TERTULLIANUS selbst verstanden worden ist. Es gibt kein theologisches Wissen. Was absurd ist, kann man eben nicht wissen; will man überhaupt etwas mit dem Absurden anfangen, so muß man es eben glauben. Nach einem Worte SCHOPENHAUERs ist die Religion eine Wirkung des metaphysischen Bedürfnisses im Menschen. Man könnte sagen: Religion ist die Philosophie des dummen Kerls, Philosophie ist die Religion des Alleswissers.

Die andere Rettung der Philosophie, ihre Auffassung als Wissenschaft von den Wissenschaften wäre eigentlich nur für solche Alleswisser möglich, als deren letzter wohl LEIBNIZ zu betrachten wäre, da KANT z.B. keine historischen Anlagen besaß. Wer bei dem heutigen breiten Betrieb aller wissenschaftlichen Disziplinen noch eine Wissenschaft von den Wissenschaften denken oder gar schreiben wollte, würde sich den spottwohlfeilen Vorwurf gefallen lassen müssen, daß er grundsätzlich Dilettant sei.

Fast ebenso wohlfeil ist dann die Ausflucht, eine Wissenschaft von den Wissenschaften ließe sich auch durch bloße Kenntnisnahme der obersten Ergebnisse aus allen Disziplinen herstellen. Denn immer steht der Philosoph vor dem Dilemma: gelangt er zu sicheren und lehrbaren obersten Prinzipien, so gehören sie der Wissenschaft an und zwar irgend einer anderen Wissenschaft als der sogenannten Philosophie; gelangt er aber nur zu Ahnungen, so ist kein Wissen vorhanden. Wäre das Dasein eines persönlichen Gottes bewiesen, so würde diese Tatsache in die Naturwissenschaft gehören. Wir neigen dazu, unter Philosophie die letzten Prinzipien oder vielmehr Resignationen der Erkenntnistheorie zu verstehen; das gehört dann als ein Teil der Logik in die Psychologie, welche doch eine Disziplin der Naturwissenschaft zu werden strebt; und wenn man jetzt bei diesen Untersuchungen den kühnen Gedanken einer Entwicklung der Sinne und darum des Verstandes zu Hilfe nimmt, so gehört das in demselben Sinne wie die Geologie zu den historischen Wissenschaften. Es ist nicht anders: die Geschichte bemüht sich, physiologisch zu werden, während die Physiologie als Entwicklungslehre historisch werden muß.

Daß es nur Philosophen gibt, aber keine Philosophie, das wird außerhalb Deutschlands dadurch verschleiert, daß namentlich in Frankreich und England das Wort Philosophie mehr und mehr den Sinn einer allgemeinen Prinzipienlehre erhalten hat. Nach deutschem Sprachgebrauche ist es unbequem, DARWIN zu den Philosophen zu rechnen. In Deutschland haben FICHTE, SCHELLING und HEGEL, berauscht von der großen Tat KANTs, aus dem Verstande heraus lehrbare Philosophien zu ergrübeln gesucht. Die Deutschen haben nicht bemerkt, daß die Mehrzahl "Philosophien" die Sache schon verdächtig machen muß; die aufeinander folgenden Systeme der berühmten Philosophen gehören erst recht nicht in die Philosophie, sondern in die Geschichtswissenschaft. Wer sich mit dieser Geschichte, sei es noch so eingehend, beschäftigt, braucht nicht einmal ein starkes, metaphysisches Bedürfnis zu besitzen, und er ist höchst wahrscheinlich kein philosophischer Kopf. KANT und SPINOZA waren nicht stark in der Geschichte der Philosophie. Es gibt Philosophen und es gibt ihre Philosophien; aber es gibt keine Philosophie. Sicherlich ist die Beschäftigung mit den vorausgegangenen Philosophien für den philosophischen Kopf eine vortreffliche Übung; aber nur weil sie ihn die Geschichte der Begriffe kennen lehrt; eine Entwicklungsgeschichte, die übrigens endlich geschrieben werden rollte, weil sie leichter geschrieben werden könnte, als etwa die Entwicklungsgeschichte unserer Sinnesorgane. EISLERs "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" ist eine erste Vorarbeit für so eine Entwicklungsgeschichte. Ein Thesaurus muß der Benützung der Schatzes vorausgehen.

Der heillose Irrtum HEGELs, der sein eigenes System als den Schlußpunkt der Geschichte der Philosophie betrachtete, muß jedem Philosophen passieren, wenn diese optische Täuschung auch nicht immer so hochmütig bewußt wird. Die Geschlechter der Menschen sind wie Wanderer, die am Abhange eines hohen Berges hinaufstreben. Jeder, der den Gipfel des Rigi erreicht hat, meint von den verschiedenen Staffeln des Berges verschiedene und immer weitere Aussichten geschaut zu haben, auf dem Gipfel  die  Aussicht. Die Menschheit jedoch türmt sich selbst höher hinauf; für die Entwicklung ist auch die Aussicht vom jeweiligen Gipfel nur eine Aussicht. Die Tendenz allein, die Richtung nach der Höhe macht den Philosophen; und von jedem Punkte der Erde könnte man nach der Höhe streben. Die Tendenz allein, die Richtung allein, ist uns bei der Orientierung gegeben. Die Linie, welche vom Beobachter senkrecht in die Höhe führt, leitet zum Zenith, wie man sagt. Aber es gibt nirgends im Weltraume einen solchen Punkt. Nur das Ruhebedärfnis unseres Geistes, der nicht in aller Ewigkeit und bis zür Bewußtlosigkeit dem unendlich Fernen verzweifelt nachjagen mag, läßt uns schließlich müde von einem Zenith sprechen. Wir werden sehen, daß es ebensowenig  die  Philosophie gibt wie den Zenith, daß die Philosophen, deren es gibt, sich von unphilosophischen, Köpfen nur durch eine Richtung ihres Geistes unterscheiden, und daß die sie beherrschende Leidenschaft nichts ist als ein leidenschaftliches Ruhebedürfnis.

Wir haben aber inzwischen bemerkt, daß der Satz: "Es gibt nur Philosophen, es gibt keine Philosophie" - besser so ausgedrückt wird: "Es gibt keine Philosophie, es gibt nur Philosophien." Das stimmt gut mit unserer Scheu vor Personifikationen zusammen. Die Persönlichkeit eines Philosophen ist ja doch nur ein Abstraktum für die Äußerungen seines Charakters, wie sie sich in der Richtung seines Denkens ausdrücken. Man hat wohl auch in ältester Zeit, als das Wort Weisheitsfreund noch nicht erfunden war, zwischen dem Wissenden und dem Weisen unterschieden. Der Alleswisser früherer Jahrhunderte, der Vielwisser von heute wird uns zum Philosophen erst durch die Tönung seines Wissens. Ein Beispiel wird das klar machen. THALES, der Flügelmann der Geschichte der Philosophie, hat das Wasser zum Prinzip oder Urelement der Welt erhoben; es war ihm das sicherlich keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein ahnungsvoller Versuch mit dem Woher und dem Woher des Woher zur Ruhe zu kommen. Einerlei, ob er wirklich an Wasser, oder an den flüssigen Zustand, einerlei, ob er an die Flüssigkeit als ein Element oder als ein mechanisches Prinzip dachte, er war ein Philosoph, weil er sich mit seiner Vergottung des Wassers eine Sehnsucht erfüllte. Nehmen wir nun an, es würde morgen einem Chemiker die von manchen Seiten erwartete Tat gelingen, er würde unsere brutalen siebzig und mehr Elemente im Laboratorium auf den Wasserstoff als das eine Urelement zurückführen. Der Mann wäre ein Entdecker ersten Ranges; aber ein Philosoph würde er nicht heißen, weil seine gewaltige Leistung ihn selbst und uns nicht beruhigen würde, weil sofort neue chemische Fragen auftauchten und die allgemeinen Fragen der Welterkenntnis gar nicht berührt würden.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie der Begriff des Philosophien sich von THALES bis heute verschoben hat; das Wißbare hat eine unübersehbare Ausdehnung gewonnen; geblieben ist die Stimmung, in welcher der Philosoph an der Grenze des ihm Wißbaren inne hält, müde zurück und träumerisch vorwärts blickt. Man kann diese Entwicklung mit der Umschau in der räumlichen Welt vergleichen, die beim Individuum in der Kinderstube beginnt, bei der Mehrzahl der Menschen mit dem Heimatsdorfe endet und drüben die Welt mit Brettern verschlagen sein läßt, die beim Astronomen allerdings Sterne in die Berechnung zieht, deren unvorstellbar schnelles Licht zur Fahrt nach der Erde Jahrhunderte braucht, die aber auch beim Astronomen (wenn er es auch theoretisch leugnet) hinter jenen Sternen die Welt mit Brettern verschlägt, um zur Ruhe zu kommen. Es besteht die optische Täuschung des Zeniths. Man kann diese Entwicklung des Philosophenbegriffs auch vergleichen mit den Täuschungen eines Schülers, der zuerst auf jeder Stufe des Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernens etwas zu wissen glaubt, der dann auf dem Gymnasium wieder hofft, reif zu werden durch Wissen, der endlich auf der Universität zu spät erfährt, daß das bisher Gelernte nicht Wissenschaft war, und daß die letzte Wissenschaft nicht Welterkenntnis ist - wenn er nämlich philosophische Anlage besitzt, den Erkenntnisdrang, der nicht froh ist, wenn er Regenwürmer findet.

Es gibt keine Philosophie, es gibt nur Philosophien, d.h. es gibt Menschen, welche von den Grenzen des Wißbaren ein sehnsüchtiges Bewußtsein besitzen. Wir haben also nicht das Wort Philosophie zu definieren, sondern nur den Charakterzug der Philosophen zu erklären oder zu beschreiben, der Menschen, welche nicht nur andere Interessen, sondern auch die Freude am Wissen der schmerzlichen Wollust eines unstillbaren Erkenntnisdranges opfern. Diese Erklärung wird gehemmt durch eine überraschende Schwierigkeit.

Wir haben gelehrt, daß die Motive der Menschen entweder Hunger oder Liebe oder Eitelkeit sind. Wir wollen hier nicht untersuchen, inwieweit das Motiv der Eitelkeit mit dem Motiv der Liebe als der unbewußten Sorge für Nachkommenschaft verwandt sein kann. Wir wollen gefällig zugeben, daß Hunger, Liebe und Eitelkeit als böse Feen an der Wiege philosophischer Werke gestanden haben mögen, besonders seitdem die Philosophie ein Gewerbe und ein Ruhmestitel geworden ist. Aber dieses Zugeständnis ist doch nicht ganz ernst gemeint, es geht doch mehr auf das, was SCHOPENHAUER so boshaft die Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren genannt hat. Die Philosophien können aus den drei gemeinen Trieben hervorgehen, die philosophische Sehnsucht nicht. SOKRATES und SPINOZA waren nebenbei als Menschen gewiß hungrig, verliebt und wohl auch einmal eitel; ihre philosophische Sehnsucht aber stammte aus keinem dieser Motive. In ihren äußersten Wirkungen können Hunger, Liebe und Eitelkeit in den Tod treiben; doch auch der Erkenntnisdrang scheut den Tod nicht, mag der Philosoph dem blutigen Todesurteil der kompakten Majorität und ihrer Führer zum Opfer fallen, oder mag er in langsamer Selbstaufopferung Geist und Körper zerstören durch die einzige Sehnsucht, an der Grenze des Wißbaren mit geschlossenen Augen weiter zu schauen.

Aber es ist ein Unterschied zwischen der Todesflucht des Werdenden, der von Hunger, Liebe oder Eitelkeit aus dem Leben getrieben wird, und der Todessehnsucht, der Todeswollust des müden Philosophen. Der Selbstmord des Werdenden, der Selbstmord aus Hunger, Liebe oder Eitelkeit hat wirklich - wie man zu sagen pflegt - einen pathologischen Charakter. Reife aber, geistige Reife ist - wie überall die Fruchtreife in der Natur Todbereitschaft, Todessehnsucht. Die Motive des Hungers, der Liebe und der Eitelkeit verblassen im reifen Menschen vor dem letzten Motive. "Die Frucht ist reif; sie bittet welk um Trennung vom Mutterland; der Schnitter ist willkommen."

Die Todbereitschaft, die aus dem philosophischen Charakter als reife Frucht hervorgehen kann wie pathologisch der Selbstmord des Jünglings aus den drei großen allgemein menschlichen Motiven, die müde Todbereitschaft gibt vielleicht einen Wink für die psychologische Auffassung der philosophischen Stimmung; doch kann ich den Verdacht nicht unterdrücken, daß das Folgende am Gängelbande der Sprache nur spielend neben dem Abgrunde der Wahrheit vorüberführt. Schon der uralte chinesische Philosoph LICIUS hat gesagt: "Das Leben versteht den Tod nicht, und der Tod versteht nicht das Leben; die Ankunft versteht nicht den Abschied, und der Abschied nicht die Ankunft."

Es gibt im Handeln des Menschen neben den drei gemeinen Trieben noch das Motiv der Müdigkeit, das vielleicht nicht so negativ ist, wie es scheint. Gehört doch ein großer Teil des menschlichen Lebens dem Schlafe, zu dem das sehnsuchtsvolle Ruhebedürfnis hinüberführt. Und am Abend des Lebens meldet sich die letzte Müdigkeit, die Todessehnsucht, von der der Knabe, der Jüngling, der Mann nur in besonders leidenschaftlichen Stimmungen etwas wußte. Auch das Denken kennt die tägliche Erschlaffung, auch das Denken kennt am letzten Ende seines lebenslangen Erkenntnisdranges die Müdigkeit, die Todessehnsucht. Wie ein Spießrutenlaufen ist das Denken des Philosophen. Nur daß die Gasse der mit Geißeln bewehrten Warums endlos ist. Es gibt kein letztes Warum hinter welchem nicht ein neues Warum seine Geißel schwänge. Der zum philosophischen Denken Verurteilte stürzt in die Gasse hinein, die ersten Wunden stacheln nur seine Kraft auf, in Schmerz und Verzweiflung keucht er weiter bei immer neuen Warums vorüber, bis er endlich zusammenbricht und die optische Täuschung der Todessehnsucht ihm die Phantasie eingibt, der Schmerz höre auf, das letzte Warum sei erreicht.

Die endlose Reihe führte früher zum Wozu und zum Wozu des Wozu in die Zukunft. So fragen wir nicht mehr. Die Kausalität fragte früher endlos nach dem Woher und dem Woher des Woher. Wir glauben jetzt, daß die Reihe dieser Frage durch die Grenzen unserer Sinnesorgane begrenzt ist. Man fragte einst nach dem Sinn jedes Wozu und jedes Woher, endlos. Wir glauben jetzt, daß unser Verstand es ist, der den Sinn in die Welt hineinträgt; wir wissen aber auch, daß dieser Verstand, diese Fähigkeit, seinen Sinn in etwas hineinzutragen, als ein Gewordener seine Sinnigkeit erst von der Welt erhalten hat. So wird unsere letzte Frage ewig hin und her geworfen zwischen Erkenntnis und Welt, und erst die Todessehnsucht, die wollüstige Müdigkeit des Verstandes spiegelt ihm die Täuschung vor, er könne einmal innehalten und das Ende seines Denkens sei wieder einmal eine Philosophie. Und weil das Denken Sprache ist, ist diese neue Philosophie aus der Todessehnsucht des Denkens ein Selbstmord der Sprache.

So ist es die Sprache allein, die für uns dichtet und denkt, die uns auf einiger Höhe die Fata Morgana der Wahrheit oder der Welterkenntnis vorspiegelt, die uns auf der steilsten Höhe losläßt und uns zuruft: Ich war dir ein falscher Führer! Befreie dich von mir!

Die Kritik der Sprache muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren. Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie. Diese selbstkritische Philosophie wird durch ihre Resignation nicht geringer als die alten selbstgerechten Philosophien. Denn von der Sprache gilt wie von jedem anderen Märtyrer der Philosophie das tapfere Wort.

"Qui potest mori, non potest cogi." (Was schiert mich Zwang, der ich sterben kann.)
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906