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WALTER ESCHENBACH
Überwindung der Sprachkrise
- der aktive Weg


Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Sprache und Denken
Die Kommunikationskrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
"Die Kritik der Sprache führt über die herrschenden Denkformen und aus den herrschenden Denkformen hinaus."

Eine Schrift müssen wir noch gesondert hervorheben, GUSTAV LANDAUERs Buch: "Skepsis und Mystik" (1903) mit dem Untertitel: "Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik". Die Aussage des Untertitels darf nicht zu wörtlich genommen werden; es gab auch gehörige Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten und Denkarten LANDAUERs und MAUTHNERs. Wir verweisen auf eine neuere Studie über GUSTAV LANDAUER, die erste umfangreiche Arbeit über dessen vielseitiges Wirken, die auch die Beziehung zu MAUTHNER und dessen Sprachkritik untersucht.
    "In fact, however, MAUTHNERs studies of language (...) provided LANDAUER with a support for previously developed mystical conceptions which were now, in the years after 1899, particularly appealing to him. Mystic belief was not deduced from MAUTHNER. Years later LANDAUER regretted having mixed up his own thoughts with frequent references to MAUTHNER in the "Skepsis und Mystik":

     If I were able to write a second edition,  he wrote in 1910,  I would transform the whole composition an abandon the mixture of references to Mauthner and continuation of my own thoughts. That would change nothing, however, that is essential, and that already stands in it. 

    The  Skepsis und Mystik,  nevertheless, does utilize MAUTHNERs "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" an in order to understand why LANDAUER found MAUTHNERs work useful, it is necessary to discuss some of his views of language" (23).
Wir haben - umgekehrt - einige Aspekte der LANDAUERschen Schrift kurz zu betrachten. Neben der umfassenden Wiedergabe wesentlicher sprachkritischer Argumentationen MAUTHNERs enthält der Essay eine ganze Reihe weiterführender Denkanstöße, die einen lebendigen Eindruck von der Vielfalt und Intensität jener skeptisch- mystischen Zeitströmung um 1900 vermitteln. Die Schrift zeichnet sich geradezu aus durch ihren wilden Eklektitizismus, in dem eine ganze Fülle jener Elemente aufeinander trafen, die damals  in der Luft  lagen".

Da ist zunächst das resignative Einverständnis eines absoluten Agnostizismus, das LANDAUER mit MAUTHNER und vielen anderen Zeitgenossen teilte. Die einzige Aufgabe der Begriffssprache könne noch darin bestehen, "sich mit dem zu beschäftigen, was nicht ist, bisher Geglaubtes zu negieren. Alles ist anders: Das ist die Formel all unserer Wahrheit!" (24).

Sehr stark rückt bei LANDAUER das gesteigerte Lebensgefühl in den Vordergrund. Das Prinzip  Leben  verkörpert auch für ihn die gesuchte Einheit, das Allumfassende, innerhalb dessen es keine Gegensätze, Grenzen und Trennungen mehr gebe. Der Gegensatz von Ich und Welt - wir kennen diese These bereits - müssen aufgelöst werden, weil er nur ein Irrtum der Sprache sei.
    "Bisher fiel alles auseinander in ein armes, schwächlich aktives Ich und eine unnahbare starre, leblos passive Welt. Seien wir jetzt das Medium der Welt, aktiv und passiv in einem. Bisher haben wir uns begrenzt, die Welt in den Menschengeist, besser gesagt: in den Hirngeist zu verwandeln; verwandeln wir jetzt uns in den Weltgeist" (25).
Das Ichgefühl muß sich also entgrenzen zu einer Art Allgemeinheits- und Ganzheitsgefühl, das Ichbewußtsein muß dem Kollektivbewußtsein weichen. Es sei Zeit zu der Einsicht,
    "daß es keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften gibt. Es ist nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Sumen von Individuen bedeuten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen und Durchgangspunkte, elektrische Funken eines Großen und Ganzen. (...) Das Individuum ist das Aufblitzen des Seelenstromes, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art, Weltall nennt" (26).
LANDAUERs Mystik, die zwar immer wieder mit MAUTHNERs Sprachkritik korreliert, hat alle Merkmale einer passiven Beschaulichkeit und eines resignativen Ruhebedürfnisses abgelegt und gibt sich stattdessen als ein aktive, bewegende und verändernde Kraft zu verstehen, die überkommene Formen und Strukturen auflösen will, um eine neue, revolutionäre Einheit zu stiften.
    "An die Stelle der Dinglichkeit, der Kausalität, der Materie hat die Intensität, das Fließen, die Psyche zu treten, an die Stelle des Raumes die Zeit"(27).
Die Gegenüberstellung von Sprache und Mystik erfährt bei LANDAUER eine weitreichende Perspektive:
    "So sagt denn LANDAUER dort Sprache, wo er in Wirklichkeit den legitimistischen Anspruch des Gewordenen meint, und er sagt Mystik, wo er von der Setzung eines Neuen, aus dem überzeitlichen Wesen des Menschen Entspringenden sprechen will"(28).
Diese revolutionäre, dynamische und innovatorische Eigenmacht verlieh LANDAUERs mystischem Programm eine auf Wirkung und aktive Veränderung gerichtete Komponente, die man bei MAUTHNER so nicht antrifft. Die Differenz zwischen dieser akzentuierten und gesteigerten Mystik des Wollens und Handelns und der MAUTHNERschen Mystik der Resignation und des Agnostizismus ist ganz erheblich.
    "Liest MAUTHNER in  Sonntagsstunden  die Mystiker, sucht er in der Mystik  Ruhe,  ist seine Mystik Resignation, Ent-Sagung, - so ist LANDAUERs Konzeption weit entfernt von solchem Quietismus. LANDAUER weiß um eine Einheit, die durchaus fähig ist zur Tat, er bleibt nicht dabei, in sein  Inneres"  zu steigen, sondern er will die dort ruhenden Schätze  heben:  Seine Mystik ist aktivistisch" (29).
Daraus ergab sich für LANDAUER eine doppelte Konsequenz, die einmal die Sprach kunst  und zum anderen sein späteres politisches Handeln betraf. In beiden Fällen handelte es sich um die aktivistische Transzendierung der sprachkritischen Haltung MAUTHNERs und um die Eröffnung neuer schöpferischer Möglichkeiten.

LANDAUER verließ MAUTHNERs Ebene der wissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen Sprachbetrachtung und verfolgte eine weiterführende Spur, die in MAUTHNERs Werk zwar angelegt, von diesem selbst jedoch nie genauer ins Auge gefaßt worden war, und die ganz eindeutige auf eine bestimmte Strömung der zeitgenössischen Literatur hinwies. In einem  Dreistufenschritt  zeichnete LANDAUER einen Weg von der sprachlich bedingten Unwissenheit der Wissenschaft zur Möglichkeit dichtungssprachlicher Aussagen.
    "Ich habe gesagt, die Wissenschaft sei das Wissen von dem, was nicht ist. Das ließe sich an Beispielen MAUTHNERs weiter erläutern; ich erinnere an das Gesetz von der Trägheit oder der Erhaltung der Energie, deren Aussagen ja nur landläufige Irrtümer zurückweisen. Ich habe dann zweitens von dem Nichtwissen in dem abgründlich positiven Sinn der Mystik gesprochen: für den, der daran Teil hat, muß das die einzige Art von Religion sein, die ihm noch möglich ist.

    Neben diese Wissenschaft und diese Religion tritt ein drittes Element unserer Weltanschauung: die Kunst. Darunter verstehe ich hier die symbolische oder metaphorische Ausdeutung der Metaphern unserer Sinne und der Metaphern unseres inneren Bewußtseins. Sie hat an die Stelle dessen zu treten, was bisher die Wissenschaft Positives zu leisten wähnte. Nicht mehr absolute Wahrheit können wir suchen, seit wir erkannt haben, daß sich die Welt mit Worten und Abstraktionen nicht erobern läßt. Wohl aber drängt es uns, so stark, daß kein Verzicht möglich ist, die mannigfachen Bilder, die uns die Sinne zuführen, zu einem einheitlichen Weltbild zu formen, an dessen symbolische Bedeutung wir zu glauben vermögen. Das aber ist Kunst in diesem höchsten Sinn: ein zwingendes Sinnbild der Welt" (30).
Die Kunst - vor allem die metaphorischen und symbolischen Mittel der sprachlichen Kunst - erhält die Aufgabe zugesprochen, jene Einheit wiederherzustellen, die im wissenschaftlichen, rationalen Denken nicht mehr zu leisten ist und die nur in mystischen Augenblicken geschaut werden kann. Diese Aussicht auf eine künstlerische, symbolische Gestaltung die die sprachskeptische Resignation zu überwinden habe, die Forderung also einer neuen Sprachkunst  nach  der Kritik der Sprache, ist für LANDAUER eine der größten Aufgaben, die sich im Anschluß an MAUTHNERs theoretisches Werk stellen.
    "Hinter MAUTHNERs Sprachkritik öffnet sich das Tor zu neuer Kunst und zum Spiel des Lebens, das nicht mehr ernsthaft genommen wird und deshalb gerade großen Kämpfen, großen Wagnissen, unerhörtem Frevel, wunderbarer Schönheit geweiht sein wird" (31).
Die Schlußseiten von  Skepsis und Mystik  sind dieser neuen Dichtung gewidmet. LANDAUER spannt den Bogen von SCHILLERs ästhetisch eingegrenzter Sprachskepsis zu der absoluten Sprach- und Erkenntniskrise des Lord Chandos.
    "Die Klage SCHILLERs aber, daß der Dichter" in den Fesseln der Sprache "das Wirkliche bezwingen müsse, ist von einem Dichter unserer Zeit neu aufgenommen worden: von HUGO von HOFMANNSTHAL. Sein Manifest, das wohl nicht ohne Kenntnis der Sprachkritik MAUTHNERs verfaßt sein wird, bringt mich dazu, auf die Berührungen zwischen MAUTHNERs Werk und der jungen lyrischen Kunst - der einzigen Poesie, die ich zur Zeit in Deutschland finde - einzugehen.

    MAUTHNER zwar sagt mehrmals, der Naturalismus sei eine erfreuliche Bestätigung seiner Sprachkritik; ich lasse das sehr dahingestellt, da ich dem Naturalismus keine künstlerische, nur soziale Bedeutung zuerkenne, die er infolge der Schwächlichkeit und Hinfälligkeit, mit der er bei uns auftrat, aber auch schon wieder nahezu eingebüßt hat. Ich dagegen finde - vielleicht zu MAUTHNERs Entsetzen - tiefere Zusammenhänge zwischen der Sprachkritik und den Dichtern STEFAN GEORGE, HUGO von HOFMANNSTHAL, RICHARD DEHMEL und ALFRED MOMBERT" (32).
Wovor MAUTHNER stets Halt gemacht hatte, wohin sein mangelndes literarisches Sprachbewußtsein, die fehlende dichterische Selbstreflexion, nie gelangen ließ - dahin führte LANDAUER die Sprachkritik weiter.
    "Und wenn es bei Schller nur eine aufblitzende Einsicht war, die sein Dichten wenig beeinflußte, daß die Sinnenwelt nicht sagbar ist, so geben uns nun die Poeten nicht nur den Rhythmus ihres Lebens und ihrer Gefühle: sondern ebenso die Bilder der Sinnenwelt: als das Unsagbare. Dieses Ineinanderschwingen der Unsagbarkeiten, die von den entgegengesetzten Enden herströmen - der Rhythmus aus der Zeit, das Sinnenbild aus dem Raum, - dieses Auflösen alles Realen in Elemente des Traumes: das finde ich in den Dichtungen derer, die ich genannt habe, und das eben scheint mir die Stimmung zu sein, in der man einzig und allein von der Sprachkritik zur Wortkunst zurückkehren kann.

    MAUTHNER hat uns gezeigt, daß die begriffliche Wissenschaft unserer Sehnsucht, die Welt und unser Eigenes anders als nur-menschlich zu erfassen, nimmer Genüge tun kann; die Kunst aber kann es in den Momenten, wo wir in ihr leben. Wir gewinnen und schaffen Welten und verlieren uns selbst.

    Dies ist also, meine ich, der praktische Wert der Sprachkritik: daß sie uns zwar keine religiöse Weltanschauung gibt, dafür aber die große Stimmung, in der wir ihrer entraten wollen. Ob es ECKHARTs Mystik ist, die sich aus dem Schoß der Skepsis losringt, oder die

    "himmelstille, himmelsheitere Resignation der Entsagung, die MAUTHNER uns als letztes Ende bringt, oder der dionysische Pessimismus, zu dem NIETZSCHE kam: dem, der sie in sich fühlt, hat MAUTHNERs Sprachkritik ihr Bestes gegeben: Ruhe aus der Verzweiflung" (33).
In Abwandlung des oben zitierten NIETZSCHEwortes ließe sich also sagen: Wo Sprachskepsis und Mystik sich begatten, entsteht die neue Dichtung. Auf diese Entwicklung wollte LANDAUER mit seinem schmalen Bändchen hinweisen, und er hat uns damit einen erneuten Beleg für den zeitgemäßen, repräsentativen Charakter der MAUTHNERschen Sprachkritik geliefert.

LANDAUER wagte auch den Schritt in die andere Richtung: die konsequente Schlußfolgerung von der Kritik an der Sprache zur sprachtranszendierenden, aktiven Tat. Er realisierte seine früheren Thesen in der politisch verstandenen Propagierung seines Gemeinschaftsideals, in der Parteinahme für den Sozialismus und in der Teilnahme an der Münchner Novemberrevolution, die für ihn so grausam endete. Hierin trennte sich sein Weg ganz entschieden von dem MAUTHNERs, der sich wiederholt und betont von Landauers politischem Engagement distanzierte.
    "Auf zwei Wegen sah LANDAUER die Rettung, auf zwei Wegen zu gleichem Ziele: die Masse der Menschen ist verelendet durch das Unrecht der Kapitalistenwirtschaft. Diese lebt nur durch die Gewalt des schützenden Staates. Aber wer schützt, wer erhält, wer belebt die Gewalt des Staates? Garnichts, so lautet LANDAUERs Antwort, als  unser Wahn  als der Aberglaube der Menschen, als die sinnlose Verehrung großtönender Worte.

    Die Befreiung des menschlichen Ich von diesem Aberglauben ist nach LANDAUERs Ermessen das erste, was zu tun ist. Deshalb war ihm FRITZ MAUTHNER, der kritische Zerstörer des Sprachaberglaubens, ein so unschätzbarer Verbündeter, weil hier in die Nichtigkeit bloßer Sprachgewohnheiten Begriffe aufgelöst wurden, die sonst mit religiöser Mach über den Geistern thronten. Dies war GUSTAV LANDAUERs  Anarchismus den Menschen frei zu machen von dem Wahn der Staatsidee. (...) Zu dieser  Befreiung des Ich  muß nun aber das zweite Mittel kommen, die neue  Bindung des Ichs  - die Bindung zur Gemeinde durch den allen Menschen eingewurzelten Liebestrieb" (34).
MAUTHNERs Abneigung gegen das Übergewicht des Sprachlichen, gegen Theorien und Systeme, ja gegen die Sprache überhaupt, wurde von LANDAUER konsequent in die Tat umgesetzt.
    "Somit ist das einzige  Dogma  des Sozialisten LANDAUERs, kein Dogma, keine Theorie, kein System noch Programm haben zu wollen; das unmittelbare, sofortige Tun-Wollen, das Bewältigen der gegenwärtigen Wirklichkeit macht nach LANDAUERs Erachten jedes Programm überflüssig. (...) LANDAUERs Appell an den Willen und die Tat liegt durchaus im damaligen Zeitgeist begründet, wie sich in den folgenden Jahrzehnten erweisen sollte" (35).
Hatte MAUTHNER lediglich festgestellt, daß die Sprache an der Isolation und Vereinsamung der gegenwärtigen Menschheit schuld sei, so beschäftigte sich LANDAUER nun mit der sozialen und politischen Aufgabe, diesen Zustand zu verbessern und abzuschaffen. Was in den theoretischen und abstrakten Formulierungen seiner Schrift  Skepsis und Mystik  noch als Tendenz zur Mystik hervorgetreten war, kehrte in seinem späteren aktiven Wirken und in seinen sozialistischen Programmschriften als Annäherung an utopische Vorstellungen wieder.
    "Will man zusammenfassend das Werk GUSTAV LANDAUERs mit wenigen Worten charakterisieren, so ist nicht damit gedient, festzustellen, hier sei die historisch einwandfrei zu verfolgende Linie zahlreicher Utopien weitergeführt worden; es sagt auch wenig, wenn ermittelt wird, daß LANDAUER Eklektiker sei und seine Utopie eine Synthese von Mystik, philosophischem Idealismus und anarchistischer Tradition; aber es besagt schon gar nichts, wenn der Sinn der Utopie - auch derjenigen LANDAUERs - überhaupt in Frage gestellt wird.

    Denn entscheidend für den Wert der Utopie ist letztlich nicht ihre unmittelbare Anwendbarkeit oder ihre Unzulänglichkeit, sondern daß sich gelegentlich Menschen finden, wie LANDAUER einmal sagte,  die es nicht mehr aushalten können  in ihrer Zeit, die Kritik üben müssen an Überliefertem, Verknöchertem, Festgefahrenem, Dumpfem und Übermächtigem; die auf dieser Erde, wenn auch stets als Geschlagene, den ohnmächtigen Versuch machen, die Menschheit zu einem erfüllteren Leben und zu einer Freiheit, wie sie sie verstehen, zu bekehren" (36).
Sprachkritik war nicht nur ein erster Anstoß, sondern eine wesentliche Komponente in diesem umfassenden Emanzipationsprozeß, der über die erkenntnistheoretischen Grundlagen MAUTHNERs weit hinausging. Dieser stand der aktivistischen, sozialutopischen Konsequenz fern, wenngleich sie sich an vielen Stellen auf seine Sprachtheorie und seinen Sprachhaß berufen konnte.

In einer 1966 in Greifswald erschienenen Dissertation wird MAUTHNERs Abstinenz von den sozialistischen Ideen LANDAUERs kurz und bündig abgetan. Er wird als
    "bedeutender Vertreter des liberalen Flügels innerhalb des deutschen Bürgertums" bezeichnet, dessen Lebensweg "nicht frei von Irrtümern" gewesen sei. "Die bestehenden Klassenverhältnisse verhinderten jedoch auch bei ihm (...) den Übergang zur Weltanschauung der revolutionären Arbeiterklasse" (37).
Der komplizierte Zusammenhang von Sprachtheorie und politischer Praxis ist damit natürlich in unangemessener Weise verkürzt und verzerrt. Tatsächlich wäre bei LANDAUER eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die von einer gesteigerten und radikalisierten Sprachkritik zum Aktivismus und zum Aufruf zur Tat führen würde, zu einer Ethik des Handelns und somit zu einer Transformierung des Sprachtheoretischen in den übersprachlichen Bereich des  kritischen Tuns,  der tätigen Verantwortlichkeit und Mitmenschlichkeit.

Ein scheinbar spezifisches Erkenntnisproblem hätte sich damit erweitert zu einer Frage zwischenmenschlicher Aktivität und praktizierten Gemeinschaftsgeistes. Ebenso wäre das Them der verbalen kommunikativen Kompetenz zu ergänzen in Richtung auf ein geordnetes kommunikatives Handeln.

Die Fragestellungen der Sprachkritik führen also - konsequent zu Ende gedacht - sehr leicht in das Gebiet des sozialen Handelns und gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls. Nur ist dieser komplexe Zusammenhang nicht auf das Phänomen des Klassenbewußtseins zu reduzieren. Biographie und Werk LANDAUERs sind nur  ein,  wenn auch bezeichnendes Beispiel; in der Epoche des Expressionismus wäre diese Linie von der Sprachskepsis zum sprachtranszendierenden sozialen Engagement und politischen Handeln weiterzuverfolgen.

Sogar in MAUTHNERs Schriften selbst findet sich ein Satz, der in diese Richtung weist. In seinem in BUBERs Sammlung  Die Gesellschaft  erschienenen Buch  Die Sprache  (1907) lesen wir:
    "Es gibt auf der Welt mehr hungernde und beladene andere Menschen als Sprachforscher. Darum ist eine Gesundung der Grammatik keine so dringende Aufgabe, wie etwa eine gute Arbeitergesetzgebung" (38).
Obwohl MAUTHNER den Riß zwischen philosophischem Idealismus und politischem Realismus wahrgenommen hatte, ergaben sich bei ihm keine ernsthaften Konsequenzen aus den Berührungspunkten zwischen seiner Sprachtheorie und seinen politischen Auffassungen und Überzeugungen. Die allgemeinen Bemerkungen zum Zusammenhang von Sprechen und Handeln bewegen sich bei ihm im Rahmen geläufiger Stereotype und Klischees.
    "Nur handelnd verstehen wir die Wirklichkeitswelt, nur wenn wir selbst wirkend mitten in der Wirklichkeit stehen, niemals wenn wir uns ihr denkend gegenüberstellen wollen" (39).
Im Gegensatz zu LANDAUER dürfen wir aktive und produktive Konsequenzen MAUTHNERs aus seiner skeptizistischen Sprachresignation nicht auf dem Feld des politisch- sozialen Handelns suchen, sondern innerhalb des ihm gemmäßen Aktionsbereichs der erkenntnis- und sprachtheoretischen Kritik.
    "Die Philosophen halten sich für die klügsten Menschen, weil sie die bewußtesten sind; aber wie die gewissenhaften Menschen beim Handeln zögern, so sind auch die bewußtesten Menschen keine Helden der Tat. Auch do ist noch das Bewußtsein dem Leben entgegengesetzt. Denn das Bewußtsein ist Gedächtnis und lebt in der Vergangenheit, das Leben ist die Gegenwart. GOETHE hat es wieder einmal am schönsten gesagt:  Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.  (Sprüche in Prosa Nr. 162)" (40).
Ein solcher Betrachter war MAUTHNER in erster Linie; Analyse und verbale Kritik waren ihm wichtiger als handlungsorientierte Schlußfolgerungen. Wenngleich diese passive Haltung, der skeptisch- agnostizistische Standpunkt und die pessimistisch- resignative Grundstimmung, in MAUTHNERs sprachkritischen Werk überwiegt, darf jedoch ein aktives, schöpferisches, bewußtseinsveränderndes und erkenntnisförderndes Element seiner Sprachkritik nicht übersehen werden.

Neben der oft destruktiven Analyse und dem resignativen Eingeständnis, die Wirklichkeit sei sprachlich nicht erkennbar, bleibt nämlich auch in MAUTHNERs radikaler Sprachzerstörung noch ein kleiner, aber weitreichender Bereich der Aktivität. Es ist dies der Verweis auf die eigene sprachkritische Methode als konstruktives Korrektiv jeden Sprachbewußtseins und -gebrauchs. Das Prinzip der sprachkritischen Reflexion, das wir als wesentlichstes Element einer positiv zu bewertenden Sprachskepsis hervorgehoben haben, kommt an manchen Stellen auch in MAUTHNERs Gedankengängen zum Vorschein.

Er hat diese aktive, sprach- und bewußtseinsverändernde Zielrichtung der selbstreflexiven Sprachkritik besonders in der Einleitung des  Philosophischen Wörterbuchs,  der Fortsetzung seiner  Beiträge,  hervorgehoben. Seine Sprachkritik sei ein "Kampf gegen jede Form des Aberglaubens und Dogmatismus, der mich immer wieder in die Nachbarschaft der Aufklärer bringt"(41).

In einer Revisision sämtlicher Begriffe, vor allem der abstrakten und wissenschaftlichen, und in der permanenten, Sprache und Bewußtsein konfrontierenden Selbstkritik erfährt MAUTHNERs Sprachmißtrauen seine positive, aktive und konstruktive Alternative.

Radikaler Sprachverzicht und resignatives Schweigen waren die Endstation des introvertierten, mystischen Wegs der MAUTHNERschen Sprachkritik. In der entgegengesetzten aktiven Richtung gewann seine Sprachkritik jedoch auch praxisnahe, sprachverändernde Züge, die auf eine revidierte Sprachsituation und eine Reformierung des tatsächlichen Sprachgebrauchs hinzielten.
    "Emanzipieren wir uns also für einen Augenblick von unserem Sprachgebrauch, auch dem sogenannten wissenschaftlichen Sprachgebrauch, wie man sie jedesmal vom Sprachgebrauch, wie man sich jedesmal vom Sprachgebrauch der Gegenwart emanzipieren muß, wenn man auch nur um Haaresbreite über das Begreifen der Gegenwart hinausgelangen will. Wir haben dann meines Erachtens die Stellung entdeckt, welche die Sprache als Mittelglied zwischen dem Gedächtnis und dem Bewußtsein einnimmt" (42).
Die Sprache von MAUTHNER an vielen Stellen dem Gedächtnis und dem Bewußtsein einfach gleichgesetzt, kann sich seiner Meinung nach doch auch wiederum von ihrer bloß bewahrenden Funktion lösen und geistiger Vermittler eines veränderten und erweiterten Bewußtseins werden. Sie kann das aber nur auf dem von MAUTHNER aufgezeigten Weg der sprachlich geübten Kritik an der Sprache.

In anderen Worten heißt das: MAUTHNERs Thema, sein Gegenstand und seine Methode müssen die Stufe einer immanenten sprachlichen Selbstreflexion erreichen, müssen zu einem permanenten Prinzip des jeweils aktuellen Sprachgebrauchs werden, um auf diesem  aktiven  Weg die  neue Sprachlichkeit  sowohl in der Wissenschaft als auch in der Literatur zu gewinnen.
    "Die Kritik der Sprache muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren" (43).
Auf der nichtmystischen Ebene der erkenntnistheoretischen Diskussion ging es nicht mehr nur um die sprachkritische Analyse, sondern auch um die Neukonstituierung brauchbarer Denk- und Sprachformen, um den Nachweis einer neuen  Erkenntnistheorie  als Sprachkritik.
    "Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie. Diese selbstkritische Philosophie wird durch ihre Resignation nicht geringer als die alten selbstgerechten Philosophien. Denn von der Sprache gilt, wie von jedem andern Märtyrer der Philosophie das tapfere Wort:

       Qui potest mori, non potest cogi. 
      Auch die Sprache muß sterben können,
      wenn sie noch mal lebendig werden will" (44).
Mystisches Ruhebedürfnis und kritische Selbstreflexion ergänzen sich in der abschließenden These. Wenngleich MAUTHNER die Evidenz häufig schuldig bleibt, gilt doch der programmatische Kernsatz für sein theoretisches Gesamtwerk:
    "Wir müssen in unserem Denken den Bann der Sprache brechen, in welcher wir denken" (43).
Mit dieser Formulierung hat er zweifelsohne in den Mittelpunkt der Sprachkrise um 1900 getroffen und das wesentliche Kriterium ihrer schöpferischen Potentialität bezeichnet. Für die wissenschaftliche, philosophische Sprachkritik hat ebenso wie für die literarische Sprachskepsis zu gelten:
    "Die Kritik der Sprache führt über die herrschenden Denkformen und aus den herrschenden Denkformen hinaus" (44).
Insofern hat MAUTHNER nicht nur die aussichtslose Sprachverzweiflung gelehrt, sondern auch die Brücke zu einer kritischeren und zeitgemäßeren Sprachauffassung geschlagen, zu einem reflexiven Sprachgebrauch, der die naiven und ungeprüften Sprachgewohnheiten des präkritischen Sprachzustandes endgültig ausräumte und ein Sprachbewußtsein bzw. eine zwischenmenschliche Verständigung auf höherer Ebene vorbereitete.
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    23) EUGENE LUNN, Gustav Landauer, "The development of a romantic Socialist", Ann Arbor/Michigan 1969, Seite 220
    24) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 99
    25) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 9
    26) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 13
    27) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 58
    28) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 79
    29) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 78
    30) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 49
    31) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 6f
    32) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 72
    33) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 73
    34) JULIUS BAB, Gustav Landauer, Gedächtnisrede, gehalten in der Volksbühne zu Berlin am 25. Mai 1913, Berlin 1919, Seite 12f
    35) WOLFGANG KALZ, Gustav Landauer, Kultursozialist und Anarchist, Meisenheim am Glan 1967, Seite 99
    36) WOLFGANG KALZ, Gustav Landauer, Kultursozialist und Anarchist, Meisenheim am Glan 1967, Seite 140
    37) HEINZ MÜLLER, Fritz Mauthners Stellung in der Geschichte der Philosophie, Dissertation Greifswald 1966, Seite IIf
    38) HEINZ MÜLLER, Fritz Mauthners Stellung in der Geschichte der Philosophie, Dissertation Greifswald 1966, Seite 36
    Am 13. November 1918 schrieb Mauthner an Landauer: "Ich bin kein handelnder Mensch, wüßte aber trotzdem Plätze, wo ich - trotz Skepsis in nationalökonomischen Dingen - nützlich werden könnte: in Kultur und Unterricht. Bin aber zu alt, um mich dem  Rate geistiger Arbeiter  anzubieten oder anzubiedern." (Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, hrsg. von MARTIN BUBER, Frankfurt/Main 1929, Seite 306, Anmerkung 1)
    39) Beiträge II, Seite 459
    40) Philosophisches Wörterbuch I, Seite 108f
    41) Philosophisches Wörterbuch I, Seite XII
    42) Beiträge I, Seite 424
    43) Beiträge I, Seite 657
    44) Beiträge I, Seite 657