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RUDOLF von JHERING
Die geschichtlich-gesellschaftlichen
Grundlagen der Ethik


"In derselben Weise, wie das Recht die ursprünglich imperativische Form des Gebots und Verbots mit einer anderen: der begrifflichen vertauscht hat, hat es auch die Ethik mit den sittlichen Imperativen getan. An die Stelle des Sollens der Norm tritt bei ihr das Sein des Begriffs (des sittlichen Gutes, der Tugend, der Pflicht, des sittlichen Menschen), die Normen streifen ihre imperativische Form ab und schlagen nieder zu Momenten des Begriffs."

"Das Sittliche ist historisch nicht vom Individuum, sondern von der Gesellschaft aus gewonnen worden, und auch praktisch besteht das wahre Verhältnis derselben darin, daß die Gesellschaft dasselbe von ihm fordert. ... Das Individuum soll und muß wissen, daß es sich in Abhängigkeit von der Gesellschaft befindet, daß es sein Gesetz von ihr erhält; eine Theorie, die ihm das Gegenteil vorspiegelt, stellt die Wahrheit auf den Kopf. Das Individuum ist Teil des Ganzen, der Teil aber nimmt sein Gesetz entgegen vom Ganzen, und mag sich das Individuum als Glied der Gesellschaft auch noch so einig mit ihr fühlen, immer ist es die Gesellschaft, welche ihm die Normen des sittlichen Handelns diktiert."

"Gegenüber dem Sirenengesang einer ungesunden Theorie, welche das Individuum mit seiner sittlichen Selbstherrlichkeit zu betören sucht, halte ich es für geboten, ihm einmal die nackte, nüchterne Wahrheit ins Ohr zu rufen: du bist nur Glied des Ganzen und erhältst von ihm deine Gesetze, eigne sie dir so an, daß das äußere Gesetz dein eigenes, und daß damit die äußere Notwendigkeit eine innere Freiheit wird, aber gibt nicht dem Wahn hin, daß die Zügel, die du subjektiv nicht fühlst, objektiv nicht existieren."

Seit Jahrtausenden, von den Zeiten der griechischen Philosophen an, bis auf die Gegenwart herab, widmet die Wissenschaft sich der Aufgabe, das Wesen des Sittlichen zu ergründen, und wenn irgendeine, so sollte man erwarten, daß diese längst gelöst worden ist. Denn das Sittliche liegt dem Menschen nicht fern wie die Sonne, Mond und Sterne, und es bedarf zur Erkenntnis desselben nicht künstlicher Hilfsmittel und Apparate, sondern es umgibt ihn wie die Atmosphäre, in der er lebt, und die er täglich einatmet; er braucht, sollte man sagen, nur sein Auge zu öffnen, um dieses Stück seiner Welt zu begreifen. Aber der Erfahrungssatz, daß dasjenige, was uns am nächsten liegt, oft am schwersten und spätesten erkannt wird, bewährt sich auch hier wieder einmal. Der Mensch begreift eher alles andere außerhalb von ihm, als sich selbst, - von allen Rätseln, welche die Natur ihm aufgegeben hat, ist er selbst das schwerste.

Auf keinem Gebiet des menschlichen Wissens gehen noch bis auf den heutigen Tag die Ansichten so weit auseinander wie auf dem der Ethik, oder richtiger nicht sowohl die Ansichten - denn über das Einzelne: über die einzelnen Tugenden, Pflichten usw., kurz über das Inhaltliche der Ethik herrscht im Wesentlichen kein Streit - als vielmehr die Grundanschauungen, die Ausgangs und Zielpunkte, die Gesamtkonstruktion und Fundierung der Ethik, und wenn man manchen Werke über diese Disziplin miteinander vergleicht, insbesondere die der Deutschen und Engländer, z. B. aus früherer Zeit KANT und SCHLEIERMACHER mit BENTHAM, aus allerjüngster EDUARD von HARTMANN mit HERBERT SPENCER, so sollte man glauben, daß sie auf demselben wissenschaftlichen Boden gewachsen sind.

Wäre ich imstande gewesen, mich einer der bisher aufgestellten Grundanschauungen schlechthin anzuschließen, gern würde ich es vermieden haben mich an einem Problem zu versuchen, das meinem Berufswissen fern liegt, und das ich früher, so oft ich in die Nähe desselben kam, behutsam umgangen habe. Ein solches Umgehen war aber bei meinen jetzigen Studien über den Zweck im Recht unmöglich, ich mußte über den Begriff des Sittlichen Rede und Antwort stehen, und so bin ich, da ich mich von der Richtigkeit der Lösung des Problems von Seiten Anderer nicht überzeugen konnte, genötigt gewesen, mich selbständig an demselben zu versuchen. Subjektiv bin ich von der Richtigkeit der gefundenen Lösung auf das Festeste überzeugt. Dieselbe hat sich mir im Lauf der Jahre an allem, woran ich sie erprobte: an der Erfahrung des täglichen Lebens wie an den Tatsachen der Geschichte und an den Ansichten Anderer stets bewährt, ich habe nie Gelegenheit gefunden, sie in Zweifel zu ziehen, sie ist stets ohne Rest aufgegangen. Ja mehr als das: sie hat sich mir als eine Leuchte erwiesen, die stets neues Licht verbreitete, Aufschlüsse gewährte, die ich selber nicht erwartet hatte, und wenn die wissenschaftliche Ergiebigkeit und Fruchtbarkeit einer allgemeinen Auffassung, daß ihr wie der lebendigen Quelle stets ein neuer Wahrheitsgehalt entquillt, ohne sich je zu erschöpfen, ein Kriterium der Wahrheit ist, so darf ich glauben, die Wahrheit gefunden zu haben. Ich orientiere den Leser über den Plan und Gang meiner Untersuchungen über das Sittliche.

Der Grundplan derselben beruth auf der Unterscheidung zweier Seiten des Sittlichen: des objektiv und des subjektiv Sittlichen. Unter ersterem verstehe ich die sittlichen Normen, die objektive sittliche Ordnung, unter letzterem das praktische Verhalten des Subjekts zu derselben: den subjektiven sittlichen Willen, die sittliche Gesinnung.

Die wissenschaftliche Betrachtung der ersten Seite hat zwei Fragen zum Gegenstand: die nach dem Ursprung oder der Quelle der sittlichen Normen, - woher kommen sie? - und die nach dem Zweck - was sollen sie? Die zweite Seite fällt zusammen mit der Frage nach dem subjektiven Motiv des sittlichen Willens - was bestimmt den Willen, die sittlichen Normen zu befolgen?

Die drei hier aufgeführten Fragen lassen sich als die drei Kardinalfragen der Ethik bezeichnen. Sie bedeuten für die Ethik dasselbe, was für dsa Dreieck die drei gegebenen, dasselbe bestimmenden Stücke; wer sie in einer bestimmten Art beantwortet hat, hat damit zu den Grundproblemen der Ethik Stellung bezogen; sie bilden die trigonometrische Trias der Ethik, aus der sich alles andere berechnen läßt. Wer sich und Anderen Klarheit über sein Verhalten zu diesen Problemen verschaffen will, muß sie beantworten; solange er dies nicht getan hat, ist das Dreieck noch nicht fertig. Die Punkte, welche man sonst wohl als entscheidende anzusehen pflegt, z. B. die bekannte Trias der ethischen Güter, Tugenden, Pflichten (SCHLEIERMACHER), reichen zu dem Zweck nicht aus, sie bedeuten für die Ethik nicht mehr, als die drei Winkel für das Dreieck, die Seiten sind damit noch nicht gegeben.

Wenn ich die sittlichen Normen zum Ausgangspunkt und zum Fundament meiner ganzen Untersuchung mache, so bedarf dies der Rechtfertigung, ich mache mich damit nämlich scheinbar eines Rückfalls in eine wissenschaftlich längst überwundene Auffassungsweise schuldig, ich scheine zum Katechismus zurückzukehren.

In derselben Weise, wie die Jurisprudenz aus Gründen, die nicht hierher gehören, die ursprüngliche Form, in der das Recht historisch zur Erscheinung gelangt: die imperativische des Gebots und Verbots mit einer anderen: der begrifflichen vertauscht hat, hat es auch die Ethik mit den sittlichen Imperativen getan. An die Stelle des "Sollens" der Norm tritt bei ihr das "Sein" des Begriffs (des sittlichen Gutes, der Tugend, der Pflicht, des sittlichen Menschen), die Normen streifen ihre imperativische Form ab und schlagen nieder zu Momenten des Begriffs. Die ganze Darstellung nimmt auf diese Weise den Charakter der Beschreibung einer geistigen Welt an, der sich die Wissenschaft gerade so gegenüber stellt, wie der Naturforscher der Natur, sie gibt nicht an, was sein soll, was von Seiten der Person geschehen soll, sondern sie stellt dar, was ist, sie schildert. Für die Ethik ist Gegenstand der Darstellung der Typus des sittlichen Menschen, sein Idealbild. Ihm entnimmt sie den Inhalt des Sittlichen, aber nicht als eine Norm, die von außen an ihn herantritt, sondern als begrifflich notwendigen Ausfluß seines Inneren, als Emanation seines eigenen sittlichen Wesens. Das "Sollen" ist überwunden, Sollen und Sein ist eins. Es liegt nicht in meiner Absicht, den Vorzug, den diese Darstellungsweise in ästhetischer Beziehung vor der imperativischen in Anspruch nehmen kann, und ihre wissenschaftliche Berechtigung als bloße Form der Darstellung zu bestreiten; allein von der Darstellung ist die Untersuchung und Forschung wohl zu unterscheiden, für letztere aber ist die Rückkehr zur natürlichen und ursprünglichen Form des Imperativs meines Erachtens unerläßlich. Als ausschließliche Betrachtungsform des Sittlichen schließt jene begriffliche Auffassungsweise für die Ethik eine Gefahr in sich, deren ich an eigener und fremder Erfahrung bei der Jurisprudenz längst inne geworden bin, nämlich die, über dem Begriff den Zweck außer Acht zu lassen. Beim Begriff entschlägt man sich nur zu leicht der Frage nach dem Zweck. Er tritt uns entgegen im Gewand einer für sich seienden, in sich ruhenden, abgeschlossenen Existenz, er ist da, ganz so gut wie die Dinge der Natur. Wozu erst noch seine Existenzberechtigung in Frage stellen? Sie ist mit ihm selber gegeben, seine Existenz überhebt ihn dieses Nachweises. Beim Imperativ dagegen frägt jeder denkende Mensch sofort nach dem Warum, und diese Frage führt ihn zum letzten Grund der Sache zurück, der bei allen praktischen Dingen im Zweck besteht. Die begriffliche Form dagegen lenkt ihn von dieser Frage nach der Quelle ab und verlockt ihn in die Bahn einer falschen Dialektik, welche ihm vorspiegelt, er könne mit Hilfe rein formaler Operationen (Konsequenz - Konstruktion - Spekulation) die Wahrheit gewinnen, sein Problem erfordere kein anderes Verhalten als das des Naturforschers gegenüber den Dingen der Natur: reine, unbefangene Hingabe an das Objekt, Anwendung der naturhistorischen Methode auf die Welt des Geistes.

Darum nehme ich mit Absicht und Bewußtsein für den Zweck meiner Untersuchung die Form des Imperativs: die der sittlichen Normen wiederum auf; es wird sich zeigen, ob dieser scheinbare Rückfall in eine angeblich wissenschaftlich überwundene Form - denn als solche wird sie bezeichnet - das Sache nach förderlich ist oder nicht.

Noch in einer anderen Richtung wird meine Darstellung den Schein eines wissenschaftlichen Rückschritts auf sich laden. Sie findet die Quelle des sittlichen Imperativs nicht im Individuum, sondern in der Gesellschaft, sie läßt also denselben von außen an dasselbe herantreten. Damit verfällt sie dem Vorwurf der Heteronomie [Abhängigkeit von anderen Gesetzen - wp] des Moralprinzips, der gleichzeitig gleichbedeutend ist mit ihrer Unwissenschaftlichkeit. Das wahre Moralprinzip soll der neueren Ethik z. B. auch der HARTMANNs zufolge ein autonomes sein, es soll dem Individuum nachgewiesen werden als Gesetz seiner selbst.

Auch ich gelange schließlich zu dem Resultat, daß das Individuum das Sittliche als Gesetz seiner selbst in sich tragen soll, und daß es indem es sittlich handelt, nur sich selber behauptet (ethische Selbstbehauptung), aber ich gelange dazu, ich gehe nicht davon aus. Das Sittliche ist historisch nicht vom Individuum, sondern von der Gesellschaft aus gewonnen worden, und auch praktisch besteht das wahre Verhältnis derselben darin, daß die Gesellschaft dasselbe von ihm fordert. Die Überwindung dieses Gegensatzes des Äußeren und Inneren, das völlige Einswerden des Individuums mit dem Sittengesetz, kurz die Autonomie desselben ist die letzte, höchste Form, in der dasselbe sich in ihm verwirklicht, aber die Tatsache, daß dasselbe als Gebot und zwar als Gebot der Gesellschaft von außen her ihm aufgezwungen worden ist, wird dadurch nicht ungeschehen gemacht und soll auch von ihm selber nicht verkannt werden. Das Individuum soll und muß wissen, daß es sich in Abhängigkeit von der Gesellschaft befindet, daß es sein Gesetz von ihr erhält; eine Theorie, die ihm das Gegenteil vorspiegelt, stellt die Wahrheit auf den Kopf. Das Individuum ist Teil des Ganzen, der Teil aber nimmt sein Gesetz entgegen vom Ganzen, und mag sich das Individuum als Glied der Gesellschaft auch noch so einig mit ihr fühlen, immer ist es die Gesellschaft, welche ihm die Normen des sittlichen Handelns diktiert. Gegenüber dem Sirenengesang einer ungesunden Theorie, welche das Individuum mit seiner sittlichen Selbstherrlichkeit zu betören sucht, halte ich es für geboten, ihm einmal die nackte, nüchterne Wahrheit ins Ohr zu rufen: du bist nur Glied des Ganzen und erhältst von ihm deine Gesetze, eigne sie dir so an, daß das äußere Gesetz dein eigenes, und daß damit die äußere Notwendigkeit eine innere Freiheit wird, aber gibt nicht dem Wahn hin, daß die Zügel, die du subjektiv nicht fühlst, objektiv nicht existieren.

So kehre ich also zur sittlichen Norm als Ausgangspunkt meiner ganzen Untersuchung zurück, und ich greifen die beiden obigen Fragen, welche sich in Bezug auf sie erheben, wiederum auf, um kurz die Stellung, die ich zu ihnen einnehme, anzugeben.

Die erste war die Ursprungsfrage. Für mich persönlich ist sie die zweite gewesen, ich habe zuerst die Frage vom Zweck der sittlichen Normen ins Auge gefaßt, und ich behalte diese Ordnung auch im Folgenden bei. In Bezug auf sie bin ich zu dem Postulat gelangt, daß alle sittlichen Normen im weitesten Sinne des Wortes (Recht, Moral, Sitte) lediglich das Wohl und Gedeihen der Gesellschaft zum Zweck haben, in meiner im ersten Band meines "Zweckes im Recht" (Seite 454f) aufgestellten und begründeten Terminologie vom Zwecksubjekt ausgedrückt: daß die Gesellschaft das Zwecksubjekt des Sittlichen bildet. Sittlich und gesellschaftlich ist gleichbedeutend, überall, wo man sittlich sagt, kann man den Ausdruck mit gesellschaftlich vertauschen - alle sittlichen Normen sind gesellschaftliche Imperative.

Bei der Wahl zwischen dem Individuum und der Gesellschaft als den möglichen Subjekten scheint mir Folgendes entscheidend. Ist der Einzelne Zwecksubjekt des Sittlichen, so müssen die sittlichen Normen so beschaffen sein, daß sie ihn für die Verfolgung seiner rein privaten Lebenszwecke tauglicher machen, als er es ohne sie sein würde. Ist dagegen die Gesellschaft Zwecksubjekt des Sittlichen, so müssen die Normen so beschaffen sein, daß das Bestehen oder Wohl der Gesamtheit dadurch gefördert wird. Nun kann in der Hauptsache das Ganze sich nicht wohl befinden, wenn die Teile leiden. Die Gesellschaft als Zwecksubjekt des Sittlichen umfaßt auch das Individuum als Zwecksubjekt, nicht aber umgekehrt - im Ganzen steckt der Teil, im Teil nicht das Ganze.

Ist das Individuum Zwecksubjekt des Sittlichen, so müssen die sittlichen Normen, da sie dem abstrakten Begriff des Individuums, dem sittlichen Idealtypus des Menschen entnommen werden, für Alle völlig gleich lauten; der Einfluß des gesellschaftlichen Moments auf das Sittengesetz ist damit ausgeschlossen, sowohl der der Gliederung der Gesellschaft als der der verschiedenen Lagen derselben. Und doch schreibt das Sittengesetz diesem Individuum diese, jenem jene Pflicht vor, es redet im Krieg eine andere Sprache als im Frieden.

Ist das Individuum Zwecksubjekt, so werden wir ihm auf die Frage, warum soll ich sittlich handeln? antworten: deinetwegen, ist es die Gesellschaft, so: ihretwegen. Im ersten Fall bezwecken alle sittlichen Normen nur das Wohlsein, das Glück des Individuums. Und doch wissen wir, daß das Sittengesetz uns die Beschränkung unserer natürlichen Triebe und Lustgefühle auferlegt, daß bei den Pflichten des Menschen gegen sich selber vielleicht, aber nie bei den andern Pflichten und Tugenden sich dieser Gesichtspunkt oder der individuellen Vervollkommnung aufrecht erhalten läßt.

Stellen wir uns auf den Standpunkt, daß das Bestehen und die Wohlfahrt der Gesellschaft der Zweck aller sittlichen Normen ist, so ist damit das Wohlergehen der Einzelnen als Ziel nicht ausgeschlossen. Hauptsächlich aber ist damit allein der wichtige Satz zu gewinnen: Die Gesellschaft ist verpflichtet für ihre Mitglieder zu sorgen. Erst die gesellschaftliche Theorie weist dem Individuum ein hohes Lebensziel zu, gibt dem individuellen Dasein seinen Wert, reiht es in das Gesamtleben, in den Entwicklungsprozeß der Menschheit ein.

Erst die gesellschaftliche Theorie des Sittlichen gibt uns die Begriffe der Ordnung der Gesellschaft und der Sicherung dieser Ordnung durch Normen, erst sie weist uns auf die Lebensbedingungen der Gesellschaft und auf die Anwendbarkeit des Selbsterhaltungstriebes auf sie hin. Der Selbsterhaltungstrieb ist der unzertrennliche Begleiter allen Lebens, der Wächter und Hüter, dem die Natur die Sorge für die Erhaltung desselben anvertraut hat. Mit der Statuierung des Lebens auf Seiten der Gesellschaft, mit ihrer Auffassung als eines persönlichen Wesens ist der Selbsterhaltungstrieb auch für sie dargetan. Er äußert sich vor allem in der Herstellung einer sittlichen Ordnung; er erstrebt die Schaffung der von der Gesellschaft auf ihrer derzeitigen Entwicklungsstufe erkannten Lebensbedingungen. Das Sittliche ist nichts als der Egoismus in höherer Form: der Egoismus der Gesellschaft. Der Selbsterhaltungstrieb steigert sich zum Sittlichen, wenn er die Einsicht gewinnt, daß die individuelle Selbsterhaltung durch die gesellschaftliche bedingt ist. Das ist der Punkt, wo das Sittliche durchbricht. Nicht der Übergang vom Tier zum Menschen, an den die individualistische Theorie das Auftreten desselben knüpft, ist der Punkt, wo das Sittliche in der Schöpfung auftritt - damit ist dasselbe potenziell, aber noch nicht aktuell gesetzt -, sondern diesen Punkt bildet der Übergang vom Individuum zur Gesellschaft. Das Sittliche ist nicht das Werk der Natur, welche den natürlichen Menschen in die Welt gesetzt hat, so daß der Mensch es bereits fertig mit zur Welt brächte, sondern das Werk der Geschichte, welche aus dem natürlichen den geschichtlichen, d. h. gesellschaftlichen oder sittlichen Menschen bildet, der Geschichte, welche die Natur ablöst, um ihr Werk ganz in ihrem Sinn und Plan fortzusetzen, d. h. den Gedanken der Selbsterhaltung auch in Bezug auf die Gesellschaft zu verwirklichen.

Ich werde in Bezug auf die gesellschaftlichen Imperative (Mode, Sitte, Moral, Recht) den Nachweis erbringen, daß sie alle durch gesellschaftliche Zwecke ins Leben gerufen sind, und dann einen Schritt weiter gehen und das historische und praktische Abhängigkeitsverhältnis aller sittlichen Normen von der Gestaltung der Gesellschaft erweisen.

Das historische - indem ich zeige, wie die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins parallel geht mit der der Gesellschaft, sowohl intensiv, was das innere Wachstum der sittlichen Ideen anbelangt, als extensiv, was die Personen anbelangt, denen gegenüber man sich zur Beobachtung der sittlichen Grundsätze verpflichtet fühlt, d. h. die Ausdehnung der verbindenden Kraft derselben über den ursprünglich engsten Kreis der Genossen hinaus auf immer weitere Kreise (Stamm, Volk, Konfession, Rasse, Menschheit). Das praktische Abhängigkeitsverhältnis der sittlichen Normen von der Gesellschaft, - indem ich darlege, wie auch unser heutiges sittliches Bewußtsein und Gefühl auf die Unterschiede der Gesellschaft reagiert, wie wir nicht bloß die richtige Empfindung haben, daß sich Pflicht und Tugend nach der gesellschaftlichen Aufgabe und Stellung des Individuums bestimmen, sondern daß wir schwach genug sind, uns in unserem sittlichen Gefühl durch gesellschaftliche Unterschiede beeinflussen zu lassen (Niedere, Höhere - Einheimische, Fremde - Juden, Christen - Weiße, Schwarze). Es ist die Kritik unseres heutigen sittlichen Gefühls vom Standpunkt der als vollendet gedachten Entwicklung desselben, welche gleichbedeutend ist mit der Überwindung aller gesellschaftlichen Unterschiede, der Erhebung desselben zur vollkommenen praktischen Verwirklichung der Idee der Menschlichkeit.

Den Abschluß der so dargestellten Teleologie des Sittlichen bildet der Nachweis der Anwendbarkeit des sittlichen Maßstabes auf die Staatsgewalt. Ist die Gesellschaft das Zwecksubjekt des Sittlichen, so ist die Staatsgewalt als Vertreterin derselben in erster Linie berufen, das Sittliche zu verwirklichen und zu fördern. Tritt sie bei ihren Anordnungen mit den sittlichen Anschauungen des Volkes in Widerspruch, so unterliegt auch sie dem Vorwurf des Unsittlichen und zwar nicht bloß in Bezug auf einzelne Maßregeln, sondern selbst auf die rechtlichen Institutionen, die sie einführt, oder die sie, nachdem sie ihre Berechtigung in den Augen des Volkes verloren haben, duldet.

Den zweiten Teil der Theorie des objektiv Sittlichen bildet die Untersuchung über die Quelle des Sittlichen. Es handelt sich um die Frage: ist das sittliche Gefühl ein Werk der Natur oder der Geschichte, sind die sittlichen Grundsätze dem Menschen angeboren, oder bilden sie einen Niederschlag der geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung? Ich will auch hierüber meine Ansicht an dieser Stelle kurz mitteilen.

Auf die Frage nach dem Ursprung des sittlichen Gefühls antwortet eine Theorie, welche so alt ist wie das wissenschaftliche Denken der Menschen, und welche sich von den Tagen der griechischen Philosophen bis auf die Gegenwart behauptet hat: dasselbe ist dem Menschen angeboren, die Natur oder Gott hat es ihm ins Herz gesenkt. Ich bezeichne dem entsprechen diese Theorie als die nativistische. Nur darüber weichen die Verteidiger derselben voneinander ab, daß die Einen die angebliche Mitgift der Natur auf ein bloß formales Erkenntnisvermögen beschränken (formalistisch-nativistische Theorie). Wie der Mensch sich seines Auges erst bedienen muß, um seine Anschauungen von Außenwelt zu gewinnen, so auch jenes Erkenntnisvermögens für seine sittlichen Anschauungen. Eine zweite Ansicht dagegen (materiell- oder substantiell-nativistische Theorie) erstreckt die Mitgift der Natur auf den Inhalt dieses Gefühls, so daß ihr zufolge dem Menschen die fundamentalen Gesetze für sein sittliches Handeln ebenso angeboren sind, wie die logischen Gesetze für sein Denken.

Ich meinerseits setze der nativistischen Theorie die geschichtliche gegenüber: nicht die Natur, sondern die Geschichte ist die Urheberin des Sittlichen und zwar nicht bloß der sittlichen Grundsätze, Ideen, sondern selbst des sittlichen Gefühls, welches nur die Form der unmittelbaren, unbewußten Beherrschung derselben darstellt, ja sogar des sittlichen Willens. Die Ansicht vom historischen Ursprung unserer sittlichen Anschauungen ist bereits über den menschlichen Verstand (1690) verteidigt worden. Aber seine Entdeckung - in meinen Augen eine der größten Taten des menschlichen Geistes im Laufe der ganzen Weltgeschichte, eine wahre Riesenleistung - ist an der späteren Ethik und Rechtsphilosophie spurlos vorübergegangen. Statt des verhängnisvollen zu spät traf sie der Vorwurf: zu früh! Selbst KANT, der in Bezug auf den von LOCKE ebenfalls behaupteten historischen Ursprung aller unserer theoretischen Erkenntnisse seinen Gedanken aufnahm, vermochte sich in Bezug auf die praktischen Wahrheiten, welche unser angeblich angeborenes sittliches Gefühl uns lehren soll, nicht von der ererbten Vorstellung frei zu machen, und die Lehre vom angeborenen sittlichen Gefühl, sei es unter diesem oder jenem Namen: als Gewissen, sittlicher Trieb, Vernunfttrieb, Vernunft, angeborene Ideen, natürliche Wahrheiten, Vernunftwahrheiten, und welche Namen man sonst für ein und dieselbe Vorstellung in Bereitschaft hat, diese Vorstellung hat sich noch bis auf den heutigen Tag behauptet.

Den Grund der Erfolglosigkeit der Entdeckung LOCKEs kann ich nur darin erblicken, daß er, wie er im Sinne seiner Aufgabe (Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens) allerdings durfte und muße, sich auf die Negative beschränkte, daß die sittlichen Grundsätze dem Menschen nich angeboren sind, ohne positiv den Nachweis zu erbringen, wie und woher der Mensch in Besitz seiner sittlichen Grundsätze gelangt. Nach dieser Seite hin glaube ich durch die Verwendung des Grundgedankens meiner Untersuchung: des Zwecks seine Untersuchung vervollständigen zu können.

In konsequenter Verfolgung dieses Gedankens bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß alle Rechtssätze und Rechtseinrichtungen ohne Ausnahme praktischen Motiven ihren Ursprung verdanken, lediglich Niederschläge der historischen Erfahrung sind, daß kein einziger derselben dem Menschen durch sein angeborenes Rechtsgefühl vorgezeichnet worden ist, selbst nicht die einfachsten, scheinbar sich von selbst verstehenden Rechtswahrheiten. Daß der Mensch nicht morden, rauben, stehlen darf, hat er erst auf dem Weg der Erfahrung lernen müssen; sie erst hat ihn belehren müssen, daß dabei ein Gemeindeleben nicht bestehen kann; - auch im Recht, wie in allen Dingen hat der Mensch erst durch Schaden klug werden müssen. Die Natur hat ihm für das Recht keine andere Ausstattung mit auf seinen Lebensweg gegeben, als für alle anderen Zweige des praktischen Wissens: seinen Verstand, um sich seine Erfahrungen zunutze zu machen, und so wenig hat sie ihm eine Anweisung gewährt, die ihm nötigen Rechtseinrichtungen herzustellen. Kurz: das Recht ist nicht minder ein historisches Produkt, als die Technik - so wenig wie die Natur dem Adam die Vorstellung eines Kochtopfes, Schiffes oder einer Dampfmaschine in die Seele gelegt hat, ebensowenig die des Eigentums, der Ehe, des Staates. Und was vom Recht, den Rechtseinrichtungen und Rechtswahrheiten, ganz dasselbe gilt auch von den moralischen Grundsätzen und von der Sitte, kurz vom gesamten Inhalt unseres sittlichen Gefühls.

Nur der Umstand, daß die Grundsätze und Maximen, die der Mensch auf dem Weg einer unendlich langen Erfahrung sich abstrahiert hat, dem einzelnen Individuum in einem so frühen Alter und in einer so unscheinbaren Form zugetragen werden, daß jede Kontrolle seinerseits über die von außen erfolgt Aufnahme ausgeschlossen ist, hat den Glauben hervorgerufen, daß das Rechtsgefühl angeboren ist. Das erwachende Bewußtsein findet sich im Besitz aller dieser Wahrheiten; was ist natürlicher als die Meinung, daß sie dem menschlichen Geist von Anfang an zu eigen gewesen sind? Die Zeit liegt noch nicht lange hinter uns, wo die Medizin und Naturwissenschaft in den verschiedenen Zersetzungsprozessen des organischen Körpers: der Eiterbildung, Fäulnis, Gärung, dem Schimmeln, Verwesen usw. von innen aus (spontan) erfolgende Vorgänge erblickte. Inzwischen hat die Wissenschaft mit Hilfe des Mikroskops den Nachweis erbracht, daß all jene Prozesse von außen durch die Aufnahme der dem unbewaffneten Auge nicht wahrnehmbaren in der Luft schwebenden Pilze und Sporen eingeleitet werden.

Das Phänomen, um das es sich bei der Frage vom sittlichen Gefühl handelt, ist ganz dasselbe. Auch die sittlichen Wahrheiten schweben gleich jenen Sporen in der uns umgebenden Luft, und wir atmen sie ein, ohne uns dessen bei der Allmählichkeit und Unmerklichkeit dieser Aufnahme und bei dem zu dieser Zeit völlig unentwickelten Zustand unseres Geistes bewußt zu werden.

Ich habe damit meine Ansicht über den Ursprung und den Bildungsprozeß des sittlichen Gefühls mitgeteilt, den Beweis derselben kann ich erst in einem anderen Zusammenhang geben.

Der weitere Gang meiner Untersuchungen führt mich zunächst zum sittlichen Willen. An ihm hängt die ganze Realität des Sittlichen, ohne ihn ist dasselbe bloß etwas Gedachtes, Vorgestelltes, nichts Wirkliches, Reales - ein Traum, ein Idealbild der Gesellschaft von demjenigen, was sein soll, was aber nicht ist.

Woher nun der sittliche Wille? Der Theorie vom angeborenen sittlichen Gefühl macht die Frage nicht die geringste Schwierigkeit. Ihr zufolge hat die Natur mittels des sittlichen Gefühls uns nicht bloß zum Erkennen (intellektuell-nativistische Theorie), sondern auch zum Wollen des Sittlichen ausgerüstet (praktisch-nativistische Theorie). Der Schutzgeist, den sie uns mitgegeben: das Gewissen lehrt uns nicht bloß, was gut und böse ist, sondern nötigt uns auch, seine Mahnungen zu befolgen - das Wollen des Sittlichen ist nur die etwas mühsame, aber vom sittlichen Gefühl unablässig und unerbittlich in Erinnerung gebrachte praktische Konsequenz des Wissens. Zwei widerstrebende Triebe hat die Natur dem Menschen eingepflanzt; in die eine Herzkammer hat sie den Egoismus gesetzt, in die andere das sittliche Gefühl, der Mensch also ist von Natur aus zwiespältig angelegt - ich bezeichne diese Theorie als die des psychologischen Zweikammersystems.

Nach meiner Auffassung ist der Wille des Menschen von der Natur von vornherein einheitlich angelegt. Der menschliche Wille, wie er aus den Händen der Natur von allem Anfang an hervorgegangen ist und täglich neu hervorgeht, hat lediglich die Erhaltung und Behauptung des eigenen Ichs zum Zweck (Selbsterhaltungstrieb), es ist mit anderen Worten der nackte, dürre Egoismus, den die Natur dem Menschen eingepflanzt hat. Die Geschichte allein ist es, welche aus ihm die sittliche Gesinnung hervorbringt. Am kreatürlichen Willen gleitet das Sittliche ab, wie das Wasser am harten Stein, der Intellekt wie der Wille des Menschen bringen für das Sittliche nicht die mindesten Empfänglichkeit mit, alles Sittliche: das Wissen wie das Wollen desselben ist Produkt der Geschichte, des geschichtlichen Lebens, der Gesellschaft. Die Umwandlung, welche sich mit dem kreatürlichen menschlichen Willen im Laufe der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung vollzogen hat, um ihn zur Aufnahme des Sittlichen empfänglich zu machen, ist keine geringere gewesen, wie die des Felsens, der erst unter der fortgesetzten Einwirkung der Atmosphäre hat verwittern müssen, um sich mit Moos, Gras, Gesträuch, Bäumen zu bedecken. Jahrtausende haben vergehen müssen, um dies fertig zu bringen. Bevor auf dem Felsen sich der Wald als letzte Phase der Entwicklung hat erheben können, mußte die Vegetation alle Vorstufen vom kümmerlichen Moos an bis zum Baum durchlaufen, um allmählich den Boden zu präparieren. Denselben Entwicklungsgang hat auch das Sittliche in der Welt genommen, es hat mit dem Rohsten beginnen müssen: mit dem Verbot von Mord, Raub und Diebstahl, und zwar selbst mit diesem zunächst nur gegenüber den Genossen, um sich sodann erst allmählich zu höheren Formen und Bildungen zu erheben - alles, das Kleinste wie das Größte hat die Geschichte erst dem Egoismus abgewinnen müssen.

Die Darstellung der geschichtlichen Erhebung des Egoismus zur sittlichen Gesinnung kann ich hier nicht geben, in ihr liegt die eigentliche Theorie des sittlichen Willens. Nur das soll hier betont werden, daß in dieser Erhebung die Geschichte oder die Menschheit ihr größtes Meisterstück geliefert hat, daß mit dieser Leistung sich keine von allen anderen messen kann. Bei allen anderen Leistungen, welche der menschliche Geist im Laufe der Jahrtausende beschaffen hat, fällt der Endpunkt des Entwicklungsprozesses in die Richtungslinie des ersten Anfangs, Stoff kommt zu Stoff hinzu, es ist nur ein Fortschritt in quantitativer, nicht in qualitativer Beziehung. Aber bei der historischen Erhebung des Egoismus zur Sittlichkeit enthält der Schlußpunkt des Entwicklungsprozesses den diametralen Gegensatz des Ausgangspunktes: der Egoismus ist in sein gerades Gegenteil umgeschlagen, er hat sich selber negiert. Die Änderung, die hier vor sich gegangen ist, ist qualitativer Art, die Geschichte bildet aus dem Ton, dem Teig, den die Natur ihr gestellt hat: dem natürlichen Menschen, dem Tier ein Wesen höherer Art, welches das gerade Widerspiel des ursprünglichen bildet: den sittlichen Menschen; der Egoist ist das Produkt der Natur, der sittliche Mensch das der Geschichte.

Das Mittel, wodurch sie dies fertig bringt, ist die Gesellschaft. Sie ist die Quelle alles Sittlichen: der sittlichen Grundsätze, der Normen wie auch des sittlichen Willens, der sittlichen Gesinnung. Seine ganze Sittlichkeit, sowohl sein Wissen des Sittlichen: sein sittliches Gefühl als die ihm zur zweiten Natur gewordene Willensrichtung auf dasselbe: seine sittliche Gesinnung verdankt der Einzelne der Gesellschaft, sie trägt das Verdienst daran, sie ist dafür verantwortlich zu machen.

In welcher Weise die Gesellschaft diese sittliche Erziehung des Einzelnen, die gleichbedeutend ist mit der der ganzen Nation, fertig bringt, welche Mittel und Wege sich ihr darbieten, um den Egoismus aus seiner Sphäre herauszulocken und in ihren Dienst zu ziehen und innerlich umzugestalten, darüber kann ich mich wie schon erwähnt, an dieser Stelle nicht auslassen, da es zum Verständnis des Folgenden nicht nötig ist.

Dem Bisherigen nach bildet die Gesellschaft den Angelpunkt unserer gesamten ethischen Auffassung. Alle drei oben genannten Kardinalfragen der Ethik führen uns auf sie zurück. Was ist die Quelle der sittlichen Normen? Die Gesellschaft. Was der Zweck derselben? Die Gesellschaft. Was die Erzeugerin des sittlichen Willens? Die Gesellschaft.

Mit Rücksicht darauf bezeichne ich die von mir verteidigte Theorie als die gesellschaftliche. In dieser Vollständigkeit d. h. gleichmäßig auf alle drei Fragen sich erstreckend, ist dieselbe bisher noch nicht aufgestellt worden.

In diesem Prädikat des gesellschaftlichen füge ich aber noch ein anderes hinzu: das geschichtliche, der entsprechende Name für meine Theorie ist daher die geschichtlich-gesellschaftliche.

Über dieses zweite Moment habe ich mich in Folgendem noch weiter auszulassen.

Der Grundzug der zur Zeit noch herrschenden Behandlungsweise der Ethik (wobei ich zunächst nur die philosophische im Auge habe, über die theologische werde ich mich weiter unten äußern) ist ihr ungeschichtlicher Charakter. In diesem Punkt treffen sämtliche ethische Theorien und Auffassungen, soweit sie zu meiner Kunde gekommen sind, überein, ich kenne keine einzige, in der die Geschichte auf dem Gebiet des Sittlichen wirklich zu ihrem Recht gekommen ist. Ihnen allen nämlich ist gemeinsam der Gedanke eines absoluten, d. h. von Zeit und Ort, also von der Geschichte unabhängigen Charakters der sittlichen Wahrheiten. Die geschichtliche Theorie des Sittlichen beruth auf der Anerkennung der Relativität des Sittlichen, oder, um einen im ersten Band des Zwecks im Recht (Seite 425) von mir entwickelten Gegensatz wieder aufzunehmen, auf der Erkenntnis, daß nicht die Wahrheit, sondern die Richtigkeit d. h. das den praktischen Zwecken des Lebens Angemessene den Maßstab des Sittlichen bildet. Indem sie die Bedingtheit des Sittlichen durch die zeitige Entwicklungsstufe der Gesellschaft anerkennt, sichert sie sich die Möglichkeit, allen Entwicklungsphasen des Sittlichen gerecht zu werden und selbst Anschauungen und Einrichtungen einer vergangenen Kulturperiode, über welche unsere heutige Auffassung des Sittlichen das Verdammungsurteil fällt, z. B. die frühere Rechtlosigkeit der Fremden vom Standpunkt ihrer Zeit aus ihre vollkommene sittliche d. h. gesellschaftliche Berechtigung zuzugestehen. Die Schultern des Kindes tragen nicht die Last, der die Kraft des Mannes gewachsen ist, ein Volk in der Kindheitsperiode nicht das Sittengesetz einer gereiften Zeit. Einen absoluten Kanon des Sittlichen aufzustellen ist um nichts besser als im Leben der Pflanze die letzte Entwicklungsphase: die Frucht für die allein berechtigte zu erklären. Jede Phase ist gleichberechtigt, denn ohne sie wäre auch die folgende nicht da. So auch beim Sittlichen. Will man bei ihm statt von Richtigkeit von Wahrheit sprechen, so kann man nur sagen: sie liegt im geschichtlichen Hintereinander - die Entwicklung ist die Wahrheit.

Die unabwendbare Konsequenz dieser Auffassung besteht in dem Zugeständnis, daß derselbe Fortschritt in der sittlichen Anschauung der Völker, der von jeher stattgefunden hat, sich auch fernerhin wiederholen wird, daß also auch auf uns und unsere Einrichtungen und sittlichen Ideen eine ferne Zeit - denken wir uns immerhin 100.000 Jahre - mit demselben Befremden und Staunen herabblicken wird, wie wir auf frühere Kulturperioden. Uns Heutigen wird kein anderes Schicksal beschieden sein als es PLATO und ARISTOTELES in Bezug auf ihre Lehren von der Rechtmäßigkeit der Sklaverei widerfahren ist. Wir haben in Bezug auf die Einrichtungen, mit denen die Gegenwart uns umklammert hält, und denen sich unsere Anschauungen akkomodiert [angepaßt - wp] haben, ganz dieselbe Bind vor den Augen wir sie in Bezug auf die ihrigen. Dieselbe fällt erst oder lüftet sich ein wenig, wenn auf dem Weg einer gewaltigen Umwälzung, welche lediglich durh die praktisch zwingende Macht gesellschaftlich schwer empfundener Übelstände bewirkt wird, die reale Welt eine andere geworden ist; - um den Menschen von seinen Banden zu befreien, muß das Leiden dem Denken zu Hilfe kommen. Dann werden, wenn zu der Zeit die Menschheit noch an angeborene sittliche Wahrheit oder an ein angeborenes sittliches Erkenntnisvermögen glaubt, die Philosophen kommen und und vordemonstrieren, daß diese Gestalt der Sache aus der "Vernunft" mit Notwendigkeit folgt, daß die "Idee" sie mit sich bringt, und wie alle diese Wendungen lauten. Wenn die Geschichte den Schleier gelüftet hat, hat die "Idee" und die "Vernunft" leichtes Spiel; es ist keine Kunst, nachdem man das Bild gesehen hat, die Augen zu schließen und dasselbe "von innen heraus" zu reproduzieren - man versuche es einmal vorher.

Ich habe die herrschende Behandlungsweise der Ethik als die ungeschichtliche charakterisiert, ich füge dieser negativen Charakteristik die positive hinzu, die ich ebenfalls mit einem einzigen Wort glaube erbringen zu können, nämlich mittels des Ausdrucks psychologisch. Damit glaube ich zugleich die richtige Stellung angegeben zu haben, welche die bisherige philosophische Ethik im Gesamtzusammenhang der Wissenschaften einnimmt. Ist die menschliche Seele der Sitz und die Quelle des Sittlichen, braucht der Forscher nur hinabzusteigen in das Innere des Menschen, um ihm den ganzen Inhalt des Sittlichen zu entnehmen, so bildet die Ethik einen Zweig der Psychologie, die praktische Seite derselben: angewandte Psychologie. Sie tritt damit auf eine Linie mit der Logik; die eine hat die menschliche Seele, die andere den menschlichen Geist zum Gegenstand, die eine ergründet die dem Menschen angeborenen Gesetze des Denkens, die andere die ihm angeborenen Gesetze des Handelns, beide aber entlehnen ihre ganze Kenntnis der Natur des Menschen.

Von dieser psychologischen und eben darum notwendigerweise ungeschichtlichen Theorie der Ethik ist eine andere zu unterscheiden, welche die Bedeutung der Geschichte für die Theorie des Sittlichen in beschränkter Weise anerkennt; es ist die christlich-theologische. Zur Natur als Quelle der sittlichen Erkenntnis, die auch sie nicht bestreitet, gesellt sich für sie noch die positiv-göttliche Offenbarung durch das Christentum hinzu. Damit ist der Geschichte der Zutritt gewährt, aber nicht der volle, freie, wie sie ihn begehren kann, sondern nur ein höchst beschränkter. Die Tür für sie wird nur geöffnet, um sich sofort wieder zu schließen, mit dem einen Akt der Offenbarung hat sich die Geschichte für die theologische Ethik, zumindest die protestantische, vollständig erschöpft, nur die katholische Kirche hat sich im göttlichen Lehramt, das sie sich zuspricht, die Möglichkeit einer historischen Fortbildung des Sittlichen gewahrt. Aber in Bezug auf den wesentlichen Punkt: die Beanspruchung des absoluten Charakters, der, sei es durch einmalige, sei es durch eine fortgesetzte göttliche Offenbarung der Menschheit zur Kunde kommenden sittlichen Wahrheiten stimmt die Lehre aller christlichen Konfessionen überein und damit ist die Bedeutung der Geschichte für das Sittliche prinzipiell negiert. Keine auf dem Grund der christlichen Lehre erbaute Ethik kann einräumen, daß eine der Wahrheiten, die sie als solche lehrt, diesen Charakter jemals einbüßen kann, oder daß das Gegenteil derselben jemals Wahrheit gewesen ist. Der Maßstab der Wahrheit ist einmal ein absoluter; was nicht Wahrheit ist, kann nur Irrtum.

Die zuerst charakterisierte philosophische Behandlungsweise der Ethik stellt sich uns das als Zweig der Psychologie und als Zwillingsschwester der Logik; diese zweite als Zweig der Theologie und als Zwillingsschwester der Dogmatik. Die von uns verteidigt dritte oder geschichtlich-gesellschaftliche Theorie ist als Zweig der Gesellschafts-Wissenschaft zu bezeichnen. Ihrer Zwillingsschwestern sind alle diejenigen Disziplinen, die mit ihr auf demselben realen Boden der geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung stehen, also die Jurisprudenz, Statistik, Nationalökonomie, Politik.

Damit ist auch dem Vertreter all dieser Fächer der Zugang zur Ethik eröffnet und die Möglichkeit gewährt, sie nicht bloß in stofflicher Beziehung durch wertvolle Beiträge aus dem Schatz seines Wissens zu bereichern, sondern sie auch durch die eigentümliche Auffassungsweise, die gerade sein spezieller Wissenszweig in ihm ausgebildet hat, zu fördern.

Mein Versuch bezweckt, dies von Seiten der Jurisprudenz aus zu tun, und wenn er sich als fruchtbar erweisen sollte, so wird dies wesentlich auf Rechnung des Umstandes zu setzen sein, daß ich mich der Ethik von einer Seite her genähert habe, die mir von vornherein die Dinge unter einem anderen Gesichtspunkt zeigte, als es der des Philosophen vom Fach ist, unter dem praktischen des Zwecks. Auch für die Wissenschaft sind die Zugänge nicht gleichgültig, von denen aus man sich ihr nähert, der eine enthüllt uns mehr diese, der andere mehr jene Seite des Gegenstandes; - die volle Kenntnis ist erst erreicht, wenn alle möglichen Standpunkte der Betrachtung erschöpft sind.

Die Zahl der Disziplinen, welche in der Lage sind, der Ethik eine hilfreiche Hand zu bieten, ist übrigens mit den angegebenen in keiner Weise beschlossen, ich selber bin bereits in der Lage gewesen, andere für meine Zwecke heranzuziehen. Dahin gehört zunächst die Sprachwissenschaft, über deren hohen Wert für die Ermittlung der sittlichen Anschauungen ich mich anderswo ausgelassen habe. Sodann die Mythologie. Neben der Etymologie ist sie die älteste und zuverlässigste Zeugin über die sittlichen Uranschauungen der Völker; beide zusammen lassen sich als die Paläontologie der Ethik bezeichnen. In den Handlungen der Götter, in dem, was sie sich erlaubten und erlauben durften, ohne in den Augen des Volkes das Anrecht auf Verehrung einzubüßen, ist uns das älteste Urteil der Menschheit über das sittlich Erlaubte erhalten, es spiegelt sich darin der sittliche Kanon der Zeit ab, die Götter sind die petrifizierten [versteinerten - wp] Typen des sittlichen Menschen der Urzeit. In anderer Weise ist auch eine andere und zwar praktische Disziplin: die Pädagogik berufen, der Ethik wertvolle Dienste zu erweisen.

Die Ethik der Zukunft, die realistische und geschichtliche Ethik im Gegensatz zur abstrakten, psychologischen, ungeschichtlichen beruth auf der vereinten Mitwirkung all dieser Disziplinen. Sie wird jede derselben in ihren Dienst ziehen, von jeder derselben wird sie imstande sein, das Empfangene reichlich zurückzuerstatten, es wird sich ein Verhältnis gegenseitigen, für alle Teile gleichmäßig befruchtenden Austausches herausstellen. Ich verzichte darauf, die im Einzelnen weiter auszuführen, aber ich kann zumindest den Ausdruck der Überzeugung nicht unterdrücken, daß bei allen Disziplinen, welche eine praktische Beziehung zur Ethik haben, wie die Jurisprudenz, Statistik, Nationalökonomie, Politik, Pädagogik diejenige Seite, mit der sie sich der Ethik zukehren, eine völlig andere Würdigung und Ausbildung erfahren wird, als dies bisher der Fall gewesen ist. Die Nationalökonomie ist bereits mit gutem Beispiel vorangegangen, indem sie den nationalökonomischen Wert der sittlichen Kraft anerkannt hat, und auch die Statistik hat in Bezug auf ihr sittliches Beobachtungsfeld das rohe Resultat der Wirklichkeit: die Zahl in Verbindung gebracht mit den gesellschaftlichen Zuständen, in denen sie ihren letzten Grund hat; ihre Zahlen enthalten nicht bloß nackte Tatsachen, sondern praktische sittliche Anforderungen an die Gesellschaft, sie bilden das soziale Schuldbuch derselben, aus dem die Nutzanwendung sich von selbst ergibt. Auch für die Jurisprudenz der Zukunft verspreche ich mir von der innigen Berührung mit der Ethik, der sie bisher scheu aus dem Weg gegangen ist, einen neuen Aufschwung, ich meine nicht sowohl einen theoretischen, sondern den ungleich höher zu veranschlagenden praktischen der richtigen Erfassung der wichtigen Aufgabe, welche sie für die Gesellschaft zu leisten hat, der Erkenntnis, daß dieselbe nicht der des Mathematikers zu vergleichen ist, der die seinige löst, indem er richtig rechnet, sondern der des Erziehers, dem eine Macht anvertraut ist, damit er sie zweckentsprechend verwendet.

Hat die Ethik der Zukunft durch das doppelte Mittel einer vermehrten Zufuhr neuen, ihr von ihren Zwillingsschwestern zu stellenden Stoffes und der Anwendung der empirisch-geschichtlichen Methode, welche unbeirrt durch vorgefaßte "Ideen" sich den Tatsachen der sittlichen Welt ebenso unbefangen gegenüberstellt, wie der Naturforscher denen der natürlichen, hat sie dadurch den empirischen Teil der Aufgabe gelöst, so mag sie den Philosophen von Fach rufen, daß er in seiner Weise die Summe des Ganzen zieht und das Werk krönt.

Aber selbst damit ist der Umschwung, welcher der Ethik der Zukunft bevorsteht, noch nicht abgetan. Der hier angedeutete Fortschritt bewegt sich innerhalb derselben Grenzen, über welche die Ethik bisher nicht hinausgegangen ist: Erkenntnis des Sittlichen; nicht das Ziel, nur der Weg zum Ziel ist ein anderer geworden. Aber das Ziel selber wird ein höheres werden.

Auf allen praktischen Gebieten des menschlichen Wissens ist die theoretische Erkenntnis des Vorhandenen der erste Schritt, der zweite aber die praktische Verwertung desselben für die Zwecke des Lebens. Nachdem die Theorie erkannt hat, was ist, und worin es seinen Grund hat, wird sich ihr die Frage aufdrängen: muß es so sein, wie es ist, und, wenn sie glaubt, diese Frage verneinen zu sollen, wie läßt es sich ändern. Die richtige Erkenntnis wird sich daran bewähren, daß sie imstande ist, diese beiden Fragen zu beantworten.

Solange die Ethik die Autorität des sittlichen Gefühls als absolute Instanz anerkennt, ist sie an dessen Machtsprüche gebunden. Die einzige Gelegenheit, die ihr hier geboten ist, ihr kritisches Urteil zu betätigen, besteht darin, die von ihrem Kanon des Sittlichen abweichenden sittlichen Ideen, welche ihr die Geschichte bei Völkern niederer Kulturstufe entgegenstellt, einfach als sittliche Verirrungen zu erklären. Ihren eigenen sittlichen Kanon, die angeblich absoluten Gesetze des menschlichen Handelns kann sie ebensowenig der Kritik unterwerfen, wie die Gesetze des menschlichen Denkens, sie sind einmal da - damit ist die Frage abgetan. Von diesem Standpunkt aus ist der Vorwurf der sittlichen Verirrung, Verwilderung für Jeden, welcher diese Gesetze des Handelns nicht anerkennt, ebenso begründet, wie der des unlogischen Denkens für Jeden, der die Gesetze des Denkens nicht befolgt.

Der relative Maßstab, den die geschichtliche Ethik für das Sittliche aufstellt, ermöglicht nicht bloß, wie oben bereits gezeigt, eine richtige Würdigung, eine gerechte Beurteilung derartiger, früheren Entwicklungsstufen angehörigen, abweichenden Gestaltungen des Sittlichen, sondern, was ungleich wichtiger ist: auch eine Kritik unserer eigenen sittlichen Vorstellungen. Ist das Wohl der Gesellschaft der leitende Gesichtspunkt aller sittlichen Grundsätze, so haben wir damit den Maßstab in Händen, diese Vorstellungen und unsere bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen zu messen und zu prüfen, so ist uns die Möglichkeit geboten, uns von denjenigen, welche die Probe nicht bestehen, zu rechtfertigen, während wir bisher beide ohne Unterschied auf die Autorität der inappellablen Instanz unseres sittlichen Gefühls blindlings entgegennehmen mußten. An die Stelle des Machtspruchs einer unkontrollierbaren Größe, die in Wirklichkeit der äußerste Subjektivismus ist, und auf die der Wilde mit ganz demselben Recht pochen kann, wie wir, tritt die objektive Deduzierbarkeit der sittlichen Normen, die Beweisbarkeit derselben durch eine Zurückführung auf praktisch zwingende Motive. So wird die Ethik zur Apologetik [Rechtfertigungslehre - wp] des Sittlichen, der die dankbare Aufgabe zufällt, uns mit dem Sittengesetz erst wahrhaft zu versöhnen, nicht mittels jenes erschlichenen Gesichtspunktespunktes, daß dasselbe das Gesetz unserer selbst ist, dem sich an realem Inhalt nicht das Mindeste entnehmen läßt, der nichts als die dem geschichtlich überkommenen Stoff aufgeklebte Etikette ist, sondern mittels des Nachweises, daß und warum unsere sittlichen Grundsätze für das Bestehen und Gedeihen der Gesellschaft auf derjenigen Stufe der Entwicklung, auf der sie sich zur Zeit vorfindet, notwendig sind. Anstatt denjenigen, der ihr die Frage vorlegt, warum soll ich sittlich handeln? mit dem Fatalismus des kategorischen Imperativs: Du sollst - abzufinden oder ihm den unwahren und unstichhaltigen Grund: Deines eigenen Glückes, Deiner Vollkommenheit wegen - zu nennen, verweist sie ihn auf die Gesellschaft: sieh zu, was aus dir wird, wenn Du unsittlich handelst - Du rüttelst an den Grundlagen ihrer Existenz, jede sittliche Norm ist einer der Pfeiler derselben.

Die im Bisherigen als Aufgabe der Ethik der Zukunft ist Aussicht genommene Kritik und Apologetik des Sittlichen hatte das objektiv Sittliche: die richtige wissenschaftliche Behandlung der sittlichen Normen zum Gegenstand. Eine andere für den Endzweck des Sittlichen noch ungleich belangreichere und dankbarere Aufgabe eröffnet sich der Ethik in Bezug auf das subjektiv Sittliche. Hat sie sich zu der Einsicht erhoben, daß der sittliche Wille, der des Einzelnen, wie der des ganzen Volkes, ein geschichtlich-gesellschaftliches Produkt ist, hat sie die treibenden Kräfte, welche die Erziehung des Willens zum Sittlichen zustande bringen, den Einfluß all jener mannigfachen Faktoren im Leben der Gesellschaft, welche zu diesem Zweck mitwirken, ermittelt und dargelegt, dann braucht sie mit dieser der Wirklichkeit abgelauschten Bildungsgeschichte des sittlichen Willens sich nur dem Leben zuzukehren, um der Menschheit einen Dienst zu leisten, wie er nicht größer gedacht werden kann. Wie die Erforschung der Lebensbedingungen der Tiere und Pflanzen instand setzt, in den Palmenhäusern des Nordens die Palmen der Tropen und in den Aquarien des Festlandes die Tierwelt der Meere zur Reife zu bringen und fortzupflanzen, indem sie künstlich deren Lebensbedingungen herstellt, in derselben Weise gewährt die Ergründung des Bildungsprozesses des sittlichen Willens der Ethik die Möglichkeit einer Anleitung zur Erziehung des sittlichen Willens. Die Kenntnis der Quellen des sittlichen Geistes auf dem Weg der theoretischen Forschung erweitern, heißt der Praxis den Weg zu weisen, diesen Geist selber mehr und mehr in ihre Macht zu bekommen dadurch, daß sie Sorge trägt, diese Quellen zu wahren, zu pflegen und zu steigern.

Löst die Ethik diese Aufgabe, so wird sie aus einer bloßen Wissenschaft eine Kunst, ein Zweig und zwar der wichtigste Zweig der sozialen Politik: nationale Pädagogik. Und das ist meiner Überzeugung nach die hohe und erhebende Aufgabe der Ethik der Zukunft. Der Mensch, der das Tier und die Pflanze in seine Gewalt bekommen und dem spontanen Wachstum in der Natur die künstliche Zucht substituiert hat, wird auch am menschlichen Willen seine Kunst und die Macht seines Geistes bewähren, er wird es lernen, durch die Verwendung all der Mittel, welche die Theorie der gesellschaftlichen Bildung desselben ihm an die Hand gibt, die gesellschaftliche Zucht des Willens zum Sittlichen in einer Weise zu vervollkommnen, von der eine Zeit wie die heutige, die das Ihrige redlich getan hat, um mit den sittlich bildenden Faktoren, über welche die Vergangenheit gebot, gründlich aufzuräumen, und die aus dem Mund eines ihrer nahmhaftesten Philosophen (SCHOPENHAUER) die Sprödigkeit und Unbildsamkeit des Willens als philosophischen Lehrsatz hat verkünden hören, sich schwerlich eine Vorstellung machen wird. Diesen Gesichtspunkt, die praktische Verwendbarkeit der Ethik darzulegen, habe ich bei meinen Untersuchungen stets vor Augen gehabt, sie mögen als erster Anlauf zu einer Aufgabe gelten, deren wirkliche Lösung der Wissenschaft der Zukunft vorbehalten bleibt und durch welche die Ethik erst des Wertes und des Ranges teilhaftig werden wird, der ihr gebührt, und dessen nur die bisherige falsche Behandlungsweise sie verlustig gemacht hat: des einer praktischen Wissenschaft und zwar der praktisch wertvollsten, der Königin unter den Gesellschaftswissenschaften. Den erborgten Flitterstaat der absoluten Wahrheit von sich werfend und aus der Nebelregion der Spekulation sich auch die Erde herablassend, wird die Ethik den Schauplatz ihrer künftigen Tätigkeit aufschlagen auf dem festen Boden der realen Wirklichkeit und, indem sie sich damit das wahre Verständnis des Sittlichen erschließt, wie es entsteht und wächst im Leben der Gesellschaft, dem Menschen statt eines abstrakten für alle Zeit gleichmäßig zugeschnittenen Imperativs, eines Spiegels seiner Vollkommenheit, der, geschliffen nach dem Maß der jeweiligen Gegenwart, das Bild der Vergangenheit als Zerrbild reflektiert, die hilfreiche Hand bieten, daß er die Schwierigkeiten des langen, ihm vorgezeichneten Weges überwinde - ihm nicht das Ziel bloß zeigen, sondern ihm helfen, es zu erreichen.

LITERATUR - Rudolf von Jhering, Die geschichtlich-gesellschaftlichen Grundlagen der Ethik, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im deutschen Reich, Sechster Jahrgang, Leipzig 1882.