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ERICH BECHER
Philosophische Voraussetzungen
der exakten Wissenschaften

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Vorwort / I. Einleitung
II. Der Wert der Hypothesen
III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit
IV. Prüfung der kritischen Bedenken
V. Erkenntnisse über die Außenwelt

"Für die Gewißheit logischer Axiome, ..., schließlich für alles und jedes, das wir als gewiß oder wahrscheinlich anerkennen, gewinnt uns zuletzt zweierlei. Erstens ein gewisser, nicht zu bestreitender psychischer Zwang, demzufolge wir nicht anders können, als die Gewißheit des uns momentan bewußt Gegebenen, der logischen Axiome und deduktiven Ableitungen anerkennen und der uns zur Erinnerungsdeutung, zur Regelmäßigkeitsvoraussetzung und damit zur Annahme vergangener, zukünftiger und fremder Bewußtseinsinhalte, schließlich der Außenwelt, treibt. Widersetzen wir uns diesem Zwang, so ist kein Wissen möglich. Fügen wir uns ihm aber, so zeigt sich zweitens, daß alles, was der Zwang uns aufdrängt, miteinander vereinbar und zur Harmonie zu bringen ist, daß es sich auf das Beste bewährt. Das ist schließlich alles, was zur Rechtfertigung der Gesamtheit aller Überzeugung angeführt werden kann. Wem das nicht genügt, dem ist nicht zu helfen. Wer nichts in Wasser geht, lernt auch nicht schwimmen."

IV. Prüfung der kritischen Bedenken
gegen die Außenweltshypothese

[Fortsetzung 1]

Nehmen wir nun einmal an, wir hätten ein absolut vollständiges Wissen über den eigenen Bewußtseinsstrom in Vergangenheit und Gegenwart und über alle Regelmäßigkeiten in seinem Verlauf. Wenden wir den ganzen Apparat der deduktiven Schlußverfahren auf diese Erkenntnisse an, so werden wir, wie früher bewiesen wurde, doch nie einen Schlußsatz gewinnen, in dem irgendetwas von der Zukunft enthalten wäre. Auch die Regelmäßigkeiten, mögen sie nun absolut oder lückenhaft sein, bleiben immer nur Regelmäßigkeiten des Vergangenen und Gegenwärtigen.

Trotzdem nehmen wir alle an, daß auch in Zukunft auf den Schuß der Knall, auf den Tag die Nacht und daß auf den gegenwärtigen Tag eine zukünftige Nacht folgen wird. In der Voraussetzung, daß auch in der Zukunft die Regelmäßigkeiten, sei es absolut oder nur lückenhaft, fortbestehen, besteht die notwendige Grundvoraussetzung der Zukunftsinduktion. Diese Voraussetzung muß ich annehmen, unbewiesen hinnehmen, wenn ich über die Zukunft etwas ausmachen will. Ich kann diese Voraussetzung, wie die des Bestehens einer Zukunft überhaupt, als Schlußsatz eines induktiven Beweises darstellen; gewiß, aber dieser induktive Beweis für die Zukunft fordert nichts anderes als das Setzen dieser Voraussetzung, wie der einer Zukunft überhaupt.

Wir haben gesehen, daß auch die bei der Erinnerungsdeutung gebliebenen Lücken im Vergangenen den feststellbaren Regelmäßigkeiten gemäß beseitigt werden. Auch für das Erschließen des Zukünftigen ist unser Wegweiser die feststellbare Regelmäßigkeit des Vergangenen. In beiden Fällen zeigt sich das gemeinsame Verfahren, auch dort die Regelmäßigkeiten weiter anzunehmen, wo eine Erkenntnis aufgrund des direkt oder durch Erinnerung Gebotenen unter Anwendung der Deduktion versagt. Wir können vielleicht psychologisch dieses Vertrauen auf das Fortbestehen der Regelmäßigkeiten in sonst nicht erkennbarer Vergangenheit und Zukunft erklären, wie das der Empirismus versucht. Aber dieses Erklären setzt dann Induktionen und damit jenes Vertrauen voraus. Solche Erklärungen sind deshalb nicht wertlos, aber sie wären nicht geeignet, jemandem das Vertrauen einzuflößen, der es noch nicht hätte.

Vielleicht gibt es aber doch einen Weg, auf dem der zu jenem Vertrauen kommen könnte, welcher es noch nicht besäße. Da wäre an die Tatsache zu erinnern, daß man, wenn man früher induktiv im Vertrauen auf das Fortbestehen jener Regelmäßigkeiten geschlossen hat oder nur hätte, man recht oft, allerdings nicht immer, dieses Vertrauen bestätigt gefunden hat oder haben würde. Ist diese Einsicht nicht geeignet, das Vertrauen zu erwecken? Nein, denn es setzt wieder eine Induktion voraus, wenn aus dieser bisherigen Regelmäßigkeit der Bestätigung des Vertrauens auf künftige Bestätigungen des Vertrauens geschlossen wird. Besteht das Vertrauen zur Regelmäßigkeit überhaupt nicht, so können die erlebten Bestätigungen auch nicht zu ihm verhelfen, denn in ihnen steckt ebensowenig eine Bürgschaft für die Zukunft, wie in irgendwelchen anderen Regelmäßigkeiten. Wohl aber sind diese Bestätigungen in hohem Maße geeignet, das einmal vorhandene Vertrauen auf die Induktion zu verstärken, denn aufgrund der oft erlebten Bestätigungen können wir auf künftige Bestätigungen schließen und so jede Induktion stärken.

Es bleibt demnach nichts übrig, als den Grundgedanken des induktiven Schließens auf zukünftige und vergangene Inhalte meines Bewußtseins einfach anzuerkennen. Wir machen damit wieder eine Voraussetzung, die wir dem nicht beweisen können, der sie nicht annimmt. Wir nehmen an, daß die beobachteten Regelmäßigkeiten in meinen Bewußtseinsinhalten, die ich aus dem gegenwärtig Gegebenen und der Erinnerungsdeutung kenne, auch gelten über dieses Gebiet hinaus, für das ganze Gebiet meines vergangenen und zukünftigen Bewußtseins. Wie wir für die Vergangenheit des individuellen Bewußtseins Lücken in dieser Regelmäßigkeit anerkennen mußten, so werden wir auch überzeugt sein, daß sich gelegentlich auch zukünftige Inhalte in den gesetzlichen Zusammenhang nicht einordnen lassen werden. Es werden in meinem Bewußtsein Inhalte auftreten, die ich nicht induktiv vorhersagen konnte und andere Vorhersagen werden sich nicht bestätigen. Und das wird auch dann eintreten können, wenn bisher etwa auf  a1 a2 ... an  immer  b  folgte und ich daher aus dem Eintreten von  a1 a2 ... an  auf das Eintreffen von  b  geschlossen habe. Den induktiven Urteilen, die aufgrund der Daten meiner individuellen Bewußtseinsgeschichte über meine vergangenen und zukünftigen Bewußtseinsinhalte aussagbar sind, kommt also nie volle Gewißheit, immer nur Wahrscheinlichkeit zu. Nun kann es offenbar vorkommen, was im Leben sehr oft geschieht, daß zwei induktiv gewonnene Urteile einander widersprechen. Da wir von vornherein diesen Urteilen nur Wahrscheinlichkeit zuschreiben durften, werden wir genau so verfahren, wie bei Erinnerungsdeutungen, die mit logischen Axiomen oder deduktiven Ableitungen in Konflikt kommen. Wir opfern die induktive Überzeugung der deduktiven Gewißheit. Wir halten an den logischen Axiomen fest, also etwa an der Richtigkeit des Satzes vom Widerspruch und nehmen an, daß eines der beiden induktiv gewonnenen Urteile falsch war.

Etwas Beunruhigendes liegt dennoch in der Tatsache, daß unsere Voraussetzung auch nach einwandfreier Anwendung zu falschen Resultaten führen kann. Aber auch die Erinnerungsdeutungen können uns irreführen und auch in der Erinnerung finden wir kein absolutes Kriterium, aufgrund dessen wir eine wahre Deutung unter allen Umständen von einer falschen unterscheiden könnten. Wie wir aber aufgrund der Erinnerungsdeutung zur Konstruktion einer Vergangenheit des individuellen Bewußtseins gelangen konnten, deren Teile untereinander harmonierten, die in sich widerspruchsfrei war, so bleibt uns auch hier der gleiche Trost. Mache ich die Voraussetzung des Fortbestehens der durch Erinnerungsdeutung und momentan Bewußtes gelieferten Regelmäßigkeiten, so kann ich zu einem in sich harmonischen, widerspruchsfreien "Wissen" über meinen gesamten vergangenen und zukünftigen Bewußtseinsstrom gelangen. Freilich werden in diesem "Wissen" einige falsche Annahmen stecken, freilich wird mir in Zukunft allerlei ins Bewußtsein kommen, was nicht in die Regelmäßigkeiten paßt; auch in der Vergangenheit werden Durchbrüche der Regelmäßigkeit bleiben. Aber das alles verhindert nicht, daß aufgrund der bisher gemachten Voraussetzungen widerspruchsfreie Erkenntnisse über Bewußtseinsinhalte möglich werden, die weder momentan gegeben, noch durch Erinnerungen repräsentiert sind.

Wir sind zur Anerkennung der Möglichkeit von Erkenntnissen über das ganze individuelle, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bewußtsein gelangt. Mit Befriedigung wollen wir an dieser Stelle noch einmal konstatieren, daß die Gegner der Außenweltshypothese auch in der Anerkennung der Induktionen mit uns einig sind, soweit diese sich auf das eigene vergangene und zukünftige Bewußtsein beziehen.

Nun wollen wir einen Schritt weiter gehen, den nicht alle unsere Ankläger mitmachen werden. Wurde Vergangenheit und Zukunft nur von den ärgsten Skeptikern und auch von diesen nur in der Theorie, nicht im Leben, in Frage gestellt, so wird das Bewußtsein anderer Menschen und Tiere von Denkern geleugnet, die sich in Bezug auf die ersten Punkte keineswegs ganz dem Zweifel hingegeben haben, von den Solipsisten oder theoretischen Egoisten. Bisher habe ich noch nichts erkannt als mein eigenes Bewußtsein, sofern es war, ist und sein wird. Ob daneben noch etwas anderes, z. B. Bewußtsein in anderen Menschen besteht, darüber wurde im vorhergehenden noch nichts ausgemacht.

Bei der Einführung der bisher angenommenen Voraussetzungen konnten wir immer darauf verweisen, daß ohne sie der Mensch nicht leben könne. So steht es mit der Annahme von Bewußtsein bei anderen Menschen und Tieren nicht. Ich kann sehr wohl leben und für meine Zukunft sorgen, wenn ich glaube, daß außer meinem Bewußtsein nichts existiert oder wenn ich überhaupt nichts darüber ausmache, ob neben meinem Bewußtsein noch etwas anderes existiert. Aus den Wahrnehmungen der Handlungen anderer Menschen schließe ich induktiv darauf, welche Wahrnehmungen von Handlungen anderer Menschen später erfolgen werden und dementsprechend richte ich mein Verhalten ein. Ob meinen Wahrnehmungen fremder Menschen etwas außer diesen Wahrnehmungen entspricht, Bewußtseinsinhalte in den fremden Menschen, brauche ich nicht zu wissen, um leben zu können. Wenn ich nur weiß, wie meine Wahrnehmungen eines Zornigen verlaufen werden, so kann ich mich danach richten, ob dabei irgendwie in einem fremden Bewußtsein etwas existiert, was meinem Affekt des Zornes ähnlich ist, ist für mich und mein Heil unwesentlich.

Läßt sich somit als Solipsist schon leben, so muß der Standpunkt doch ethisch bedenklich erscheinen. Bin ich überzeugt, daß fremde Lust und fremdes Leid überhaupt nicht existiert, so brauche ich mich nicht mehr darum zu bekümmern, wenn ich einen fremden Menschen im brennenden Haus hilflos sehe, als wenn ich ein fremdes Bett dort erblicke, falls ich keine Veranlassung habe zu glauben, daß mir der fremde Mensch einmal nützen kann. Existiert nur mein eigenes Wohl und Wehe, so brauche ich auch nur für das eigene zu sorgen. Der theoretische Egoismus bringt den praktischen mit sich. Assoziativ erregtes Mitleid muß dem Solipsisten als eine Dummheit erscheinen, deren er sich erwehren wird, wie des kindlichen Mitleids mit einer Puppe.

Aber auch wenn wir ethischen Postulaten einen Einfluß auf unsere theoretischen Überzeugungen gerne einräumen wollen, werden wir doch versuchen, unsere Überzeugungen, soweit wie möglich, noch anders zu rechtfertigen.

Nun ist allerdings sofort klar, daß wir auf deduktivem Wege aus allen möglichen Urteilen über unser eigenes Bewußtsein nie die Existenz fremden Bewußtseins erschließen können. Versuchen wir es daher wieder einmal mit der Induktion, d. h. mit dem Vertrauen auf das Fortbestehen von Regelmäßigkeiten in Gebieten, die jenseits des Gebietes liegen, für das wir diese Regelmäßigkeiten bisher anerkannten.

Wir haben gesehen, daß wir vergangene Inhalte des eigenen Bewußtseins annehmen, die sich nicht durch Erinnerungsdeutung ergeben. Folgt auf  a1 a2 ... an  im Erinnerten sonst regelmäßig  b,  liegt aber ein Falle vor, in dem wir uns wohl noch der  a1 a2 ... an,  nicht aber mehr des  b  erinnern, aber auch nicht erinnern, daß  b  nicht eingetreten ist, so nehmen wir an, daß  b  eingetreten, aber von uns vergessen worden sei. Wenn nur dann  b  auftritt, falls  a1 a2 ... an  nach der Deutung unserer Erinnerung aufgetreten waren, einmal aber  b  auftrat und wir uns nur des Vorhergehens von  a2 ... an  erinnern können, nicht aber durch Erinnerung wissen, daß  a1  nicht mit  a2 ... an  zusammen war, wenn wir ferner wissen, daß in den Fällen, in denen nach Bürgschaft der Erinnerung  a1  nicht, wohl aber  a2 ... an  gegeben waren,  b  nicht auftrat, so nehmen wir bei jenem einen Fall an, daß  a1  auch in meinem Bewußtsein war, von mir aber vergessen worden ist. Ich nehme einfach an, daß die Regelmäßigkeiten weiter gelten, solange kein Widerspruch gegen Erinnerungsdeutungen und momentan Gegebenes ensteht. Und falls ein Widerspruch gegen Erinnerungsdeutungen ensteht, so werde ich oft lieber die Erinnerungsdeutung fallen lassen, als die Annahme der Regelmäßigkeit, d. h. ich vermute, daß meine Erinnerung mich täuscht.

Genauso wie beim induktiven Erschließen von vergangenen Bewußtseinsinhalten, die nicht durch Erinnerungsdeutung geliefert werden, verfahre ich auch beim Erschließen von fremdem Bewußtsein. Aus meiner individuellen Bewußtseinsgeschichte weiß ich aufgrund der Erinnerungsdeutung, daß Ausrufen der Freude und Trauer, die ich als Gehörs- und Bewegungswahrnehmungen hatte, regelmäßig starke Affekte vorhergingen.

Erinnere ich mich, daß ich einmal die Gehörs- und Bewegungswahrnehmungen eines solchen Ausrufes hatte, etwa einen Schrei ausgestoßen habe, so nehme ich an, daß ein Affekt vorherging, wenn die Erinnerung diese Deutung nicht verbietet. Höre ich nun einen Schrei, fehlen bei mir aber Affekt und Bewegungsempfindungen, so mache ich es genau wie vorhin. Ich nehme an, daß auch jetzt der Affekt vorhergeganen ist, auch daß die Bewegungsempfindungen dabei waren. Diese Annahme gerät mit meinen bisherigen nirgendwo in Konflikt, ebensowenig wie die von vergangenen Inhalten meines Bewußtseins, die ich nicht erinnern kann. Ich nehme hier wie dort etwas an, das mir nicht unmittelbar gegeben ist und dessen ich mich nicht erinnern kann. Daß neben meinem Bewußtsein noch ein weiteres Bewußtsein existiert, ist von vornherein weder wahrscheinlicher noch unwahrscheinlicher, als daß es nicht der Fall ist.

Durch die Annahme von fremdem Bewußtsein wird die Regelmäßigkeit schon viel weniger lückenhaft. Immer, wenn fremdes Bewußtsein in mein Bewußtseinsleben oder meine Bewußtseinsinhalte auf fremdes Bewußtsein wirken, finde ich nun regelmäßige Antezedenzien [Vorhergehendes - wp] und Konsequenzien [Nachfolgendes - wp], die mir sonst fehlten. Hört der Solipsist im dunklen Zimmer plötzlich eine Stimme, so fällt diese Wahrnehmung in den Verlauf seines Bewußtseins ohne irgendwelche regelmäßig vorhergehenden Existenzen herein. Nehmen wir aber das Bewußtsein eines zweiten Menschen im Zimmer an, so erhält diese Wahrnehmung ein regelmäßiges Antezendes in den Bewußtseinsvorgängen dieses anderen Menschen.

Dabei ist es von besonderem Interesse, daß die fremden Bewußtseinsinhalte, die wir so aufgrund von Lücken in unserem sonst regelmäßigen Bewußtseinszusammenhang annehmen, unter sich wieder einen in weiten Grenzen regelmäßigen Zusammenhang bilden. Es entsteht so ein Zusammenhang von induktiven Annahmen, den wir in folgender Weise schematisch darstellen können. Wenn ich aufgrund von Lücken in meinen Bewußtseinsregelmäßigkeiten induktiv auf fremde Bewußtseinsinhalte  a1 a2 a3 ... as  schließe, so bestehen zwischen diesen derartige Regelmäßigkeiten, daß ich  ao ap aq ar as  auch induktiv erschließen könnte aus  a1 a2 a3 a4 a5,  wenn ich diese nach Maßgabe der in mir sich abspielenden Regelmäßigkeiten induktiv ergänzen würde. Ferner: betrachte ich nur den fremden Bewußtseinsstrom für sich, so finde ich in dessen Regelmäßigkeiten eine Reihe von Lücken, die durch induktive Ergänzung wieder auf fremdes Bewußtsein führen. Diese dem fremden Bewußtsein fremden Bewußtseinsinhalte können zum Teil aber nach dem Charakter der betreffenden Regelmäßigkeiten nur meine eigenen Bewußtseinsinhalte sein. Wende ich also die Induktion, die von meinem zu fremdem Bewußtsein führte, wieder auf das fremde Bewußtsein an, so führt sie mich oft vom fremden auf mein eigenes Bewußtsein zurück. Der induktive Schluß, der von meinem zu fremdem Bewußtsein ging, bestätigt sich also direkt in seiner Anwendung auf fremdes Bewußtsein, soweit er auf das meinige zurückführt.

Dieser überaus merkwürdige und verflochtene Wechselzusammenhang geht noch viel weiter. Vom ersten fremden Bewußtsein komme ich auf ein zweites, drittes usw., über das sich induktiv bestimmte Aussagen ergeben. Aber ich komme auch direkt von meinem Bewußtsein aus auf jenes zweite und dritte usw. und die sich so ergebenden Aussagen harmonieren mit jenen. Nehme ich nun die große Zahl aller fremden Bewußtseins, die ich direkt von mir aus induktiv erschließe und sehe ich, wie die Schlüsse von jedem der fremden Bewußtseine aus damit zusammenpassen, so entsteht eine großartige Harmonie von induktiven Annahmen, vor der der Solipsist ganz ratlos dastehen muß.

Ich brauche nicht auszuführen, wie diese Harmonie noch gewaltiger, für den Solipsisten noch rätselhafter wird, wenn ich die Bestätigungen betrachte, die die Hypothese vom fremden Bewußtsein in ihren Folgerungen auf zukünftiges erfahren hat. Währen die induktiven Schlüsse über mein eigenes Bewußtsein hinaus auf fremdes Bewußtsein falsch, so wäre gar nicht zu verstehen, weshlab diese Schlüsse immer in solcher Harmonie stehen müßten. Die Tatsache der Möglichkeit der Annahme all des fremden Bewußtseins, einer so komplizierten Hypothese, die einer so ungeheuren Vielheit von Erlebnissen gerecht wird, ist als solche doch bemerkenswert. Bestände die Annahme nicht zu Recht, so wäre es doch als ein unglaublicher Zufall zu betrachten, daß wir eine so zusammengesetzte Fiktion überhaupt aufgrund der einfachen Voraussetzung des Fortbestehens von Regelmäßigkeiten erhalten könnten, die so unendlich oft bestätigt wurde. Ist diese einfache Voraussetzung falsch, unzulässig, woher kommt es dann, daß sie immer und immer wieder zu richtigen Resultaten führt? Schließe ich von bestimmten Wahrnehmungen, also von Bewußtseinserscheinungen in mir auf fremde Bewußtseinsvorgänge und von diesen fremden Bewußtseinsvorgängen nach demselben Prinzip wieder auf zukünftige Bewußtseinsvorgänge in mir, warum tritt dann der erschlossene Bewußtseinsvorgang in mir wieder ein, wenn es nicht deshalb ist, daß das Prinzip des Schließens richtig ist.

Wenn wir das gesamte Tatsachenmaterial betrachten, so werden wir annehmen müssen, daß der induktiven Erschließung von fremdem Bewußtsein eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit zukommt. Diese im Leben von der Gewißheit nichtmehr unterscheidbare Wahrscheinlichkeit kommt aber der Annahme schon deshalb zu, weil sie überhaupt möglich, d. h. mit einer anzuerkennenden Tatsache und nicht mit sich selbst in Konflikt gerät. Wenn in der Anerkennung von fremdem Bewußtsein auf Grund der Induktioin ein prinzipieller Fehler steckte, so müßte unter der Unzahl von Schlüssen, die sich auf diese Hypothese stützen, dieser prinzipielle Fehler irgendwo zum Vorschein kommen.

Die meisten Feinde der Außenweltshypothese nehmen denn auch mit uns die Existenz von fremdem Bewußtsein an. Sie geben auch zu, daß dieses fremde Bewußtsein induktiv analogisch, d. h. aufgrund der Voraussetzung der Regelmäßigkeiten im Geschehen erschlossen ist. Sie werden ferner zugeben, daß die innere Harmonie der erschlossenen Erkenntnisse untereinander sehr für sie spricht.

Durch die Annahme von fremdem Bewußtsein ist die Regelmäßigkeit im Geschehen lückenloser geworden. Sie ist noch nicht absolut lückenlos. Noch immer brechen die meisten Sinneswahrnehmungen in die Bewußtseinsströne der Menschen und Tiere herein, ohne gesetzlich durch die vorhergehenden Bewußtseinsinhalte bestimmt zu sein, selbst wenn ich diese in ihrer Gesamtheit, bei allen Menschen und Tieren, betrachte. Was liegt nun näher, als den alten Weg weiter zu gehen, die Regelmäßigkeitsvoraussetzung weiter zu verfolgen! Hat sie mich bisher gut geführt, so wird sie mir wohl auch in Zukunft gute Dienste leisten. Das ist nichts als ein Induktionsschluß, nach dem wir uns im Leben immer richten. Genügen die vorhandenen Antezedentien im Bewußtsein aller Menschen und Tiere nicht, um als unbedingt regelmäßige Antezedenzien der Wahrnehmungen zu dienen, so müssen eben, soll Regelmäßigkeit in das Gewühl der Wahrnehmungen kommen, neue Antezedenzien anerkannt werden. Genauso kamen wir zur Annahme vergangener Bewußtseinsinhalte, die uns nicht durch Erinnerung geliefert wurden, genauso zum Bewußtsein anderer Menschen und Tiere. Da nun die erforderlichen Antezedenzien der Wahrnehmung, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, nicht in den Bewußtseinsströmen der Menschen und Tiere zu finden sind - sonst wären sie ja nicht nötig -, müssen wir sie außerhalb suchen. Die Gesamtheit dieser neuen Antezedenzien nennen wir Außenwelt. (1)

Wir machen die Hypothese der Außenwelt, wie die Annahme vergangener nicht mehr erinnerbarer Bewußtseinsinhalte in mir und die fremden Bewußtseins der Regelmäßigkeit zuliebe, die wir überall voraussetzen. Prüfen wir nun, wie sich die Hypothese bewährt. Dann müssen wir sagen, sie könnte sich nicht besser bewähren. Sie bewährt sich so gut, daß selbst der ärgste Feind derselben sie nicht im täglichen Leben entbehren kann.

Sehen wir uns die Sache einmal etwas genauer an! Aufgrund meiner optischen Wahrnehmung sehe ich mich genötigt, den Antezedenzien derselben in Bewußtseinsströmen noch weitere hinzuzufügen. Ich sehe eine Straßenlaterne im Menschengewühl. Alle die übrigen Menschen, die in jene Richtung blicken, haben die Gesichtswahrnehmung der Laterne. Aufgrund meiner Wahrnehmung muß ich ein Außenweltantezendes annehmen. Alle anderen Menschen müssen dieses Außenweltantezedens auch annehmen. Wird die Lampe beseitigt, so verschwindet für mich die Annahme des Antezedens. Gleichzeitig aber nehmen die anderen Menschen nach demselben Prinzip nun nicht mehr die Existenz des Antezedens an. Allgemeiner gesprochen, auf dasselbe Außenweltantezedens führen eine Menge von Wahrnehmungen in mir und anderen Menschen und Tieren. Wenn das Prinzip, aufgrund dessen ich dieses Außenweltetwas erschließe, die Regelmäßigkeitsvoraussetzung, falsch ist, wie kommt es dann, daß diese induktiven Schlüsse miteinander harmonieren?

Das Vertrauen auf unseren Führer, die Regelmäßigkeitsvoraussetzung, war vielleicht anfangs nicht so groß, als wir uns in das neue unermeßlich weite Gebiet der Annahmen über die Außenwelt wagten. Aus dem vertrauten Bezirk menschlichen und tierischen Bewußtseins ging es ja in, wie es scheint, völlig fremde Länder. Nun stehen wir aber, ähnlich wie bei der Annahme fremden Bewußtseins, vor der folgenden nicht wegzuleugnenden Tatsache. Wir gehen aus von einer Fülle von Erkenntnissen über Inhalte in Menschen- und Tierseelen, die wir in Urteilen zu formulieren vermögen. Wir schließen induktiv über diese Urteile hinaus, d. h. wir machen die einzige Annahme, daß auch dort regelmäßige Antezedenzienkomplexe existieren, wo sie im Menschen- und Tierbewußtsein nicht vollständig oder gar nicht vorliegen; indem wir diese einzige Annahme auf die anfangs erwähnten unendlich zahlreichen Urteile anwenden, kommen wir zu einer in sich harmonischen ungeheuren Gesamtheit von Urteilen, der Außenweltshypothese. Die Wahrnehmungen, zu denen wir die Antezedenzien annehmen, sind als solche für den Gegner der Außenweltsauffassung zum großen Teil unabhängig. Und doch führen sie nicht zu widersprechenden Schlüssen über Antezedenzien. Schließe ich nun aus den erschlossenen Antezedenzien unter Voraussetzung jener Regelmäßigkeit zurück auf zukünftige Inhalte menschlichen Bewußtseins, so werden diese Schlüsse nachher bestätigt. Sie sind unendlich oft bestätigt worden.

Wir haben eine Hypothese folgender Art vor uns. Sie geht von einer Unzahl von Tatsachen, den Sinneswahrnehmungen, aus. Sie macht die einzige Voraussetzung, daß diese Tatsachen Antezedenzien der Art haben, daß immer, wenn die Gesamtheit der letzteren vorliegt, auch die Tatsachen eintreffen. Daraus ergibt sich eine Unsumme von Schlüssen, die in sich widerspruchsfrei sein und unendlich oft bestätigt werden. Beweist nicht, nachdem, was wir über Hypothesenbildung gesagt haben, die bloße Existenz einer solchen Hypothese ihre hohe Wahrscheinlichkeit? Je mehr Ausgangstatsachen, umso besser für die Hypothese; je weniger neue Annahme - eigentlich liegt nur die Erweiterung einer längst akzeptierten vor -, umso wahrscheinlicher die Hypothese; kommen erst zahlreiche Verifikationen dazu, so wächst die Wahrscheinlichkeit der Hypothese sehr schnell.

Ist der Gegner der Außenweltshypothese nicht Solipsist, so weisen wir ihm gegenüber mit Nachdruck darauf hin, daß wir uns der Außenweltsannahme gegenüber in ganz entsprechender Situation befinden wie bei der Erschließung des Bewußtseins fremder Menschen und Tiere. Hier wie dort setzen wir Regelmäßigkeiten voraus, die in dem bis dahin als existierend Anerkannten nicht zu finden sind. Hier wie dort führt diese Voraussetzung zur Annahme von bisher nicht angenommenen Existenzen. Hier wie dort stehen die so entspringenden neuen Annahmen von Existenzen in bester Harmonie untereinander. Hier wie dort können wir aus den Annahmen über jene neue Existenzen aufgrund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung auf das Kommen von Existenzen schließen, die, sind sie später da, auch ohne die neu angenommenen Existenzen anerkannt werden müßten. Hier wie dort kommen dann jene erschlossenen Existenzen tatsächlich. Hier wie dort haben wir also Verifikationen in Hülle und Fülle. Diese Bewährung muß bei beiden Hypothesen als total unverständlich erscheinen, wenn das ihnen gemeinsam zugrunde liegende Prinzip der Regelmäßigkeit des Geschehens falsch sein sollte. Hat man aber einmal das fremde Bewußtsein anerkannt, so scheint es nichts weiter als Willkür, bestenfalls völlig übertriebene Vorsicht, die Außenweltsannahme nicht mitmachen zu wollen. Das Stehenbleiben auf halbem Weg hätte doch nur Sinn und Grund, wenn besondere Gefahren in Sicht wären. Statt dessen scheint der Weg, wie bisher, auch im weiteren Verlauf glatt und eben. Behauptet der Feind der Außenweltshypothese positiv, diese sei falsch, so kann er nicht eine Spur eines Beweises dafür erbringen. Und die Last des Beweises hat der ebensogut zu tragen, der behauptet, eine mögliche Annahme sei falsch, wie der, welcher für ihre Wahrheit eintritt. Will er sich über die Außenweltshypothese eine Urteilsenthaltung auferlegen, warum verfährt er in Bezug auf das Bewußtsein anderer Menschen und Tiere nicht ebenso? Hat er sich aber gefreut, der Annahme fremden Bewußtseins höchste Wahrscheinlichkeit zuschreiben zu dürfen, so wird er auch der Außenweltshypothese bedeutende Wahrscheinlichkeit nicht absprechen können.

Für die Gewißheit logischer Axiome, des deduktiven Denkens, für die Wahrscheinlichkeit der Erinnerungsdeutung, der Regelmäßigkeitsvoraussetzung und der daraus folgenden Annahmen unerinnerter, vergangener Inhalte in meinem Bewußtsein, zukünftiger Inhalte in ihm, fremden Bewußtseins, schließlich für alles und jedes, das wir als gewiß oder wahrscheinlich anerkennen, gewinnt uns zuletzt zweierlei. Erstens ein gewisser, nicht zu bestreitender psychischer Zwang, demzufolge wir nicht anders können, als die Gewißheit des uns momentan bewußt Gegebenen, der logischen Axiome und deduktiven Ableitungen anerkennen und der uns zur Erinnerungsdeutung, zur Regelmäßigkeitsvoraussetzung und damit zur Annahme vergangener, zukünftiger und fremder Bewußtseinsinhalte, schließlich der Außenwelt, treibt. Widersetzen wir uns diesem Zwang, so ist kein Wissen möglich. Fügen wir uns ihm aber, so zeigt sich zweitens, daß alles, was der Zwang uns aufdrängt, miteinander vereinbar und zur Harmonie zu bringen ist, daß es sich auf das Beste bewährt. Das ist schließlich alles, was zur Rechtfertigung der Gesamtheit aller Überzeugung angeführt werden kann. Wem das nicht genügt, dem ist nicht zu helfen. Wer nichts in Wasser geht, lernt auch nicht schwimmen. Wer sich jenen sich mehr oder weniger aufzwingenden Voraussetzungen nicht anvertraut, erreicht nie ein Wissen.

Schon lange wird der Gegner der Außenweltshypothese folgenden Einwurf bereit haben. Der Schluß auf fremdes Bewußtsein wurde immer mit dem auf die Außenwelt verglichen und beide wurden auf die gleiche Stufe gestellt. Da besteht aber doch ein erheblicher Unterschied. Das, was ich als regelmäßiges Antezedens anerkenne, wenn ich fremdes Bewußtsein erschließe, ist doch immer noch Bewußtsein, etwas, das ich kenne und von dem ich von mir her weiß, welcher Natur es ist. Ebenso schloß ich auf vergangene Inhalte meines Bewußtseins induktiv, d. h. auf etwas, dessen Natur mir wohl vertraut ist. Anders steht es um die Außenwelt. Von den Antezedenzien, die man da annimmt, weiß ich absolut nichts, sie sind ja doch nicht bewußter Natur. Zudem zeigt der Streit der metaphysischen Systeme, daß ich nichts von der Natur der Außenwelt wissen kann. Was helfen mir nun Antezedenzien, von deren Natur ich nichts weiß? Sind sie aber nicht bewußter Natur, so ist der Induktionsschluß, der auf sie führt, mit dem Induktionsschluß auf fremdes Bewußtsein gar nicht vergleichbar. Man sieht ja, beide Induktionsschlüsse führen zu Existenzen ganz verschiedener Natur. Also darf ich wohl einen Unterschied zwischen den beiden Annahmen machen. Ich halte demnach an der Überzeugung vom Bewußtsein fremder Menschen und Tiere fest, bleibe aber bei der Urteilsenthaltung in Bezug auf die Außenwelt.
LITERATUR - Erich Becher, Philosophische Voraussetzungen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Die Gegner der Außenweltsannahme haben die Regelmäßigkeitsvoraussetzung zuweilen durch die Annahme von Bewußtseinsmöglichkeiten durchführbar zu machen gesucht. Der Stein, den keiner wahrnimmt, überhaupt alle Außenweltsdinge, sind solche Bewußtseinsmöglichkeiten. - Indessen leistet diese von JOHN STUART MILL stammende Auffassung nur scheinbar den erwarteten Dienst. Entweder sind die Bewußtseinsmöglichkeiten zugleich wirkliche Existenzen, dann bilden sie eine Außenwelt. Oder sie sind nur in unserem Vorstellen zu finden, nicht aber außerhalb unseres Bewußtseins wirklich. Dann können sie aber nicht Antezedenzien, die die Regelmäßigkeitsvoraussetzung zu befriedigen vermöchten.