cr-2DonatElsenhansSprangerW. SchuppeHartmannVolkelt    
 
ERICH BECHER
Philosophische Voraussetzungen
der exakten Wissenschaften

[ 8 / 8 ]

Vorwort / I. Einleitung
II. Der Wert der Hypothesen
III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit
IV. Prüfung der kritischen Bedenken
V. Erkenntnisse über die Außenwelt

"Was haben nun diese verschiedenen Mannigfaltigkeiten der getrennten Sinnesgebiete miteinander gemeinsam, so daß sie alle als räumlich bezeichnet werden können? Was hat ein Nebeneinander des Gesichtssinnes mit einem Nebeneinander des Tastsinnes zu tun? Weshalb spreche ich in beiden Fällen von einem Nebeneinander?"

"Raum- und Zeitbeziehungen sind es, die die Existenzen individualisieren. Identisch im strengsten Sinne ist nur das, was inhaltlich gleich, aber auch zu gleicher Zeit an gleichem Ort ist, d. h. nur jede individuelle Existenz mit sich selbst."

V. Der Charakter unserer Erkenntnisse über die Außenwelt
und deren allgemeinste Züge

Wir betrachten im folgenden die Außenweltshypothese als gerechtfertigt. Wir werden überall da etwas Existierendes annehmen, wo unsere Regelmäßigkeitsvoraussetzung es erfordert. Als Kriterium der Existenz betrachten wir demnach auf dem Gebiet der Außenwelt das Wirken. Haben wir aber einmal etwas Existierendes gesetzt, so müssen wir dieses Existierende aufgrund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung so lange als fortexistierend, beharrend betrachten, als keine Ursache der Veränderung dieses Beharrenden vorliegt.

Diese Konsequenz der Beharrlichkeit ist von großer Tragweite, wie eine kleine Überlegung zeigen wird. Im allgemeinen ist das, was wir als Ursache, als unbedingt regelmäßig Vorhergehendes also zu bezeichnen haben, kein Einfaches, sondern ein Zusammengesetztes in dem Sinne, daß seine Teile auch getrennt voneinander aufzutreten pflegen. Das gilt im besonderen auch von der Ursache der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen sind das Resultat eines Zusammenwirkens eines fremden Außenweltdinges und meines Körpers, der natürlich auch ein Außenweltsding darstellt; dazu kommen noch vielleicht unbewußte psychische Prozesse.

Die Wirkung eines Komplexes wird ausbleiben, wenn nur ein Teil des Komplexes fehlt. Das folgt aus dem Begriff der Ursache. Bleibt also eine Wirkung aus, so ist die Ursache als Ganzes, der ganze Komplex, nicht vorhergegangen; aber es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß ein Teil der Gesamtursache, des ganzen Komplexes, doch vorhanden war. Vielleicht hat nur ein kleiner Teil der Gesamtursache gefehlt. Mit Rücksicht auf das Gesetz des Beharrens  müssen  wir oft sogar annehmen, daß nur ein Teil des Komplexes fortgefallen ist.

Wenden wir diese Einsicht auf den Fall der Wahrnehmung an. Zur Entstehung einer Sinneswahrnehmung pflegen unser Leib (wie wir einfach anstelle dessen, was ihm in der Außenwelt entspricht, sagen wollen) und noch etwas anderes in der Außenwelt oft zusammenwirken. Verschwindet nun eine Wahrnehmung gleichzeitig mit einer Veränderung in unserem Leib (Schließen der Augen), so kann das andere mitwirkende Etwas in der Außenwelt trotz dieses Verschwindens der Wahrnehmung beharren, weil ja nur die Beseitigung eines Teiles der Ursache zur Beseitigung der Wirkung erforderlich ist. Hat ein solches Beharren stattgefunden, so wird nach dem Rückgängigmachen der leiblichen Veränderung (dem Wiederöffnen der Augen) auch die Wahrnehmung wieder eintreten. Tritt die Wahrnehmung immer wieder auf, wenn ich in beliebigen Zeitabständen jene leibliche Veränderung vollzogen und wieder rückgängig gemacht habe (Schließen und Öffnen der Augen), so wird die Möglichkeit des Beharrens des Außenweltdinges zur hohen Wahrscheinlichkeit werden. So komme ich aufgrund der Daten meines Bewußtseins und der Regelmäßigkeitsvoraussetzung zur Annahme mehr oder weniger beharrender Außenweltsdinge und diese sich wohl bewährende Annahme macht die Außenweltshypothese, wie schon ausgeführt wurde, so ungemein zweckmäßig. Wir brauchen nicht die wechselnden Wahrnehmungen von Menschen und Tieren aufeinander zu beziehen, wodurch ein unlöslicher Wirrwarr von Beziehungen entstehen würde, sondern wir können sie auf die viel beharrlicheren Existenzen der Außenwelt beziehen.

Wir haben demnach als erste allgemeine Erkenntnis über die Außenwelt die höchst wahrscheinliche Annahme zu verzeichnen, daß es in ihr Existenzen gibt, die relativ beharren, jedenfalls viel beharrlicher sind, als unsere Wahrnehmungen derselben zu sein pflegen.

Ob es absolut beharrliche Existenzen gibt, wie der Physiker lange die Atome als absolut beharrlich und unveränderlich betrachtete oder wie sie Philosophen in ihren Substanzen zu kennen glaubten, müssen wir vorderhand ganz dahin gestellt sein lassen. Ein Grund zu dieser Annahme liegt in unseren bisherigen Ausführungen nicht.

Soviel ist indessen für uns schon zweifellos geworden: auch in der Außenwelt gibt es Veränderung und Wechsel. Nicht für alle Änderungen in der Wahrnehmung finde ich Änderungen in meinem Leib, die nicht selbst noch Änderungen in der Außenwelt außer dem Leib voraussetzen. Ja, indem ich Änderungen in meinem Leib annehme, habe ich schon Änderungen in der Außenwelt. Ist eine Änderung im Bewußtsein aller Menschen und Tiere nicht eine unbedingt regelmäßige Folge von Änderungen, die sich ihrerseits in den Bewußtseinen dieser Menschen und Tiere vollzogen haben, so muß ich Änderungen in der Außenwelt dazu annehmen. Beharrte alles in den Bewußtseinen und alles in der Außenwelt, so könnte auf dieses Beharren nach der Regelmäßigkeitsvoraussetzung nie eine Veränderung in den Bewußtseinen erfolgen. Liegen demnach für eine tatsächliche Veränderung in den Bewußtseinen keine zureichend vorhergehenden Veränderungen in ihnen vor, so müssen Veränderungen in der Außenwelt angenomen werden. Diesen Fall haben wir bei den Veränderungen der Sinneswahrnehmungen, ihrem Kommen und Gehen vor uns.

Unbeschadet der Annahme relativ beharrlicher Existenzen in der Außenwelt müssen wir demnach anerkennen, daß es Veränderungen in ihr gibt. Nach der Regelmäßigkeitsvoraussetzung stellen sich diese Veränderungen aber als Kausalzusammenhänge dar. Zwischen den Außenweltsdingen bestehen demnach Kausalbeziehungen.

In dieser zweiten wichtigen allgemeinen Aussage ist schon eine dritte teilweise eingeschlossen. Wo es Veränderung gibt, da gibt es Verschiedenheit und zwar Verschiedenheit des Aufeinanderfolgenden. Wir müssen daneben auch Verschiedenheiten des Koexistierenden in der Außenwelt anerkennen. Treten zwei verschiedene Wahrnehmungen gleichzeitig auf (die beide nicht Wirkungen des vorhergehenden für beide gleichen Bewußtseinsbestandes allein sein können) und können die beiden nicht als gleichzeitige Wirkungen derselben Ursache aufgefaßt werden, weil sie oft nicht vereint auftreten, so muß der Unterschied zwischen beiden auf Teile der Ursachen geschoben werden, die in der Außenwelt existieren. Auch da müssen also Verschiedenheiten angenommen werden. Sehe ich einen roten und einen blauen Punkt nebeneinander, so müssen diesen koexistierende verschiedene Außenweltsexistenzen entsprechen. - Jedenfalls kann also das außer Menschen- und Tierbewußtseinen Existierende nicht als unterschiedslose Einheit aufgefaßt werden, sondern wir müssen eine Mannigfaltigkeit von Außenweltsexistenzen anerkennen. Ob und in welchem Sinne diese eine sie umfassende Einheit bilden, das ist wieder ein Problem, welches über unseren gegenwärtigen Gesichtskreis hinausliegt. Es genügt für uns die Feststellung, daß Aussagen über Unterschiede von Aufeinanderfolgendem und Gleichzeitigem in der Außenwelt möglich sind.

Eine besonders wichtige Art des Unterschiedes von Gleichzeitigem in der Außenwelt ist für unsere Untersuchung diejenige, welche in der Wahrnehmung den räumlichen Unterschied bewirkt. Daß zwei gleichzeitig gesehene Punkte an verschiedenen Stellen des Sehfeldes und zwar an bestimmten erscheinen, kann nach unseren bisherigen Annahmen nur daher kommen, daß das den Punkten in der Außenwelt Entsprechende sich in bestimmter Weise voneinander durch irgendetwas unterscheidet. Ob dieses Etwas, diese Unterschiede in der Außenwelt räumlicher Natur sind und welcher räumichen Natur, darüber wissen wir nichts. Es liegt kein Grund für die Anerkennung räumlicher Unterschiede im Sinne der gesehenen, getasteten, durch den Bewegungssinn wahrgenommenen Räumlichkeit vor. Wir kennen ferner in unserem Bewußtsein Existierendes, das nicht räumlicher Natur ist, z. B. ethische Gefühle, Affekte. Ob also die Außenwelt räumlich ist oder nicht, darüber wissen wir nichts und die Annahme, sie sei räumlich, muß uns als eine aus unendlich vielen möglichen willkürlich herausgegriffene erscheinen, die keinen Anspruch auf Anerkennung machen kann. Wir erinnern auch an die Schwierigkeit, welcher Art denn die Räumlichkeit der Außenwelt sein sollte, ob sie der Räumlichkeit des Gesichts-, des Tast- oder des Bewegungssinnes gleichen sollte, denn diese Arten der Räumlichkeit weichen sehr voneinander ab und sind nur durch die enge, in gewissem Sinne eindeutige Zuordnung zueinander verbunden.

Indessen bleibt bestehen, daß den räumlichen Unterschieden unserer Wahrnehmung Unterschiede in der Außenwelt entsprechen müssen. Der räumlich unterschiedenen Mannigfaltigkeit der Empfindungen ist eine entsprechende Mannigfaltigkeit in der Außenwelt zu koordinieren.

Die Tatsache der engen Zuordnung der räumlichen Mannigfaltigkeiten, wie sie Gesichts-, Tast- und Bewegungssinn, zum Teil auch noch die anderen Sinne bieten, hat Anlaß gegeben zu einer Hypothese, die uns freilich unumstößlichem Wissen im Leben gleichwertig erscheint. Es ist die Annahme, daß eindeutig aufeinander beziehbare räumliche Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne von derselben Außenweltsexistenz herrühren. Passen meine Tast- und Bewegungsempfindungen Element für Element mit meinen Gesichtsempfindungen zusammen, so nehme ich an, daß diese koordinierten Empfindungskomplexe vom selben Komplex von Ursachen bewirkt sind, daß es dasselbe ist, was ich taste und was ich sehe. Diese Hypothese gehört wieder zur Klasse derjenigen, die wohl niemals zu bewiesenen Wahrheiten werden können. Da sie indessen fortwährend verifiziert wird, hindert uns dieser Sachverhalt nicht, ihr volle Anerkennung zu zollen. Wir wollen hinzufügen, daß diese Annahme die Zweckmäßigkeit, die ökonomische Leistungsfähigkeit der ganzen Außenweltshypothese wiederum sehr erhöht. Anstelle der Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne, dreier, genau genommen noch zahlreicherer "Variablen", tritt, durch diese Hypothese eingeführt, eine einzige "Urvariable", das die dreierlei Wahrnehmungen bewirkende Außenweltsding.

Ohne in die Philosophie der Mathematik, speziell der Geometrie weiter einzudringen, können wir doch sagen, daß die unseren Raumwahrnehmungen zugrunde liegende Außenweltsmannigfaltigkeit als eine dreidimensionale aufgefaßt werden  kann.  Ob sie als solche aufgefaßt werden  muß,  kann hier unentschieden bleiben. Jedenfalls können unsere verschiedenen Sinnesräume, der Gesichts-, der Tast- und der Bewegungsraum, einer dreidimensionalen Mannigfaltigkeit so zugeordnet werden, daß jene dreidimensionale Mannigfaltigkeit als Grundlage aller dieser einzelnen Sinnesräume aufgefaßt werden kann. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß diese dreidimensionale Außenweltsmannigfaltigkeit von einem anderen Gesichtspunkt aus als mehr oder weniger dimensional aufzufassen ist.

Wenn wir oben der Außenwelt die Räumlichkeit im dargelegten Sinn abgesprochen haben, so wollen wir einen Einwand gegen dieses Verfahren nicht unterdrücken. Wir sprachen von einer räumlichen Mannigfaltigkeit der Gesichts-, Tast- und Bewegungswahrnehmung. Was haben nun diese verschiedenen Mannigfaltigkeiten der getrennten Sinnesgebiete miteinander gemeinsam, so daß sie alle als räumlich bezeichnet werden können? Was hat ein Nebeneinander des Gesichtssinnes mit einem Nebeneinander des Tastsinnes zu tun? Weshalb spreche ich in beiden Fällen von einem Nebeneinander? Das ist zuzugeben, daß die Zusammengehörigkeit dieser verschiedenen Mannigfaltigkeiten der Sinnesräume nur in ihrer engen Zuordnung zueinander besteht. Sie haben deshalb etwas miteinander zu tun, weil sie (unter gewissen hier nicht weiter in Betracht kommenden Einschränkungen) eindeutig aufeinander bezogen werden können, Element für Element und Beziehung (zwischen den Elementen) für Beziehung. Wir haben aber gehört, daß eine entsprechende Zuordnung auch die besprochene Außenweltsmannigfaltigkeit mit den Mannigfaltigkeiten der Sinnesräume verbindet. Warum sollen wir diese Außenweltsmannigfaltigkeit mit den Mannigfaltigkeiten der Sinnesräume verbindet. Warum sollen wir diese Außenweltsmanngifaltigkeit also nicht räumlich nennen, da sie doch mit den Mannigfaltigkeiten der Sinnesräume so viel gemeinsam hat, als diese untereinander gemeinsam haben: die Möglichkeit der gegenseitigen eindeutigen Zuordnung?

Demgegenüber ist nicht viel zu sagen. Will man diese Außenweltsmannigfaltigkeit wegen der erwähnten nicht zu leugnenden Eigenschaft als räumlich in diesem weiten Sinne bezeichnen, so ist das ganz in Ordnung. Wir werden uns daher dieses Sprachgebrauches in Zukunft zuweilen bedienen. Damit bleibt aber bestehen, was oben hervorzuheben war: die Subjektivität unserer Sinnesräume. Das "Nebeneinander" zweier Außenweltsexistenzen ist eine wohl ganz andere Art des Unterschieds zwischen beiden, als das Nebeneinander zweier Empfindungen des Gesichtssinnes, des Tastsinnes, des Bewegungssinnes, wie ja auch die drei letzteren Arten des Nebeneinander ganz verschiedene Arten des Unterschieds sind. Nun sind wir aber gewöhnt, uns räumliche Verhältnisse im Raum eines  bestimmten  Sinnes vorzustellen, wohl meist im Gesichtsraum. Ist das letztere der Fall, so pflegen wir uns jedes Nebeneinander, auch das, was in der Außenwelt diesem Unterschied des Nebeneinander entspricht, in optischen Reproduktionen zu vergegenwärtigen. Wir übertragen die Räumlichkeit des Gesichtssinnes, so gut es eben gehen will, auf die Räumlichkeit der Außenwelt. Daß diese oder eine entsprechende Übertragung von einem anderen Sinnesgebiet aus unzulässig ist, versteht sich für uns von selbst und weiter nichts ist gemeint, wenn wir die Außenwelt in einem engeren Sinne als unräumlich bezeichnen. Wir können die Sachlage an einem Beispiel aus der Mathematik verdeutlichen. Analytische Betrachtungen sind von geometrischen Vorstellungen im Prinzip unabhängig. Aber wir pflegen uns analytische Bestimmungen geometrisch zu vergegenwärtigen. Anstatt zu sagen, eine Variable soll sich zwischen  a  und  b  verändern, gebrauchen wir die geometrische Vorstellung: die Variable bewege sich auf der Strecke dem Weg  a b.  Das ist ganz einwandfrei, solange man die geometrische Deutung nur als bequemes Ausdrucksmittel behandelt. Aber es darf nicht dazu verleiten, das geometrische Bild für das Wesen der Sache zu halten, die vielmehr von der geometrischen Vorstellung ganz unabhängig ist. - Bezeichnen wir die Außenwelt als unräumlich, so geschieht es deshalb, damit nicht der Raum eines besonderen Sinnes auf die Außenwelt übertragen wird. Die Eigenart unserer Reproduktionsgesetze verleitet zu einer solchen Übertragung, die dann auch der naive Mensch ohne weiteres zu vollziehen pflegt. Demgegenüber soll durch die Betonung der Unräumlichkeit der Außenwelt die Subjektivität der Sinnesräume hervorgehoben werden. Wie wir aber geometrische Vorstellungen auf analytische übertragen und von der Strecke, dem Weg, dem Gebiet einer Variablen reden, so können wir auch von einem Außenweltsraum sprechen. Nur müssen wir uns stets vergegenwärtigen, daß allein die erwähnte Zuordnung zu den Sinnesräumen durch diesen Sprachgebrauch ausgedrückt werden darf.

Raum und Zeit sind von der Philosophie sehr oft als in gewisser Weise koordinierte Vorstellungen betrachtet worden und diese Betrachtungsweise hat durch KANTs transzendentale Ästhetik etwas von einer Sanktion erhalten. Haben wir die Subjektivität der Raumwahrnehmung vertreten, so scheint damit auch die Subjektivität der Zeit Anerkennung finden zu müssen.

Indessen zeigt schon KANTs System, daß die Parallelität von Raum und Zeit ihre bald erreichten Grenzen hat. Und so wird obige Konsequenz für die Zeit doch eine genauere Prüfung erfordern.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei vorausgeschickt, daß die Subjektivität der Zeit sich in einem bestimmten Sinne von selbst versteht, nämlich im Sinne der Subjektivität der Zeitschätzung. Daß unsere Schätzung einer Zeitdauer nicht mit einer etwaigen objektiven Zeit harmoniert, darüber kann kein Zweifel bestehen.

Das Problem ist demnach genauer zu fassen. Wir finden, daß alle unsere Bewußtseinsinhalte etwas an sich haben, aufgrund dessen wir sie als zeitlich, als in der Zeit sich abspielend auffassen. Wir fragen, ob dieses Etwas, vermöge dessen unsere Bewußtseinsinhalte zeitlich sind, auch den Außenweltsexistenzen zukommt. Das könnte trotz der Subjektivität der Zeitschätzung der Fall sein.

Wir haben zunächst auf einen Unterschied zwischen Räumlichem und Zeitlichem aufmerksam zu machen. Während nur ein Teil unserer Bewußtseinsinahlte räumlich ist, daneben aber eine Fülle unräumlicher Inhalte sich in uns findet, haben  alle  unsere Bewußtseinsinhalte die Eigentümlichkeit, als in der Zeit existierend auffaßbar zu sein. Daher ist uns eine Gesamtheit unräumlicher Inhalte wohl vorstellbar, nicht aber ein Komplex von Existenzen, die nicht als im zeitlichen Geschehen stehend betrachtet werden könnten, für die überhaupt die Zeit etwas ganz Bedeutungsloses wäre, wie es für nichtsinnliche Gefühle der Raum ist.

Hier liegt nun die Frage nahe, ob denn im Begriff der Existenz nicht schon ein Momente des Zeitlichen steckt. Ist Sein zugleich Qualitativ-Sein gleich Bewußt-Sein, so, ließe sich vielleicht sagen, müsse eben alles Sein als Bewußt-Sein etwas Zeitliches an sich haben, weil dieses Zeitliche notwendig im Begriff des Bewußten steckt. Dagegen wäre wiederumg zu erwägen, ob bei dieser Überlegung nicht etwas, das vielleicht erst durch die Eigenart der Zusammenfassnung unserer Bewußtseinsinhalte zum Komplex unseres Gesamtbewußtseins zustande kommt, dem Bewußten als solchem, abgesehen von aller Zusammenfassung, zugeschrieben wird.

Die Entscheidung solcher Fragen muß zuletzt der allgemeinen Metaphysik anheimgestellt werden. Jedenfalls aber müssen wir anerkennen, daß die Annahme der Objektivität der Zeit von vornherein weit mehr für sich hat, als die der Objektivität des Raumes. Sind alle Existenzen, die wir, irgendein Mensch oder Tier, in unseren Bewußtseinen vorfinden, in der Zeit, warum sollten wir nicht die Außenweltsexistenzen nach Analogie derselben denken, da diese ja wie jene ihrem Wesen nach qualitativ sind?

Schließlich müssen wir gestehen, daß für uns die Frage eigentlich schon längst entschieden ist und zwar aufgrund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung. Weshalb haben wir die Existenz einer Außenwelt anerkannt? Doch nur der Regelmäßigkeitsvoraussetzung zuliebe, um unbedingt regelmäßige Antezedenzien für die Wahrnehmungen zu bekommen. Ein Antezedens muß etwas sein, was in der Zeit vorhergeht, also selbst in der Zeit steht. Haben wir Außenweltsexistenzen als Antezedenzien einmal anerkannt, so haben wir damit schon entschieden, daß diese Existenzen in der Zeit sind. Gibte es in der Außenwelt Ursachen, Wirkungen, Beharrendes, so stehen diese Ursachen und Wirkungen trotz KANTs zeitloser intelligibler Kausalität, ebenso wie das Beharrende in der Zeit. Die Annahme einer zeitlosen Kausalität hat unserer Auffassung einen Widerspruch in sich, wir müssen sie also verwerfen. Aufgrund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung muß man also die Objektivität der Zeit anerkennen.

In Anbetracht der Schwierigkeit der Frage und der Unvollständikgiet der Behandlung, die wir ihr an dieser Stelle zukommen lassen können, wollen wir darauf verweisen, daß das Folgende den soeben angedeuteten Standpunkt nicht notwendig voraussetzung. Vielmehr ist ist auch mit einem anderen Standpunkt wohl vereinbar, den wir jetzt kurz skzizzieren wollen.

Nehmen wir einmal an, unsere Wahrnehmungen seien zwar nicht durch die Außenwelt verursacht, aber doch durch dieselbe eindeutig bestimmt. Es könnte wohl sein, daß diese Wahrnehmungen eindeutig bestimmende Welt unzeitlich wäre, wie wir in der analytischen Geometrie Punkte im Raum eindeutig durch Koordinaten, Zahlen, die an sich nichts Räumliches zu haben brauchen. Lassen wir nun einmal alles beiseite, was für oder gegen die Annahme einer solchen zeitlosen, unzeitlichen Welt spricht, so müssen wir doch, falls die eindeutige Bestimmtheit der Wahrnehmungen festgehalten wird - und was soll ohne diese jene Welt für uns -, darauf bestehen, daß einem zeitlichen Unterschied in unserer Wahrnehmung ein Unterschied in der zeitlosen Welt entspricht. Wie die eindeutige Bestimmtheit der Wahrnehmungen fordert, daß dem Auseinandersein der Wahrnehmungselemente in den Sinnesräumen ein Unterschie in der Außenwelt entspricht, so muß auch dem Auseinandersein zweier Wahrnehmungselemente in der Zeit, dem Nacheinander, dem zeitlichen Unterschied ein Unterschie in der etwaigen zeitlosen Welt korrespondieren. Der Mannigfaltigkeit der Zeitunterschiede in der Wahrnehmung müssen wir also eine Mannigfaltigkeit von Unterschieden in jener zeitlosen Welt zuordnen, so daß ersteres durch letztere eindeutig bestimmt ist, ihr eindeutig zugeordnet werden kann.

Wir hätten dann von der Subjektivität der Zeit in einem ähnlichen Sinn zu sprechen, wie wir von der Subjektivität des Raumes geredet haben. Hier wie dort sind in der Außenwelt Mannigfaltigkeiten anzunehmen, die dem subjektiven Raum, der subjektiven Zeit entsprechen. Schließlich können wir dann auch, wie wir die unräumliche Mannigfaltigkeit der einer Variablen zu erteilenden Werte in der mathematischen Analysis durch räumliche Ausdrücke wie Strecke, Weg, Gebiet der Variablen wiederzugeben pflegen, jene Mannigfaltigkeiten in einer unräumlichen und unzeitlichen Welt als räumlich und zeitlich bezeichnen. Wir müssen dann stets im Auge behalten, daß diese Bezeichnungen nur die Tatsache der Zuordnung wiedergeben sollen. Das "räumlich" und "zeitlich" ist als "dem Räumlichen bzw. Zeitlichen in uns zugeordnet", "entsprechend" aufzufassen. Wenn der Leser im folgenden die Sache so deuten will, wo wir von Raum und Zeit sprechen, so wird er, hoffe ich, keine Schwierigkeiten finden. Und wenn er dann auch geneigt ist, diese eindeutige Bestimmtheit unserer Wahrnehmungen durch die unräumliche und unzeitliche Welt (der Dinge an sich) als Bewirkung aufgrund intelligibler Kausalität zu bezeichnen, so entsteht eine terminologische Streitfrage, die wir hier beiseite lassen können. Für unsere Zwecke genügt die Anerkennung jener unseren räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeiten der Wahrnehmung korrespondierenden, zugrunde liegenden Mannigfaltigkeiten in einer Welt, die die Gesamtheit der Wahrnehmungen eindeutig bestimmt. Ich hebe ausdrücklich hervor, daß alle Ausdrücke, die von spezielleren, bestimmteren Voraussetzungen über die Art dieser Bestimmtheit herstammen, in dem entsprechenden weiteren Sinn genommen, gedeutet werden können, der nur die zuletzt besprochene eindeutige Bestimmtheit voraussetzt, ohne irgendwelche weiteren Annahmen über sie. Ich sage  können,  nicht  müssen  oder  sollen.  Denn wie aus der Gesamtheit der bisherigen Ausführungen hervorgeht, scheinen mir Gründe für speziellere Voraussetzungen (bezüglich der Zeit und damit der Kausalität) nicht zu fehlen. Aber für den Kern der im folgenden darzulegenden realistischen Auffassungsweise physikalischer Hypothesen kommt die Entscheidung über solche weiteren Voraussetzungen eigentlich nicht in Betracht. Bleibt nur die eindeutige Bestimmtheit der Wahrnehmung durch eine zugrunde liegende Realität, so behält das Auszuführende seinen Sinn. Es bedarf nur einer weiteren Auffassung der Bezeichnungen.

Raum- und Zeitbeziehungen sind es, die die Existenzen individualisieren. Identisch im strengsten Sinne ist nur das, was inhaltlich gleich, aber auch zu gleicher Zeit an gleichem Ort ist, d. h. nur jede individuelle Existenz mit sich selbst. Unterscheiden sich zwei Existenzen nur durch die Orte und Zeiten, so sprechen wir von einer Gleichheit dieser Existenzen. So können wir zunächst von der Gleichheit von Bewußtseinsinhalten sprechen, die in Menschen- oder Tierseelen auftreten, Es fragt sich nun, ob wir den Begriff der Gleichheit auf die Existenzen der Außenwelt anwenden können, d. h. ob wir Gleichheiten in der Außenwelt erkennen können. Da ist zuzugeben, daß gewisse Schwierigkeiten vorliegen. Gleich Wahrnehmungen können von verschiedenen Ausenweltsexistenzen herrühren. Wir können also, streng genommen, immer nur die Möglichkeit des Vorliegens von Gleichheiten in der Außenwelt behaupten. Nehmen wir an, die Gleichheit zweier Wahrnehmungen sei durch die Gleichheit zweier entsprechender Außenweltsexistenzen zu erklären, so bilden wir eine Hypothese. Nun geht es aber hier wie bei der nahe verwandten hypothetischen Annahme von Beharrendem in der Außenwelt: in vielen Fällen kann die Hypothese so zahlreiche Bestätigungen erfahren, daß ihre Wahrscheinlichkeit praktisch der Gewißheit nahe oder gleichkommt. Bringen z. B. die als gleich angenommenen Außenweltsdinge ihrerseits immer Wirkungen in der Außenwelt hervor, die sich wiederum in gleichen Wahrnehmungen manifestieren, so steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit der Annahme. Denn es wäre doch ein ganz unwahrscheinlicher Zufall, daß wirklich verschiedene Ursachen immer wieder zu Wirkungen führen sollten, die gleiche Wahrnehmungen hervorriefen. Also auch über in der Außenwelt vorhandene Gleichheiten können wir wahrscheinliche Aussagen machen.

Das Beharren ist eine Gleichheit im zeitlichen Verlauf, bei der nur kontinuierliche Veränderungen der Zeit, eventuell auch des Ortes vorkommen. Wir hätten vom Beharren in der Außenwelt also an dieser Stelle handeln können. Jedoch schien mir die Annahme von beharrenden Außenweltsexistenzen schon an einem früheren Ort zu erörtern sein, damit der direkte Zusammenhang derselben mit der Regelmäßigkeitsvoraussetzung ans Licht träte.

Die Existenz von Mehrheiten von Gleichem, von Verschiedenem, von Beharrendem in der Außenwelt und unsere Wahrscheinlichkeitserkenntnis von alledem macht eine ausgedehnte Anwendung der Zahlenlehre auf die Außenwelt möglich. Besonders das Beharren von gleichen Existenzen, d. h. von solchen, die sich nur durch raumzeitliche Beziehungen unterscheiden, fordert zum Zählen auf. Indessen findet der Zahlbegriff auch auf Verschiedenes und auf Nichtbeharrendes manche Anwendung. Wissen wir ja doch nicht, ob die Gleichheit von zwei Dingen eine absolut vollständige ist; sondern wie wir nur relative, wenn auch sehr weitgehende Beharrlichkeit in der Außenwelt feststellen konnte, so vermögen wir auch nur Aussagen über relative, angenäherte, wenn auch sehr weitgehende Gleichheit zu machen. Letztere führt aber zum Verschiedenen hinüber, wie das relativ Beharrliche zum Nichtbeharrenden.

Es braucht nur im Vorübergehen erwähnt zu werden, daß den Anwendungen arithmetischen Wissens auf die Außenwelt immer nur wahrscheinliche Gültigkeit zukommen kann, mag das arithmetische Wissen selbst unbedingt gültig sein oder nicht. Durch die bloße Wahrscheinlichkeit des arithmetisch behandelten Materials, bzw. der Erkenntnis desselben, können auch die Resultate nie mehr als allerdings hohe Wahrscheinlichkeit gewinnen, der vielleicht anzunehmenden unbedingten Gewißheit der Arithmetik zum Trotz.

Das Ergebnis der letzten Überlegungen ist, daß eine wahrscheinliche zahlenmäßige Erkenntnis über Außenweltsexistenzen wohl möglich ist.

Fassen wir das bisher in diesem Abschnitt Ausgeführte zusammen, so können wir sagen, daß wir in der Außenwelt mit Wahrscheinlichkeit (relativ) beharrende Existenzen, Veränderungen, kausale Zusammenhänge, Unterschiede, speziell solche, die denen des Raumes und der Zeit in den Wahrnehmungen entsprechen, Gleichheiten (wenigstens angenäherte) und Zahlverhältnisse erkennen können. Und das alles, obwohl die Erkenntnis der Außenwelt aus der Wahrnehmung eine Erkenntnis aus der Wirkung ist. Dabei haben wir uns streng an die Überzeugung gehalten, daß der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ein synthetischer (nicht ein analytisch-rationaler) sei, wie HUME und KANT es wollten. Wir glauben auch gezeigt zu haben, daß dieser HUME-KANTsche Standpunkt durchaus nicht einen Agnostizismus in Bezug auf die Außenwelt im Gefolge hat, daß vielmehr eine Reihe von sehr wichtigen, wenn auch nur wahrscheinlichen Außenweltserkenntnissen möglich bleibt. Wenn man diese Erkenntnisse ihres gemeinsamen Charakters wegen als formale bezeichnen will gegenüber der qualitativen Erkenntnis von Menschen- und Tierbewußtsein, so ist das Sache der Terminologie.

Wir würden allerdings die so gewonnene Außenweltserkenntnis lieber als eine relative bezeichnen, weil dieser Ausdruck besser ihren Charakter wiedergibt und auch weniger vieldeutig und unklar symbolisch ist. Beharren und Veränderung, Kausalität, Verschiedenheit und Gleichheit sind Ausdrücke für Beziehungen. Den räumlichen und zeitlichen Unterschieden in der Wahrnehmung entsprechend nahmen wir Unterschiede in der zugrunde liegenden Außenwelt an. Der Unterschied ist eine Relation.

Ob die metaphysische Untersuchung auch eine qualitative Erkenntnis der Außenwelt vermitteln kann oder ob wir bei einer gänzlich relativen stehen bleiben müssen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Da die naturwissenschaftliche zuletzt Erkenntnis aus den Wahrnehmungen, also der Ursachen aus den Wirkungen ist, bleibt sie notwendig relativ. Wo naturwissenschaftliches Wissen den Charakter der Relativität in obigem Sinne abzustreifen sucht, wird demnach unsere Kritik einzusetzen haben.

Zwei Einwände gegen die Behauptung der Relativität aller naturwissenschaftlichen Außenweltserkenntnis könnten sich auf bisher Ausgeführtes stützen. Man könnte sagen, wenn alles Sein Qualität-Sein, Bewußt-Sein im dargelegten Sinn ist, so steht doch auch für die naturwissenschaftliche Außenweltserkenntnis fest, daß die Außenweltsexistenzen qualitativ sind, bewußt sind. Gewiß, das haben wir anzuerkennen und schon anerkannt. Wenn man das eine nichtrelative oder gar eine qualitative Erkenntnis der Außenwelt nennt, so ist das Sache der Bezeichnung und eine Erörterung an dieser Stelle überflüssig.

Der zweite Einwand ist bedeutsamer und wird uns zu einer bedingten Konzession führen. Wir haben eine Reihe von Gründen für die Objektivität der Zeit angeführt und insbesonder gezeigt, wie diese Annahme mit der Regelmäßigkeitsvoraussetzung, insbesondere mit dem Kausalprinzip zusammenhäng. Hat der Leser diesen Gründen beigepflichtet und die objektive Gültigkeit der Zeiterkenntnis anerkannt, so wird er vielleicht Bedenken tragen, diese als relativ zu bezeichnen. Er wird vielmehr geneigt sein, in diesem Punkt dem Naturwissenschaftlicher eine absolute Erkenntnis zuzugestehen. Wenn die Objektivität der Zeit angenommen wird, müssen wir also die obige Behauptung der Relativität naturwissenschaftlicher Erkenntnis dahin einschränken, daß Zeiterkenntnisse über die Außenwelt in einem gewissen Sinn absolut (wenn auch nur wahrscheinlich) sind. Sie sind in ähnlichem Sinne absolut, als wir die Zeiterkenntnis in Bezug auf unseren eigenen Bewußtseinsverlauf absolut nennen zu können.

Immerhin bleibt zu bemerken, daß die Naturwissenschaft diese etwa als nichtrelativ zu bezeichnende Erkenntnis von Betrachtungen hernimmt, die metaphysisch zu nennen sind. Schließlich konnten wir ja auch dem Leser in Bezug auf die Frage nach Objektivität oder Subjektivität der Zeit eine gewisse Freiheit lassen. Die endgültige Behandlung des Zeitproblems gehört jedenfalls nicht hierher, sondern in die allgemeine Metaphysik.
LITERATUR - Erich Becher, Philosophische Voraussetzungen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1907