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NIKOLAI LOSSKI
Der erkenntnistheoretische
Individualismus und seine Überwindung


"In der Philosophie des XVII. und XVIII. Jahrhunderts beginnt das erkennende Subjekt sich als Persönlichkeit, als einheitliches psychisches (bewußtes) Leben, als geistige Individualität zu betrachten; es erblickt in sich eine abgeschlossene Substanz und ist insofern geneigt sich als eine selbstherrliche Einheit der ganzen Welt des Nicht-Ich, der Gesamtheit der anderen Substanzen gegenüberzustellen."

"Hat endlich das erkennende Subjekt lediglich mit seinen Bewußtseinsvorgängen zu tun, so ist die Philosophie früher oder später genötigt, auf sämtliche Behauptungen über alles, was außerhalb des Subjekts liegt, zu verzichten und zum Solipsismus und Skeptizismus zu gelangen. Es ist bedeutsam, die eine unvermeidliche Konsequenz der Scheidung des Denkens und des Seins der Außenwelt bildet, nicht allein durch den Empirismus Humes vertreten ist; auch der Rationalist Leibniz steht ihr unwillürlich nahe. Seiner Lehre gemäß ist das Ich in dem Maße vom Nicht-Ich getrennt, daß ich, wenn Gott das gesamte Weltall außer mir vernichtet hätte, davon nichts merken würde und ruhig meine Vorlesungen fortsetzen, eine Reise nach Amerika unternehmen und dgl. könnte, da die ganze Welt, mit der ich in Gemeinschaft trete, aus den Tiefen meines Geistes hervorgeht, der das ganze All als lebendiges Abbild in sich birgt."

Die neuen philosophischen Systeme zerstören nicht die Prinzipien der alten, sondern beweisen bloß, daß diese Prinzipien nicht die letzte, die absolute Bestimmung sind, - spricht HEGEL. Und in der Tat enthält jeder Versuch des menschlichen Denkens, das Weltall in den Rahmen einer philosophischen Weltanschauung zu fassen, eine Wahrheit, allein eine unvollständige, einseitig ausgedrückte Wahrheit. Nicht nur die Rahmen der einzelnen Systeme, sondern auch die der großen philosophischen Richtungen, des Rationalismus oder Kritizismus z. B., erweisen sich unvermeidlich als zu eng für das Weltganze; die wiederholten Versuche, eine Richtung fortzuführen, bringen diese in philosophisch immer verfeinerte Formen, immer konsequenter entwickeln sie das Grundprinzip ihrer Richtung und offenbaren dadurch umso deutlicher die Armut derselben im Vergleich mit der Reichhaltigkeit des Alls. Die Lage wird immer schwieriger und allmählich tritt anstelle der alten Richtung als Gegenwirkung eine neue, ihr entgegengesetzte, aber ebenfalls einseitige Richtung auf, oder es erscheint der Versuch einer Synthese, wenn zwei einseitige Richtungen sich von Anfang an parallel entwickelt und gegenseitig bekämpft haben.

Beachtet man diesen Entwicklungsgang der Philosophie, so darf man erwarten, daß die bedeutendsten Epochen ihrer Geschichte, solche wie die antike und griechische und die neuere westeuropäische Philosophie,, die tiefsten Gegensätze der menschlichen Weltauffassung verkörpern. Der tiefgreifendste aller möglichen Gegensätze liegt im Unterschied zwischen dem Absoluten und der Welt der endlichen Dinge. Es ist jedoch klar, daß nicht er die Entwicklung der Philosophie bisher geleistet hat; bald hier, bald dort macht sich wohl sein Einfluß bemerkbar, aber nie erscheint er in systematischer Form. Das soll uns jedoch nicht wundern: es ist ja ein Weltgesetz. Daher wird sein Einfluß auf die menschliche Weltanschauung erst dann systematisch sich äußern, wenn der Mensch alle rein subjektiven Gegensätze in seinem Denken überwunden und den Aufbau seiner Weltanschauung vom Standpunkt des Alls, nicht mehr vom Standpunkt des menschlichen Ich begonnen haben wird. Solange diese Entwicklungsstufe nicht erreicht ist, regeln die vom Gesichtspunkt des menschlichen Ich aufgestellten Gegensätze den Fortschritt der Philosophie. Der tiefste davon ist der Gegensatz des Ich und Nicht-Ich, der subjektiven und transsubjektiven Welt, der in der Erkenntnistätigkeit mit anderen nah verwandten, allein nicht identischen Gegensätzen des Subjekts und Objekts, des Denkens und Seins verknüpft ist und daher in außerordentlich verschiedenartigen und komplizierten Gestalten in der Philosophie auftritt. Die Hauptperioden des europäischen Denkens stellen die Verkörperung eben dieses Gegensatzes dar. Die griechische Philosophie ist die Zeit der Undifferenziertheit des Subjekts und der transsubjektiven Welt; in der Weltanschauung der alten Griechen verschwindet deshalb das Subjekt in einem weiten Meer der transsubjektiven Welt, und die philosophischen Systeme erhalten unwillkürlich einen universalistischen und realistischen Charakter in dem Sinne, daß in ihnen die Objekte der Außenwelt die herrschende Stellung einnehmen und das Subjekt selbst aus Elementen dieser Welt gebildet und mit ihren Eigenschaften ausgestattet wird. Da nun dieser Universalismus als Resultat der Undifferenziertheit des Subjekts und der transsubjektiven Welt erscheint, so dringt er in der griechischen Philosophie selbstverständlich zu keiner klaren Position durch und läßt Raum für die mannigfaltigsten Abweichungen und Ausnahmen übrig.

Einen anderen Charakter besitzt die neuere Philosophie des XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Hier beginnt das erkennende Subjekt sich als Persönlichkeit, als einheitliches psychisches (bewußtes) Leben, als geistige Individualität zu betrachten; es erblickt in sich eine abgeschlossene Substanz und ist insofern geneigt sich als eine selbstherrliche Einheit der ganzen Welt des Nicht-Ich, der Gesamtheit der anderen Substanzen gegenüberzustellen. Infolgedessen ist es bereit im Erkennen und im praktischen Leben sein Ich sowie seine individuellen Tätigkeiten und Erlebnisse für den höchsten Zweck und für etwas ursprünglich Gegebenes zu halten; es richtet daher der theoretischen und der praktischen Tätigkeit subjektive Ideale auf (der Subjektivismus in der Lehre vom Wahren, Guten, Schönen) und sucht die Kriterien der Annäherung zum Ideal oder der Entfernung von ihm in der subjektiven Seite der Erlebnisse. Mit anderen Worten: es herrschen in den philosophischen Systemen dieser Zeitperiode keine universellen Prinzipien, sondern individualistische Tendenzen, die im Endresultat zum subjektiven Idealismus geleiten. Allerdings äußert sich die Neigung zum Individualismus nicht bloß in den Gedankengängen der Philosophen jener Zeit, sondern auch im Leben selbst. In der Religion offenbart sie sich in der Entstehung des Protestantismus, in der Verbreitung individueller Religionsformen, die nicht allein die Kirche, sondern überhaupt jede religiöse Gemeinde verwerfen, und schließlich in einem Umsichgreifen des Unglaubens, d. h. in der vollständigen Befreiung der Persönlichkeit von aller Gemeinschaft mit dem absolut universellen Prinzip, mit der Gottheit. Im Staats- und Gesellschaftsleben bekundet sich der Hang zum Individualismus in einem sich immer steigernden Bedürfnis nach politischer und bürgerlicher Freiheit. Ein gleiches Ringen nach Freiheit macht sich auf dem Gebiet des ökonomischen Lebens bemerkbar.

Zwar liegt dieser Individualismus der neuen Geschichte nicht in der Gestalt einer bewußt ausgearbeiteten Richtschnur zugrunde, sondern vielmehr als ein instinktives Streben der menschlichen Persönlichkeit nach einem selbständigen Leben. Sogar die Philosophie dieser Epoche leitet er nicht als Grundsatz, sondern als Instinkt; allein so muß es auch sein, wenn die bedeutendsten Perioden des philosophischen Denkens durch tiefliegende Gründe, wie die Differenzierungsstufen der subjektiven und transsubjektiven Welt, bestimmt werden, d. h. wenn sie die Ausdrucksform der verschiedenen Entwicklungsstufen des Geistes, der Kultur und vielleicht sogar des Weltalls bilden. Deshalb erscheint der Individualismus nicht gleich in einer entwickelten Form: anfangs ist er mit fremdartigen Bestandteilen vermischt und erreicht erst nach einem langen Reinigungsprozeß seinen Höhepunkt bei den nächsten Vorgängern KANTs, und gleichfalls bei KANT selbst und bei FICHTE in der ersten Periode seines philosophischen Schaffens. Alsdann erfolgt kein plötzlicher Untergang des Individualismus, sondern es tritt ein allmähliches Aufsaugen von universalistischen Tendenzen ein. Diese Verknüpfung im philosophischen Denken, die den Grund zur Epoche der neuesten Philosophie legt, geschieht nicht als Bruch mit dem alten, sondern als organisches Hinauswachsen über dasselbe; indem das denkende Individuum sich in sein Ich versenkt, entdeckt es, daß die Wurzeln seines individuellen Daseins im Absoluten liegen, es gelangt durch das Absolute zum Verständnis der anderen endlichen Individualitäten und baut eine Weltanschauung auf, die in jeder Beziehung die Welt des Ich und die Welt des Nicht-Ich gleichstellt, sie einander koordiniert, nicht aber das eine dem andern unterordnet. Auf diesem Boden ergibt sich nun die Möglichkeit eine organisch zusammenhängende Weltauffassung zu schaffen, welche den Universalismus der griechischen Philosophie mit dem Individualismus der neueren Philosophie vereinigt und das Einseitige an beiden überwindet.

Diesen Weg betritt die neueste Philosophie am deutlichsten in ihrer Grunddisziplin, und zwar in der Erkenntnislehre. Da meine Schrift "Die Grundlegung des Intuitivismus" (1), deren Vorbegriff diese Rede entwickeln soll, den Problemen der Erkenntnistheorie gewidmet ist, so gedenke ich nunmehr diese Frage nur vom Standpunkt der Entwicklung des erkenntnistheoretischen Individualismus in der neueren Philosophie und seiner Überwindung in der neuesten Philosophie zu betrachten.

Drei wichtige Seiten gibt es im Erkenntnisprozeß, die im Sinne des Individuums gedeutet werden können: der Bestand der Erkenntnis (die Erlebnisse, aus denen die Erkenntnis sich zusammensetzt), der Ursprung und die Geltung der Erkenntnis (transzendent oder immanent, adäquat oder inadäquat usw.). Die äußerste Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus würde die Lehre bilden, daß alle diese drei Seiten des Erkenntnisprozesses dem erkennenden Subjekt vollkommen immanent sind, d. h. die Lehre, daß sämtliche noetischen Erlebnisse ganz persönliche Zustände des erkennenden Subjekts sind, daß sie alle dem erkennenden Geist entspringen und ein Wissen nur von den Erscheinungen innerhalb des erkennenden Subjekts geben.

Allerdings war die Erkenntnistheorie in der empiristischen Lehre BACONs und in der rationalistischen des DESCARTES von dieser extremen Art des Individualismus noch weit entfernt. Bei BACON erscheint der Individualismus bloß als Absicht, die ganze Erkenntnis auf die persönliche Erfahrung, auf die vom erkennenden Subjekt selbst ausgeführten Beobachtungen und Experimente zu gründen. Dabei bleibt doch nicht ausgeschlossen, daß der Bestand, der Ursprung und die Geltung der Erkenntnis transzendent sein können. Der Rationalist DESCARTES stellt diese Frage bereits in präziser Form und löst sie in einer Weise, die als erste Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus bezeichnet werden darf; in der Tat fordert DESCARTES nicht nur, daß die gesamte Weltanschauung durch das reine Denken des erkennenden Subjekts aufgebaut wird, sondern er glaubt auch, alle noetischen Erlebnisse (die angeborenen Ideen und Empfindungen) sollen ganz dem erkennenden Subjekt immanent sein. Doch bleibt in seinem System ein inniger Zusammenhang zwischen den intellektuellen Vorgängen und der Außenwelt bestehen, sofern er für den transzendenten Ursprung der Empfindungen und die transzendentale Geltung der wahren Erkenntnis eintritt; seine Theorie stellt darum bloß die erste Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus dar; auf derselben Stufe befinden sich außerdem noch einerseits der Rationalismus SPINOZAs, andererseits der Empirismus LOCKEs und BERKELEYs.

Zwei Richtungen gab es, in denen die zweite Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus verwirklicht werden konnte und auch tatsächlich verwirklicht worden ist: erstens als Behauptung, daß alle Erkenntnis nicht nur dem Bestand, sondern auch dem Ursprung nach einen subjektiven Charakter trägt, d. h. aus dem Geist des erkennenden Subjekt hervorgeht und nicht unter dem Einfluß der transsubjektiven Welt entsteht; zweitens als Behauptung, die gesamte Erkenntnis sei nicht bloß dem Bestand, sondern auch der Geltung nach subjektiv, d. h. sie berichte lediglich darüber, was innerhalb des erkennenden Subjekts vorgeht, nicht aber darüber, was außerhalb derselben geschieht. Die erste Art des zweiten Stadiums des erkenntnistheoretischen Individualismus verkörpert die Philosophie von LEIBNIZ, nach dessen Lehre der Erkenntnisprozeß mit der erkannten Außenwelt nur insofern im Zusammenhang steht, als die wahre Erkenntnis eine transzendente Geltung besitzt. Die zweite Art des zweiten Stadiums des erkenntnistheoretischen Individualismus repräsentiert die Philosophie HUMEs, die einen Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisprozeß und der transsubjektiven Welt bloß insofern bestehen läßt, als in ihr der Gedanke durchschimmert, daß die äußeren Sinneseindrücke unter dem Einfluß der transsubjektiven Welt im erkennenden Subjekt entstehen.

Die dritte und letzte Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus schließlich, hat einen würdigen Ausdruck in der Erkenntnislehre KANTs gefunden, zumindest, was die wissenschaftliche Erkenntnis anbelangt, die aus notwendigen und allgemeingültigen synthetischen Urteilen besteht; denn in der Tat, sofern KANT behauptet, die Wissenschaft erkenne nur Erscheinungen und diese von Seiten ihrer Gesetzmäßigkeit, welche vom Erkenntnisvermögen des Subjekts selbst hineingetragen wird, betrachtet seine Erkenntnistheorie alle drei Seiten des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses - Bestand, Ursprung und Geltung des Wissens als dem erkennenden Subjekt immanent.' Bloß der empirische Inhalt der Erkenntnis, der sich in kein System allgemeingültiger und notwendiger Urteile einfügen läßt, und zwar die Empfindungen werden von KANT als eine solche Seite des Erkenntnisprozesses aufgefaßt, die möglicherweise durch das Verhältnis des erkennenden Subjekts zum Ding-ansich bedingt ist.

Nicht vom Zufall geleitet, ist die neuere Philosophie den Weg von der ersten bis zu dritten Entwicklungsstufe des erkenntnistheoretischen Individualismus geschritten: er war ihr im Anfangsstadium dieser Richtung bereits vorgezeichnet. In der Tat, hat das erkennende Subjekt in der Erfahrung und im Denken ausschließlich mit seinen Seelenzuständen zu tun, so besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Wissen von der Außenwelt und dem Sein der Außenwelt, was dann früh oder spät notwendigerweise die Philosophie zum Idealismus, Intellektualismus, Solipsismus und Skeptizismus führt. Wenn es sich für das Subjekt tatsächlich im Erkenntnisprozeß nur um Bewußtseinsvorgänge handelt, so muß dieses früher oder später auf den Gedanken kommen, daß es ein Bild der Außenwelt nur aus Materialien aufbauen kann, die den Bewußtseinsvorgängen analog sind. Diese Richtung schlagen eben LEIBNIZ und BERKELEY ein.

Sofern aber dieser Idealismus die Begriffe und Vorstellungen von der Außenwelt bloß als intellektuelle Phänomene im erkennenden Subjekt behandelt, erhält er noch ein intellektualistisches Gepräge, welches deutlich wenigstens in Bezug auf die Lehren von der Außenwelt hervortritt. Hat endlich das erkennende Subjekt lediglich mit seinen Bewußtseinsvorgängen zu tun, so ist die Philosophie früher oder später genötigt, auf sämtliche Behauptungen über alles, was außerhalb des Subjekts liegt, zu verzichten und zum Solipsismus und Skeptizismus zu gelangen. Es ist bedeutsam, die eine unvermeidliche Konsequenz der Scheidung des Denkens und des Seins der Außenwelt bildet, nicht allein durch den Empirismus HUMEs vertreten ist; auch der Rationalist LEIBNIZ steht ihr unwillürlich nahe. Seiner Lehre gemäß ist das Ich in dem Maße vom Nicht-Ich getrennt, daß ich, wenn Gott das gesamte Weltall außer mir vernichtet hätte, davon nichts merken würde und ruhig meine Vorlesungen fortsetzen, eine Reise nach Amerika unternehmen und dgl. könnte, da die ganze Welt, mit der ich in Gemeinschaft trete, aus den Tiefen meines Geistes hervorgeht, der das ganze All als lebendiges Abbild in sich birgt. Führt aber die Scheidung von Denken und Sein notwendigerweise zur Aufstellung so absonderlicher und gekünstelter Hypothesen bei der Erklärung des Wissens von der transsubjektiven Welt, so ist klar, daß die auf LEIBNIZ folgenden und sogar zur Metaphysik des Rationalismus hinneigenden Philosophen, wie z. B. KANT, entweder wie HUME mit einem Skeptizismus enden, oder eine neue Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis geben mußten.

Der einzige Weg, welcher dieser neuen Begründung der Wissenschaft offen stand, war die Vereinigung des Denkens und Seins, die Annahme, daß die Erkenntnisobjekte dem Erkenntnisprozeß immanent sind. KANT ist es, der dieses neue Prinzip in die Erkenntnistheorie eingeführt hat, allein als getreuer Sohn seines Jahrhunderts ist er nicht nur mit dem erkenntnistheoretischen Individualismus seiner Vorgänger in Fühlung geblieben, sondern hat denselben sogar auf die höchste Stufe emporgehoben, indem er dem neuen erkenntnistheoretischen Prinzip einen individualistischen Charakter verlieh, und zwar hat er Denken und SEin nicht auf dem Weg der Koordination, sondern auf dem Weg der Subordination einander näher gebracht, durch die Behauptung, die Natur sei eine im Prozeß der Erfahrung erzeugte Erscheinung für das erkennende Subjekt und das erkannte Sein - nur eine Kategorie des Denkens. Auf diese Weise ist die Scheidewand zwischen Erkenntnis und Erscheinung von KANT beseitigt, jedoch ist, dank seiner individualistischen Tendenz, eine neue Kluft zwischen Erscheinung und Ding-ansich entstanden, und die von KANTs nächsten Nachfolgern am Begriff des Dings-ansich geübte Kritik hat endgültig die Unfähigkeit des Individualismus gezeigt, das Erkennen der Außenwelt zu begünden.

Welchen Weg sollte nun die Erkenntnistheorie einschlagen? Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den erkenntnistheoretischen Individualismus aufzugeben und den überindividuellen Charakter der Erkenntnis anzuerkennen, d. h. zu behaupten, das Erkenntnisobjekt könne in Bezug auf das erkennende Subjekt transzendent und dessenungeachtet dem Erkenntnisprozeß immanent sein. Ein plötzlicher Übergang zu diesem Prinzip würde jedoch einen so entscheidenden Bruch mit dem Vergangenen in der Geschichte der Philosophie bedeuten und wäre bloß in dem Fall möglich, wenn die Entwicklung der Philosophie sich nach klar erkannten logischen Denkfolgerungen richten würde. Sind aber tatsächlich die philosophischen Richtungen durch solche Ursachen bedingt, wie die Stufen der Differenziertheit des Ich und Nicht-Ich, oder durch solche Motive, wie die einseitige Selbstbehauptung der Persönlichkeit, welche einem gewissen Kulturstadium des Geistes entspricht, so ist schwer vorauszusetzen, daß der Übergang vom erkenntnistheoretischen Individualismus zur Theorie der überindividuellen Erkenntnis als ein direkter Bruch mit der Vergangenheit, als bewußte Ankündigung des neuen Prinzips vor sich gegangen wäre. Vielmehr darf man glauben, daß dieser Übergang vom Individualismus zur Theorie der überindividuellen Erkenntnis auf dem Weg der unbewußten organischen Fortbildung stattgefunden hat, so daß der Übergangsmoment vom Individualismus zu dessen Gegensatz vom Urheber dieses Prozesses nicht einmal bemerkt worden ist.

Diesen originellen Vorgang der organischen Umgestaltung kann man in der Philosphie FICHTEs beobachten; der Individualismus erreicht hier seinen äußersten Grenzpunkt, der für einen Augenblick vielleicht auch wirklich sich im Denken FICHTEs realisiert hatte, wird aber sodann überwunden. Diese äußerste Spitze des Individualismus bildet die Voraussetzung, daß nicht allein die Formen der erkannten Welt, sondern auch ihr ganzer Inhalt vom erkennenden Subjekt erzeugt wird. Diese Voraussetzung befreit die Philosophie KANTs vom Dualismus der Erscheinung und des Dings-ansich, führt aber zugleich eine völlig neue Vorstellung vom Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Weltganzen in die Erkenntnislehre ein. Offenbar kann das Ich, welches Ursprung und Träger des gesamten Weltalls ist, nur das absolute Subjekt, das überindividuelle Welt-Ich sein, zu dem jedes empirische Ich sich als Modifikation verhält. Das individuelle Ich erkennt diesen Urgrund der Welt, indem es in seiner Selbsterkenntnis bis zu seiner kosmischen Wurzel vordringt, bis zu jener absoluten Tathandlung: "das Ich setzt sich", die bereits ins Gebiet des Überindividuellen gehört. Mithin überragt der Gehalt dieses Erkenntnisaktes die Schranken des empirischen Ich, was aber nur in dem Fall möglich ist, wenn das empirische Ich über ein nichtsinnliches Wahrnehmungsvermögen (die intellektuelle Anschauung) verfügt, so daß ein in Bezug auf das individuelle Ich transzendentales Erkenntnisobjekt doch dem Erkenntnisakt dieses Ich immanent sein kann und der Erkenntnisprozeß sich demnach als überindividuell erweist.

Allerdings steht FICHTE dem kantischen Individualismus noch recht nahe, da er den Begriff der intellektuellen Anschauung lediglich auf die Erkenntnis der Tätigkeiten des Ich anwendet, da jedoch im Begriff der intellektuellen Anschauung selbst nichts enthalten ist, was zu einer derartigen Einschränkung nötigt, so braucht es uns nicht zu verwundern, daß SCHELLING sich seiner zur Erklärung der Natur- und auch der Gotteserkenntnis viel bedient und mit HEGEL zugleich eine Erkenntnislehre entwickelt hat, die ausdrücklich bereits den überindividuellen Charakter der Erkenntnis hervorhebt. Die Systeme dieser Philosophie haben ihre Zeit ausgelebt, allein die Theorie der überindividuellen Erkenntnis behauptet sich nicht nur in der Philosophie des XIX. Jahrhunderts, sondern greift immer mehr um sich; wie zur Zeit FICHTEs entsteht sie auch jetzt meist im Zusammenhang mit der Philosophie KANTs. Als einfachstes und bequemstes Mittel zu einer solchen Umgestaltung der kantischen Philosophie erscheint die Auslegung der transzendentalen Einheit der Apperzeption als einer überindividuellen Einheit. Diese Richtung nimmt z. B. die immanente Philosophie (SCHUPPE) und der normative Kritizismus (RICKERT). Andererseits gelangt auch der Empirismus, welcher gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat, und zwar das menschliche Ich in ein Bündel assoziierter und dissoziierter Erlebnisse verwandelte, in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, z. B. in der Erkenntnistheorie MACHs, zum Bewußtsein, daß es grundlos sei zu behaupten, der Inhalt der Erkenntnis setze sich bloß aus Elementen zusammen, die ausschließliches Eigentum des erkennenden Subjekts sind.

Indem alle diese philosophischen Richtungen sich vom erkenntnistheoretischen Individualismus lossagen, befreien sie sich von den Fesseln des subjektiven Idealismus. Dennoch sind aber die Merkmale, welche auf die Abstammung von individualistischen Erkenntnistheorien hindeuten, noch stark bemerkbar; von ihren Vorgängern haben diese Philosophen die krankhafte Neigung zum Intellektualismus geerbt; die immanenten Philosophen z. B. betrachten die objektiv notwendigen Synthesen als kategoriale Synthesen, der Empirist MACH hält alle Inhalte der Erfahrung für Empfindungen. Indessen braucht man sich nur klarzumachen, daß das Erkennen ein überindividueller Vorgang ist, welcher Objekte enthält, die in Bezug auf das erkennende Individuum transzendenter Natur sind, um einzusehen, daß der Intellektualismus in der Luft schwebt, da die unmittelbar dem erkennenden Individuum von außen gegebenen Synthesen auch reale Zusammenhänge bedeuten können, der Inhalt des Objekts hingegen, welcher keineswegs durch die Sinnlichkeit des erkennenden Ich modifiziert zu werden braucht, durchaus nicht immer Empfindung sein muß.

Somit zwingt die Theorie der überindividuellen Erkenntnis nicht im Geringsten zum Intellektualismus und führt überhaupt nicht notwendigerweise zum Idealismus (ich meine nicht den griechischen Idealismus, sondern den der neueren Philosophie, welcher die Welt aus psychischen Prozessen aufbaut), sondern läßt Raum zum Aufbau einer realistischen Weltanschauung, falls die ontologischen Untersuchungen und die Forschungen der Spezialwissenschaften das Material dazu liefern. Meine "Grundlegung des Intuitivismus" verfolgt eben den Zweck, eine Erkenntnislehre zu entwickeln, die imstande wäre, die Grundlage einer realistischen Weltauffassung zu bilden. Weiterhin könnte schon auf dem Boden einer solchen Weltanschauung die Überwindung aller Gestalten des einseitigen Individualismus (des metaphysischen sowie des praktischen) und eine Vereinigung der Tendenzen des antiken griechischen und des neueren europäischen Denkens erreicht werden.
LITERATUR - Nikolai Losski, Der erkenntnistheoretische Individualismus in der neueren Philosophie und seine Überwindung in der neuesten Philosophie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 132, Leipzig 1908.
    Anmerkungen
    1) Das Werk ist in deutscher Übersetzung erschienen (Niemeyer, Halle/Saale).