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HANS KLEINPETER
Die Erkenntnistheorie der
Naturforschung der Gegenwart

[5/7]

"Ist aber die Logik die Theorie des deduktorischen Verfahrens, dann liegt ihre Aufgabe darin, aus bereits erkannten Wahrheiten durch bloße Kombination neue abzuleiten. Diese Aufgabe ist analog der der Mathematik, die bei ihrer Anwendung auf Geometrie und Physik aus gemessenen Größenbeziehungen neue abzuleiten lehrt, wie z. B. aus der gemessenen Breite und Länge eines Rechtecks die Größe seines (nicht direkt gemessenen) Flächeninhalts. Wie hier die Mathematik gemessene Größen voraussetzt, so die Logik definierte Begriffe. Wie ferner die Mathematik gewisser Grundsätze ihres Verfahrens bedarf, so auch die Logik. Die Begriffe, deren Definitionen die Logik als gegeben voraussetzen muß, bilden gleichsam das Material der Deduktion."

"Der Natur der Sache nach kann die Erfahrung nur die Unrichtigkeit einer Theorie mit Sicherheit ergeben, niemals deren Richtigkeit. Erfahrung vermag zwar eine Theorie zu bestätigen und dadurch auch in ihrem Ansehen zu stützen, sie kann aber nie die Richtigkeit beweisen, d. h. zeigen, daß sich eine Theorie in allen Fällen, somit auch zukünftigen bewähren wird."


IV. Die Prinzipien der Erkenntnis
in den einzelnen Wissenschaften.

[Fortsetzung]

3. Die Prinzipien der Logik

Von der Logik rühmte einst KANT, daß sie eine in sich abgeschlossene Wissenschaft ist, die das Glück genossen hat, daß sie "seit dem ARISTOTELES keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen". Heute müssen wir sagen, daß kaum eine zweite Wissenschaft sich in einer solchen Gärung befindet und so wenig Anspruch auf anerkannte Grundsätze erheben kann als gerade die Logik. Auf der einen Seite steht die alte überlieferte Logik des Aristoteles" und der Scholastiker, die sich namentlich auf deutschem Boden noch eines ziemlich wenig getrübten Ansehens erfreut, auf der anderen Seite die moderne Logik der englischen, italienischen und französischen Logiker, die, man kann fast sagen, eine ganz neue Wissenschaft vorstellt, wenn sich auch ihre Anfänge bis auf LEIBNIZ zurückverfolgen lassen.

Bei dieser Sachlage wird ein Eingehen auf die allgemein anerkannten Prinzipien insofern erschwert, als es solche gar nicht gibt. Indessen läßt sich zumindest soviel sagen, daß heute allgemein unter Logik die Theorie des deduktorischen Verfahrens verstanden wird. Zwar gibt es noch heute sogar offizielle Vertreter der Philosophie, die von der ungeheuerlichen Idee HEGELs, der Logik eine schöpferische Kraft neuer Wahrheiten zuzuschreiben, nicht lassen können; wer aber den Ausführungen dieses Buches bis hierher gefolgt ist, von dem kann wohl erwartet werden, daß er sich nicht durch bloße Namen verblüffen lassen wird. Die Tatsache, daß so etwas möglich ist, darf niemand beirren; hat doch schon KANT den Erklärungsgrund in dem Umstand erkannt, daß "in diesem Land in der Tat noch kein sicheres Maß und Gewicht vorhanden ist, um Gründlichkeit von seichtem Geschwätz zu unterscheiden." Ist es nun auch seit KANTs Zeiten in dieser Beziehung erheblich besser geworden, so war dies doch noch nicht überall der Fall.

Ist aber die Logik die Theorie des deduktorischen Verfahrens, dann liegt ihre Aufgabe darin, aus bereits erkannten Wahrheiten durch bloße Kombination neue abzuleiten. Diese Aufgabe ist analog der der Mathematik, die bei ihrer Anwendung auf Geometrie und Physik aus gemessenen Größenbeziehungen neue abzuleiten lehrt, wie z. B. aus der gemessenen Breite und Länge eines Rechtecks die Größe seines (nicht direkt gemessenen) Flächeninhalts. Wie hier die Mathematik gemessene Größen voraussetzt, so die Logik definierte Begriffe. Wie ferner die Mathematik gewisser Grundsätze ihres Verfahrens bedarf, so auch die Logik.

Die Begriffe, deren Definitionen die Logik als gegeben voraussetzen muß, bilden gleichsam das Material der Deduktion. Die Theorie derselben wird es nicht mit ihnen, sondern mit den Grundsätzen des Verfahrens zu tun haben. Ebenso wird ja auch in der Mathematik nicht von Meßmethoden, sondern von Rechnungsarten gehandelt. Für die Logik kommen daher die Grundsätze des deduktorischen Verfahrens in Betracht.

Es fragt sich, unter welche Kategorie diese fallen? Sind sie Axiome, Definitionen, Postulate, Naturgesetze? Auch hier mag zunächst an die Arithmetik erinnert werden. Die Grundsätze sämtlicher Rechnungsarten ergeben sich als notwendige Konsequenz aus dem Satz, daß die Reihenfolge des Zählens für das Ergebnis gleichgültig ist. Bestünde dieser Satz nicht, so würden die Kardinalzahlen jede Berechtigung verlieren. Man könnte nicht mehr von 20 Schafen reden, wenn man je nach der gewählten Reihenfolge bald 19, bald 20 oder 21 erhalten könnte. Es folgt somit dieser Satz aus dem Begriff der Kardinalzahl. Somit kommen für die Arithmetik nur Definitionen als oberste Sätze in Betracht, wie schon GRASSMANN 1844 erkannt hatte und wie im nächsten Kapitel näher ausgeführt werden wird.

Nicht anders verhält es sich auch mit der Logik. Naturgesetze können ja ihre obersten Grundsätze nicht sein - und was sind Axiome? Ich glaube eben, entweder Naturgesetze oder Definitionen. Die bekannte Erklärung derselben ist ja doch wissenschaftlich vollkommen wertlos. Was soll das heißen "ansich evident" oder "eines Beweises nicht bedürftig"? Mit Recht hebt COUTURAT hervor, daß oft Sätze, die wir beweisen, ansich evidenter sind als Axiome. Und letztere Bestimmung erinnert gar zu sehr an eine bekannte oft zitierte Fabel.

In der Tat lassen sich auch die Grundsätze der Logik als Definitionen, und zwar als Definitionen jenes Verfahrens auffassen, das man als richtiges Denken bezeichnet. Eben dadurch werden sie auch zu Postulaten.

Um hierfür den Nachweis zu erbringen, bedürfte es der näheren Betrachtung der allgemein angenommenen Grundsätze der Logik. Solche gibt es aber, wie bemerkt, seit der Ausbildung der modernen an die Mathematik sich anlehnenden Logik nicht mehr, und es muß daher die Lösung dieser Aufgabe vorläufig in suspenso [in der Schwebe - wp] gelassen werden. Bei der großen Bedeutung, welche jedoch auch noch heute den alten logischen Axiomen zukommt, und die durch die neueren Forschungen zwar geschmälert aber nicht ganz aufgehoben werden dürfte, wird es vorläufig vielen genügen, bei diesen den definitorischen Charakter nachgewiesen zu sehen - eine Aufgabe, die im Folgenden gelöst werden soll.

Als solche Grundsätze der Logik wurden bis vor kurzem gewöhnlich die folgenden 4 angegeben:
    1. Das Prinzip der Identität
    2. das Prinzip des Widerspruchs,
    3. das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten,
    4. das Prinzip des zureichenden Grundes.
Diese vier Sätze wurden gewöhnlich als oberste Denkgesetze betrachtet, aus denen sich die speziellen in der Logik gelehrten Denkformen und deren Beziehungen ableiten lassen sollten.

Das erste derselben wird gewöhnlich unter der Form "A ist A" ausgesprochen. Fragen wir nach der Bedeutung, die diesem Satz zukommen soll, so ist zunächst klar, daß er wörtlich genommen keine angebbare Bedeutung haben kann. Subjekt und Prädikat scheinen in ihm identisch zu sein; wären sie es, welchen Sinn sollte ein Urteil hierüber haben? Nun können andererseits aber Subjekt und Prädikat gar nicht identisch sein, weil sie sonst gar nicht voneinander unterschieden werden könnten. Auch das ist aber zur Fällung eines Urteils notwendig.

Einen Sinn erhält der Satz erst durch die Fassung "A bleibt A". Er drückt dann nichts anderes aus als die Forderung der Beibehaltung des mit einem Wort einmal verknüpften Sinnes. In der Tat bildet diese die oberste Erfordernis, die wir an jedes Denken stellen. Im Traum ist sie z. B. nicht erfüllt, denn dort wechselt die Bedeutung ein und desselben Gegenstandes, indem anstelle des einen unvermerkt ein anderer tritt, der trotzdem dieselbe Rolle beibehält. Etwas Ähnliches findet auch beim unrichtigen, fehlerhaften Denken statt, indem die Bedeutung des Wortes wechselt, das Wort selbst aber und die ihm zugedachte Rolle dieselbe bleibt. Ja, man kann sagen, daß die meisten Irrtümer, namentlich die des philosophischen Denkens, von dieser Art sind. Es hat also in diesem Sinn das Identitätsgesetz seine gute Bedeutung.

Nun ist dasselbe offenbar mit einer Definition gleichwertig, bzw. nicht mit einer, sondern mit sämtlichen Definitionen der angewandten Begriffe. Es enthält eine Forderung, die in diesen schon enthalten ist.

Das Prinzip der Identität ist aber der einzige wirkliche Grundsatz unter den oben genannten. Die übrigen lassen sich nämlich entweder auf diesen zurückführen oder ergeben sich aus den Definitionen besonderer Begriffe.

Dies gilt zunächst vom Satz des Widerspruchs. Je nach der Fassung, die man ihm gibt, d. h. je nachdem man die Negation zur Kopula oder zum Prädikatsbegriff rechnet, wird er mit dem Identitätssatz gleichbedeutend, oder aber zur Definition eines neuen Begriffs, den des Non-A, eines Begriffs, der natürlich so wie jeder andere einer eigenen Definition bedarf und nicht durch bloßes Vorsetzen einer Negation entstehen kann, wie man naiverweise einst geglaubt hatte. Denn sagt man, der Satz bestehe darin, daß die beiden Urteile "A ist B" und "A ist nicht B" nicht gleichzeitig bestehen können und zählt hierbei die Negation zur Kopula, so sagt er dasselbe aus, wie das Identitätsprinzip; zählt man hingegen die Negation zum Prädikat und sagt: die beiden Urteile "A ist B" und "A ist non B" können nicht gleichzeit bestehen, so definiert der Satz den Begriff "non B". Nachdem die Bildung eines Begriffs "non B" nicht immer möglich ist (Nicht-Pferd ist z. B. kein Begriff), so hat der Satz in dieser Gestalt keine allgemeine Bedeutung.

Der Satz des ausgeschlossenen Dritten dient ebenfalls zur Definition des Begriffs "non A", bzw. zur Verdeutlichung oder, wenn man will, Vervollständigung desselben. Die Folge davon ist wieder, daß der Satz überhaupt nur dort gilt, wo eine ihm entsprechende Begriffsbildung möglich ist; somit fehlt auch ihm der Charakter der Allgemeingültigkeit; es gibt Fälle, in denen sein Gegenteil, der Satz vom dazwischentretenden Dritten - principium tertii medii intervenientis - zutrifft. Wann das eine oder das andere der Fall ist, hängt ganz von der Art der dabei auftretenden Begriffe ab.

Was endlich den Satz vom zureichenden Grund betrifft, so ist dieser überhaupt kein Satz, der zm Inhalt der Logik gehört, sondern ein Satz, der das Verlangen nach dem Vorhandensein einer logischen Ableitung überhaupt stellt.

Die oben genannten vier logischen Axiome lassen sich also alle auf einen Satz zurückführen, und dieser Satz hat die Bedeutung einer Definition des richtigen Denkens.

Es ist nun die Aufgabe der Logik selbst, sowohl die passendsten Definitionen als grundlegende zu wählen, wie auch aus denselben den weiteren Inhalt der logischen Wissenschaft abzuleiten. Hier konnte nur auf die erkenntnistheoretische Stellung der Grundprinzipien verwiesen werden.


4. Die Prinzipien der Zahlenlehre

Der Zahlbegriff kann auf dreifacher Grundlage aufgebaut werden, je nachdem von den Kardinal-, den Ordnungs- oder den multiplikativen Zahlwörtern ausgegangen wird. Da jedoch ein näheres Eingehen auf den Gegenstand jenseits der Grenzen dieses Buches gelegen wäre, soll den folgenden Betrachtungen nur die letztgenannte Definitionsart zugrunde gelegt werden, die, zeitlich die jüngste, mit den gegenwärtig herrschenden Anschauungen in der Mathematik aufs Beste harmonieren und auch die einfachste und verständlichste sein dürfte (32).

Sie besitzt den Vorteil, daß alle Zahlenarten von vornherein in einheitlicher Weise aufgefaßt werden können, nämlich als Operationen. Eine benannte Zahl wie 3 Liter oder 5 Meter stellt uns eine gewisse Operation vor, das Herausschöpfen mit einem Litergefäß oder das Anlegen eines Metermaßes. Diese Operation überführt die gewählte Einheit in die zu messende Größe, sie macht den Unterschied zwischen beiden Größen wett. Ist uns die Operation und die Einheit bekannt, so wird es auch die gemessene Größe. Diese Erklärung läßt sich ohne weiteres auf die anderen Zahlenarten übertragen. ¾ Liter bedeutet demnach wieder eine uns verständliche Operation, nämlich eine Teilung in vier gleiche Teile und die Herausnahme von drei solchen. Bei einer negativen Zahl kommt die Operation der Richtungsumkehrung hinzu, deren manche Einheitsgrößen fähig sind. Kann anstelle einer solchen auch eine Drehung um einen beliebigen Winkel einen Sinn erhalten, so liegt eine Veranlassung zur Bildung und Verwendung einer komplexen Zahl vor. Etwas umständlichere Operationen, die selbst wieder auf verschiedene Weise definiert werden können, führen uns zur Aufstellung der irrationalen Zahl. √2 würde also eine Operation darstellen, durch deren Anwendung auf die Quadratseite dieselbe in die Diagonale geführt wird.

Diese Auffassung der Zahl als Operation hat einen doppelten Vorteil: einen mathematischen und einen erkenntnistheoretischen, wenn man so sagen darf.

In ersterer Hinsicht erleichtert sie das Verständnis der Rechenoperationen und ihres Verhältnisses zur Zahl und Zahlbildung; 3 - 7 = -4 wird hierdurch ohne weiteres verständlich, d. h. ohne daß man nötig hätte, zu einer Begriffserweiterung seine Zuflucht zu nehmen; die Gleichung sagt einfach aus, daß die Ausführung der beiden Operationen 3 und -7 gleichwertig ist in einer Gleichung mit allgemeinen Zahlen, wie z. B. (a + b) (a - b) = a² - ba², die beiden Seiten der Gleichung gewisse Operationsfolgen dar. Die Gleichung sagt dann, mögen die auf je einer Seite stehenden Operationen auf was auch immer für Größen angewandt werden, stets werden sie ein und dieselbe Größe wieder in eine in beiden Fällen gleiche überführen. Ferner schließt sich diese Auffassung eng an die Begriffe der Gruppentheorie an.

Nach der erkenntnistheoretischen Seite wird hierdurch sofort der formal-operative Charakter der Arithmetik klar. Besteht das Wesen der Zahl in Operationen, so besteht es in Willkürhandlungen, und somit können nur Definitionen die Grundlage dieser Wissenschaft bilden. Diesen Zusammenhang hat dann auch schon GRASSMANN klar erkannt und ausgesprochen, wie bereits bemerkt wurde.

Daß alle als Axiome angeführten Grundsätze der Arithmetik in der Tat den Charakter von Definitionen besitzen, läßt sich unschwer nachweisen. Man findet als solche etwa angeführt:
    1. Jede Zahl ist sich selbst gleich.
    2. Das Ganze ist größer als ein Teil.
    3. Sind zwei Zahlen einer dritten gleich, so sind sie auch untereinander gleich.
    4. Gleiche Rechenoperationen an gleichen Zahlen ausgeführt, führen zu gleichen Resultaten.
Hierzu kommen der Grundsatz "Die Reihenfolge des Zählens ist für das Ergebnis gleichgültig" und die Definitionen der einzelnen Rechnungsarten.

Von diesen Sätzen heißen die beiden ersten richtig:
    1. Zwei Zahlen heißen gleich, wenn in jeder Rechnung die eine anstelle der anderen gesetzt werden kann.

    2. Eine Größe heißt größer als eine andere, wenn sich die letztere als Teil der ersteren darstellen läßt.
In dieser Fassung wird ihr definitorischer Charakter ohne Weiteres klar. Zugleich erkennt man die Analogie des ersten Satzes mit dem logischen Identitätsprinzip, von dem er nur die Anwendung auf das spezielle Gebiet der Zahlen vorstellt.

Die zwei folgenden Sätze sind aber deshalb keine Axiome, weil sie sich beweisen lassen.

Denn in der Gleichung a = b läßt sich im Falle b = c laut Satz 1 das b durch c ersetzen und man erhält die Gleichung a = c (somit aus a = b und c = b).

Der vierte Satz läßt sich für jede Rechnungsart direkt nachweisen; für die Addition geht z. B. der Beweis so:
    a = b
    c = d
    a + c = b + d
    a + c = a + c
    a + c = b + d
Der Satz von der Gleichgültigkeit der Reihenfolge des Zählens für das Endergebnis kann als Definition der Zahl betrachtet werden oder vielleicht besser als Definition jenes Verfahrens, das Zählen genannt wird. Es verbleiben somit nur noch die auch sonst als Definitionen anerkannten Sätze.

Damit wäre dnn für das Gebiet der Elementarmathematik die Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Auffassungsweise nachgewiesen, und es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß sich dieselbe auch auf die anderen Teile der Mathematik insofern diese eine reine Zahlen- und Größenlehre ist, wird ausdehnen lassen.


5. Die Prinzipien der Geometrie

Über keinen Gegenstand ist seit etwa hundert Jahren so viel gearbeitet worden als gerade über die Prinzipienfragen der Elementargeometrie. Wiewohl die Diskussion über dieselben noch heute keineswegs abgeschlossen ist, ja hie und da selbst noch ein völlig ablehnender Standpunkt gegenüber den Ergebnissen derselben eingenommen wird, kann man doch bereits mit ziemlicher Sicherheit trotz des noch nicht ganz verstummten Widerspruchs einige Punkte als vollkommen erwiesen ansehen.

Der erste derselben ist die wohl kaum mehr ernsthaft in Zweifel zu ziehende Möglichkeit mehrerer Systeme der Geometrie. Die Sätze, die EUKLID an die Spitze seiner Geometrie gestellt hat, besitzen demnach nicht den Charakter logischer Notwendigkeiten, sie lassen sich durch andere ersetzen, aufgrund deren es gleichfalls möglich ist, ein in sich widerspruchsfreies System der Geometrie aufzubauen. Insofern würde also der Charakter dieser Sätze übereinstimmen mit dem Charakter von Definitioen, denn beiden kommt die Eigentümlichkeit der nicht eindeutigen Bestimmtheit, der Willkürlichkeit, zu.

Nun wird abe an ein System der Geometrie noch eine zweite Forderung gestellt; dasselbe soll nicht nur logisch widerspruchsfrei sein, sondern auch die Anwendung auf die Erfahrung gestatten. Rein theoretisch betrachtet, kann sich der Geometer mit der Konstruktion von ganz beliebigen Raumbildern vergnügen; er brauch als Mathematiker keine weitere Rücksicht zu nehmen. Anders wird die Sache, wenn die Geometrie nicht als bloßes Betätigungsfeld mathematischer Spekulationen betrachtet wird, sondern als eine Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, uns über einen Teil oder eine Seite der Erfahrungswelt zu unterrichten. Dann tritt zur ersten Forderung der logischen Zulässigkeit - die, wie die mathematische Analyse gezeigt hat, von mehreren geometrischen Theorien zugleich befriedigt wird - die nach der Richtigkeit (nach der Terminologie von HEINRICH HERTZ), d. h. der Übereinstimmung mit der Erfahrung hinzu.

Nun sollte man meinen, daß nur eines der vorgeschlagenen geometrischen Systeme den Anspruch auf Richtigkeit erfüllen kann. Damit verhält es sich jedoch anders. Die Beobachtungen unserer Sinne haben nämlich die merkwürdige Eigenschaft, daß sie einen eindeutigen Rückschluß nicht gestatten. Ich kann z. B. aus einer Ablesung nicht schließen, daß die Temperatur sagen wir gerade 150°C betragen hat, sie kann ebensogut 15,001 Grad betragen haben, ohne daß ich imstande wäre, dies zu erkennen. Nie läßt sich durch Beobachtung eine einzelne Zahl erschließen, stets nur ein ganzer Komplex unendlich vieler Möglichkeiten. In diesem Umstand liegt es begründet, daß auch mehrere geometrische Theorien mit der Erfahrung im Einklang bleiben können, wie es auch wirklich der Fall ist. Daraus erklärt sich auch das Bestreben, durch eine Ausführung genauer feiner Messungen die Herbeiführung einer Entscheidung oder die Angabe der Grenzen, innerhalb deren sich gewisse Konstanten halten müssen, anzustreben.

Man sieht, die Theorien der Geometrie unterscheiden sich dann nicht wesentlich mehr von denen der Physik. Mit Recht sagt daher auch der Mathematiker und Erkenntnistheoretiker CLIFFORD: "Die Geometrie ist eine physikalische Wissenschaft."

Ein Unterschied bleibt jedoch bestehen. Es ist dies derselbe, der zwischen den verschiedenen Stufen der Abstraktion physikalischer Gesetze bestehtf. Man nehme z. B. das Trägheitsgesetz. Dasselbe sagt aus, daß überall dort, wo keine Kräfte wirksam sind, ein gewisser Bewegungszustand vorhanden sein muß. Was heißt nun aber die Bestimmung "keine Kräfte"? Kräfte lassen sich ja nach Belieben annehmen. Wir sprechen von einer Kraft zwischen Erde und Mond oder Sonne, wiewohl wir völlig außerstande sind, dieselbe direkt wahrzunehmen. Das hat nun zur Folge, daß das Trägheitsgesetz den Charakter eines Axioms annimmt. Nehmen wir den Fall an, wir stoßen einmal auf einen Widerspruch gegen dasselbe. Dann stehen uns zwei Alternativen zur Verfügung; die eine derselben besteht darin, das Trägheitsgesetz schlechthin als ungültig zu erklären, die zweite darin, es durch die Annahme neuer Kräfte wieder - gültig zu machen. Die physikalische Forschung, die sich an das Gesetz gewöhnt und dasselbe als ein grundlegendes zu betrachten gelernt hat, würde ohne Zweifel den letzteren Weg einschlagen. Es ist klar, daß also dann in diesem Sinne das Gesetz ein unwiderlegbares bleibt, da es uns immer freisteht, durch die Einführung neuer Kräfte seine Gültigkeit zu erhalten. Es hat also in diesem Sinn den Charakter einer sogenannten Wahrheit a priori. Wir deuten alle unsere Erfahrungen unter Zugrundelegung dieses Satzes, der also für dieselben von konstitutiver Bedeutung wird. In derselben Weise verhält sich nun jeder physikalische Satz gegenüber den Sätzen von speziellerer Natur. Überall tritt in der Physik das Bestreben hervor, die allgemeineren Sätze nach Tunlichkeit zu halten und im widerstreitenden Fall die spezielleren abzuändern oder durch die Einführung hypothetischer Elemente den Einklang herzustellen. Dieses Bestreben hat aber, wie nicht vergessen werden darf, auch seine Grenzen. Ein direkter Zwang, so zu verfahren, besteht ja nicht, und es sind Fälle denkbar, wo der Physiker es vorziehen wird, lieber auf das allgemeine Gesetz zu verzichten. Es wird das dann geschehen, wenn die Zahl der notwendigen Hilfshypothesen eine zu große oder die Beschaffenheit derselben eine zu gekünstelte wird. Die Geschichte der elektrischen Theorien liefert u. a. die entsprechenden Belege für diesen Vorgangf. Wir dürfen also ja nicht in den Glauben verfallen, die Sätze besäßen wirklich den Charakter der Notwendigkeit.

Die Theorien der Geometrie sind nun ihrer Natur nach die allerallgemeinsten. Alle Sätze der Physik sind als später hinzugekommene ihnen angepaßt worden. Wollten wir anstelle der gewohnten Grundsätze andere setzen, so wäre das zwar nicht unmöglich, aber es würde unter Umständen eine ganz neue Physik erfordern. Umgekehrt können wir unter Beibehaltung der euklidischen Grundsätze alle Erfahrung mit ihnen in Einklang bringen durch eine passende Abänderung der physikalischen Sätze. Es hat also KANT nicht ganz unrecht, wenn er behauptet, daß wir die "Form" des Raums allen Erscheinungen zugrunde legen. Er hat uns nur zu sagen vergessen, worin diese Form besteht, und hat auch irrtümlicherweise von objektiven Notwendigkeiten gesprochen, wo es sich nur um Tatsächlichkeiten und Zweckmäßigkeiten handelt. Er hat auch nicht gesehen, daß die "Formen" des Raums (und der Zeit) nicht die einzigen sind, mit denen wir an die Erscheinungen herantreten; jeder physikalische Satz, der allgemeiner ist als ein zweiter, ist vielmehr eine solche "Form".

Die prinzipielle Stellung der geometrischen Grundsätze scheint mir demnach keinen Unklarheiten mehr ausgesetzt zu sein. Einige derselben sind Definitionen oder stehen anstelle solcher, durch sie wird Sinn und Bedeutung der geometrischen Grundbegriffe festgestellt. Andere drücken Tatsachen aus, bzw. beschreiben eine Raumanschauung, die sich für die Zugrundelegung aller Erfahrungen gut bewährt hat. Letztere bestätigt dadurch in indirekter Weise die gewählten Ausgangspunkte der geometrischen Wissenschaft. Gerade so schreibt HEINRICH HERTZ von den MAXWELL'schen Gleichungen, daß sie keiner direkten Bestätigung bedürfenf, sondern dieselbe in der Übereinstimmung finden, die zwischen allen entwickelten Konsequenzen der Gleichungen und der Erfahrung besteht.

Zwischen Geometrie und mathematischer Physik besteht demnach kein prinzipieller Unterschied.


6. Die Prinzipien der Physik

Durch das eben Gesagte erledigt sich auch die Frage nach der erkenntnistheoretischen Stellung der physikalischen Grundsätze. Zunächst besteht zwischen ihnen und den übrigen Sätzen der Physik kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied. Sie alle bilden Festsetzungen, an die mit HEINRICH HERTZ drei Forderungen zu stellen sind: die der logischen Zuverlässigkeit, die der Richtigkeit und die der Zweckmäßigkeit. Da die Sätze der Physik wie alle Teile irgendeiner Wissenschaft Schöpfungen unseres Geistes sind, d. h. auf Willkürhandlungen desselben beruhen, so ist es selbstverständlich, daß sie die Gesetze desselben befolgen müssen. Sie müssen so hergestellt sein, daß sie als brauchbare Hilfsmittel des Denkens verwendbar sind; das ist aber nur bei Erfüllung des Identitätsgesetzes hinsichtlich aller Begriffe und sonstigen Festsetzungen der Fall, d. h. unter der Voraussetzung der Erfüllung der rein formalen Anforderungen der Logik. Die zweite Forderung ist die nach der Richtigkeit. Darunter ist die Übereinstimmung der getroffenen Festsetzungen und all ihrer Konsequenzen mit der Erfahrung verstanden. Die experimentelle Bestätigung irgendeines allgemeineren Satzes der Physik, sagen wir etwa des Satzes vom Kräfteparallelogramm, beruth dabei viel weniger auf einer direkten Nachprüfung (hier etwa durch die bekannten Schulversuche mit Schnüren), als auf der Tatsache der durchgängigen Übereinstimmung aller Konsequenzen mit der Erfahrung oder noch besser ausgedrückt: auf der Tatsache, daß sich dieser Satz als brauchbarer Grundsatz von axiomatischer Bedeutung im oben dargelegten Sinn erwiesen hat. Der Natur der Sache nach kann die Erfahrung nur die Unrichtigkeit einer Theorie mit Sicherheit ergeben niemals deren Richtigkeit. Erfahrung vermag zwar eine Theorie zu bestätigen und dadurch auch in ihrem Ansehen zu stützen, sie kann aber nie die Richtigkeit beweisen, d. h. zeigen, daß sich eine Theorie in allen Fällen, somit auch zukünftigen bewähren wird. Die Frage nach der Richtigkeit läßt sich also nur beantworten "nach dem Stand unserer gegenwärtigen Erfahrung und unter Zulassung der Berufung an spätere reifere Erfahrung". Oder wie es gleichfalls bei HERTZ heißt: "Und doch kann das, was aus Erfahrung, stammt, durch Erfahrung wieder vernichtet werden." Endlich kommt die dritte Forderung, deren Betonung besonders deshalb wichtig ist, weil sie gar zu oft bisher ganz übersehen worden ist und heute noch öfters, namentlich von philosophischer Seite, Ansichten geäußert werden, die die Annahme ihrer Undenkbarkeit zur Voraussetzung haben. Es ist nämlich möglich, von ein und demselben Tatsachengebiet mehrere Theorien aufzustellen, die alle den Anforderungen der Zulässigkeit und Richtigkeit entsprechen und sich doch voneinander unterscheiden können. Mechanik und Elektrizitätslehre bieten hierfür recht passende Belege. Jede dieser Theorien erfüllt ihren Zweck, uns ein Bild der Tatsachenwelt zu verschaffen, aber nicht jede in gleich vollkommener Weise. Jener, die ihren Zweck unter Aufwendung einfacherer Mittel erreicht, wird der Vorzug zu geben sein. Das ergibt sich aus dem ganzen Zweck der Wissenschaft, der in nichts anderem besteht als darin, uns die Erfahrungen anderer nutzbar zu machen. Bei der Kürze des menschlichen Lebens sind wir darauf angewiesen, mit unseren Mitteln hauszuhalten. Die Wissenschaft erspart uns die umständliche eigene direkte Erfahrung nach Möglichkeit und ersetzt sie durch bereits gewonnene anderer, sie verfährt somit ökonomisch. Ist nun aber das Nachbild etwa so kompliziert, daß dessen Auffassung die gleiche Mühe bereitet, wie der Erwerb der direkten Erfahrung, dann ist durch diese Theorie eben nichts gewonnen. Der bekannte Ausspruch "Die Natur ist einfach" bezieht sich also auf unsere Mittel, sie zu Darstellung und Nachbildung zu bringen. Nicht die Natur ist einfach, sondern unsere Mittel der Darstellung haben es zu sein.


7. Die Hilfsmittel der Physik

Damit kommen wir dann zur Betrachtung der Hilfsmittel der Physik. An ihnen läßt sich das Walten des Ökonomiegesetzes vielleicht am konsequentesten verfolgen. Der Zweck der Physik besteht in der Nachbildung der Tatsachen in Gedanken. Erstere sind uns gegeben, letztere sind eine Willkürschöpfung unseres Geistes. Ebendeshalb ist unter ihnen eine Wahl möglich. Diese Wahl muß so geschehen, daß die bezüglichen "Gedanken" (d. h. Reproduktionsmittel) uns, d. h. einer möglichst großen Allgemeinheit stets, d. h. unter allen normalen Verhältnissen zu Gebote stehen. Der Physiker vermeidet aus diesem Grund solche Mittel, bei denen diese Bedingungen nicht oder nur zum Teil erfüllt werden. Er benutzt daher als elementare Bausteine seiner Wissenschaft nach Möglichkeit nur die allerallgemeinsten und bei den Menschen am gleichmäßigsten ausgebildeten Vorstellungen, das sind die mathematischen. Außer den Begriffen von Raum und Zeit muß er noch den der Intensität hinzunehmen. Er legt z. B. jedem Raumpunkt eine gewisse Intensität der Wärme (Temperatur), des elektrischen oder magnetischen Feldes (Potential) bei. Diese Intensitäten drückt er so wie die Raum- und Zeitgrößen durch bloße Zahlen aus. Anderen Elementen geht er nach Tunlichkeit aus dem Weg. Tonhöhen oder Farben treten als solche nicht in sein System ein, sondern werden durch Zahlengrößen ersetzt. Die Beobachtungen, deren er bedarf, trachtet er gleichfalls nach Möglichkeit auf die Ablesung von Raumgrößen und auf Zeitbeobachtungen zurückzuführen. Das geschieht z. B. bei der Bestimmung von Farben und Tönen. Erstere kann ein Farbenblinder, letztere ein Tauber durchführen. Nicht immer gelingt dies freilich. Die Photometrie stellt z. B. einen solchen Ausnahmefall dar. Ihre Ergebnisse sind aber auch weit unzuverlässiger als die der meisten anderen physikalischen Messungen und von "subjektiven" Momenten abhängig. Daraus erklärt sich das Streben der modernen Wissenschaft, die ganze Physik auf Mechanik zurückzuführen. Ist dasselbe auch nicht berechtigt, insofern es alle physikalischen Erscheinungen als mechanische darzustellen trachtet, so liegt ihm doch ein verständlicher Kern zugrunde, nämlich die möglichste Zurückführung auf die einfachsten Elemente. Das Streben des mathematischen Physikers geht dahin, durch eine rein mathematische Theorie, also ein System formal-operativer Elemente, die ganze Welt zu umspannen.

Aber auch in der Wahl seiner mathematischen Hilfsmittel prägt sich noch immer das Ökonomiegesetz deutlich aus. Von der verwirrenden Funktionsmannigfaltigkeit der modernen Mathematik benützt der Physiker nur eine recht bescheidene Auswahl. Man hat die Frage gestellt nach der Beschaffenheit der in der Physik zu verwendenden Funktionsarten. Man z. B. gefragt, ob die Funktionen stetig, differenzierbar usw. sein müssen. Die Frage beantwortet sich zunächst dahin, daß ansich eine jede Funktion verwendbar ist, die ihrem Zweck angepaßt wird. Nicht bei allen ist dies freilich möglich. Man kann eindeutige Vorgänge z. B. nicht durch mehrdeutige Funktionen ausdrücken wollen. Insofern nun alle Vorgänge zumindest in der anorganischen Natur den eindeutigen zuzuzählen sind, werden es auch die verwendeten Funktionen sein müssen. Bei Verwendung von mehrdeutigen algebraischen Ausdrücken muß also noch eine Bestimmung bezüglich des zu wählenden Funktionszweiges hinzukommen.

Bei der Wahl stetiger oder unstetiger Funktionen besteht hingegen bereits volle Freiheit. Die Beobachtungen unserer Sinne sind ja nicht von präzisionsmathematischer Genauigkeit. Man kann also den Beobachtungen stets sowohl durch eine stetige, wie durch eine unstetige Funktion gerecht werden. Man braucht nur den Betrag der Unstetigkeit bzw. bei stetigen Funktionen das Maß ihres Wachstums entsprechend zu wählen, um stets mit der Erfahrung in Einklang bleiben zu können. Es ist auch nicht richtig, wie von PETZOLDT behauptet wurde, daß unstetige Funktionen stets mehrdeutig sein müssen. Einem Mathematiker braucht dies nicht näher auseinandergesetzt zu werden, ein Laie denkt sich eine Funktion graphisch durch eine Kurve dargestellt und dann an derselben, geologisch gesprochen, eine Verwerfung etwa in einer zur Y-Achse parallelen Richtung ausgeführt. Wo soll da eine Mehrdeutigkeit entstehen? Und doch ist die vorher stetige Funktion durch die Verwerfung zu einer unstetigen geworden.

Der mathematische Physiker trifft nun allerdings zwischen den zwei ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten seine Wahl zugunsten der stetigen Funkion. Ja, er nimmt dieselbe noch spezieller mit all ihren Derivaten als differenzierbar an. Worin liegt die Berechtigung für dieses Verfahren? Offenbar in nichts anderem als dem Ökonomieprinzip; die analytischen Funktionen werden im Allgemeinen die einfacheren und vertrauteren sein, während sie sich dem Obigen zufolge durch eine entsprechende Wahl der Konstanten den Beobachtungen beliebig genau anpassen lassen. Ausgeschlossen ist freilich dadurch der Gebrauch unstetiger Funktionen nicht. Ja, man wird anscheinende Unstetigkeiten lieber durch unstetige Funktionen ausdrücken und dies mit Recht tun dürfen, wenn auch vielleicht in Wirklichkeit gar kein Unstetigkeit, sondern nur eine rasch sich ändernde Stetigkeit vorhanden ist. Von dieser Art können ja z. B. die Verhältnisse beim Durchgang durch die Oberflächen der Körper sein.

Andere Erwägungen können freilich noch immer die Wahl der zu verwendenden Funktionen einschränken. Man wird sich z. B. kaum der Annahme verschließen wollen, daß in irgendeinem Kraftfeld außerhalb der singulären Stellen eine gesetzmäßige Abhängigkeit der Intensitätsgröße von den Koordinaten der Raumorte stattfindet. Streng genommen bleibt dies wohl eine durch nichts zu erweisende Annahme; sie empfiehlt sich aber sowohl durch ihre Plausibilität, indem auch in vielen anderen Fällen sich eine Analogie zwischen Natur und Geist ausspricht, ohne die in letzter Linie eine Naturwissenschaft überhaupt unmöglich wäre, als auch durch die Übereinstimmung mit den Anforderungen des Ökonomieprinzips. Man wird also in diesem Fall annehmen oder zumindest anzunehmen versuchen, daß dasselbe Gesetz in unendlich kleiner Entfernung wie in endlicher gilt, d. h. der Verlauf der Funktion in endlicher Entfernung von einem Punkt bedingt ist durch den Verlauf im Unendlichkleinen, es sich also, kurz gesagt, um eine analytische Funktion handelt.

Bemerkt mag noch werden, daß Unstetigkeiten nur dort zum Ausdruck zu bringen sind, wo sie sich in der Art der verwendten Funktionen wirklich äußern. Die Materie kann z. B. unstetig zusammengesetzt sein; trotzdem hat KIRCHHOFF recht, von der Voraussetzung ihrer Kontinuität auszugehen, denn in den Fällen, die er durch seine Formeln darstellt, tritt nirgends eine Diskontinuität hervor.

Derart wären die Hilfsmittel der sogenannten mathematischen Physik. Ihre Bedeutung liegt sowohl in ihrer Allgemeinheit, insofern die mathematischen Begriffe und Vorstellungen bei allen normalen Menschen sich großer Gleichmäßigkeit erfreuen, wie in ihrer leichten und vor allem zuverlässigen und präzisen Herstellbarkeit. Die Vermittlung physikalischer Kenntnisse durch die Hilfsmittel der Mathematik hat daher schon früh hohe Bedeutung erlangt und ist auch heute noch die vollkommenste, sobald es sich um den tiefsten Einblick in den Zusammenhang aller Erscheinungen handelt. Die erkenntnistheoretischen Gründe hierfür sind ja im Vorhergehenden angegeben worden. Natürlich darf man nicht glauben, daß dadurch die Elemente aller physikalischen Erfahrung - die Empfindungen - aus dem System der Physik eliminiert worden wären. Jede Formel der mathematischen Physik enthält vielmehr eine Hindeutung auf sie, sie erhält erst einen Sinn durch die Bezugnahme auf die betreffenden Elemente, die freilich zumeist nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden pflegen. Die Formeln drücken eben nur gewisse Relationen aus, sie stellen eine Seite der Erscheinungen dar.

In neuerer Zeit ist es mehr und mehr üblich geworden, sie nicht als alleinige Hilfsmittel mehr zur Darstellung der Größenverhältnisse zu betrachten. Insbesondere in technischen Werken tritt immer mehr und mehr an deren Stelle die graphische Abbildung mit Hilfe von Diagrammen. Sie besitzt den Vorteil der größeren Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit und wird daher zur Darstellung einfacherer Verhältnisse vorgezogen. Für kompliziertere Formeln ist sie nicht verwendbar, da sie nur die Abhängigkeit zweier oder bei Benutzung des Raumes dreier Variabler zur Veranschaulichung bringen kann.

Endlich gibt es viele Fälle, in denen keines dieser Mittel anwendbar ist, weil es sich nicht um die Darstellung der Größenverhältnisse einfacher Elemente, sondern um vielerlei verschiedene Elemente handelt, deren Zurückführung auf wenige Grundtypen noch nicht gelungen ist. In diesem Fall kommen hauptsächlich die Mittel der gewöhnlichen sprachlichen Mitteilung zur Verwendung, die auch noch durch verschiedene mechanische Reproduktionsverfahren (Photographie) unterstützt werden können. Daß dieselben auf einer Vergleichung des zu beschreibenden Objekts mit einem bekannteren beruhen, ist schon früher hervorgehoben worden bei Gelegenheit der Besprechung des Prinzips der Vergleichung.

Alle diese Hilfsmittel zur Darstellung physikalischer Tatsachen bestehen demnach in willkürlich erzeugbaren psychischen Elementen. Das sind sowohl die Begriffe der Mathematik wie der Geometrie, als auch die Worte der gewöhnlichen Sprache. Auch die eventuelle Verwendung mechanischer Mittel hat den Zweck der Erzeugung bestimmter Vorstellungen. Der Inhalt der physikalischen Erfahrung besteht andererseits gleichfalls aus psychischen Elementen; nur sind uns diese gegeben und können nicht von uns nach Belieben abgeändert werden. Die Aufgabe der physikalischen Wissenschaft besteht demnach in der Anpassung der willkürlich abänderbaren Elemente an die gegebenen. MACHs Schlagworte von der "Gedankenanpassung an die Tatsachen" oder von der "Nachbildung der Tatsachen in Gedanken" bezeichnen daher in ganz treffender Weise den Sachverhalt. Die Elemente, die auf beiden Seiten vorkommen, sind dabei dieselben, nur die Art ihrer Entstehung ist verschieden, das einemal sind sie gegeben, das anderemal werden sie willkürlich abgeändert - so lange, bis sie ihrem Zweck entsprechen.
LITERATUR - Hans Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart, Leipzig 1905
    Anmerkungen
    32) Näheres hierüber vor allem in den in der vorigen Anmerkung zitierten Schriten von Russell und Couturat, woselbst weitere Literaturnachweise eingesehen werden können.
    33) Als die beste populäre Darstellung zur Einführung in den Ideenkreis der absoluten Geometrie ist Cliffords "The philosophy of the pure sciences" (in Lectures and essays, dritte Auflage, Bd. 1, London 1901) bezeichnet worden, was noch heute zutreffend sein dürfte. Literaturübersichten finden sich z. B. in den Werken von Russell (Foundations of Geometry) und Veronese (n-dimensionale Geometrie); eine neuere bei Hausdorff, Das Raumproblem in Ostwalds "Annalen der Naturphilosophie", 3. Jhg. 1903, Seite 20. Als klassisch gelten die Werke von Lobatschewski, Bolyai, Riemann; sehr bekannt sind die Arbeiten von Helmholtz geworden; das bedeutendste neuere Werk sind Hilberts "Grundlagen"; wichtige Arbeiten haben ferner Beltrami und Felix Klein beigesteuert. Des letzteren "Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie" können dem Mathematiker zur Orientierung dienen; sie enthalten übrigens auch philosophische, bzw. allgemein erkenntnistheoretische Hinweise.