H. GomperzJ. EisenmeierM. SchlickTh. ElsenhansW. Moog | ||||||
Zur Psychologie der logischen Grundtatsachen [6/6]
V. Abschnitt Anschauliches und begriffliches Denken 1. Mit allem Vorstehenden habe ich zu zeigen versucht, daß es zweierlei Formen des Denkens gibt. Die intuitive, anschauliche ist die ursprüngliche: sie bewegt sich in Vorstellungen und Vorstellungspaaren; sie erfordert keine Vielheit der Personen; sie ist im Einzelnen möglich. Die diskursive, begriffliche ist sekundär: sie bewegt sich in Worten, Sätzen und Schlüssen. Sie setzt eine Vielheit voraus und beruth auf Mitteilung. Alleine auf einer höheren, auf unserer Stufe der Entwicklung, findet zwischen diesen beiden Denkformen nicht mehr jene klare und einfache Scheidung statt, als würde jeder Mensch dann diskursiv denken, wenn er sich unterredet und intuitiv, wenn er für sich allein denkt. Im Gegenteil; das intuitive Denken ist ja auf beiden Gebieten das ältere, weil die Sprache die Anschauung voraussetzt. Heute aber steht es so: ich kann einem Freund eine lange Rede halten, z. B. eine Beschreibung entwerfen, deren jedem Satz eine genaue und anschauliche Vorstellung in mir entspricht. Dann ist mein Denken intuitiv und nur mein Reden diskursiv. Oder ich kann mit demselben in ganz müdem und abgespanntem Zustand Worte wechseln, deren Sinn ich nicht einmal verstehe: das ist ein rein diskursives Denken. Wiederum kann ich mich auf einem einsamen Spaziergang ganz in anschauliche Bilder versenken, - intuitives Denken - oder mir aber innerlich einen langen und verwickelten logischen Beweis hersagen, dann ist mein Denken diskursiv. Es erhellt sich also schon aus diesen extremen Fällen, daß heutzutage der Umstand, daß ich mich unterrede oder still für mich denke, nicht mehr von wesentlichem Gewicht ist und sogar die unleugbare Tatsache, daß unser Denken durch die mündliche Darlegung gar sehr gefördert werden kann, daß es an Lebhaftigkeit und Klarheit gewinnt, dürfte wohl in erster Linie auf physische Zustände, größere Erregung, raschere Zirkulation etc. zurückzuführen sein. Immerhin soll hier bemerkt werden, daß es gewiß kein Zufall ist, daß sich der Typus des wissenschaftlich diskursiven Denkens, die sokratische Dialektik, nicht in der Studierstube des Gelehrten, sondern im lebendigen Wechselgesprächt, im sokratischen Dialog, entwickelt hat. Im folgenden aber wollen wir der Einfachheit halber unsere Betrachtung auf das lautlose Lenken des Einzelnen beschränken, welches der Selbstbeobachtung einen etwas größeren Spielraum gewährt. 2. Und da möchte ich vor allem noch eine wichtige Vorbemerkung einschalten. Offenbar ist es psychologisch gleichgültig, ob ich mit einem wirklichen oder fingierten Unterredner mich unterhalte. Der letztere Fall tritt aber ein, so oft ich mein stilles Denken in die Form einer mündlichen Auseinandersetzung kleide, einerlei, ob ich dabei wirklich laut vor mich hinspreche oder nur die Sprachorgane entsprechend leise bewege oder auch nur im Zentralorgan die Innervation [Nervenimpulse - wp]) vor sich geht. Die bloße Tatsache also, daß mein Denken von Wortbildern begleitet ist, beweist durchaus nichts für den anschaulichen oder begrifflichen Charakter des Denkaktes selbst. Denn auch ein rein anschauliches Denken kann in laut gesprochene und also a forteriori [umso mehr - wp] in bloß innervierte [inspirierte? - wp] Worte ausströmen. Hiermit hat es, denke ich, folgende Bewandtnis. Ein jedes lebhafte Denken bedingt eine beträchtliche physiologische und sogar emotionelle Erregung. Jede Emotion aber hat die Tendenz, sich in irgendeiner Tätigkeit zu entladen, die psychische Erregung abströmen zu lassen. (1) Nun ist aber jede Vorstellung mit den entsprechenden Tätigkeiten der Sprachorgane assoziiert und es ist deshalb nichts natürlicher, als daß die Erregung des Denkaktes auf diesem assoziativ "gebahnten" Weg abströmt. Nicht dadurch also wird das begriffliche Denken, d. h. das Denken in allgemeinen Worten, charakterisiert, daß auch die zugehörigen sprachlichen Innervationen stattfinden, daß also auch Worte zu konstatieren sind, sondern dadurch, daß nur Worte und keine anschaulichen Vorstellungen in unserem Bewußtsein ablaufen. Unsere Untersuchungen dürfen sich deshalb nicht um die Frage drehen, ob und wann das Denken von Worten begleitet ist, sondern vielmehr um die Frage, ob und wann dabei anschauliche Vorstellungen auftreten. Und deshalb können wir unser nächstes Problem so formulieren: Wann geht unser Denken in anschaulichen Vorstellungen vor sich und wann nicht? 3. Und hiermit haben wir eigentlich die Fragestellung schon so verrückt, daß der eine der in dieser Sache möglichen drei Standpunkte in der Art, wie er meistens vertreten wird, unhaltbar erscheint. Für diese Ansicht, welche das sogenannte verbum mentale der Scholastik für ein unentbehrliches Element des Denkens erklärt, treten viele Denker ganz verschiedener Richtung ein. So sagt SCHLEIERMACHER (2): "Denken und Sprechen sind völlig eins ... innerlich ist jeder Gedanke ein Wort." HERBART (3) und STEINTHAL (4) erklären Sprechen und Denken für unzertrennlich. JOHN STUART MILL (5) sagt: "Wir denken in allgemeinen Namen." Endlich hat MAX MÜLLER (6) die Behauptung aufgestellt: Denken ohne Worte ist unmöglich und diesen Gedanken, dessen Durchführung das ganze Buch: "Science of thought" gewidmet ist, für eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Psychologie, ja geradezu für einen Wendepunkt der ganzen Philosophie erklärt. Nun ist schon durch die frühere Erörterung dargetan worden, daß diese Ansicht in ihrer gewöhnlichen Ausdrucksweise unsere Frage wenig berührt und sogar, wenn sie richtig wäre, ein Denken in anschaulichen Bildern nicht widerlegen würde. Wir hätten uns in diesem Fall lediglich auf den Nachweis zu beschränken, daß das Denken in vielen Fällen nicht ausschließlich in Worten verlaufe. Indes ist auch die Behauptung selbst unrichtig. Und indem wir dies dartun, ersparen wir uns auch den angedeuteten Nachweis. Vorher wollen wir aber noch ein übriges tun und einige gegnerische Beweisgründe widerlegen. Da ist zunächst eine sonderbare Argumentation, die STEINTHAL für seine Ansicht beibringt. Er weist nämlich darauf hin, daß das lautlose Memorien von Gedichten von den entsprechenden Innervationsempfindungen begleitet sei. Was aber beweist das? Nur, daß, wenn wir Worte denken, es auch in Worten geschehe. Wer aber hätte das jemals bezweifelt? Ein Gedicht ist ja doch eine Kette von Worten. Wenn wir nun auch imstande wären, den Inhalt des Gedichtes in anschaulichen Vorstellungen nachzudenken, so wäre das doch nicht das Gedicht selbst. Es zeugt also nur von einer bedeutenden Begriffsverwirrung, wenn die Behauptung, daß wir immer in Worten denken, dargetan werden soll und durch den Hinweis darauf, daß wir dann in Worten denken, wenn wir Worte denken. Weiter hat MAX MÜLLER (7) in humoristisch sein sollender Weise seine Gegner gleichsam zum Zweikampf herausgefordert und zur Anstellung eines Experimentum crucis provoziert. Er meint nämlich, man solle nur einmal versuchen, "Hund" zu denken, ohne an das Wort "Hund" zu denken, man werde sich überzeugen, daß das unmöglich sei. Nun können wir uns zweifellos einen Menschen vorstellen, ohne seinen Namen zu kennen und auch ein Tier einer Gattung vorstellen, deren Namen wir nicht wissen. Und dieses Experiment sollte doch vernünftigerweise genügen. Die Aufforderung MAX MÜLLERs wird aber wohl am besten durch eine Anekdote illustriert. Es war einmal ein Mann, der sich bereit erklärte, Unterricht im Goldmachen zu erteilen. Nachdem ein wissens- und goldbegieriger Schüler sein Lehrgeld hinterlegt hatte, eröffnet ihm der Wundermann folgendes: "Nimm 2 Teile Kupfer und 2 Teile Zinnober und 1 Teil Blei, lege sie in einen Tiegel und schmelze das Gemenge. Dann rühre den Tiegel mit einem Holzstäbchen eine Viertelstunde um und du wirst lauteres Gold erhalten, unter einer Bedingung: daß du während des Rührens nicht an ein Nilpferd denkst." Hoch erfreut eilte der Schüler ans Werk. Aber nach vielen vergeblichen Versuchen kehrte er unverrichteter Dinge zurück und klagte: "Ich weiß nicht, wie das kommt; mein Lebtag habe ich nie an ein Nilpferd gedacht und heute: - sobald ich den Stab in die Hand nehme, muß ich immerfort an ein Nilpferd denken." Ganz genauso geht es MAX MÜLLER. Aber ebensowenig jene Geschichte beweist, daß man beim Umrühren eines Schmelztiegels an ein Nilpferd denken muß, ebensowenig beweist dieses Experiment, daß man bei der Vorstellung eines Hundes ander das Wort "Hund" denken müsse. Um aber zu einem positiven Beweis fortschreiten zu können, entnehme ich zunächst ROMANES (8) folgende Bemerkungen: "Beim Lesen eines Briefes können wir uns sofort für eine Antwort entscheiden und doch müssen wir innehalten, ehe wir jene innervierten Sätze bilden können, welche als Ausdruck jener Antwort notwendig sind. Oder wie oft fühlen wir nicht beim Schreiben eines Aufsatzes, daß eine bestimmte Wahrheit dargelegt werden muß, obwohl wir sie nicht in Worte kleiden können? Beim Schachspielen müssen wir von vielen verwickelten Beziehungen Kenntnis nehmen, möglichen sowohl als wirklichen, ... aber indem wir das tun, brauchen wir doch nicht einen stummen Monolog zu predigen: über alles ,was wir tun könnten und was unser Gegner tun könnt. Endlich ... hat bei manchen Formen der Aphasie [Gedächtnisverlust - wp] der Kranke jede Spur des Wortgedächtnisses verloren und dennoch sind seine geistigen Kräfte für alle praktischen Zwecke nicht wesentlich geschwächt. "Ich füge dem noch folgendes hinzu: gerade vor wenigen Minuten fand ich mein Zimmer beim Betreten desselben voll von Rauch. Ich ging sofort ans Fenster und öffnete es. Ich kann versichern, daß ich bei alledem nicht an eine einzige Silbe gedacht habe. Ferner: wenn wir lange Zeit über eine Sache nachdenken, wobei unsere Gedanken in die feinsten Subtilitäten eingehen können, sei es nun ein körperliches oder seelisches Leiden, sei es ein abgelegenes philosophisches Problem; so sind wir am Ende vollständige dazu ungeschickt, diese Sache, die wir vielleicht doch besser beherrschen, als mancher andere, Anderen mitzuteilen. "Es fehlen uns die Worte." Wir haben also nicht in Worten, sondern in anschaulichen Vorstellungen gedacht. Überhaupt, wie viele Menschen gibt es, die es schlecht verstehen, ihre Gedanken in Worte umzusetzen? Es sind das in der Regel die phantasiereichen, die am meisten in anschaulichen Vorstellungen denken. Und wie viele Dinge gibt es, die wir alle nur schwer ausdrücken können? Jedermann, der sich in hypochondrischen Stimmungen befunden hat, wird sich erinnern, wie spärlich und dürftig uns der Bericht erscheint, den wir dem Arzt geben können, verglichen mit all den feinen Symptomen, über die wir vielleicht lange Zeit gegrübelt haben? Endlich, wie viele Feinheiten gibt es nicht in Gesichtern, Züge und Mienenspiel, die wir sehr wohl auffassen und mit ähnlichen oder unähnlichen vergleichen können, ohne daß uns für diese Nuancen irgendwelche sprachlichen Ausdrücke zur Verfügung stünden? Diese Betrachtungen dürften für unsere Zwecke vorläufig genügen. 4. Wenn nun diese eine extreme Ansicht, als könnten wir nur diskursiv denken, unrichtig ist, so ist doch die entgegengesetzte extreme Ansicht, als könnten wir nur intuitiv denken, um nichts richtiger. Auch widerspricht sie so sehr dem Augenschein, daß sie in neuerer Zeit kaum ernstlich vertreten wurde. Unter diesen Umständen bleibt somit noch die dritte Ansicht übrig, daß also unser Denken sowohl intuitiv als auch diskursiv verlaufen könne. Und diese Meinung darf wohl auch als die herrschende angesehen werden. Nun aber erhebt sich erst die wichtige Hauptfrage: wodurch nämlich diese Verschiedenheit unseres Denkens bedingt sei? Und da hat denn auch die communis opionio [der "gesunde" Menschenverstand - wp] sofort eine Antwort bei der Hand, welche von ihr als ganz selbstverständlich angesehen wird. Die Antwort besagt: Der Unterschied ist bedingt durch den jeweiligen Gegenstand des Denkens. Genauer: Je konkreter dieser Gegenstand, desto mehr wiegt das anschauliche Denken vor; je abstrakter, desto mehr das begriffliche. Aus der Fülle der Belegstellen führe ich nur folgende an. LOCKE (9): "Denn wenn wir aufmerksam den Weg verfolgen, den unser Geist beim Denken und Folgern einschlägt, so werden wir meiner Ansicht nach finden, daß, wenn wir in unseren eigenen Gedanken Sätze mit weiß oder schwarz, süß oder bitter, Dreieck oder Kreis bilden, wir die Ideen selbst in unserem Geist erzeugen können und oft auch wirklich erzeugen, ohne an deren Namen zu denken. Wenn wir dagegen komplexe Ideen ins Auge fassen oder mit ihnen Sätze bilden wollen - z. B. Mensch, Vitriol, Tapferkeit, Ruhm -, dann setzen wir gewöhnlich den Namen anstelle der Idee. Denn da die Ideen, die durch diese Namen bezeichnet werden, meist unvollkommen, verworren und unbestimmt sind, so greifen wir lieber auf die Namen selbst zurück, weil diese klarer, sicherer und deutlicher sind." WUNDT (10): "Wer ... gar solche Begriffe wie Leben und Beseelung, Materie und Substanz zueinander in irgendeine Relation setzt, der denkt sich die Beziehung der Gedanken überhaupt nicht mehr in anschaulicher Form, sondern die Worte sind ihm zu Vertretern zahlloser Gedankenverbindungen geworden, die alle zum Gebrauch des Bewußtseins bereitliegen, ohne daß noch eine einzige unmittelbar anschaulich würde." 5. Diese Anschauung nun halte ich für gänzlich unrichtig. Und ich stelle ihr gegenüber die These auf: Nicht der Stoff unterscheidet beide Arten des Denkens; vielmehr gibt es keinen Satz, der nicht sowohl anschaulich als begrifflich gedacht werden könnte. Der Unterschied beruth aber auf der Art und Weise, wie sich der Geist jedesmal zu den Gegenständen seines Denkens stellt.' Nämlich: die Begriffe sind, wie wir schon einmal mit BERKELEY und SCHOPENHAUER sagten, eine Art Algebra der Vorstellungen. Eine algebraische Operation aber, - auch dies wurde schon damals angedeutet - kann kein schlechterdings neues Ergebnis liefern, sondern dieses beruth auf jenen konkreten Werten, für welche die algebraischen Zeichen eingesetzt wurden. Diese sind deshalb vortrefflich geeignet, mit gegebenen Werten rasch und leicht zu operieren. Sowie aber ein wirklich neuer Gedanke eingeführt werden soll, muß er sowohl, wie auch alle jene anderen Gedanken, zu denen er in eine neue Beziehung gesetzt werden soll, in ihrer anschaulichen Form gedacht werden; und zwar gilt das natürlich ebensowohl von der wirklich spontanen Selbstschöpfung eines Gedankens, als auch von seiner gründlichen und tiefgehenden Aneignung. Diesen Sachverhalt hat SCHOPENHAUER deutlich erkannt. Er sagt (11): "Jedes bloß rein vernünftige Gerede ist eine Verdeutlichung dessen, was aus gegebenen Begriffen folgt, fördert daher eigentlich nichts neues zutage, könnte also jedem selbst zu machen überlassen werden, statt daß man täglich ganze Bücher damit füllt." Ferner (12): "Was können beiläufig gesagt philosophische Systeme leisten, die bloß aus dergleichen Begriffen herausgesponnen sind und zu ihrem Stoff nur solche leichte Hülsen von Gedanken haben? Sie müssen unendlich leer, arm und daher auch suffokierend langweilig ausfallen." Weiter (13): "Das mit Hilfe anschaulicher Vorstellungen operierende Denken ist der eigentliche Kern aller Erkenntnis, indem er zurückgeht auf die Urquelle, auf die Grundlage aller Begriffe. Daher ist es der Erzeuger aller wahrhaft originellen Gedanken, aller ursprünglichen Grundansichten und aller Erfindungen ... Bei demselben ist der Verstand vorwaltend tätig. Ihm gehören gewisse Gedanken an, die lange im Kopf herumziehen, kommen und gehen ... bis sie endlich, zur Deutlichkeit gelangend, sich in Begriffen fixieren und Worte finden. Ja, es gibt deren, welche sie nie finden; und leider sind es die besten." Endlich "So viel läßt sich behaupten, daß jede wahre und ursprüngliche Erkenntnis, auch jedes echte Philosophem, zu ihrem innersten Kern oder Wurzel irgendeine anschauliche Auffassung haben muß. Diese, obgleich ein Momentanes und Einheitliches, teilt nachmals der ganzen Auseiandersetzung, sei sie auch noch so ausfühlich, Geist und Leben mit ... Hat die Auseinandersetzung einen solchen Kern, so gleicht sie der Note einer Bank, die Kontanten in der Kasse hat; jede andere, aus bloßen Begriffskombinationen entsprungene, ist wie die Note einer Bank, die zur Sicherheit wieder nur andere verpflichtende Papiere hinterlegt hat." Oder, um das Bild zu wechseln, ausgetretene Pfade sind ein ausgezeichnetes Verkehrsmittel, wenn man da gehen will, wo schon viele andere gegangen sind; sie werden aber nie auf einen noch unbetretenen Gipfel führen. (14) 6. Nun gilt es, dies im einzelnen auszuführen und zu zeigen, wie ein Gedanke einerseits intuitiv, andererseits diskursive gedacht werden kann. Beginnen wir mit der letzteren Aufgabe. Wir haben an einer früheren Stelle gesehen, wie die Begriffe, d. h. die allgemeinen Worte, untereinander Assoziationen eingehen, welche denen der ihnen zugrunde liegenden anschaulichen Vorstellungen entsprechen. Auf diese Weise entsteht ein ausgebildetes System von Begriffen, in welchem für jeden Begriff eine Stelle und für je zwei Begriffe die Verbindung vorgezeichnet ist. Dieses System ist also gewissermaßen ein Fachwerk, dessen einzelne Fächer eine bestimmte Aufschrift tragen, ohne daß auf ihren Inhalt - die repräsentierten anschaulichen Vorstellungen - einzugehen notwendig wäre. Die automatische Einreihung des Gehörten und Gelesenen nun in diese Fächer könnte man vielleicht nicht unpassend begriffliche Lokalisation nennen. Es ist klar, daß dieselbe automatisch vor sich geht und ein eigentliches Verständnis in keiner Weise erfordert. Wenn ich also Sätze, wie: Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei Rechte; Tugend ist Glückseligkeit; Die soziale Frage steht im Vordergrund des öffentlichen Interesses, in einem Lehrbuch oder in einer Zeitung lese, so wird mir natürlich nicht einfallen, diese Begriffe und Urteile auf ihren anschaulichen Gehalt zu prüfen, sondern, ohne daß auf ihren Inhalt eingegangen würde, werden diese Begriffe und Begriffsverbindungen begrifflich lokalisiert. Die Notiz wird nicht gelesen, sondern nach ihrer Spitzmarke dem begrifflichen Sammelkasten eingeordnet; es wird ihnen ohne Rücksicht auf die von ihnen repräsentierte Anschaulichkeit, lediglich durch ein leises Anklingen der ringsum assoziierten Begriffe, ihr psychologischer Ort angewiesen. Ein solcher Satz wird nicht nachgedacht, sondern untergebracht. Eine Unzahl solcher unentsiegelter Formeln tragen wir in uns herum, z. B. alle jene landläufigen Sätze, die in Schlagworten ein philosophisches oder politisches System andeuten wollen. Ja sogar, da sich diese Assoziationen im Einzelnen auch in der Weise bilden können, daß sie nicht innerlich erzeugt, sondern von der Umgebung übernommen werden, geschieht es nicht gar so selten, daß man Menschen sehr weise und vielsagende Sätze sprechen hört, von deren Inhalt und Tragweite sie kaum eine leise Ahnung haben. Und man sieht dann in solchen Fällen deutlich, wie die Begriffe und Urteile sogar in ganz logischer Weise aufeinander folgen können, ohne daß das Subjekt, das sie fällt, für sie mehr wäre, als ein mehr oder minder hohles Gefäß. - Im übrigen ist es klar, daß auch Sätze, welche die anschaulichsten Dinge betreffen, in dieser mechanischen Weise aufgefaßt werden können und von uns allen auch aufgefaßt werden, weil auch bei ihnen jener geringe Aufwand von geistiger Energie, den ihre Umsetzung in anschauliche Vorstellungen erfordern würde, erspart werden kann und erspart werden soll, wo es sich nicht darum handelt, ob das, was der andere sagt, wahr ist, sondern allein darum, was er sagt. Hieraus nun aber folgt keineswegs, daß wir immer und überall in dieser Weise denken. Und wer das gerade von unseren höchsten und wichtigsten Gedanken behauptet, der schlägt alles Denken über den Leisten eines Lexikons, Übungsbuches oder Leitartikels. Wenn ich den Satz: "Tugend ist Glückseligkeit" ins Lateinische übersetzen soll, so wäre es allerdings eine große Kraftvergeudung, wenn ich auf seine Anschaulichkeit rekurrieren wollte; wenn ich aber denselben Satz bei PLATO oder GOETHE lese, so will ich ihn wirklich begreifen und dazu muß ich ihn in anschaulicher Form nachdenken, d. h. selbsttätig neu produzieren. Daß nun aber eine solche anschauliche Form für alle Fälle möglich ist, hoffe ich im folgenden zu zeigen. 7. Die abstrakten Begriffe können wir nach den allgemeinen Kategorien unterscheiden in Gegenstands-, Eigenschafts-, Zustands- und Relationsbegriffe. Wir sollten also nun untersuchen, wie sich diese vier Begriffsklassen in anschaulicher Form darstellen. Doch drängen sich da zwei Einwendungen auf. Einmal ist es klar, daß es in der Abstraktion viele Grade gibt. Und gerade die niedrigen müssen sich stets in die Anschaulichkeit übertragen lassen. Denn ein solcher Begriff ist 1. abstrakt und 2. allgemein. Er kann deshalb für das anschauliche Vorstellungsvermögen stets vertreten werden durch eine Vorstellung, welche
2. dieses Individuum in anschaulicher Vollständigkeit darstellt, da dann daran auch die abgezogene Eigenschaft wahrnehmbar sein muß. Aber noch eine zweite allgemeine Betrachtung drängt sich auf. Man sollte nämlich auf den ersten Blick meinen, der Mensch könne von einer gegebenen Anschauung nichts anderes abziehen, als was er mit seinen Sinnen wahrnehmen kann. Wir finden es deshalb sehr begreiflich, wenn von einem sinnlich gegebenen Wahrnehmungsinhalt einmal die das Gesicht affizierende Farbe oder Gestalt, ein andermal die den Tast- oder Muskelsinn affizierende Glätte oder Härte abgezogen wird. Und wenn wirklich andere Grundlagen für die Abstraktion nicht vorhanden wären, so könnte gewiß nie eine Schwierigkeit obwalten, die eine abgezogene Sinneswahrnehmung durch andere, weggelassene zu ergänzen und eine komplette Sinneswahrnehmung herzustellen, welche für jede der von ihr abgezogenen Abstraktionen als anschauliche Vertreterin gebraucht werden könnte. Nun sieht man aber sofort, daß diese Auffassung des Tatbestandes in doppelter Weise eine ungenügende ist. Denn, was die Voraussetzung anbelangt, so ist eben der Mensch kein bloß sinnlich anschauendes, kontemplatives Wesen, sondern auch ein reaktions- und aktionsfähiges; und, was die Abstraktion betrifft, so können nicht bloß Qualitäts-, sondern auch Relationsbegriffe abstrahiert werden. Hieraus ergibt sich aber, auf welchem Wege wir überhaupt zu den Relationsbegriffen gelangen: nämlich durch Betrachtung der Wahrnehmungsinhalte in Bezug auf unsere Reaktionen und Aktionen, d. h. Gefühle und Tätigkeiten. Und hierin liegt ein Fingerzeig, daß gerade die scheinbar abstraktesten Begriffe anschaulich durch Gefühls- und Handlungsqualitäten vertreten werden können. Dies wollen wir nun im einzelnen näher betrachten. 8. Es ist wohl nicht allzu kühn, wenn man annimmt, daß die Relationen des Nebeneinander, vorne und rückwärts, oben und unten, rechts und links, gerade und krumm etc. nach den verschiedenen Bewegungsarten, zu welchen sie uns Veranlassung geben, unterschieden werden. Auch die Zahlen, insofern sie uns im Nebeneinander bewußt werden, d. h. bis zu jener sehr nahen Grenze, bis zu welcher wir sie auf den ersten Anblick unterscheiden, dürften für den Menschen zuerst insoweit in Betracht kommen, als verschiedene äußere Objekte unsere Reaktion gleichzeitig in Anspruch nehmen können. Gegen 2 oder 3 Feinde können wir uns zur Not auf einmal und mit Unterscheidung ihrer Besonderheit wehren. - Man wird deshalb finden, daß scheinbar sehr abstrakte Begrife, wie Nah und Fern, einfach durch Innervationsvorstellungen der Augenmuskeln, wie sie in den verschiedenen Graden der Akkomodationstätigkeit dienen, anschaulich repräsentiert werden. Der Begriff: "Entfernter Gegenstand" wird durch ein Gefühl der Anstrengung des Auges fast vollständig veranschaulicht werden. Ein unbestimmter farbiger Fleck mag dann hinzutreten. Der Begriff: "Ein Paar" wird zu seiner Veranschaulichung einerseits die Vorstellung zweier Einheiten, andererseits das Gefühl der geteilten Aufmerksamkeit erfordern. Wie wesentlich das letztere ist, geht schon daraus hervor, daß z. B. ein geknickter Stab, je nachdem jene Teilung stattfindet oder nicht, die Einheit oder auch die Zweiheit repräsentieren kann. 9. Wenden wir uns nun zu den Relationen der Ähnlichkeit. Auf den allgemeinen Gesichtspunkt, der diese Theorie vom biologischen Standpunkt stützt, wurde schon im II. Abschnitt hingewiesen. Dort wurde in Kürze ausgeführt, daß der Mensch ursprünglich nur zur Unterscheidung solcher Wahrnehmungen Veranlassung hat, auf die eine verschiedene Reaktion erfolgen kann. Auf diese Weise, meinten wir, wird zuerst die unendliche Mannigfaltigkeit der äußeren Welt unter eine endliche Zahl von Rubriken gebracht, wobei die naturgemäß beschränkten Reaktionsmöglichkeiten des motorischen Systems sich als der limitierende Faktor darstellten. Tiere z. B. werden daraufhin unterschieden worden sein, ob man sie fliehen oder aufsuchen soll usw., wobei etwa die Gefühle der Furcht und Freude die Rolle eines verläßlichen Index gespielt haben werden. So ist die Gleichheit der Gefühle zunächst charakteristisch für die Gleichheitsrelation. Indem nun unser Reaktions- und infolgedessen auch unser Perzeptionsvermögen sich differenziert, wird aus der Gleichheit die Ähnlichkeit. Je mehr die Bedürfnisse sich vermehren und verfeiner, desto mehr und feinere Unterschiede werden von praktischer Bedeutung und desto mehr und feinere Nuancen werden deshalb auch unterschieden. Allein dessenungeachtet werden auch zwei Wahrnehmungen, die bereits auseinandergehalten werden, immer noch neben den verschiedenen auch gleiche Gefühle erwecken. Es wird z. B. das der Furcht gemeinsam bleiben, wenn auch vielleicht mit Rücksicht auf die verschiedenen Methoden der Flucht verschiedene Untergefühle hinzugetreten sind. Zwei solche Vorstellungen, die nicht in allen, sondern nur noch in einigen erweckten Gefühlen übereinstimmen, sind, so meine ich, nicht mehr gleich, sondern ähnlich. Auch scheint mit keine andere Erklärung der Ähnlichkeit für alle Fälle auszureichen. Insbesondere gilt das von ihrer Gleichsetzung mit partieller Gleichheit. Denn offenbar sind jene beiden Kurven, die den Umfang zweier Ellipsen bilden, welche in Bezug auf die eine Achse übereinstimmen und in Bezug auf die andere um ein sehr kleines Stück verschieden sind, einander äußerst ähnlich und dennoch haben sie schlechterdings kein Stück identisch. Man stellt deshalb die Ähnlichkeit auch wohl als eine letzte Tatsache hin; vielleicht wird man es aber doch vorziehen, einen sich darbietenden Ausweg zu ergreifen und einen solchen in der Auslösung gleicher Reaktionen und somit in der Erweckung gleicher Gefühle zu erblicken. Hat doch schon WUNDT (16) zur Erklärung der Kontrastassoziationen denselben Weg betreten, wenn er sagt: "Die (assoziative) Verbindung durch Kontrast beruth wahrscheinlich auf den an die Vorstellung gebundenen Gemütsbewegungen." Aber auch mannigfache Erfahrungen weisen in diese Richtung. Wie oft geschieht es nicht, daß uns ein Gesicht an ein anderes erinnert, wir wissen aber nicht an welches. "Es kommt uns bekannt vor." Bei genauer Beobachtung wird man finden, daß das auf einem vagen, durch Worte kaum und jedenfalls nur höchst abstrakt auszudrückenden Gefühl beruth. Umso gewisser, als diese Empfindung des "bekannt" meist schon auf den ersten flüchtigen Blick hin eintritt und also gewiß nicht auf einer genauen Betrachtung der einzelnen Teile beruhen kann. Oft, wenn wir ein Gesicht auf der Straße nur eilig vorüberhuschen sehen, kommt über uns wie ein Schlag die Empfindung: Das war etwas Bekanntem ähnlich! Und oft gelingt es erst nach längerem Nachdenken oder auch gar nicht, die Person zu eruieren, an die wir erinnert wurden. In allen solchen Fällen wird man bemerken können, daß es sich um das Anklingen einer bestimmten Gefühlsnuance handelt. Dasselbe gilt auf anderen Gebieten, z. B. von den verschiedenen Arten des Witzes oder Stiles. Gar häufig bemerken wir, daß mehrere Anekdoten auf derselben Art des Witzes beruhen und doch würde es einer sehr umständlichen logischen Erörterung bedürfen, um die Gleichartigkeit nachzuweisen. Ebenso erscheinen uns die Stilarten zweier Autoren ähnlich, ohne daß wir die Ähnlichkeit in Worten angeben könnten. Auch hier handelt es sich, glaube ich, in erster Linie um gleiche Gemütsbewegungen. Ja, bis zu den Partikeln kann man das herabverfolgen. Der gewiegteste Logiker wäre in Verlegenheit, wenn er definieren sollte, was Aber und Zwar bedeutet. Im Leben aber verbinden wir mit diesen Wörtchen gewisse Gemütserregungen, die ein Umschlagen oder Umbiegen der Gedankenverbindungen begleiten usw. Wenden wir das nun auf unsere Frage an, so ergibt sich: gerade die scheinbar abstraktesten Gedanken lassen sich oft durch relativ einfache Gefühle veranschaulichen. Nehmen wir z. B. den Satz: "Tugend ist Glückseligkeit." Nun stelle ich mir z. B. eine Handlung opferwilliger Entsagung vor. Das Gefühl, das dabei auftaucht, ist die anschauliche Gesamtvorstellung, die jenem Urteil entspricht und indem ich an ihr die beiden Momente des Opfers und des Glückes unterscheide, habe ich jenes höchst abstrakte Urteil veranschaulicht. Oder nehmen wir, um Begriffe zu verwenden, die LOCKE für unanschaulich erklärte, den Satz: "Fortitude ist glory." Auch hier kommt es wieder nur darauf an, durch ein passendes Beispiel das Gefühl tapferen Stolzes zu erwecken: dieses Gefühl ist die anschauliche Gesamtvorstellung zu jenem Urteil. Ähnliches gilt von den allgemeinen Begriffen: Gerechtigkeit, Zorn, Kraft, Kontrast, Schönheit, Häßlichkeit usw. (Die letzteren Ähnlichkeitsrelationen wird ja gewiß niemand auf das Prinzip der partiellen Gleichheit zurückführen wollen. Oder welches Element wäre für alle schönen Dinge konstant?) Und wir glauben, im allgemeinen sagen zu dürfen, daß gerade diese scheinbar höchsten Abstraktionen durch Gemütsbewegungen in ganz einfacher Weise der Veranschaulichung zugänglich sind und auch in der Tat, wenn sich die Gelegenheit ergibt, in solcher Weise veranschaulicht werden. 10. Wir gelangen endlich zu den Relationen des Nacheinander. Hier wird es mit den elementaren Tatsachen nicht anders stehen. Den Begriffen: früher, später, Wechsel, kontinuierliche Bewegung etc. werden gewisse Muskelempfindungen und Tätigkeiten und diese begleitene Gefühle entsprechen. Aber hier ist begreiflicherweise der Spielraum für diese anschaulichen Repräsentanten ein eng begrenzter. Denn es können wohl die zeitlichen Beziehungen zwischen zwei aufeinanderfolgenden oder allerhöchstens zwei durch ein Zwischenglied getrennten Bewußtseinszuständen durch entsprechende Gefühlszustände versinnlicht werden, allein niemand wird sich der Jllusion hingeben, daß dieses für ganze große zeitliche Reihen möglich wäre. Nun gibt es aber eine beträchtliche Anzahl solcher Reihen, die wir im täglichen Leben immerfort gebrauchen. Ich habe deshalb bei einer Anzahl von Personen Umfrage gehalten, in welcher Weise sie sich solche Reihen zu veranschaulichen pflegen und habe dabei drei Reihen: Tage der Woche, Monate des Jahres, natürliche Zahlen in den Vordergrund gerückt. Die Wilden begreifen eine Zahl nur, wenn sie die entsprechende Anzahl von Bewegungen mit den Fingern ausführen. An dieses Stadim schließt sich unmittelbar Versuchsperson Nr. 14, die sich jeden Tag, jeden Monat, jede Zahl durch Abreißen einer Beere versinnlicht. Die erste Spur einer räumlichen Versinnlichung begegnet uns bei Versuchsperson Nr. 18 und 12. Beide stellen sich die Reihe so vor, daß ein Glied vor allen anderen liegt und diese verdeckt, die Glieder sich also so verhalten wie die einzelnen Zeitmomente zueinander. Hieran schließt sich unmittelbar die Anschauung von Versuchsperson Nr. 6 und 13, bei denen die Reihe horizontal vorwärts geht, so daß ein eigentlicher Überblick wohl kaum noch möglich erscheint. Um nun diesen zu gewinnen, werden mit der horizontal wegstrebenden Linie die verschiedensten Modifikationen vorgenommen. Versuchsperson Nr. 11 macht aus der Linie eine Röhre, die sie von innen überschaut. Die Versuchsperson Nr. 15 sowie Nr. 16 knicken die Linien, um so beide Äste überschauen zu können. Die Versuchspersonen 7 und 13, 25 und 16 biegen sie zu demselben Zweck nach oben oder unten ab. Die große Mehrheit gelangt zu Veranschaulichungen auf einer übersichtlichen Ebene. Aus ihrer großen Zahl hebe ich die Gewährspersonen Nr. 8 und 23 wegen ihrer merkwürdigen Figuren hervor. Von allen 27 Versuchspersonen sind es am Ende nur zwei - 23 und 27 -, welche auf allen Gebieten jedwede Veranschaulichung in Abrede stellen. Dabei ist es bemerkenswert, daß von diesen der eine ein älterer und gewiß sehr rechengewohnter Geschäftsmann ist, der andere ein junger Mann von großer mathematischer Begabung und außergewöhnlichem Zahlengedächtnis. Man wird also annehmen müssen, daß in derartigen Fällen durch große und vielfältige Übung der automatische Prozeß des rein begrifflichen Denkens so sehr eingewurzelt ist, daß er den entsprechenden anschaulichen Vorgang vollständig verdrängt hat. Keinesfalls aber streitet das mit meiner These, die ja nicht dahin geht, daß jeder einzelne Mensch alle Sätze in beiden Formen denkt, sondern nur dahin, daß jeder Satz an und für sich in beiden Formen gedacht werden könne. 11. Und hiermit haben wir die uns gestellte Aufgabe gelöst. Ich habe zu zeigen versucht, wie der unvollkommen erkennende Einzelne ganz in seiner unvollkommenen, aber unmittelbar anschaulichen Erfahrung aufgeht; wie er durch das Bedürfnis der Mitteilung veranlaß wird, ähnliche Anschauungen unter ein Wort zusammenzufassen, Gesamtanschauungen in Urteilen, Reihen von solchen in Schlüssen auszudrücken; wie sich dann hieraus auch im einzelnen ein Denken in Worten, Urteilen und Schlüssen, also ein rein begriffliches Denken entwickelt; wie aber das anschauliche Denken daneben als Erzeuger aller wahrhaft neuen und schöpferischen Gedanken fortbesteht, während das erstere mehr ein abkürzender, halb mechanischer Prozeß ist. Vergleichen wir nun aber dieses Ergebnis mit dem Ausgangspunkt, so drängt sich noch eine Frage allgemeiner Natur auf, mit deren Besprechung wir diese Erörterung abschließen wollen. Man wird nämlich naturgemäß fragen, worin denn nun eigentlich der Fortschritt dieser ganzen Entwicklung liege? Und die Antwort, die wir auf diese Frage erteilen müssen, scheint eine widerspruchsvolle zu sein, ja sogar eine Antinomie in sich zu schließen. Denn einerseits muß gesagt werden, daß der Fortschritt in der Ausbildung und Vervollkommnung des Unterscheidungsvermögens liegt. Wir stehen nicht mehr auf der Stufe des Urmenschen, der alle Dinge verwechselt, die er unter ein Wort zusammenfaßt. Und auch im Individuum können wir diesen Fortschritt verfolgen. Das Kind reagiert ursprünglich auf alle Männer gleich, z. B. durch furchtsames Schreien; indem ihm aber die verschiedenen einzelnen Personen verschiedene Gefühlsreaktionen, wie Furcht, Sympathie, Weinen, Lachen abnötigen, differenziert sich der allgemeine "Mann" in einzelne "Männer". Andererseits nun scheint der Fortschritt in der Ausbildung und Vervollkommnung der Ähnlichkeits-Wahrnehmung zu liegen. "Ähnlichkeiten, welche dem Tier nicht auffallen, fallen dem Menschen auf." (17) Und auf demselben Prinzip beruhen, wie TAINE (18) richtig bemerkt, die Entdeckungen GOETHEs und NEWTONs, welche zuerst die Ähnlichkeit oder Analogie zwischen Staubfäden und Blumenblatt und zwischen der Bewegung des Mondes und der eines Apfels aufwiesen. Dieser Fortschritt aber beruth offenbar auf einer Steigerung des Wahrnehmungsvermögens. Hier scheint nun aber auch die Lösung der Antinomie an die Hand gegeben. Die Entwicklung des Perzeptionsvermögens nämlich und die des Reaktionsvermögens gehen offenbar einander parallel. Die Frage, welche von beiden die primäre sei, ist gleichbedeutend mit der unlöslichen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen Grundfrage, ob das Subjekt oder das Objekt primär sei? Wir müssen uns deshalb darauf beschränken, zu konstatieren, daß die Entwicklung des einen Vermögens, die Steigerung der Ähnlichkeitsempfindung, die des anderen, die Steigerung der Unterschiedsempfindung, mit sich bringt. Das Ideal, wir müssen hier wiederholen, was wir am Eingang bemerkten, wäre die vollkommene Ausbildung beider Vermögen, also des intuitiven Denkens und diese würde (für die Zwecke der Erkenntnis) das diskursive Denken überhaupt überflüssig machen. 12. Das begrifflich oder diskursive Denken, so möchte ich deshalb all die vorstehenden Betrachtungen zusammenfassen, ist in keinem Sinne ein Letztes und Höchstes, es kann vielmehr stets nur dazu dienen, das anschauliche Denken abzukürzen, zu erleichtern, zu vertreten. Es empfängt seinen Wert aber allüberall erst vom Wert der vertretenen Anschaulichkeit. Je höher die Abstraktion, auf einer desto höheren Warte steht, einen desto höheren und umfassenderen Überblick über die Anschaulichkeit vertritt sie. Darauf beruth die Täuschung, der PLATON und seit ihm ungezählte Nachfolger erlagen, wenn sie die Beschäftigung mit den Abstraktionen, z. B. mit der Mathematik, als ein Leben in einer höheren Welt empfanden und diese Welt fälschlich als die der reinen Begriffe definierten, während sie in Wahrheit die der höchsten Erhebung und Zusammenfassung des Anschaulichen ist. Vielmehr, daß ein Denken in Begriffen vor sich gehen, d. h. daß es die Worte statt der Dinge gebrauchen muß, ist und bleibt immer ein Notbehelf. Und je mehr sich deshalb ein Denken in reinen Begriffen, d. h. Worten bewegt, desto hohler und leerer ist es. Der wahren Genialität, welche das Maximum der praktisch möglichen Annäherung an die theoretisch denkbare, vollkommene Erkenntnis darstellt, wird dich ein jeder selbst umsomehr annähern, je bestimmter und genauer sein Denken aus der anschaulichen Erfahrung erwächst und ihr treu bleibt. Und in diesem höheren Sinne, nämlich in Beziehung auf ein wahrhaft schöpferisches Denken, können wir uns den Satz des ARISTOTELES mit einer leichten Änderung aneignen: [Ohne Phantasie ist es unmöglich rational zu sein. - wp]
1) BREUER und FREUD, Studien über Hysterie, Kapitel 3 2) SCHLEIERMACHER, Dialektik, Seite 449 3) HERBART, Werke VII, Seite 320 4) STEINTHAL, Abriss der Sprachwissenschaft I, Seite 47 5) JOHN STUART MILL, An examination of Sir William Hamiltons Philosophy, Seite 389 6) MAX MÜLLER, Das Denken im Lichte der Sprachwissenschaft, Seite 28 7) MAX MÜLLER, ebenda, Seite 52f 8) ROMANES, Origin of human faculty, Seite 82 9) JOHN LOCKE, Human understanding IV, 5, 4 10) WILHELM WUNDT, Logik I, Seite 75 11) SCHOPENHAUER, Über die vierfache Wurzel usw., § 28 in Werke I, Seite 105 12) SCHOPENHAUER, Über die vierfache Wurzel usw., § 26 in Werke I, Seite 99 13) SCHOPENHAUER, Über die vierfache Wurzel usw., § 28 in Werke I, Seite 103f 14) Vgl. JOHN STUART MILL, Logik II, Seite 257f 15) ALFRED BINET, La psychologie de raisonnement, Seite 133 16) WILHELM WUNDT, Logik I, Seite 20 17) HIPPOLYTE TAINE, De l'intelligence II, Seite 246 18) HIPPOLYTE TAINE, De l'intelligence II, Seite 248 |