ra-3 G. RadbruchC. LamprechtW. WindelbandH. MarcuseA. Müller    
 
GEORG SIMMEL
Der Begriff und
die Tragödie der Kultur


"Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch eine solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören - seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal erwachsen, daß dieses so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit ist, die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenügsames Ganzes ist. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm  gegeben, von irgendeinem räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb her."

"Die Grundfähigkeit des Geistes: sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewußtsein seiner selbst zu gewinnen - hat mit der Tatsache der Kultur gleichsam ihren weitesten Radius erreicht, hat das Objekt am energischsten gegen das Subjekt gespannt, um es wieder in dieses zurückzuführen."

Daß der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt - mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Innerhalb des Geistes selbst findet er seine zweite Instanz. Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt. So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte - nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück des Ich, bald in Fremdheit und Berührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.

Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst; denn keine solche ist jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden. Kein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal ist hier gemeint; sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, einem inneren Formtrieb gehorsamen Keimes. Wie das Leben - und zuhöchst seine Steigerung im Bewußtsein - seine Vergangenheit in einer unmittelbareren Form in sich enthält, als irgendein Stück des Unorganischen, wie dieses Vergangene nach seinem ursprünglichen Inhalt und nicht nur als mechanische Ursache späterer Umsetzungen im Bewußtsein weiterlebt, so umschließt es auch seine Zukunft in einer Weise, zu der das Unlebendig keine Analogie besitzt. In jedem Daseinsmoment eines Organismus, der wachsen und sich fortpflanzen kann, wohnt die spätere Form mit einer so innerlichen Notwendigkeit und Vorgebildetheit, die etwa derjenigen gar nicht zu koordinieren ist, mit der die gespannte Feder ihre Gelöstheit enthält. Während alles Unlebendige schlechthin nur den Augenblick der Gegenwart besitzt, streckt sich das Lebendige in einer unvergleichlichen Art über Vergangenheit und Zukunft. All die seelischen Bewegtheiten vom Typus des Wollens, der Pflicht, des Berufenseins, des Hoffens - sind die geistigen Fortsetzungen der fundamentalsten Bestimmung des Lebens: in seiner Gegenwart seine Zukunft, in einer besonderen, eben nur am Lebensprozeß bestehenden Form zu enthalten. Und dies betrifft nicht nur einzelne Entwicklungen und Vollendungen, sondern die Persönlichkeit als ganze und als Einheit trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich, mit dessen Realisierung sie sozusagen statt ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre. So sehr also auch das Reifen und Sich-Bewähren der seelischen Kräfte sich an einzelonen, sozusagen provinziellen Aufgaben und Interessen vollziehen mag, so steht irgendwie darunter oder darüber die Forderung, daß mit all dem die seelische Totalität als solche ein mit ihr selbst gegebenes Versprechen erfüllt, und alle Einzelausbildungen erscheinen damit doch nur als eine Vielheit von Wegen, auf denen die Seele zu sich selbst kommt. Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens - in wie weitem Abstand vom realen Verhalten sich auch dieser symbolische Ausdruck hält: daß die Einheit der Seele nicht einfach ein formales Band ist, das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte in immer gleicher Weise umschließt, sondern daß durch diese Einzelkräfte eine Entwicklung ihrer als eines Ganzen getragen wird und dieser Entwicklung des Ganzen das Ziel einer Ausgebildetheit innerlich vorangestellt ist, zu der alle jene einzelnen Vermögen und Vollkommenheiten als Mittel erscheinen. Und hier zeigt sich die erste und vorläufig nur dem Sprachgefühl folgende Bestimmung des Kulturbegriffs. Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient. Unsere bewußten und angebbaren Strebungen gelten zwar den partikularen Interessen und Potenzen, und darum erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeiten hin angesehen, als ein Bündel von Entwicklungslinien, die sich nach recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen entfalten. Aber nicht mit diesen in ihren singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch. Oder anders ausgedrückt: Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit. Unter allen Umständen aber kann es sich nur um die Entwicklung zu einer Erscheinung hin handeln, die in den Keimkräften der Persönlichkeit angelegt, als ihr ideeller Plan in ihr selbst gleichsam skizziert ist. Auch hier gewährt der Sprachgebrauch eine sichere Führung. Ein Gartenobst, das die Arbeit des Gärtners aus einer holzigen und ungenießbaren Baumfrucht gezogen hat, nennen wir kultiviert; oder auch: dieser wilde Baum ist zum Gartenobstbaum kultiviert worden. Wird dagegen vielleicht aus demselben Baum ein Segelmast hergestellt - und damit eine nicht geringere Zweckarbeit auf ihn verwendet, so sagen wir keineswegs, der Stamm sei zum Mast kultiviert worden. Diese Sprachnuance deutet ersichtlich an, daß die Frucht, so wenig sie ohne die menschliche Bemühung zustande käme, doch schließlich aus den eigenen Triebkräften des Baumes heraustreibt und nur die in seinen Anlagen selbst vorgezeichnete Möglichkeit erfüllt - während die Mastform seinem Stamm aus einem ihm selbst ganz fremden Zwecksystem und ohne jede Präformation in seinen eigenen Wesenstendenzen hinzugefügt wird. In eben diesem Sinne können alle möglichen Kenntnisse, Virtuositäten, Verfeinerungen eines Menschen uns noch nicht bestimmen, ihm eine wirkliche Kultiviertheit zuzusprechen, wenn jene sozusagen nur als Hinzufügungen wirken, die seiner Persönlichkeit aus einem ihr äußeren und ihr auch im letzten Grund äußerlich bleibenden Wertgebiet kommen. In einem solchen Fall hat der Mensch zwar Kultiviertheiten, aber er ist nicht kultiviert; wobei letzteres nur eintritt, wenn die aus dem Überpersönlichen aufgenommenen Inhalte wie durch eine geheime Harmonie nur das in der Seele zu entfalten scheinen, was in ihr selbst als ihr eigenster Trieb und als innere Vorgezeichnetheit ihrer subjektiven Vollendung besteht.

Und hier tritt unun endlich die Bedingtheit der Kultur hervor, durch die sie eine Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung darstellt. Wir versagen ihren Begriff, wo die Perfektion nicht als Eigenentwicklung des seelischen Zentrums empfunden wird; aber er trifft auch nicht zu, wo sie nur als eine solche Eigenentwicklung auftritt, die keiner objektiven und ihr äußeren Mittel und Stationen bedarf. Vielerlei Bewegungen führen die Seele wirklich, wie jenes Ideal es fordert, zu sich selbst, das heißt zur Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden vollen und eigensten Seins. Aber indem oder insofern sie dies rein von innen her erreicht: in religiösen Aufschwüngen, sittlicher Selbsthingabe, beherrschender Intellektualität, Harmonie des Gesamtlebens - kann sie doch noch des spezifischen Besitzes der Kultiviertheit entbehren. Nicht nur, daß ihr dabei jenes ganz oder relativ Äußerliche fehlen mag, das der Sprachgebrauch als bloße Zivilisation deklassiert. Darauf käme es durchaus nicht an. Aber Kultiviertheit in ihrem reinsten, tiefsten Sinne ist da nicht gegeben, wo die Seele jenen Weg von sich selbst zu sich selbst, von ihrer Möglichkeit zu ihrer Wirklichkeit, ausschließlich mit ihren subjektiv personalen Kräften zurücklegt - wenngleich vielleicht von einem höchsten Blickpunkt aus gerade diese Vollendungen die wertvollsten sind; womit nur bewiesen wäre, daß Kultur nicht das einzige Wertdefinitivum der Seele ist. Ihr spezifischer Sinn jedoch ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind. Jene objektiv geistigen Gebilde, von denen ich am Anfang sprach: Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen - sind Stationen, über die das Subjekt gehen muß, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen. Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strom fühlen, und das von sich aus auf seine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenügsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht - und das ist das durchaus Entscheidende für ihr Verständnis -, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.

Hier wurzelt die metaphysische Bedeutung dieses historischen Gebildes. Eine Anzahl der entscheidenden menschlichen Wesensbetätigungen bauen unvollendbare, oder wenn vollendet, immer wieder abgerissene Brücken zwischen dem Subjekt und dem Objekt überhaupt: das Erkennen, vor allem die Arbeit, in manchen ihrer Bedeutungen auch die Kunst und die Religion. Der Geist sieht sich einem Sein gegenüber, auf das ebenso der Zwang, wie die Spontaneität seiner Natur ihn hintreibt; aber er bleibt ewig in die Bewegung in sich selbst gebannt, in einem Kreis, der das Sein nur berührt, und in jedem Augenblick, in dem er, in der Tangente seiner Bahn abbiegend, in das Sein eindringen will, reißt ihn die Immanenz seines Gesetzes wieder in seine in sich selbst beschlossene Drehung fort. In der Bildung der Begriffe: Subjekt-Objekt als Korrelate, deren jedes nur am andern seinen Sinn findet, liegt schon die Sehnsucht und Antizipation [Vorwegnahme - wp] einer Überwindung dieses starren, letzten Dualismus. Jene erwähnten Betätigungen nun transponieren [übertragen - wp] ihn in besondere Atmosphären, in denen die radikale Fremdheit seiner Seiten herabgesetzt ist und gewisse Verschmelzungen zuläßt. Weil diese aber nur unter den Modifikationen stattfinden können, die gleichsam durch die atmosphärischen Bedingungen besonderer Provinzen geschaffen sind, können sie die Fremdheit der Parteien nicht in ihrem tiefsten Grund überwinden und bleiben endliche Versuche, eine unendliche Aufgabe zu lösen. Unser Verhältnis aber zu denjenigen Objekten, an denen oder die in uns einbeziehend wir uns kultivieren, ist ein anderes, weil diese selbst ja Geist sind, der in jenen ethschen und intellektuellen, sozialen und ästhetischen, religiösen und technischen Formen gegenständlich geworden ist; der Dualismus, mit dem das auf seine eigenen Grenzen angewiesene Subjekt dem für sich seienden Objekt gegenübersteht, erlebt eine unvergleichliche Formung, wenn beide Parteien Geist sind. So muß der subjektive Geist zwar seine Subjektivität, aber nicht seine Geistigkeit verlassen, um das Verhältnis zum Objekt zu erleben, durch das sich seine Kultivierung vollzieht. Dies ist die einzige Art, auf die die dualistische Existenzform, mit dem Bestand des Subjekts unmittelbar gesetzt, sich zu einer innerlich einheitlichen Bezogenheit organisiert. Hier geschieht ein Objektivwerden des Subjekts und Subjektivwerden eines Objektiven, das das Spezifische des Kulturprozesses ausmacht und in dem sich, über dessen einzelne Inhalte hinweg, seine metaphysische Form zeigt. Sein tieferes Verständnis fordert deshalb eine weitergehende Analyse jener Vergenständlichung des Geistes.

Diese Blätter gingen von der tiefen Fremdheit oder Feindschaft aus, die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele auf der einen Seite und seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen besteht. Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen; es ist oft, als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis sterben würde. Hier liegt eine Grundform unseres Leidens an der eigenen Vergangenheit, am eigenen Dogma, den eigenen Phantasien. Diese Diskrepanz, die gleichsam zwischen den Aggregatzuständen des inneren Lebens und seiner Inhalte besteht, wird dadurch in gewissem Maß rationalisiert und weniger scharf fühlbar, daß der Mensch durch sein theoretisches oder praktisches Schaffen jene seelischen Erzeugnisse oder Inhalte als einen in einem bestimmten Sinne selbständigen Kosmos des objektivierten Geistes sich gegenüberstellt und erblickt. Das äußere oder immaterielle Werk, in dem das seelische Leben sich niederschlägt, wird als ein Wert besonderer Art empfunden; so sehr das Leben, darin einströmend, sich in eine Sackgasse verläuft, oder seine Fluten weiterrollt, die dieses ausgeworfene Gebilde an seiner Stelle liegen lassen, so ist dies doch eben der spezifisch menschliche Reichtum, daß die Produkte des objektiven Lebens zugleich einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung von Werten angehören, einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen. Indem sie sich als Träger solcher Werte, Glieder solcher Reihen offenbaren, sind sie nicht nur durch ihre gegenseitige Verwebung und Systematisierung der starren Isoliertheit enthoben, mit der sie sich der Rhythmik des Lebensprozesses entfremdeten, sondern dieser Prozeß selbst hat damit eine Bedeutsamkeit erhalten, die aus der Unaufhaltsamkeit seines bloßen Verlaufs nicht zu gewinnen ist. Es fällt auf die Vergegenständlichungen des Geistes ein Wertakzent, der zwar im subjektiven Bewußtsein entspringt, mit dem dieses Bewußtsein aber etwas meint, was jenseits seiner liegt. Der Wert braucht hierbei keineswegs immer ein positiver, im Sinne des Guten zu sein; vielmehr die bloße formale Tatsache, daß das Subjekt ein Objektives hingestellt hat, daß sein Leben sich aus sich heraus verkörpert hat, wird als etwas Bedeutsames empfunden, weil gerade nur die Selbständigkeit des so vom Geist geformten Objekts die Grundspannung zwischen Prozeß und Inhalt des Bewußtseins lösen kann. Denn wie räumlich naturhafte Vorstellungen die Unheimlichkeit, innerhalb des fließenden Bewußtseinsprozesse als etwas völlig Formfestes zu beharren, dadurch zu beruhigen, daß sie diese Stabilität an ihrer Beziehung zu einer objektiv äußerlichen Welt legitimieren - so leistet die Objektivität der geistigen Welt den entsprechenden Dienst. Wir fühlen die ganze Lebendigkeit unseres Denkens an die Unverrückbarkeit logischer Normen, die ganze Spontaneität unseres Handelns an moralische geknüpft, unser ganzer Bewußtseinsverlauf ist mit Erkenntnissen, Überliefertheiten, Eindrücken einer irgendwie vom Geist geformten Umgebung angefüllt; die Festigkeit und gleichsam chemische Unlösbarkeit von all dem zeigt einen problematischen Dualismus gegen die ruhelose Rhythmik des subjektiv seelischen Prozesses, in dem es sich doch als Vorstellung, als subjektiv seelischer Inhalt erzeugt. Aber indem es einer ideellen Welt oberhalb des individuellen Bewußtseins angehört, wird dieser Gegensatz auf einen Grund und ein Recht gebracht. Gewiß ist es für den kulturellen Sinn des Objekts, auf den es uns hier schließlich ankommt, das Entscheidende, daß in ihm Wille und Intelligenz, Individualität und Gemüt, Kräfte und Stimmung einzelner Seelen (und auch ihrer Kollektivität) gesammelt sind. Allein indem dies geschehen ist, sind jene seelischen Bedeutsamkeiten doch auch an einen Endpunkt ihrer Bestimmung gelangt. Im Glück des Schaffenden an seinem Werk, so groß oder gering das auch sein mag, liegt neben der Entladung der inneren Spannungen, dem Erweis der subjektiven Kraft, der Genugtuung über die erfüllte Forderung wahrscheinlich immer noch eine sozusagen objektive Befriedigtheit darüber, daß dieses Werk nun dasteht, daß der Kosmos der irgendwie wertvollen Dinge nun um dieses Stück reicher ist. Ja vielleicht gibt es gar keinen sublimeren persönlichen Genuß des eigenen Werkes, als wenn wir es in seiner Unpersönlichkeit und seiner Gelöstheit von all unserem Subjektiven empfinden. Und wie so die Objektivierungen des Geistes wertvoll sind, jenseits der subjektiven Lebensprozesse, die als ihre Ursachen in sie eingegangen sind, so sind sie es auch jenseits der anderen, die als ihre Folgen von ihnen abhängen. Wir mögen die Organisation der Gesellschaft und die technische Formung der Naturgegebenheiten, das Kunstwerk und die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit, die Sitte und die Sittlichkeit noch so sehr, noch so überwiegend auf ihre Ausstrahlung in das Leben und die Entfaltung von Seelen ansehen - es ist oft und vielleicht immer darin eine Anerkennung dessen verwebt, daß diese Gebilde überhaupt da sind, daß die Welt auch diese Gestaltung des Geistes umfaßt; es ist eine Direktive in unseren Wertungsprozessen, die am Eigenbestand des Geistig-Objektiven halt macht, ohne über das Definitive dieser Dinge selbst hinaus nach ihren seelischen Folgen zu fragen. Neben allem subjektiven Genuß, mit dem z. B. das Kunstwerk sozusagen in uns eingeht, wissen wir als einen Wert besonderer Art, daß es überhaupt da ist, daß der Geist sich dieses Gefäß geschaffen hat. Wie mindestens eine Linie innerhalb des künsterlischen Wollens am Eigenbestand des Kunstwerks mündet und eine schlechthin objektive Wertung in den Selbstgenuß der sich auslebenden Schöpferkraft verwebt, so verläuft eine gleichgerichtete Linie auch innerhalb der Attitüde des Empfangenden. und zwar im deutlichen Unterschied gegen die Werte, die das rein sachlich Gegebene, das  naturhaft  Objektive bekleiden. Denn gerade solches: das Meer und die Blumen, die Alpen und der Sternenhimmel - gerade dieses hat, was man seinen Wert nennen kann, nur an seinen Reflexen in subjektiven Seelen. Denn sobald wir von mystischen und phantastischen Vermenschlichungen der Natur absehen, ist sie eben ein kontinuierlich zusammenhängendes Ganzes, dessen indifferente Gesetzmäßigkeit keinem Teil einen in seinem Sachbestand gegründeten Akzent, ja nicht einmal eine objektiv gegen andere abgegrenzte Existenz gönnt. Nur unsere menschlichen Kategorien schneiden aus ihm die einzelnen Stücke heraus, an die wir ästhetische, erhebende, symbolisch bedeutsame Reaktionen knüpfen: daß das Naturschöne "selig an ihm selbst" sein soll, besteht nur als dichterische Fiktion zurecht; für das um Objektivität bemühte Bewußtsein hängt an ihm keine andere Seligkeit, als die es in uns auslöst. Während also das Erzeugnis der schlechthin objektiven Mächte nur subjektiv wertvoll sein kann, ist umgekehrt das Erzeugnis der subjektiven Mächte für uns objektiv wertvoll. Die materiellen und immateriellen Gebilde, in denen menschliches Wollen und Können, Wissen und Fühlen investiert ist, sind jenes objektiv Dastehende, das wir als Bedeutsamkeit und Bereicherung des Daseins auch dann empfinden, wenn wir von seinem Geschaut-, Genutzt- oder Genossenwerden völlig abstrahieren. Mag Wert und Bedeutung, Sinn und Wichtigkeit sich ausschließlich in der menschlichen Seele erzeugen, so bewahrheitet sich dies zwar dauernd der gegebenen  Natur  gegenüber, aber es hindert nicht den objektiven Wert derjenigen Gebilde, in denen jene - schaffenden und formenden - seelischen Kräfte und Werte ja gerade schon investiert  sind.  Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk (auf welche metaphysischen Kategorien hin, soll hier unerörtert bleiben) für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt; die Welt erscheint uns sozusagen ihrer Existenz würdiger, ihrem Sinn näher, wenn die Quelle allen Wertes, die menschliche Seele, sich in eine solche, nun gleichfalls der objektiven Welt angehörige Tatsache ergossen hat - in dieser eigentümlichen Bedeutung unabhängig davon, ob eine spätere Seele diesen hineingezauberten Wert wieder erlösen und ihn in den Fluß ihres subjektiven Empfindens auflösen wird. Der natürliche Sonnenaufgang und das Gemälde stehen beide als Realitäten da, aber jener findet seinen Wert erst in einem Weiterleben in psychischen Subjekten, an diesem aber, das ein solches Leben schon in sich eingetrunken und zu einem Objekt gestaltet hat, macht unser Wertempfinden als an einem jeder Subjektivierung unbedürftigen Definitivum halt.

Spannt man diese Momente bis zu einer parteimäßigen Polarität aus, so steht auf der einen Seite die ausschließliche Schätzung des subjektiv bewegten Lebens, von dem aller Sinn, Wert, Bedeutung nicht nur erzeugt wird, sondern in dem allein all das auch wohnen bleibt. Andererseits aber ist die radikale Akzentuierung des objektivgewordenen Wertes nicht weniger verständlich. Natürlich ist dieser nicht an die originale Produktion von Kunstwerken und Religionen, Techniken und Erkenntnissen gebunden; aber was ein Mensch auch tut, es muß einen Beitrag zum ideellen, historischen, materialisierten Kosmos des Geistes leisten, damit es als wertvoll gilt. Dies kommt nicht der subjektiven Unmittelbarkeit unseres Seins und Handelns zu, sondern dessen objektiv normiertem, objektiv angeordneten Inhalt, so daß schließlich nur diese Normierungen und Ordnungen die Wertsubstanz enthielten und sie dem verfließenden persönlichen Geschehen mitteilten. Sogar die Autonomie des moralischen Willens bei KANT involviert keinen Wert eben dieses in seiner psychologischen Tatsächlichkeit, sondern knüpft ihn an die Realisierung einer in objektiver Idealität bestehenden Form. Selbst die Gesinnung und die Persönlichkeit haben ihre Bedeutung, im Guten wie im Bösen, darin, daß sie einem Reich des Überpersönlichen zugehören. Indem diese Wertungen des subjektiven und des objektiven Geistes einander gegenüberstehen, führt nun die Kultur ihre Einheit durch beide hindurch: denn sie bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch eine Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjekts gelegenen Gebildes vollziehen kann. Dem Subjekt ist der spezifische Wert der Kultiviertheit unzugängig, wenn es ihn nicht auf dem Weg über objektive geistige Realitäten erreicht; diese ihrerseits sind  Kulturwerte nur, insfoern sie jenen Weg der Seele von sich selbst zu sich selbst, vin dem, was man ihren Naturzustand nennen kann, zu ihrem Kulturzustand, durch sich hindurchleiten.

Man kann also die Struktur des Kulturbegriffs auch so ausdrücken. Es gibt keinen Kulturwert, der nur Kulturwert wäre; jeder muß vielmehr, um diese Bedeutung zu erwerben, auch Wert einer Sachreihe sein. Wo aber auch so ein letzterer vorliegt, also irgendein Interesse oder eine Fähigkeit unseres Wesens eine Förderung erfährt, bedeutet er einen Kulturwert nur dann, wenn diese partielle Entwicklung zugleich unser Gesamt-Ich eine Stufe näher an seine Vollendungseinheit heranhebt. So nur werden zwei entsprechende, negative Erscheinungen der Geistesgeschichte verständlich. Einmal, daß Menschen der tiefsten Kulturinteressiertheit oft gegen die einzelnen Sachgehalte der Kultur eine merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, Ablehnung zeigen - insofern es ihnen eben nicht gelingt, deren überspezialistischen Ertrag für die Förderung der Gesamtpersönlichkeiten zu entdecken; und es gibt wohl kein menschliches Erzeugnis, das einen solchen Ertrag notwendig zeigen  müßte,  freilich auch keines, das ihn nicht zeigen  könnte.  Andererseits aber treten Erscheinungen auf, die  nur  Kulturwerte zu sein scheinen, gewisse Formalien und Verfeinerungen des Lebens, wie sie namentlich in überreife und müde gewordene Epochen gehören. Denn wo das Leben in sich hohl und sinnlos geworden ist, da ist alle willens- und werdensmögliche Entwicklung zu seiner Höhe nur noch eine schematische, und nicht mehr imstande, aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und Förderung zu ziehen - wie der erkrankte Körper sich nicht mehr aus den Nahrungsmitteln die Stoffe assimilieren kann, aus denen der gesunde Wachstum und Kräfte gewinnt. Hier kann sich die individuelle Entwicklung aus den sozialen Normen nur noch das gesellschaftlich gute Benehmen, aus den Künsten nur noch den unproduktiven Genuß, aus den technischen Fortschritten nur noch das Negative der Mühelosigkeit und Glätte des Tagesverlaufes herausholen - es entsteht eine Art formal-subjektiver Kultur, ohne innere Verwebung mit dem Sachelement, durch die der Begriff einer konkreten Kultur sich erst erfüllt. Es gibt also einerseits eine so leidenschaftlich zentralisierte Betonung der Kultur, daß ihr der Sachgehalt ihrer objektiven Faktoren zuviel und zu ablenkend ist, da er  als solcher  freilich nicht in seiner Kultufunktion aufgeht und aufgehen kann; und andererseits eine solche Schwäche und Leere der Kultur, daß sie gar nicht imstande ist, die objektiven Faktoren ihrem Sachgehalt nach in sich einzuziehen. Beide Erscheinungen, auf den ersten Blick als Gegeninstanzen gegen die Bindung der persönlichen Kultur an unpersönliche Gegebenheiten auftretend, bestätigen vielmehr der genaueren Betrachtung diese Bindung.

Daß sich in der Kultur so die letzten und entscheidenden Lebensfaktoren vereinigen, offenbart sich gerade darin, daß die Entwicklung eines jeden von diesen mit einer Selbständigkeit geschehen kann, die der Motivation durch das Kulturideal nicht nur entbehren kann, sondern sie geradezu ablehnt. Denn der Blick in der einen oder in der anderen Richtung fühlt sich von der Einheit seiner Intention abgelenkt, wenn er von einer Synthese zwischen beiden bestimmt werden soll. Gerade die Geister, die bleibende Inhalte, also das objektive Element der Kultur schaffen - diese Geister würden sich wohl weigern, Motiv und Wert ihrer Leistung unmittelbar von der Kulturidee zu entlehnen. Hier vielmehr besteht die folgende innere Lage. Im Religionsstifter und im Künstler, im Staatsmann und im Erfinder, im Gelehrten und im Gesetzgeber wirkt ein Doppeltes: die Entladung ihrer Wesenskräfte, das Hinaufleben ihrer Natur zu der Höhe, auf der sie die Inhalte des Kulturlebens aus sich entläßt - und die Leidenschaft für die Sache, in deren eigengesetzlicher Vollendetheit das Subjekt sich selbst gleichgültig geworden und ausgelöscht ist; im Genie sind diese beiden Strömungen eine einzige: die Entwicklung des subjektiven Geistes um seiner selbst, seiner drängenden Kräfte willen, ist für das Genie ununterscheidbar Eines mit der völlig selbstvergessenen Hingabe an die objektive Aufgabe. Kultur ist, wie sich zeigte, immer Synthese. Aber Synthese ist nicht die einzige und nicht die unmittelbarste Einheitsform, da sie immer die Zerlegtheit der Elemente als ihr Vorangehendes oder als ihr Korrelat voraussetzt. Nur eine so analytisch gestimmte Zeit wie die moderne konnte in der Synthese das Tiefste, das Ein und Alles des Formverhältnisses vom Geist zur Welt finden - während es doch eine ursprüngliche, vordifferenzielle Einheit gibt; indem diese die analytischen Elemente erst aus sich hervorgehen läßt, wie der organische Keim sich in die Vielheit gesonderter Glieder auseinander zweigt, steht sie jenseits von Analyse und Synthese - sei es, daß diese beiden sich aus ihr in Wechselwirkung, eines auf jeder Stufe das andere voraussetzend, entwickeln, sei es, daß die Synthese die analytisch getrennten Elemente nachträglich zu einer Einheit bringt, die aber etwas ganz anderes ist, als die vor aller Trennung gelegene. Das schöpferische Genie besitzt jene ursprüngliche Einheit des Subjektiven und des Objektiven, die sich erst auseinanderlegen muß, um im Kultivierungsprozeß der Individuen in ganz anderer, synthetischer Form gewissermaßen wieder zu erstehen. Darum also liegt das Interesse an der Kultur mit jenen beiden: der reinen Selbstentwicklung des subjektiven Geistes und dem reinen Aufgehen in die Sache - nicht in einer Ebene, sondern hängt sich gelegentlich als ein sekundäres, reflexionsmäßiges an diese, als ein abstrakt allgemeines, jenseits des innerlich unmittelbaren Wertimpulses der Seele. Also selbst da, wo der Weg der Seele zu sich selbst - der eine Faktor der Kultur - ihre anderen Faktoren erzeugend trägt, bleibt die Kultur aus dem Spiel, solange für die Seele dieser Weg sozusagen nur durch eigenes Gebiet läuft und sich in der reinen Selbstentwicklung des eigenen Wesens - gleichviel, wie dieses sachlich bestimmt ist - vollendet.

Sehen wir den anderen Faktor der Kultur: jene zu einer ideellen Sonderexistenz, unabhängig nun von aller psychischen Bewegtheit, gereiften Erzeugnisse des Geistes - in seiner selbstgenügsamen Isoliertheit an, so fällt auch sein eigenster Sinn und Wert keineswegs mit seinem Kulturwert zusammen, ja er läßt sich von sich aus seine Kulturbedeutung noch völlig dahigestellt. Das Kunstwert soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werk seinen Wert geben oder verweigern würden, auch wenn es sozusagen auf der Welt gar nichts weiter als eben dieses Werk gäbe; das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut nichts weiter, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab, das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insoweit keinen anderen als den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an. Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung und ob und mit welchem Wert sie sich in jene Entwicklung subjektiver Seelen einsetzen lassen, geht ihre an rein sachlichen und für sie allein gültigen Normen gemessene Bedeutung durchaus nichts an. Aus dieser Sachlage wird begreiflich, daß wir ebenso an den Menschen, die nur auf das Subjekt gerichtet sind, wie an denen, die nur auf das Objekt gerichtet sind, oft eine scheinbar merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, eine Aversion [Abneigung - wp] gegen die Kultur antreffen. Wer nur nach dem Heil der Seele oder nach dem Ideal der persönlichen Kraft oder nach der rein individuellen Entwicklung, in die kein ihr äußeres Moment eingreifen darf, fragt - dessen Wertungen entbehren eben des einen integrierenden Faktors der Kultur, während der andere dem fehlt, der nur nach der reinen Sachvollendung unserer Werke fragt, danach, daß diese  ihre  Idee und keine erst irgendwie damit verbundene erfüllen. Das Extrem des ersten Typus ist der Säulenheilige, des anderen der im Fachfanatismus eingeschlossene Spezialist. Er hat auf den ersten Blick etwas Frappierendes, daß die Träger solcher unzweifelhafter "Kulturwerte", wie Religiosität, Persönlichkeitsbildung, Techniken jeder Art den Begriff verachten oder bekämpfen sollen. Dies klärt sich aber sogleich durch die Einsicht, daß Kultur eben immer nur die  Synthese  einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes bedeutet und daß die Vertretung je eines dieser Elemente im Maße ihrer Exklusivität die Verwebung beider perhorreszieren muß.

Eine solche Abhängigkeit des Kulturwertes von der Mitwirkung eines zweiten Faktors, der jenseits der sachlich-eigenen Wertreihe des Objekts steht, macht es verständlich, daß eben dasselbe auf der Skala der Kulturwerte oft einen ganz anderen Teilstrich erreicht als auf der der bloßen Sachbedeutungen. Vielerlei Werke, die als künstlerishe, technische, intellektuelle unter der Höhe des sonst schon Erreichten bleiben, haben doch die Fähigkeit, sich in den Entwicklungsweg vieler Menschen auf das Wirkungsvollste einzufügen, als Entfalter ihrer latenten Kräfte, als Brücke zu ihrer nächst höheren Station. Wie es unter den Natureindrücken keineswegs nur die dynamisch gewaltigsten oder ästhetisch vollkommensten sind, von denen uns eine ganz tiefe Beseligung und das Gefühl kommt, daß dumpfe und unerlöste Elemente in uns plötzlich licht und harmonisch geworden sind - wie wir dies vielmehr oft einer ganz schlichten Landschaft oder dem Schattenspiel eines Sommermittags verdanken: so ist es auch der Bedeutung des Geisteswerkes, eine so hohe oder so niedrige sie auch in ihrer eigenen Reihe sein mag, daraufhin noch nicht anzusehen, was dieses Werk uns für den Weg der Kultur leisten kann. Denn hier kommt alles darauf an, daß jene spezielle Bedeutung des Werkes gleichsam den Nebenertrag hat, der zentralen oder allgemeinen Entwicklung der Persönlichkeiten zu dienen. Und daß dieser Ertrag dem Eigen- oder Binnenwert des Werkes umgekehrt proportional sein kann, hat mancherlei tiefere Ursachen. Es gibt Menschenwerke von einer letzterreichbaren Vollendung, zu denen wir gerade um dieser lückenlosen Gerundetheit willen keinen Zugang oder die deshalb keinen Zugang zu uns haben. Ein solches bleibt sozusagen an seinem Ort, aus dem es nicht auf unsere Straße zu verpflanzen ist, ein einsam Vollendetes, zu dem wir uns vielleicht hingegeben, das wir aber nicht mitnehmen können, um uns an ihm in die Vollendung unserer selbst zu heben. Für das moderne Lebensgefühl hat vielfach die Antike diese selbstgenügsam vollendete Geschlossenheit, die sich der Aufnahme in die Pulsierungen und Rastlosigkeiten unseres Entwicklungstempos versagt; und dies mag heute so manchen bestimmen, gerade für unsere Kultur einen anderen fundamentalen Faktor zu suchen. Ebenso steht es mit gewissen ethischen Idealen. Die so bezeichneten Gebilde des objektiven Geistes sind vielleicht mehr als andere bestimmt, die Entwicklung von der bloßen Möglichkeit zur höchsten Wirklichkeit unserer Totalität zu tragen und ihr die Richtung zu geben. Allein nun enthalten manche ethischen Imperative ein Ideal von so starrer Vollkommenheit, daß sich aus ihm sozusagen keine Energien, die wir in unsere Entwicklung aufnehmen könnten, aktualisieren lassen. Mit all seiner Höhe in der Reihe der ethischen Ideen wird es doch als Kulturelement leicht hinter anderen zurückstehen, die von ihrer tieferen Stelle in jener Reihe aus sich eher der Rhythmik unserer Entwicklung assimilieren und verstärkend einfügen. Ein anderes Motiv einer solchen Disproportionalität zwischen dem Sachwert und dem Kulturwert eines Gebildes liegt in der Einseitigkeit der Förderung, die wir durch jenes erfahren. Vielerlei Inhalte des objektiven Geistes machen und klüger oder besser, glücklicher oder geschickter, entwickeln damit aber nicht eigentlich  uns,  sondern sozusagen eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet; es handelt sich hier natürlich um gleitende und unendlich zarte, äußerlich gar nicht faßbare Unterschiede, die sich an das geheimnisvolle Verhältnis zwischen unserer einheitlichen Ganzheit und unseren einzelnen Energien und Perfektionen knüpfen. Bezeichnen freilich können wir die volle, geschlossene Realität, die wir unser Subjekt nennen, nur mit der Summe solcher Einzelheiten, ohne daß sie doch aus diesen zusammensetzbar wäre; und die einzige zur Verfügung stehende Kategorie: der Teile und des Ganzen - erschöpft keineswegs dieses einzigartige Verhältnis. All jenes Singuläre aber hat, für sich betrachtet, einen objektiven Charakter, es könnte in seiner Isoliertheit an beliebig verschiedenen Subjekten bestehen und gewinnt erst an seiner Binnenseite, mit der es eben jene Einheit unseres Wesens erwachsen läßt, den Charakter unserer Subjektivität. Mit der ersteren aber schlägt es gewissermaßen die Brücke zum Wert der Objektivitäten, es liegt an unserer Peripherie, mit der wir uns der objektiven, äußeren wie geistigen, Welt vermählen. Sobald sich aber diese nach innen zu gehenden, in unserem Zentrum mündenden Bedeutung abschnürt, ensteht jene Diskrepanz; wir werden belehrt, werden zwecktätiger, reicher an Genuß und Fähigkeiten, vielleicht auch "gebildeter" - aber unsere Kultivierung hält damit nicht Schritt, denn wir kommen so zwar von einem niedrigeren Haben und Können zu einem höheren, aber nicht von uns selbst als den Niedrigeren zu uns selbst als den Höheren.

Diese Möglichkeit der Diskrepanz zwischen Sachbedeutung und Kulturbedeutung von ein und demselben Objekt habe ich nur hervorgehoben, um die prinzipielle Zweiheit der Elemente, in deren Verwebung allein Kultur besteht, nachdrücklicher zu veranschaulichen. Diese Verwebung ist eine schlechthin einzigartige, indem die kulturbedeutende Entwicklung des personalen Seins ein rein am Subjekt bestehender Zustand ist, aber ein solcher, der absolut nicht anders als durch die Aufnahme und Ausnützung objektiver Inhalte erreicht werden kann. Deshalb ist Kultiviertheit einerseits eine im Unendlichen liegende Aufgabe - da die Verwendung objektiver Momente zur Vollendung des persönlichen Seins niemals als abgeschlossen anzusehen ist -, andererseits folgt die Nuance des Sprachgebrauchs diesem Sachverhalt sehr genau, indem die an ein einzelnes Objektives gebundene Kultur: religiöse Kultur, künstlerische Kultur usw. in der Regel nicht zur Bezeichnung des Zustandes von Individuen, sondern nur vom öffentlichen Geist gebraucht wird; in dem Sinne, daß in einer Epoche besonders viele oder beeindruckende geistige Inhalte einer bestimmten Art vorliegen, durch die hindurch sich die Kultivierung der Individuen vollzieht. Diese können, genau genommen, nur mehr oder weniger, aber nicht spezialistisch so oder so kultiviert sein; eine sachlich besonderte Kultur des Individuums kann nur entweder bedeuten, daß die kulturelle und als solche überspezialistische Vollendung des Individuums sich hauptsächlich mittels dieses einen einseitigen Inhalts vollzogen hat, oder daß neben seiner eigentlichen Kultiviertheit sich noch ein erhebliches Können oder Wissen in Bezug auf einen Sachgehalt ausgebildet hat. Die künstlerische Kultur eines Individuums z. B. - wenn sie noch etwas außer den kunstmäßigen Perfektionen, die sich auch bei sonstiger "Unkultiviertheit" eines Menschen einstellen können, sein soll - kann nur besagen, daß es in diesem Fall gerade  diese  sachlichen Perfektionen sind, die die Vollendung des persönlichen Gesamtseins bewirkt haben.

Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffes, ein Paradox, ja, eine Tragödie werden läßt. Der Dualismus von Subjekt und Objekt, den ihre Synthese voraussetzt, ist doch nicht nur ein sozusagen substantieller, das Sein beider betreffender. Sondern die innere Logik, nach der jedes von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs zusammen. Die Erkenntnis z. B., in ihren Formen noch so sehr durch die Aprioritäten unseres Geistes bestimmt, ist doch ununterbrochen von nur Hinzunehmenden und nicht Vorherzusehenden erfüllt, die durch deren innere Angelegenheit vorgezeichnet ist, dienen könnten, scheint nicht gewährleistet. Ebenso steht es mit unserem praktisch-technischen Verständnis zu den Dingen. Gewiß gestalten wir sie nur nach unseren Zwecken; allein sie sind diesen doch nicht absolut nachgiebig, sondern haben Inhalte und eine eigene Logik, durch deren Macht es zweifelhaft wird, ob unser Verfahren mit ihnen, durch einseitiges Interesse, Not oder Abwehr hervorgerufen, irgendwie in die Eigenrichtung unserer zentralen Entwicklung mündet. Und eine solche eigene Logik besitzt auch aller objektive Geist im engeren Sinne. Wenn gewisse erste Motive des Rechts, der Kunst, der Sitte geschaffen sind - vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität - so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderungen unserer Individualität, so zentral sie auch sein mögen, nicht weniger unbekümmert ist, als die physischen Mächte und ihre Gesetze es sind. Es ist freilich im allgemeinen richtig, daß die Sprache für uns dichtet und denkt, d. h. daß sie die fragmentarischen oder gebundenen Impulse unseres eigenen Wesens aufnimmt und zu einer Vollkommenheit führt, zu dem diese, auch rein für uns selbst, sonst nicht gelangt wären. Allein dieser Parallelismus der objektiven und der subjektiven Entwicklungen hat dennoch keine prinzipielle Notwendigkeit. Sogar die Sprache empfinden wir gelegentlich wie eine fremde Naturmacht, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt. Und die Religion, die gewiß aus dem Suchen der Seele nach sich selbst entsprungen ist, der Flügel, den die eigenen Kräfte der Seele hervortreiben, um sie auf ihre eigene Höhe zu tragen - selbst sie hat, einmal aufgekommen, gewisse Bildungsgesetze, die ihre, aber nicht immer unser Notwendigkeit entfalten. Was der Religion oft als ihr antikultureller Geist vorgeworfen wird, sind nicht nur ihre gelegentlichen Feindseligkeiten gegen intellektuelle, ästhetische, sittliche Werte, sondern auch dieses Tiefere: daß sie ihren eigenen, durch ihre immanente Logik bestimmten Weg geht, in den sie zwar das Leben hineinreißt; aber, welche transzendenten Güter auch immer die Seele auf diesem Weg findet, er führt sie oft genug nicht zur Vollendung ihrer Totalität, auf die ihre eigenen Möglichkeiten sie weisen und die, die Bedeutsamkeit der objektiven Gebilde in sich aufnehmend, eben Kultur heißt.

Indem die Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge mit Dynamik geladen ist, entstehen zwischen diesen und den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit harte Reibungen, die in der Form der Kultur als solcher eine einzigartige Zusammendrängung erfahren. Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch eine solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören - seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal erwachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit ist, die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenügsames Ganzes ist. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm  gegeben von irgendeinem räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb her, sie sind zugleich die Inhalte irgendwelcher anderer Welten, gesellschaftlicher und metaphysischer, begrifflicher und ethischer, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht zusammenfallen wollen. An diesen Inhalten, die das Ich in besonderer Weise gestaltet, ergreifen die äußeren Welten das Ich, um es in sich hineinzuziehen; sie wollen die Zentrierung der Inhalte um das Ich zerbrechen, um sie vielmehr nach  ihren  Ansprüchen zu formen. In einem religiösen Konflikt zwischen der Selbstgenügsamkeit oder Freiheit des Menschen und seiner Einfügung in die göttlichen Ordnungen mag dies seine weiteste und tiefste Offenbarung finden; aber sie ist, nicht anders als der soziale Konflikt zwischen dem Menschen als abgerundeter Individualität und dem bloßen Glied des gesellschaftlichen Organismus, doch nur  ein  Fall jenes rein formalen Dualismus, in den uns die Zugehörigkeit unserer Lebensinhalte zu noch anderen Kreisen als dem unseres Ich unvermeidlich verstrickt. Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt je zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das all seine Lebensinhalte harmonisch und gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich herum ordnet - und fühlt sich zugleich mit jedem dieser peripherischen Inhalte solidarisch, der doch auch einem anderen Kreis angehört und hier von einem anderen Bewegungsgesetz beansprucht wird; so daß unser Wesen sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises bildet. Die Kulturtatsache nun drückt die Parteien dieser Kollision aufs Engste aneinander, indem sie die Entwicklung der einen geradezu daran bindet (d. h. sie nur so zur Kultiviertheit werden läßt), daß sie die andere in sich einbezieht, also einen Parallelismus oder eine gegenseitige Angepaßtheit beider voraussetzt. Der metaphysische Dualismus von Subjekt und Objekt, den dieses Gefüge der Kultur prinzipiell überwunden hatte, lebt als Diskordanz der einzelnen empirischen Inhalte subjektiver und objektiver Entwicklungen wieder auf.

Vielleicht aber noch weiter klafft der Riß, wenn auf seinen Seiten gar nicht entgegengesetzt gerichtete Inhalte stehen, sondern wenn das Objektive durch seine formalen Bestimmungen: der Selbständigkeit und der Massenhaftigkeit - sich seiner Bedeutung für das Subjekt entzieht. Es war doch die Formel der Kultur, daß subjektiv-seelische Energien eine objektive, von einem schöpferischen Lebensprozeß fürderhin unabhängige Gestalt gewinnen und diese ihrerseits wieder in subjektive Lebensprozesse in einer Weise hineingezogen wird, die dessen Träger zur abgerundeten Vollendung seines zentralen Seins bringt. Diese Strömung von Subjekten durch Objekte zu Subjekten, in der ein metaphysisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt historische Wirklichkeit annimmt, kann nun aber ihre Kontinuität verlieren; das Objekt kann in prinzipiellerer Weise als es bisher angedeutet war, aus seiner vermittelnden Bedeutung heraustreten und damit die Brücken abbrechen, über die hin sein kultivierender Weg ging. Eine solche Isolierung und Entfremdung ergreift es zunächst gegenüber den schaffenden Subjekten aufgrund der Arbeitsteilung. Die Gegenstände, die durch die Kooperation vieler Personen hergestellt sind, bilden eine Skala, je nach dem Maß, in dem ihre Einheit auf die einheitliche, gedankenmäßige Intention eines Individuums zurückgeht oder sich ohne so einen bewußten Ursprung von selbst aus den Teilbeträgen der Kooperierenden hergestellt hat. An dem durch das letztere bezeichneten Pol steht etwa eine Stadt, die nach keinem zuvor bestehenden Plan, sondern nach den zufälligen Bedürfnissen und Neigungen der Einzelnen gebaut ist und do ein als Ganzes sinnvolles, anschaulich geschlossenes, organisch in sich verbundenes Gebilde ist. Den anderen Pol exemplifiziert [verbeispielt - wp] vielleicht das Produkt einer Fabrik, an dem zwanzig Arbeiter, jeder ohne Kenntnis der anderen Teilarbeiten und ihrer ihrer Zusammenfügung und ohne Interesse für sie, zusammengewirkt haben - während das Ganze allerdings von einem persönlichen zentralen Willen und Intellekt geleitet ist. Zwischen diesen Erscheinungen mag etwa die Zeitung stehen, deren zumindest äußerliche Einheit in Aspekt und Bedeutung zwar irgendwie auf eine führende Persönlichkeit zurückgeht, aber doch in erheblichem Maß aus gegeneinander zufälligen Beiträgen verschiedenster Art von den verschiedensten, einander ganz fremden Persönlichkeiten erwächst. Der Typus dieser Erscheinungen ist, absolut ausgedrückt, der: durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezfisch wirksame Einheit,  keinen Produzenten hat,  nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist. Die Elemente haben sich zusammengetan wie nach einer ihnen selbst, als objektiven Wirklichkeiten, innewohnenden Logik und Formungsintention, mit denen ihre Schöpfer sie nicht geladen haben. Die Objektivität des geistigen Inhaltes, die ihn von allem Aufgenommen- oder Nicht-Aufgenommenwerden unabhängig macht, fällt hier schon auf die Seite seiner Produktion: gleichviel was die Einzelnen gewollt oder nicht gewollt haben: das fertige Gebilde, rein körperlich realisiert, von keinem Geist mit seiner jetzt wirksamen Bedeutung gespeist, besitzt sie dennoch und kann sie in den Kulturprozeß weitergeben - nur graduell anders, als wenn ein kleines Kind Buchstaben, mit denen es spielt, zufällig zu einem guten Sinn anordnet; dieser Sinn ist in geistiger Objektivität und Konkretheit in ihnen da, aus wie völliger Ahnungslosigkeit heraus er auch immer produziert sein mag. Genau betrachtet aber ist das doch nur ein sehr radikaler Fall eines ganz allgemeinen, auch jene Fälle von Arbeitsteilung übergreifenden menschlich-geistigen Schicksals. Die allermeisten Produkte unseres geistigen Schaffens enthalten innerhalb ihrer Bedeutung eine gewisse Quote, die wir nicht geschaffen haben. Ich meine damit nicht Unoriginalität, vererbte Werte, die Abhängigkeit von Vorbildern; denn mit all dem könnte das Werk doch seinem ganzen Inhalt nach aus unserem Bewußtsein geboren sein, wenngleich dieses Bewußtsein damit nur weitergäbe, was es  tale quale [so wie es ist - wp] empfangen hat. Vielmehr, in den weitaus meisten unserer objektiv sich darbietenden Leistungen ist etwas von Bedeutung enthalten, das von anderen Subjekten herausgezogen werden kann, das wir selbst aber nicht hineingelegt haben. Nirgends natürlich gilt in einem absoluten Sinn, überall aber in einem relativen: Was er webt, das weiß kein Weber. Die fertige Leistung enthält Akzente, Relationen, Werte, rein ihrem Sachbestand nach und gleichgültig dagegen, ob der Schaffende gewußt hat, daß dies der Erfolg seines Schaffens sein wird. Es ist ein ebenso geheimnisvolles wie unbezweifelbares Faktum, daß an ein materielles Gebilde ein geistiger Sinn, objektiv und für jedes Bewußtsein reproduzierbar, gebunden sein kann, den kein Bewußtsein hineingelegt hat, sondern der an der reinen, eigensten Tatsächlichkeit dieser Form haftet. Der Natur gegenüber bietet der analoge Fall kein Problem: kein künstlerischer Wille hat südlichen Gebirgen die Stilreinheit ihres Umrisses oder dem stürmischen Meer seine erschütternde Symbolik verliehen. An allen Geisteswerken abr hat das rein Naturhafte, insofern es mit solchen Bedeutungsmöglichkeiten ausgestattet ist, einen Anteil oder kann ihn haben. Die Möglichkeit, einen subjektiven geistigen Inhalt herauszugewinnen, ist eben als eine nicht weiter beschreibbare objektive Formung, die ihren Ursprung völlig hinter sich gelassen hat, in ihnen investiert. In einem extremen Beispiel: ein Dichter hat ein Rätsel auf eine bestimmte Lösung hin verfaßt; wird ein anderes Lösungswort dafür gefunden, das genauso passend, so sinnvoll, so überraschend ist, wie jenes, so ist es eben auch genau so "richtig" und obgleich es seinem Schöpfungsprozeß absolut fernlag, liegt es in dem geschaffenen genauso als ideelle Objektivität, wie jenes erste Wort, auf das hin das Rätsel geschaffen wurde.

Diese Möglichkeiten und Maße der Selbständigkeit des objektiven Geistes sollen nur deutlich machen, daß er auch da, wo er aus dem Bewußtsein eines subjektiven Geistes erzeugt ist, nach erfolgter Objektivation eine nun von diesem gelöste Gültigkeit und unabhängige Chance der Resubjektivierung besitzt; ebensowenig freilich braucht diese Chance realisiert zu werden, da ja, im obigen Beispiel, das zweite Lösungswort des Rätsels in seiner objektiven Geistigkeit zu Recht besteht, auch bevor es aufgefunden wurde und auch wenn dies nie geschähe. Diese eigentümliche Beschaffenheit der Kulturinhalte - die bisher für die einzelnen, gleichsam isolierten gilt - ist das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor, oft fast beziehungslos zum Willen und der Persönlichkeit der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Subjekten überhaupt und in welchem Maß von Tiefe und Vollständigkeit es aufgenommen und seiner Kulturbedeutung zugeführt wird. Der "Fetischcharakter", den MARX den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen - und mit steigender "Kultur" immer mehr - unter dem Paradox, daß sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden. Es sind nicht etwa physische Notwendigkeiten, die hierbei in Frage kämen, sondern wirklich nur kulturelle, die freilich die physischen Bedingtheiten nicht überspringen können. Aber was die Produkte, als solche des Geistes, hervortreibt, eines scheinbar aus dem andern, ist die kulturelle Logik der Objekte, nicht die naturwissenschaftliche. Hier liegt der verhängnisvolle innere Zwangstrieb aller "Technik", sobald ihre Ausbildung sie aus der Reichweite des unmittelbaren Verbrauches herausgerückt hat. So kann etwa die industrielle Herstellung mancher Fabrikate die von Nebenprodukten nahelegen, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt; allein der Zwang, jene einmal geschaffenen Einrichtungen voll auszunutzen, drängt darauf; die technische Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische, eigentlich definitive Reihe nicht bedarf - und so entstehen Angebote von Waren, die erst ihrersetis künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse wachrufen. In manchen Wissenschaftszweigen ist es nicht anders. Die philologische Technik etwa ist einerseits zu einer unübertrefflichen Feinheit und methodischen Vollkommenheit entwickelt, andererseits wachsen die Gegenstände, die so zu bearbeiten ein wirkliches Interesse der geistigen Kultur ist, nicht sehr schnell nach, und so wird die philologische Bemühung vielfach zu einer Mikrologie, einem Pedantismus und einer Bearbeitung des Unwesentlichen - gleichsam ein Leergang der Methode, ein Weitergehen der sachlichen Norm, deren selbständiger Weg nicht mehr mit dem der Kultur als einer Lebensvollendung zusammenfällt. Es ist das gleiche letzte Formmotiv, wenn in der Kunstentwicklung das technische Können groß genug wird, um sich von einem Dienst am kulturellen Gesamtzweck der Kunst zu emanzipieren. Jetzt nur noch der eigenen Sachlogik gehorsam, entfaltet die Technik Verfeinerung auf Verfeinerung, die jedoch nur noch  ihre  Vervollkommnungen sind, aber nicht mehr solche des kulturellen Sinnes der Kunst. Die ganze übermäßige Spezialisierung, die heute auf allen Arbeitsgebieten beklagt wird und doch deren Fortentwicklung wie mit dämonischer Unerbittlichkeit unter ihr Gesetz zwingt, ist nur eine Sondergestaltung jenes allgemeinen Verhängnisses der Kulturelemente: daß die Objekte eine eigene Logik ihrer Entwicklung haben - keine begriffliche, keine naturhafte, sondern nur ihrer Entwicklung als kultureller Menschenwerke - und in deren Konsequenz von der Richtung abbiegen, mit der sie sich der personalen Entwicklung menschlicher Seelen einfügen könnten. Darum ist diese Diskrepanz keineswegs mit der oft hervorgehobenen identisch: mit dem Auswachsen der Mittel zum Wert von Endzwecken, wie fortgeschrittene Kulturen es auf Schritt und Tritt zeigen. Denn dies ist etwas rein Psychologisches, eine Akzentuierung aus seelischen Zufälligkeiten oder Notwendigkeiten heraus und ohne jede feste Beziehung zum sachlichen Zusammenhang der Dinge. Hier aber handelt es sich gerade um diesen, um die immanente Logik der Kulturformungen der Dinge; der Mensch wird jetzt der bloße Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht und sie wie in der  Tangente  der Bahn weiterführt, in der sie wieder in die Kulturentwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren würden - nicht anders als die Logik der Begriffe unser Denken oft zu theoretischen Konsequenzen führt, die von der ursprünglich bestimmenden Absicht eben dieses Denkens weit abliegen. Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis - im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes - bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schafft, durch das hin die Entwicklung des Subjekts von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nimmt; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zur Höhe ihrer selbst zu führen: die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzterem dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben.

In noch positiverer Weise aber setzt die Kulturentwicklung das Subjekt außerhalb ihrer selbst durch die schon angedeutete Form- und Grenzenlosigkeit, die dem objektiven Geist durch die numerische Unbeschränktheit seiner Produzenten kommt. Zum Vorrat der objektivierten Kulturinhalte kann ein jeder ohne irgendeine Rücksicht auf die anderen Kontribuenten beisteuern; dieser Vorrat hat in den einzelnen Kulturepochen wohl eine bestimmte Färbung, also von innen her eine Qualitätsgrenze, aber nicht ebenso eine Quantitätsgrenze, er hat gar keinen Grund, sich nicht ins Unendliche zu vermehren, nicht Buch an Buch, Kunstwerk an Kunstwerk, Erfindung an Erfindung zu reihen: die Form der Objektivität als solche besitzt eine schrankenlose Erfüllungskapazität. Mit dieser sozusagen unorganischen Anhäufbarkeit aber wird sie der Form des persönlichen Lebens im Tiefsten inkommensurabel. Denn dessen Aufnahmefähigkeit ist nicht nur nach Kraft und Lebensdauer begrenzt, sondern durch eine gewisse Einheit und relative Geschlossenheit seiner Form, und es trifft deshalb eine Auswahl mit determiniertem Spielraum unter den Inhalten, die sich ihm als Mittel seiner individuellen Entwicklung anbieten. Nun brauchte scheinbar für das Individuum diese Inkommensurabilität nicht praktisch zu werden, indem es beiseite liegen läßt, was seine Eigenentwicklung sich nicht assimilieren kann. Allein so einfach gelingt das nicht. Der ins Unabsehbare wachsende Vorrat des objektivierten Geistes stellt Ansprüche an das Subjekt, weckt Velleitäten [zögerndes Wollen - wp] in ihm, schlägt es mit Gefühlen von eigener Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, spinnt es in Gesamtverhältnisse, deren Ganzheit es sich nicht entziehen kann, ohne doch ihre Einzelinhalte bewältigen zu können. So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grund auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört. Man könnte dies mit der genauen Umkehrung des Wortes charakterisieren, das die ersten Franziskaner in ihrer seligen Armut bezeichnete, in ihrer absoluten Befreitheit von allen Dingen, die irgendwie noch den Weg der Seele durch sich hindurchleiten und zu einem indirekten machen wollten:  Nihil habentes, omnia possidentes [die, die nichts haben und doch alles besitzen - wp] - statt dessen sind die Menschen sehr reicher und überladener Kulturen  omnia habentes, nihil possidentes [die, die alles haben und doch nichts besitzen - wp].

Diese Erfahrungen mögen schon in vielerleit Formen ausgesprochen sein (1); worauf es hier ankommt, ist ihre tiefe Verwurzeltheit im Zentrum des Kulturbegriffs. Der ganze Reichtum, den dieser Begriff realisiert, beruth darin: daß objektive Gebilde, ohne ihre Objektivität zu verlieren, in den Vollendungsprozeß von Subjekten als dessen Weg oder Mittel einbezogen werden. Ob, vom Subjekt aus gesehen, die höchste Art seiner Vollendung so erreicht wird, soll dahingestellt bleiben; für die metaphysische Absicht aber, die das Prinzip des Subjekts und das des Objekts als solches in Eines zu bringen sucht, liegt hier eine der äußersten Garantien dagegen, sich nicht selbst als Jllusion erkennen zu müssen. Die metaphysische Frage findet damit eine historische Antwort. In den Kulturgebilden hat der Geist eine Objektivität erlangt, die ihn von allem Zufall subjektiver Reproduktion unabhängig und zugleich dem zentralen Zweck subjektiver Vollendung dienstbar macht. Während die metaphysischen Antworten auf jene Frage sie eigentlich abzuschneiden pflegen, indem sie den Subjekt-Objekt-Gegensatz irgendwie als nichtig zeigen, hält die Kultur gerade am vollen Gegenüber der Parteien fest, an der übersubjektiven Logik der geistgeformten Dinge, an der entlang das Subjekt sich über sich selbst zu sich erhebt. Die Grundfähigkeit des Geistes: sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewußtsein seiner selbst zu gewinnen - hat mit der Tatsache der Kultur gleichsam ihren weitesten Radius erreicht, hat das Objekt am energischsten gegen das Subjekt gespannt, um es wieder in dieses zurückzuführen. Aber eben an dieser eigenen Logik des Objektes, von der das Subjekt sich als ein in sich selbst und sich selbst gemäß vollkommeres zurückgewinnt, bricht dieses Ineinander der Parteien entzwei. Was diese Blätter schon früh hervorhoben: daß der Schaffende nicht an den Kulturwert, sondern nur an die Sachbedeutung des Werkes, die von dessen eigener Idee umschrieben ist, zu denken pflegt - dies gleitet mit den unmerklichen Übergängen einer rein sachlichen Entwicklungslogik in die Karikatur: in ein vom Leben abgeschnürtes Spezialistentum über, in den Selbstgenuß einer Technik, die den Weg zu den Subjekten nicht mehr zurückfindet. Eben diese Objektivität ermöglicht die Arbeitsteilung, die im einzelnen Produkt die Energien eines ganzen Komplexes von Persönlichkeiten sammelt, unbekümmert darum, ob ein Subjekt das darin investierte Quantum von Geist und Leben zu seiner eigenen Förderung wieder herausentwickeln kann oder ob nur ein äußerlich peripherisches Bedürfnis damit befriedigt wird. Hier liegt der tiefe Grund des RUSKINschen Ideales, alle Fabrikarbeit durch kunstmäßige Arbeit der Individuen zu ersetzen. Die Arbeitsteilung löst das Produkt als solches von jedem einzelnen der Kontribuenten los, es steht in einer selbständigen Objektivität da, die es zwar geeignet macht, sich einer Ordnung der Sachen einzufügen oder einem sachlich bestimmten Einzelzweck zu dienen; aber damit entgeht ihm jene innere Durchseeltheit, die nur der ganze Mensch dem ganzen Werk geben kann und die seine Einfügung in die seelische Zentralität anderer Subjekte trägt. Deshalb ist das Kunstwerk ein so unermeßlicher Kulturwert, weil es aller Arbeitsteilung unzugängig ist, d. h. weil hier (mindestens im jetzt wesentliche Sinne und von meta-ästhetischen Deutungen abgesehen) das Geschaffene den Schöpfer auf das Innigste bewahrt. Was bei RUSKIN als Kulturhaß erscheinen könnte, ist in Wirklichkeit Kulturleidenschaft: sie geht auf Rückgängigmachung der Arbeitsteilung, die den Kulturinhalt subjektlos macht, ihm eine entseelte Objektivität gibt, mit der er sich aus dem eigentlichen Kulturprozeß herausreißt. Und dann offenbarte sich die tragische Entwicklung, die die Kultur an die Objektivität von Inhalten bindet, die Inhalte aber gerade durch ihre Objektivität schließlich einer Eigenlogik überantwortet und der kulturellen Assimilation durch Subjekte entzieht - diese offenbarte sich endlich an der beliebigen Vermehrbarkeit der Inhalte des objektiven Geistes. Da die Kultur für ihre Inhalte keine konkrete Formeinheit besitzt, jeder Schaffende vielmehr sein Produkt neben das des andern wie in einen grenzenlosen Raum stellt, so erwächst jene Massenhaftigkeit von Dingen, deren jedes mit einem gewissen Recht Anspruch auf einen Kulturwerlt erhebt und auch einen Wunsch, es so zu verwerten, in uns anklingen läßt. Die Formlosigkeit des objektivierten Geistes als Ganzheit gestattet ihm ein Entwicklungstempo, hinter dem das des subjektiven Geistes in einem rapide wachsenden Abstand zurückbleiben muß. Aber der subjektive Geist weiß eben die Geschlossenheit seiner Form nicht völlig gegen die Berührungen, Versuchungen, Verbiegungen durch all jene "Dinge" zu bewahren; die Übermacht des Objekts über das Subjekt, im allgemeinen durch den Weltlauf realisiert, in der Kultur zu einem glücklichen Gleichgewicht aufgehoben, wird nun innerhalb ihrer durch die Grenzenlosigkeit des objektiven Geistes wieder spürbar. Was man als die Behangenheit und Überladung unseres Lebens mit tausend Überflüssigkeiten beklagt, von denen wir uns doch nicht befreien können, als das fortwährende "Angeregtsein" des Kulturmenschen, den all dies doch nicht zu eigenem Schöpfertum anregt, als das bloße Kennen oder Genießen von tausend Dingen, die unsere Entwicklung nicht in sich einbeziehen kann und die als Ballast in ihr liegen bleiben - alle diese oft formulierten Kulturleiden sind nichts anderes, als die Phänomene jener Emanzipation des objektivierten Geistes. Daß diese besteht, bedeutet eben, daß die Kulturinhalte schließlich einer von ihrem  Kulturzweck unabhängigen und von ihm immer weiter abführenden Logik folgen, ohne daß doch der Weg des Subjektes von all diesem, qualitativ und quantitativ unangemessen gewordenen, entlastet wäre. Vielmehr, da dieser Weg, als kultureller, durch das Selbständig- und Objektivwerden der seelischen Inhalte bedingt ist, so entsteht die tragische Situation, daß die Kultur eigentlich schon in ihrem ersten Daseinsmoment diejenige Form ihrer Inhalte in sich birgt, die ihr inneres Wesen: den Weg der Seele von sich als der unvollendeten zu sich selbst als der vollendeten - wie durch eine immanente Unvermeidlichkeit abzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen bestimmt ist.

Das große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft, und mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muß diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer gesteigerter Beschleunigung und immer weiterem Abstand vom Zweck der Kultur abführt.
LITERATUR: Georg Simmel, Philosophische Kultur, Gesammelte Essais, Leipzig 1911
    Anmerkungen
    1) Ich habe sie in meiner "Philosophie des Geldes" für eine größere Anzahl historisch konkreter Gebiete ausgeführt.