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ALOIS RIEHL
Realistische Grundzüge
[Eine philosophische Abhandlung der
allgemeinen und notwendigen Erfahrungsbegriffe]

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"Alle bewußte Tätigkeit ist aus elementaren Erkenntnisakten zusammengesetzt, von denen jeder einzelne für sich unbewußt bleibt. Das Bewußtsein ist keine plötzliche, übernatürliche Erscheinung in der Natur, kein momentanes Zu-sich-kommen oder Auffahren aus einem uranfänglichen Monadenschlaf. Vielmehr greifen die Wurzeln des bewußten Lebens tief in den Boden des Unbewußten hinab."

"Auf dem Vermögen des Vorausschauens in die Zukunft und der Voraussetzung des noch nicht Daseienden gemäß dem früher Erlebten und Erkannten, beruth alle Macht des Menschen über die Natur."



III. Die Bewegung und das
wirkliche Geschehen.

§ 1. Die Naturwissenschaft bleibt vor der Bewegung, als der letzten, elementaren Tatsache stehen.

Da viele Wirkungen als Bewegung erscheinen, so wird diese Form des wirklichen Geschehens überall vorausgesetzt, und auch den Vorgängen, welche unserer sinnlichen Vorstellung wegen Beschränktheit des Empfindungsmechanismus unerreichbar sind, so wie der Erkenntnistätigkeit selbst zugrunde gelegt. Es gilt als die Aufgabe und das Ziel der Naturwissenschaft: Form, Verknüpfung und Maß der Bewegungen entweder direkt aufzuzeigen, oder doch als Ansatz zur Erklärung und Vorausberechnung der natürlichen Erfolge zu verwenden.

Dieser Annahme der Allgemeinheit der Bewegung sind auch rein logische Erwägungen günstig, und es läßt sich nachweisen, daß das wirklich Geschehene in der Bewegung jedenfalls enthalten ist, ohne bloß aus ihr zu bestehen.

Daß aber die Bewegung nicht das wahrhaft Letzte und ansich Elementare der Natur sein kann, geht schon aus der logischen Unmöglichkeit hervor, sie ohne die weitere Voraussetzung eines Beweglichen und Bewegenden zu setzen. Wenn alle Ursachen und alle Wirkungen rein nur aus Bewegung bestehen sollen, so müßten alle natürlichen Veranstaltungen bloß äußere Beziehungen sein, und zu äußeren nur formellen Erfolgen führen. Der bloße Umsatz und die Wechselwirkung von Bewegungen allein würde die ganze Natur gleichsam in ein Spiel auflösen, das zwar in seiner Kompliziertheit gefällig wäre, aber kaum ernsthaft genannt zu werden verdient. Rhythmus oder Disharmonie, dies wäre das ganze Glück oder Übel der Welt! Die Natur gliche einer immerwährenden, verwirklichten Mathematik, die aber nicht allgemeine Gleichungen, sondern Dinge selbst zum Ansatz bringt.

§ 2. Durch die Zurückführung aller objektiven Vorgänge auf Bewegung, werden sie zwar versinnlicht, aber keineswegs in ihrem Wesen erkannt.

Das Unsichtbare wird dadurch als sichtbar vorgestellt, und was sich den Sinnen entzieht, in Gedanken ihrem Mechanismus unterworfen. Werden die objektiven Impulse des Sehens als Vibrationen gedacht und will man diese Ursachen des Sehens nicht wieder als Gesichtsvorstellungen ansehen, so müssen sie in Gedanken unter Bedingungen des Tastens gebracht werden; erkennt man umgekehrt die äußeren Reize dieser Sinnestätigkeit als Stöße und Schwingungen an, so werden dieselben unter Formen des Sehens vorgestellt.

Bewegung ist die allgemeine Relation der wirklichen Vorgänge zu unserer Sinnlichkeit, und dies ist der Grund, warum alle äußeren Wirkungen, die beobachteten wie auch die vorausgesetzten, als Bewegung erscheinen. So weit Raum und Zeit Erzeugnisse der Erkenntnistätigkeit sind, ist auch die Bewegung eine subjektive Anschauungsform, und beruth wie diese auf subjektiven Voraussetzungen. HERBART sieht die Bewegung als bloß subjektive Vorstellung an, welche außerdem mit unauflöslichen Widersprüchen behaftet ist, die in ihrer Kontinuität liegen sollen.

Er bestimmt die Bewegung bloß negativ als:
    "das Mißlingen der versuchten räumlichen Zusammenfassung voneinander unabhängiger Wesen". "Geschwindigkeit aber und die ihr innewohnende Richtung sind die Bestimmungen, wie und inwiefern die Zusammenfassung mißlingt." (23)
Nachdem er mit Recht die gänzliche Relativität der Bewegung betont hat (24), fährt HERBART fort:
    "Sobald die gegenseitig bewegten Objekte samt dem Zuschauer in einem Prinzip verknüpft sind, ist alle Bewegung absolut ungereimt, und kann nicht einmal als Erscheinung gerechtfertigt werden." (25)
Aber trotz dieser Unmöglichkeit, sie zu rechtfertigen, ist die Bewegung als Erscheinung gegeben! Weil sie in einer Relation der Objekte gegeneinander und in einem Verhältnis dieser Relation zum Zuschauer besteht, so ist ihre Vereinigung in ein Prinzip schlechthin undenkbar, und anstatt der Bewegung selbst, ist vielmehr dieser Versuch absolut ungereimt. Was den Widerspruch des Kontinuums betrifft, so entsteht dieser allererst durch eine verkehrte Auffassung des Begriffs, als eines unaufhörlichen Prozesses der Teilung, als einer nie endenden Dekomposition dessen, was doch als endliche Größe gegeben ist. Nicht das Kontinuum ist widersprechend, sondern es selber widerspricht jedem unbefugten Hineindenken eines Verfließens ohne Ende in seinen Begriff. Das Kontinuum ist die Dauer und daraus versteht sich, daß während des Vorgangs, der als bestimmte Bewegung angeschaut wird, das Bewegte ein beständiges Verhältnis im intelligiblen Raum hat, welches daher vom Zuschauer nur als kontinuierliche Veränderung im empirischen vorgestellt werden kann. Vermöge der Einrichtung unseres Empfindungsmechanismus gehen zwar die objektiven Vorgänge aus ihrer Einwirkung auf denselben, aus der sie allein erkannt werden, nicht ohne Umgestaltung hervor, daher die Bewegung nicht in der Form ansich sein sein kann; wie sie vorgestellt wird. Aber ihre objektive Bedeutung braucht deshalb nicht gänzlich negiert zu werden, sie äußert sich vielmehr gerade in jener Bestimmtheit: "wie und inwiefern die subjektive Zusammenfassung mißlingt." Diese Bestimmtheit ist gegeben, wie die bestimmte räumliche Gestalt, oder der bestimmte zeitliche Eintritt der Begebenheiten und kann so wenig wie diese für bloße Vorstellung gehalten werden.

TRENDELENBURG lehrt in seinen Logischen Untersuchungen: Die Bewegung, weit entfernt ein Produkt aus Raum und Zeit zu sein, bringt vielmehr diese erst hervor.

Dies ist vollkommen gültig von der Bewegung als Anschauung, d. h. von der subjektiven Auffassung des zugrunde liegenden realen Vorgangs, aber auch nur von demselben. In Bezug auf den Raum und die Zeit der Vorstellung darf behauptet werden, daß sich jede Bewegung ihren Raum und ihre Zeit erst erzeugt. Ansich setzt sie aber die intelligible Ordnung der Dinge voraus.

§ 3. Das, was an der Bewegung ein Produkt unserer Auffassung ist, also ihre Sichtbarkeit, Tastbarkeit usw., muß als hinzukommend zum objektiven Verhältnis, das ihr zugrunde liegt, betrachtet werden. Die reine Relation der Objekte zueinander wird durch ihre Einwirkung auf die Organisation des erkennenden Subjekts in eine Relation zweiter Ordnung verwandelt. Dabei entspricht aber die subjektive Auffassung dem objektiven Verhältnis in geregelter Weise; denn die Form, welche der Gegenstand in der Vorstellung annimmt, ist mitsamt dem psychischen Mechanismus in der Ordnung und dem Wesen der Dinge ansich begründet.

Das kausale Verhältnis, welches im Hinblick auf den eigentlichen Moment des Geschehens immer ein wechselseitige ist, kann bei vielen Vorgängen nicht genau bestimmt werden.

Wegen der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung im Moment des Geschehens fällt es schwer zu entscheiden: worin die eine oder die andere zu suchen ist. Es scheint sogar zulässig, je nach dem Gesichtspunkt der Auffassung jedes Glied des kausalen Verhältnisses zugleich als Ursache und Wirkung zu betrachten. Wenn nun die Naturwissenschaft berechtigt ist, überall Bewegung anzunehmen, weil viele der Beobachtung zugängliche Erscheinungen aus Bewegung bestehen, wenn sie überdies diese als Ursache aller natürlichen Erfolge ausgeben darf: so kann es auch der Metaphysik nicht verwehrt sein, die Vorgänge in der Natur aus ihrem Gesichtspunkt aufzufassen und dem Schluß der Naturwissenschaft einen anderen von demselben logischen Gewicht entgegenzuhalten. Einige Bewegungen sind mit Empfindungen, Gefühlen und Gedanken, kurz mit inneren Zuständen verbunden, auch lassen sich umgekehrt rein psychische Wirkungen ini Bewegung umsetzen. Daher entsteht die Frage: ob nicht auch jene Bewegungen, von denen wir dies nicht erfahren, mit inneren, geistigen Erscheinungen verknüpft sind? und ob nicht diese inneren Zustände, anstatt aus den Bewegungen zu erwachsen, wie die Naturwissenschaft glaubt, vielmehr die Ursachen derselben sind. Soweit die Bewegungen Vorstellungen objektiver Vorgänge sind, ist es gewiß; daß sie mit inneren Wirkungen verknüpft sind. Denn die Einwirkung irgendeines äußeren Vorganges gelangt zur Vorstellung nur gemäß der Einrichtung und dem Verfahren unserer geistigen Organisation; als mittels eigener, innerer Zustände. Es bleibt also nur noch die Frage: ob die natürlichen Vorgänge, abgesehen von ihrer Auffassung durch erkennende Wesen, rein äußerliche und übertragene sind, oder ob nicht vielmehr jede Bewegung die Erscheinung des eigenen Wirkens oder Mitwirkens der Dinge-ansich und demnach der Ausdruck einer eigentlichen Wechselwirkung der realen Wesen ist?

Die Entscheidung dieser Frage kann kaum zweifelhaft sein. Einer zuende gedachten Atomistik jedenfalls ist keine andere Antwort möglich, als die Bejahung der eigenen, inneren Wirksamkeit der absoluten Elemente. Die Atome, als einfache, für sich unräumliche Wesen - als Wirkungspunkte der realen Beschaffenheiten - haben keine Flächen oder Seiten, die sie der Berührung darbieten könnten; - alle wirkenden Beziehungen derselben müssen daher in ihren eigenen Tätigkeiten bestehen, wobei nur die Art, wie sich diese Wirkungen gegenseitig zu entsprechen vermögen, vorläufig dunkel bleibt. Hier tritt die fast unlösbare dialektische Schwierigkeit entgegen, die Einwirkung einfacher Wesen aufeinander zu denken. Durch die Berufung auf eine unmittelbare Wechselwirkung ist diese Schwierigkeit noch nicht gehoben. Denn es handelt sich darum, die Art dieser unmittelbaren, gegenseitigen Wirkung zweier Wesen zu bestimmen, deren Aneinander keine räumliche Berührung ist, sondern im Zugleichsein ihrer selbständigen Beschaffenheiten besteht. Es fragt sich, wie dieses Zugleichsein wirken kann oder wie das Seiende durch seine Koexistenz mit anderen Realen ein Tätiges wird? Es sollen die übergreifenden Kräfte der absoluten Wesen ihrer Möglichkeit nach erklärt werden. Wäre das einfache Wesen im Mikrokosmos seiner Existenz starr abgeschlossen, so könte überhaupt keine Wirkung zur Erscheinung kommen. Dasselbe müßte der Fall sein, wenn jedes Wesen von den übrigen durch einen leeren Raum absolut geschieden wäre; weil den vollkommmmmen leeren Raum keine Kräftebeziehungen überspannen können. Aber es existiert kein Raum neben oder vor den Dingen. Damit ist die Notwendigkeit gegeben, daß jedes absolute Wesen seine Beschaffenheit im Mitsein mit den andern behauptet, um nicht mit ihnen zusammenzufallen.

Die Koexistenz ist das dynamische Verhältnis, durch welches die realen Elemente ihr Sein erhalten. Zufolge derselben ist alles Seiende wirkend. Es versteht sich übrigens, daß Sein und Mitsein der vielen absoluten Wesen nur in Gedanken getrennt werden können. Jedes Seiende wirkt durch seine beharrliche Existenz und vermöge seiner selbständigen Beschaffenheit auf das Mitseiende. Daraus folgt, daß jedes Wesen nicht wirkend für sich, sondern einwirkend auf das andere ist, oder daß jede Wirkung nach Außen ergeht. Auch die Art der Wechselwirkung läßt sich im Allgemeinen erkennen. Die Beschaffenheit des einen Elements wirkt im andern und umgekehrt; a ist wirkend, nicht in sich, sondern in b; b wirkend in a. Da aber diese Wirkung keine Berührung ist, so kann sie nur in der Erregung innerer Zustände des einen Wesens durch die Beschaffenheit des andern sein. Eine solche unmittelbare geistige Einwirkung ist nach Analogie einer Empfindung zu denken, die aber noch ohne alle Rückwirkung auf das empfindende Wesen selbst bleibt. A empfindet also nicht sich, sondern b und b empfindet die Beschaffenheit von a. Jedes Wesen reflektiert demnach in seinem Wirken nicht sich selbst, sondern die einwirkenden Beschaffenheiten anderer realer Elemente und ist dadurch ein Mittelpunkt ihrer geistigen Beziehungen. Wenn auch folglich die Elementartätigkeiten der absoluten Wesen nach Analogie psychischer Vorgänge aufzufassen sind; so soll doch keineswegs damit einer anthropomorphistischen Naturerklärung das Wort geredet werden. Denn zwischen den elementaren Beziehungen der einfachen Wesen, und uns, die wir dieselben vorstellen, liegt die Entwicklung des Physischen und die Ausbildung des Psychischen. Streng genommen darf daher nur behauptet werden, daß jene Wirkungen noch außerhalb des Gegensatzes zwischen Physischem und Psychischem stehen. Es hieße aber eine vorsichtige Auffassung weit überschreiten, wollte man den Elementen eine Art unbewußten Bewußtseins zuschreiben, was schon ein Widerspruch in den Worten wäre; oder ihnen gar einen Willen verleihen, womit die Vermenschlichung der Natur in plumper Weise vollzogen sein würde.

Ich nehme daher nur an: daß das Wirken der Elemente in der Natur von allem, was unser Bewußtsein zu beobachten oder zu erschließen vermag, am nächsten einer Empfindung ohne Rückwirkung kommt; in dieser ist also der Ursprung der unmittelbaren, eigenen, nicht übertragenen Wirkung der Elemente zu suchen.

Diese Ansicht ist am Meisten der des LEIBNIZ verwandt, welcher zur Erklärung des wirklichen Geschehens dunkle Perzeptionen angenommen hat; sie weicht jedoch in zwei Punkten von ihr ab. Denn zunächst ist die Perzeption der Beschaffenheit des eigenen Wesens durch das andere nicht als unbewußte Vorstellung, sondern analog der Empfindung zu denken. Die Dunkelheit der Perzeption erklärt sich aber daraus, daß diese Empfindung ohne Rückwirkung bleibt; denn erst, indem eine Empfindung auf das empfindende Wesen zurückwirkt, wird sie zu einem Moment des Bewußtseins. Ferner sind die absoluten Wesen in einer wahren, nicht bloß scheinbaren Wechselwirkung begriffen; ihre inneren Vorgänge stehen in gegenseitiger Beziehung, nicht durch eine prästabilierte Harmonie oder ursprüngliche Zusammenstimmung, sondern als die Einwirkungen ihrer Beschaffenheiten.

§ 4. Diese gegenseitigen Einwirkungen sind die Antriebe der Atombewegungen. Aus einem System von Atombewegungen bestehen die Molekularbewegungen, und aus desen setzen sich die Massenbewegungen zusammen. So besteht auf allen Stufen des Wirkens ein durchgreifender Zusammenhang. Die Massenbewegung läßt sich auf Atombewegungen zurückführen, und diese selbst aus der Elementarbeziehung der Wesen kraft ihrer Existenz und Beschaffenheit erklären. Wäre die Beschaffenheit der Realen durchgehends identisch oder gleichartig, so könnte nichts, was einer Abstoßung auch nur ähnlich sieht, zur Vorstellung gelangen. Wäre sie andererseits durchaus entgegengesetzt, so müßten nur abstoßende Bewegungen in Erscheinung treten. Zwischen den Wesen waltet aber ein Gegensatz der Beschaffenheit neben der Übereinstimmung, und ihre Mehrheit ist nicht die bloße Vervielfachung des Identischen, sondern eine Vielheit des Verschiedenen. Daher ist auch die Bedeutung der Bewegung und ihr Verhältnis zum wirklichen Geschehen von doppelter Art. Tritt eine Wechselwirkung zwischen entgegengesetzten Wesen ein, so ist die Bewegung eine Folge ihres Gegensatzes; die Wesen ändern aufgrund ihrer Wechselwirkung die Form ihrer Koexistenz und diese Änderung erscheint in der Vorstellung als Abstoßung. Geschieht aber die innere Wechselwirkung zwischen gleichartigen, übereinstimmenden Wesen, so ist die Bewegung ein Mittel, diese Übereinstimmung bis zur Ergänzung zu führen, - die Bewegung erscheint als Anziehung. Die beiden Grundformen der Bewegung gehen daher nicht aus besonderen Kräften der Repulsion [Abstoßung - wp] oder Attraktion hervor, die ansich vorhanden wären, sie beruhen auf dem Gegensatz oder der Übereinstimmung in der Beschaffenheit der absoluten Wesen, und die Ortsveränderung der Dinge ist entweder Folge oder Zweck, letzteres, um ein neues kausales Verhältnis zu erreichen. Wie aber kann die Bewegung Raum finden, da beim vollkommenen Aneinander der Wesen kein Raum übrig zu sein scheint?

Sehen wir von der bloßen Vorstellungsseite der Bewegung ab, so besteht der objektive Vorgang derselben in der Änderung oder Herstellung des kausalen Zusammenhanges unter den realen Wesen. Bedenken wir ferner, daß diese nur im Wirken aufeinander gleichsam einen Ort im intelligiblen Raum haben, so tritt ein Wesen für das andere ganz eigentlich erst in die Welt, sobald es auf dasselbe einwirkt; ist aber vor seiner Einwirkung für dieses nicht vorhanden, sondern existiert nur für sich. Die Wesen dringen demnach durch den Raum all derjenigen, welche zu ihnen in keinem wirkenden Verhältnis stehen. Es gibt zwar keinen absolut leeren Raum, der für die Bewegung bereit stünde; aber jeder Raum ist relativ leer, sobald reale Elemente außerhalb der kausalen Beziehung stehen. Im intelligiblen Raum ist eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen den Qualitäten von Dingen möglich, die in der Anschauung weit auseinanderliegend erscheinen. Die Fortpflanzung der Bewegung ist überhaupt kein bloßes Mitbewegtwerden der Atome, sondern geschieht durch die Erzeugung innerer Erregungszustände in denselben. Diese Vermittlung durch reale Vorgänge ist der Erklärungsgrund, warum die Fortpflanzung der Bewegung sich oft in eine Veränderung ihrer Form verwandelt. Die Bewegung der Atome, welche die Naturwissenschaft annimmt, ist eine Vorstellung, welche unserer Gesichtswahrnehmung nachgebildet ist, also unter der Voraussetzung steht, daß die Atome sichtbar sind, was sie aber nicht sein können. Ansich ist sie der Ausdruck beständiger innerer Vorgänge der realen Wesen, vermöge ihrer durchgängigen Beziehung aufeinander. Die Bewegung ist zwar ein Letztes für unsere Sinnesvorstellung, oder genauer, für unsere Gesichts- und Tastwahrnehmung, aber kein Letztes für das Denken. Die Tatsache vielmehr, daß viele Bewegungen mit inneren Wirkungen verknüpft sind, und die Erwägung, daß die Form aller Bewegung zunächst von der Einrichtung unseres Empfindungsmechanismus abhängt, nötigt uns, ihren Ursprung und ihre objektive Bedeutung in inneren Vorgängen der absoluten Elemente zu suchen.

§ 5. In der Natur erscheinen die elementaren Tätigkeiten vielfach verschlungen und zu Systemen von wechselseitigen Wirkungen verbunden. Wer vermöchte es, diese mannigfaltigen Erzeugnisse des Zusammenspiels der einfachen Kräfte zu übersehen? Doch gibt es gewisse Überblicke und begriffliche Zusammenfassungen, wodurch die Heerscharen des Wirklichen im Denken geordnet werden. So ist der Unterschied der unorganisierten und organischen Materie auffallend genug, um einen Einteilungsgrund für die Übersicht der Dinge zu bilden. Freilich können die Zwischenglieder, welche beide Erscheinungsformen der Materie vermitteln, nicht fehlen; und die Chemie, welche die Gruppierung der elementaren Wesen zu Körpern, d. h. Kraftsystemen erforscht, wird jene, wie zu erwarten steht, einst aufzuzeigen vermögen. Schon der Kristallisationsprozeß scheint übrigens eine solche Vermittlung des Unorganischen zum Organischen anzudeuten. Vorauszusetzen ist: daß die höheren Bildungen immer auch die komplizierteren sind, und daß aus der Komplexion allein die Mannigfaltigkeit ihres Wirkens hervorgeht. Die Gestalt der Kristalle ist die Folge der Richtungsverschiedenheit gleichzeitiger Atombewegungen, und läßt sich aus diesen Richtungen oder den Achsen konstruieren.

Hier macht sich nun eine gewisse Herrschaft oder das Übergewicht der einen Richtung über die andere geltend, was sich von der größeren Anzahl ihrer Elementarteile und der intensiveren Übereinstimmung unter denselben herschreibt. Übereinstimmende Wirkungen müssen nämlich in einem bestimmten, obgleich mathematisch noch kaum nachgewiesenen Verhältnis zur Zahl der Glieder, durch welche sie vermittelt werden, und zur Größe ihrer Übereinstimmung anwachsen. Gäbe es nun im Kristall einen Wirkungsmittelpunkt, der die Strahlungsrichtungen vereint, und dabei den Zustand fernerer Beweglichkeit nach diesen Richtungen festhält; so würde der Kristall, dieses unorganische Individuum voll innerem Zwiespalt, zum organischen mit innerer Einheit, d. h. zur Zelle werden. Der Hauptunterschied der organischen von den unorganischen Vorgängen scheint darin zu liegen, daß die Einwirkungen auf die Zelle nicht sofort und unverändert entäußert werden, sondern vermöge der eigentümlichen, zwischen einem flüssigen und starren Aggregationszustand schwebenden und beide verbindenden Anordnung der Teile sich einige Zeit behaupten, wodurch sie zu Rückwirkungen auf die Zelle selbst befähigt werden. Der einfache innere Vorgang, welcher in den elementaren Teilen der Materie als ihr bewegendes Prinzip wirkt, wird im Organischen verdoppelt, indem jeder organische Vorgang aus der Einwirkung und einer reflexiven Wirkung zugleich besteht. Daher kann im Organischen die mechanische Gegenwirkung der Einwirkung nicht mehr einfach entsprechen. Das Gesetz des Bewegungsumtauschesf wird verwickelter, ohne seine Gültigkeit zu verlieren. Zugleich ist mit jener reflexiven Fortwirkung für die Zelle eine neue Bewegungsquelle, der Reiz, gegeben, deren Leistungsgröße zwar im Aufbau jener vorgezeichnet, deren Erscheinungsform jedoch nicht mehr einfach und offenkundig ist. Der Reiz, als Bewegungsquelle ist die Grundform des Lebens. Wird der Erregungszustand des Organismus infolge seiner Steigerung befähigt, zum Ort seiner äußeren Veranlassung zurückbezogen zu werden, so vollendet sich der Empfindungsvorgang, dessen Spur bis in das elementare Geschehen hinabreicht und der Ansatz des Bewußtseins ist gegeben.


IV. Das Unbewußte und der Zweck

§ 1. Aus den Elementen wird das Ganze erkannt. Unser Begriff des Ganzen ist von einer Seite selber nur die subjektive Zusammenfassung der absoluten Wesen, von denen jedes für sich ist. Die Wirkungen der Systeme von Kräftebeziehungen können nur aus den Elementartätigkeiten begriffen werden. Selbst die äußere Massenbewegung ist eigentlich die Zusammenwirkung von Molekularbewegungen, so daß die Einheit ihrer Erscheinung aus der Vielheit des Erscheinenden erwächst. Die Verbindung einfacher Wirkungen ist ein Grundgesetz der Natur. Ganz ebenso, wie die Massenbewegung aus einfachen Komponenten besteht, ist auch alle bewußte Tätigkeit aus elementaren Erkenntnisakten zusammengesetzt, von denen jeder einzelne für sich unbewußt bleibt.

Das Bewußtsein ist keine plötzliche, übernatürliche Erscheinung in der Natur, kein momentanes Zu-sich-kommen oder Auffahren aus einem uranfänglichen Monadenschlaf. Vielmehr greifen die Wurzeln des bewußten Lebens tief in den Boden des Unbewußten hinab.

Das Unbewußte ist nicht der konträre Gegensatz des Bewußten, sondern nur das noch nicht Bewußte. Doch soll dies nicht so verstanden werden, als könnte die unterste Stufe der Wesenverbindungen in der Vollendung der Zeiten bis auf die Höhe des Bewußtseins gelangen. Das Seiende hat überhaupt keine Stufen, und ist von unabänderlicher Beschaffenheit. Auf der Niederung der Erscheinungen fehlllt aber die Form des Zusammenseins, von welcher die Steigerung des inneren Geschehens zum Bewußtseins abhängt. Mit obigem Ausspruch soll daher verhütet werden, daß ein Gegensatz der Erscheinung in einen substantiellen verwandelt wird.

Auch den Elementarwesen der unorganischen Materie können wir nicht bloß übertragene, rein äußerliche Tätigkeiten zuschreiben. Wir vermögen ihre wirbelnden, schwingenden, schnellenden Bewegungen oder wie immer ihre nach Analogie unserer Gesichtswahrnehmung ausgedachten Äußerungen geformt sein mögen, nicht als grundlose vorzustellen. Uns gelten vielmehr die Atome nicht als bloß getrieben, sondern als treibend, nicht bloß Bewegung empfangend, sondern erzeugend.

Wir versuchten diese Erzeugung eigener Tätigkeit, den Ursprung dieser treibenden Kraft, aus der gegenseitigen Einwirkung ihrer Beschaffenheiten, nach Analogie einer Empfindung, aber ohne Rückwirkungf auf das empfindende Wesen, zu erklären. Der bloße Mechanismus, wie er als Massenbewegung erscheint, kann nicht bis zu den Atomen selbst hinabreichen. Oder soll der Streit der antiken Atomistik mit der antiken Geistesphilosophie über den Ursprung der Atombewegung noch heute erneuert werden? Sind die Atome, was eine konsequente, mathematisch abgeschlossene Theorie derselben zuzugeben, keinen Anstand nimmt, ansich unräumliche, einfache Wesen; so kann ihre Raumerfüllung nur eine dynamische sein, hervorgebracht durch die eigene Wirksamkeit ihrer Beschaffenheit. Dann reicht ber der Anfang des Geistigen tiefer als man zunächst wohl denken sollte, ja, so tief wie möglich - bis zu den Elementen. Diese sind noch ausgenommen vom Unterschied zwischen Physischem und Psychischem; und ein allgemeiner Zug nach Bewußtwerden ist überall in der Wirksamkeit der Kräfte erkennbar. Die ganze Natur trägt die Spuren des Geistigen auf dem Antlitz.

Wie ich die Allgemeinheit einer geistigen Wirkungsart der Dinge behaupten, um die einzelnen Systeme psychischer Wirkungen begreifen zu können: so soll im Folgenden die Allgemeinheit der Zweckmäßigkeit in der Natur der Schlüssel zum Verständnis der einzelnen zweckmäßigen Wirkungen sein.

§ 2. Die Zweckmäßigkeit in der Natur ist nicht immer bloß die Quelle reiner Gemütsfreuden, sondern fast ebenso häufig eine Schranke der Erkenntnis. Von der Bewunderung der Natur wird nur zu oft ihr Verständnis verkürzt. Wie auf einen verborgenen Gott beruft man sich auf den Zweck; um die Erklärung der erstaunlichen Anpassungen des äußeren und inneren Lebens nicht zu geben, sondern abzubrechen. Das System der Gedanken wirft sein Spiegelbild auch auf die gedankenlose Wirksamkeit der unteranimalischen Natur. Zwar hat man aufgehört, die irdische Welt nur als Vorratskammer und Wohnhaus des Menschen zu betrachten; denn zuviele Einrichtungen widerstreiten den menschlichen Wünschen. Der Zweck, als Absicht, verschwindet allmählich als Erklärungsprinzip der Akkomodation [Anpassung - wp] der Naturerscheinungen; dagegen wird ein immanenter Zweck als Prinzip der Teleologie angenommen, um wenigstens ein Wort für die wunderbaren Tatsachen zu haben.

Von anderer Seite wird jedoch eine Wirkung aus Endursachen, diese zeitliche "actio in distans" [Fernwirkung - wp], schlechthin verworfen, weniger zwar aus Einsicht in die dialektischen Schwierigkeiten des Begriffs, als aus Vorliebe für einen strengen Mechanismus in der Natur. Wäre nur nicht dabei, wie es auch sonst beim Aufräumen mit vererbten Vorstellungen zu geschehen pflegt, das Wahre mit dem Falschen in Gefahr verworfen zu werden! Die eben berührten Schwierigkeiten des Zwecks, als Ursache, sind fühlbar genug. Wie kann die Zukunft auf die Gegenwart, wie das noch nicht Vorhandene und auch nicht Vorausgesehene, auf das eben jetzt Geschende wirken? Wie kann das Ganze die Teile bestimmen, da das Ganze erst aus den Teilen entsteht? Wie können Triebe und Instinkte in die Zukunft vorgreifen? Kann das wirken, was nicht ist, oder ist nicht vielmehr nur das Seiende allein wirkend? Was bringt das nebeneinander Seiende, das zugleich Geschehende in diese kunstvolle Harmonie, als wären die Erscheinungen auf einander berechnet? Ja, mehr als berechnet! - denn unvergleichlich an Vollkommenheit sind die Werke der Natur mit den Erzeugnissen der Gedankenkunst, und sie stimmen genauer zusammen, als der Scharfsinn der Berechnung sie zu stimmen vermöchte. So bricht das erstaunte Gemüt aus, wenn es sich in die Fülle der Erscheinungen versenkt. Das Staunen aber ist ein Affekt, und als solcher wenig geeignet, den Verstand zu erhellen. Freilich sind die Naturprodukte mit den Gebilden durch Begriffe und Berechnung nicht zu vergleichen, aber nicht bloß im Hinblick auf Kunst und Vollkommenheit. Es ist ein redliches Unternehmen, das mehr als jede Begeisterung des Gemüts die Naturerkenntnis fördert, der Teleologie eine Dysteleologie entgegenzustellen, und neben den vielen Zweckmäßigkeiten auch auf Unzweckmäßigkeiten aufmerksam zu machen. Neben den ausgebildeten Organen, die ihren Zweck erfüllen, dürfen die verkümmerten nicht übersehen werden, die, obgleich dem einzelnen Organismus ganz nutzlos, dennoch da sind (vielleicht als die Rudimente früherer Lebensformen). Die Anpassungen stehen überall unter Voraussetzungen und Naturbedingungen, die selber keineswegs im Sinne einer begeisterten Teleologie zweckmäßig erscheinen.

Wer das Werk der Natur von Heute bewundert, darf die unübersehbare Vergangenheit nicht vergessen, deren Resultate in ihm fortwirken, - und indem er in Erstaunen über den Bau des Auges und das schöne Verhältnis zwischen Auge und Hand ausbricht; möge er vom Gewordenen auf das Werden zurückblicken! Wir sollen unsere Begriffe nach dem wirklichen Verfahren der Natur richten, aus deren Veranstaltungen zwar das Zweckmäßige hervorgeht, aber in einer Weise, die wir nach menschlicher Auffassung das blindeste Ungefähr nennen müßten. Um eine passende Form zu gewinnen, werden Millionen Individuen gleichsam versuchsweise erzeugt und zerbrochen. Die maßlose Vergeudung des individuellen Lebens zur Vervollkommnung der Gattung, läßt die Natur nach unseren Begriffen grausam erscheinen. Läge der Natur die Heranbildung vollendeter Formen und das Wohl der Gattung wirklich im Sinn, so würde sie ihre Zwecke nur mühsam und unter unzähligen, mißlingenden Versuchen erreichen. Was aber liegt näher als der Gedanke: daß der Zweck überhaupt keine Naturabsicht ist, und daß das "Überleben des Angepaßtesten", das der Gattung zugute kommt, eine notwendige Folge, aber keine Endursache ist?

§ 3. Die Regelmäßigkeit und Anpassung in der Natur kann nicht nach Analogie einer menschlichen Absicht erklärt werden. Die Ähnlichkeit der wirkenden Ursachen mit vorgreifenden Gedanken ist eine oberflächliche, bloß subjektivistische Annahme, gegen welche sich vielmehr die totale Ungleichheit beider Wirkungsarten behaupten läßt. Diese Ähnlichkeit verschwindet übrigens, je näher die natürlichen Wirkungen betrachtet werden. Ja selbst schon die allgemeine Form der Kausalität schließt alle Endursachen aus; sobald darunter verstanden werden soll, daß das Künftige auf das Gegenwärtige irgendwie einwirken, d. h. wirken könnte, bevor es ist. Ein Rückschlag des noch nicht Vorhandenen auf das Bestehende ist ein Ungedanke. Jede Ursache wirkt, indem sie existiert, und existiert, indem sie wirkt. Ursache und Wirkung können weder im Begriff, noch in der Sache getrennt werden; sie sind gleichzeitig, und ihre Unterscheidung ist ein bloßes Verhältnis der Auffassung. In der Gegenwart wirken alle Ursachen; denn auch das Fortwirken der vergangenenk ist ihr noch gegenwärtiges Wirken. In der Natur des Menschen und der Dinge gibt es nur wirkende Ursachen; die Endursachen sind ein abstraktes Verhältnis, durch welches die Gegenwart, als herbeigeführt durch die Vergangenheit und die Zukunft, gleichsam beabsichtigt durch die Gegenwart, aufgefaßt wird. Der wahre Zeitbegriff betrachtet die Dauer als das Reale der Zeit, und alle zeitlichen Verhältnisse als Änderungen der kausalen Beziehungen der Dinge, die sich von der Dauer abheben; und daher auch an ihr Teil haben. Die Zukunft als Zeitform ist eine bloße Abstraktion, wie es auch die Vergangenheit ist, sobald von den Fortwirkungen vergangener Kausalverhältnisse der Dinge abgesehen wird. Wie könnte aber eine leere Gedankenform wirkend in die Veränderungen eingreifen? Nur einer extrem idealistischen Vorstellungsart scheint es begreiflich, wie die Zukunft, als das Reich der Zwecke die Gegenwart regiert. Denn ihr gilt die Zeit als allgemeiner Schein, der das Wesen der Vorgänge unserem Blick entzieht, - sie wähnt, die Zukunft sei ansich schon da, und die Vergangenheit ansich noch da.

Die Unmöglichkeit der Endursachen ergibt sich überdies aus dem Inhalt ihres Begriffs, welcher der menschlichen Wirkungsart durch Gedanken nachgebildet ist, und die allgemeine Vorstellung eines bewußten Strebens enthält. Wie wirkt aber der Gedanke? Seinen einzigen Inhalt empfängt er aus der Erfahrung, also aus dem schon Geschehenen und Erlebten, er ist das geistige Resultat, die verfeinertste Fortwirkung der Vergangenheit. Wo immer also der Gedanke ein Streben hervorruft und dieses eine Wirkung erzeugt; das Fortwirken der Vergangenheit, das Einwirken der Gegenwart sind auch hier die wahren Ursachen des Erfolgs.

Wird auch der Erfolg hierbei vorausgesehen und berechnet, die ganze Vorhersung und Berechnung selbst richtet sich doch nur nach der erfahrenen Wirklichkeit, und ist folglich nichts anderes als eine Fortwirkung derselben. Die Voraussicht ist in Wahrheit vielmehr eine Rücksicht auf die Erfahrung, und alle Berechnung geschieht nach vorhergegangenen Wirkungen. Der Begriff der Endursachen erfährt demnach eine Umgestaltung selbst in jenem Bereich, worüber seine Herrschaft unbestreitbar ist. In die Zukunft werden in Gedanken unsere Erfolge hinausverlegt und diese Projektionen erwecken das Streben nach ihrer Verwirklichung, obgleich sie selbst nichts anderes sind, als Schattenbilder vergangener Tatsachen.

§ 4. Die natürlichen Anpassungen, wonach die Teile dem Ganzen entsprechen, und das gegenwärtig Vorhergehende schon nach dem Künftigen sich zu richten scheint, müssen auf einem anderen Prinzip beruhen, als einem unbewußten, immanenten Gedanken und einer schlafwandelnden Voraussicht in die Zukunft. Die Tatsache der Zweckmäßigkeit anders erklären, heißt nicht, sie leugnen. Die Gestalten der Dinge sind keine Typen, die vor ihrer materiellen Ausprägung schon als Ideen vorhanden wären. Es gibt keine zusammenfassenden oder vorgreifenden Gedanken in der Natur; - Gattungen und Begriffe existieren nur im menschlichen Geist. Ein solcher Begriff, dessen Realität nur im menschlichen Verstand, nicht in der Natur der Dinge gesucht werden muß, ist auch der Zweck, wenn er das Wirkliche als Gewolltes und die künftige Entwicklung der Erscheinungen als beabsichtigt ansieht. Dennoch ist auch dieser Begriff nicht gänzlich subjektiv, sondern findet etwas ihm Entsprechendes in den objektiven Vorgängen. Wäre Nichts in denselben zweckmäßig, so könnte der Begriff des Zwecks nicht allgemein zur Ausbildung und Anwendung kommen, wie es doch der Fall ist; weil ihn selbst jene nicht völlig entbehren können, die in der Natur überall Nichts als wirkende Ursachen anerkennen. Notwendige Begriffe sind keine müßigen, aber auch keine widersprechenden Denkformen. Jeder notwendige Begriff ist ein metaphysisches Problem; und so ist es auch der Zweck, die Frage: wozu? die dem menschlichen Geist so natürlich ist wie die Frage woher? In die Grundbegriffe der Erfahrung kommen Widersprüche hinein, wenn sie in ihrer bloß subjektiven Gestalt unmittelbar auf das ansich Seiende, rein Tatsächliche, angewandt werden. Auch der Zweck wird erst dadurch widersprüchlich, daß der Natur eine Art menschlicher Absicht und Vorhersehung angedichtet wird. Solche subjektive Projektionen des Denkens auf die Dinge stehen ihrer Auffassung im Weg. Indem ich jede Art von Absicht von den natürlichen Vorgängen verneinen muß, suche ich zu einem anderen Begriff ihrer Beziehung, durch welche die durchgängige Regelmäßigkeit und erstaunliche Anpassung entsteht, zu gelangen. Vom Zweck liebt man vorzugsweise im Organischen zu reden; denn viele Organismen sind Träger des Bewußtseins, also scheint es leichter, ihre Handlungen und die Werkzeuge für dieselben aus Wille und Absicht herzuleiten; und auch die übrigen Organismen liegen bewußten Erscheinungen viel näher, als die Wirkungen der unorganischen Materie. Allein die Regelmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit der physikalischen Vorgänge ist nicht weniger auffallend und wunderbar; obgleich sie leichter unseren Blicken entgeht. Der Kristallisationsprozeß und die fast unglaubliche Kraft der Kristalle, Schäden, die ihnen zugefügt wurden, wieder zu verbessern, wenn sie in dieselben Verhältnisse zurückgebracht werden, unter denen sie gebildet wurden (26); - erregen wie billig unsere Verwunderung nicht weniger oder in noch höherem Grad, als ähnliche Entstehungs- und Heilungsprozesse im Organischen. Indem wir die Zweckmäßigkeit der Natur verfolgen, werden wir durch die Tatsachen bis zu den elementaren und einfachen Vorgängen geführt. Hier, wie überall bei der Erforschung der Natur müssen wir auf das Individuelle eingehen, aus dem die ganze Mannigfaltigkeit der zusammengesetzten Erscheinungen erwächst. - Da es zwischen den Atomen keine Berührung gibt, so ist jede Bewegung derselben eine Reflexbewegung, deren Ursprung wir in einer Art von Empfindung oder unmittelbarer Einwirkung ihrer gegenseitigen Beschaffenheiten findenk. Die Zweckmäßigkeit dieser primitiven Tätigkeit besteht darin, daß sich dieselben stets nach der Qualität der Wesen richten muß. Aus der Allgemeinheit der Reflexbewegung folgt deshalb die durchgängige Zweckmäßigkeit der kleinsten Teil in der Natur, in welcher also keine ganz rohe (oder passive) Materie vorkommt. Die Zweckmäßigkeit des Ganzen ist überall das Produkt der Zweckmäßigkeit der Teile. Weil die Teile selbständig sind, so akkomodiert sich auch die höchste Erscheinung des Lebens bloß den vorhandenen Bedingungen, und ist nur in Bezug auf diese zweckmäßig, aber nicht ansich vollkommen. Daher gibt es auch zurückgebliebene und überflüssige Teile an den Organismen. Jedes Organ ist wieder ein Organismus von Teilen und jeder Teil eine Ordnung von Elementen. Das organische Individuum ist in Wahrheit ein Staat von Individuen, deren einzelne Wirkungen und Anpassungen erst mittelbar die Zweckmäßigkeit der ganzen Erscheinung hervorbringen. Wie aber in einem Staat nicht jedes Individuum noch jede Verrichtung gleichwertig für das Ganze sind; so besteht auch im Organismus ein Unterschied der Funktion und Beschaffenheit der einzelnen Organe nach ihrem Wert für das Leben. Das Übergewicht der Person und ihrer Leistungen verschafft ihr im Staat die Herrschaft, eine ähnliche Ordnung und Überordnung herrscht zwischen den organischen Teilen, wodurch sie ein Ganzes von durchgreifender Individualität werden. Von Teil zu Teil pflanzen sich die Wechselwirkungen innerer Vorgänge fort und gehen in ein System von Gesamtwirkungen zusammen.

Da die Zweckmäßigkeit in der Natur eine durchgängig vermittelte, überall an Bedingungen gebundene ist, und erst aus dem Zusammenwirken der zweckmäßigen Elementartätigkeit entsteht, so kann es keinen plötzlichen Übergang niederer Erscheinungsformen in höhere geben.

Anpassungen, wie die des Auges zu den Wirkungen des Lichts, Instinkte, von so unbegreiflicher Kunstfertigkeit, wie sie namentlich Insekten besitzen, können nicht auf einmal erreicht und vollendet worden sein. - DARWIN sucht daher das allmähliche Entstehen der Arten aus einer Abstammungstheorie zu begreifen und definiert die Instinkte höchst scharfsinnig als "vererbte Gewohnheiten" (27). Ein Licht auf die dunkle und spezifiscch naturphilosophische Frage der Vererbung, deren ausführliche Beantwortung künftiger Forschung und Spekulation vorbehalten sein wird, scheint von der LEIBNIZ-HERBARTschen Philosophie auszugehen. LEIBNIZ spricht geradezu aus: die Tätigkeiten der Monaden sind geistiger Art, während HERBART auf das psychische Geschehen, als das einzige, verweist, das uns auch von Innen zugänglich ist und zumindest als Beispiel des wirklichen Geschehens überhaupt dienen kann. Nun hat HERBART überdies zuerst richtige Vorstellungen von der Fortwirkung der psychischen Vorgänge verbreitet, indem er jeder einzelnen Bewußtseinsmodifikation (Vorstellung) eine ihr eigene Kraft zuschrieb, vermöge welcher sie unter bestimmten Bedingungen wieder wirkend (reproduziert) wird. Dieser Grundsatz gestattet eine Verallgemeinerung und Anwendung auf das Geschehen überhaupt. Müssen wir alles ursprüngliche Geschehen dem psychischen analog denken; so kann dessen Reproduktion gleichfalls nur in ähnlicher Weise vorgestellt werden, wie der Wiedereintritt psychischer Vorgänge. Jedes einfache Wesen empfängt demnach durch den Wechsel seiner Kausalverhältnisse Dispositionen zu Wirkungen, die unter Umständen neuerdings zu Wirkungen werden. Jedes einfache, reale Element des Organismus würde so seine Wirkungen reproduzieren können, und durch ihre Wiederholung seine Dispositionen steigern. Diesem Prinzip gemäß ließe sich die Ausbildung und Übertragung innerer Fähigkeiten oder Gewohnheiten und folgerichtig auch die Fortpflanzung und Vervollkommnung tierischer Kunsttriebe erklären. Etwas Entsprechendes enthält die merkwürdige Hypothese DARWINs, die er Pangenesis nennt und dahin bestimmt, daß die ganze Organisation und zwar in dem Sinn, daß hiermit auch jedes einzelne Atom oder jede Einheit gemeint wird, sich reproduziert (28).

Wie dem auch sei: die Annahme, daß die Erscheinung einer durchgängigen Zweckmäßigkeit in der Natur, nur aus der Zweckmäßigkeit der unmittelbaren Wechselwirkung der absoluten Elemente selbst hervorgeht, bleibt von obiger Hypothese unberührt. Dadurch wird das Zusammenbestehen der wirkenden Ursachen mit der Zweckmäßigkeit, also die Vereinigung des Mechanismus mit der Teleologie denkbar, ohne eine Vermittlung der schon logisch unmöglichen Endursachen zu bedürfen. Die natürliche Zweckmäßigkeit ist notwendig, weil sich die primitiven Vorgänge nach der Beschaffenheit der Wesen richten. Aus demselben Grund übertrifft auch ihre Wirkung jedes Erzeugnis menschlicher Kunsttätigkeit, da sie aus dem Innersten der Dinge selbst erwächst.

§ 5. Mit dem abstrakten Bewußtsein des Menschen beginnt die Herrschaft des vernünftigen Zwecks. Alle Absicht geht aus der Erkenntnis hervor, und besteht in Folgerungen aus der Erfahrung, insofern sie Einfluß auf den Willen gewinnen. Auf dem Vermögen des Vorausschauens in die Zukunft und der Voraussetzung des noch nicht Daseienden gemäß dem früher Erlebten und Erkannten, beruth alle Macht des Menschen über die Natur.

Da sich dieses Vermögen auf Erfahrung und Naturwissenschaft gründet, so ist durch die Vermehrung und Vertiefung des Wissens, auch die Erhöhung und Erweiterung der Macht des Menschen gegeben. Will der Mensch das natürliche Leben den sittlichen Ideen unterwerfen, so muß er zuvor die Gesetze der Natur durchschaut haben. Um das Sittliche im eigenen Innern zu verwirklichen, ist eine genaue Einsicht in das Zusammenwirken der Vorstellungen, d. h. in den psychischen Mechanismus, geboten. Um das Sittliche nach Außen und in einer Genossenschaft zu betätigen, muß der Mensch ein volles Verständnis des physischen Mechanismus und der Wechselwirkung des Physischen mit dem Psychischen erwerben. Das Naturell, gleichsam das Rohmaterial der sittlichen Bearbeitung, ist sowohl beim Einzelnen, wie auch bei ganzen Völkern von äußeren Bedingungen abhängig, deren Kenntnis zur Ausbildung eines moralischen Charakters daher notwendig ist. Nicht bloß der rein intellektuelle, auch der moralische Fortschritt hängt von der Anhäufung und Erhaltung des Wissens ab. Der Fortschritt der Menschheit nach beiden Richtungen ist überhaupt untrennbar. So zeigt sich schon hier der Zusammenhang des Realismus, welcher seiner Idee nach die vollendete Naturerkenntnis ist, mit der Ethik.


V. Der Realismus und die Ethik

§ 1. Die populäre Vorstellung einer jenseitigen Welt kehr in der philosophischen Unterscheidung des Dings-ansich von seiner Erscheinung wieder, - sobald diese Unterscheidung, deren logischer und metaphysischer Wert nicht zu bestreiten ist, zu einer dualistischen Spaltung des Seienden wird. Niemand ist im Dualismus weiter gegangen, als SCHOPENHAUER, der die Ordnung seines Dinges-ansich (wenn bei einem einzigen Ding von einer solchen die Rede sein kann), von der Ordnung der Erscheinung gänzlich trennte. Freilich verzichtete er dafür auch darauf, zu erklären, wie dieses Ding-ansich zu seinen vielen Vorstellungen kommt, welche, weit entfernt bloße Traumgebilde zu sein, in gegenseitige Wirkung geraten, deren Zusammenspiel die Willensakte selbst bedingt und den ganzen Stoff seiner Welt des Leidens ausmacht. SCHOPENHAUER leugnete das Absolute, indem er es in eine bloße Denkform und subjektivee Täuschung verwandelte. Und doch spielt sein Wille, dieser durch und durch relative Begriff, bei ihm die Rolle des Absoluten! Oder - wollte er dies nicht zugeben, so würde diese Rolle sein mystisches Nichts - das selige Nolle [nicht können - wp] übernehmen, von dem das Velle [können - wp] zur Schuld und Pein des Daseins abgewichen ist. So übt der unumstößliche Begriff des Absoluten selbst auf seine Leugner eine logische Macht aus; denn er ist eben mehr als eine leere Denkform. Am Sein hält sich die Erscheinung fest, die sonst in bedeutungslose Träume verflüchtigt würde. - Die Unterscheidung der erscheinenden, von der ansich seienden Ordnung der Dinge erlaubt in ihrer richtigen Fassung keine Spaltung derselben. Sie wird in dem einen Weltbegriff wieder aufgehoben, - Diesseits und Jenseits fließen in die Einheit der Welt zusammen.

Die Annahme des Dings-ansich besteht in der Überzeugung, daß dasjenige, was wir aus seiner Einwirkung auf uns erkennen, auch abgesehen von dieser Wirkung vorhanden ist. Wie vermittelt immerhin die Erscheinung oder Vorstellung des Seienden auch sein mag: wir wissen doch, daß ein solches ihr in geregelter Weise entspricht und schöpfen den Beweis dafür aus der Bestimmtheit und gegebenen Individualität der einzelnen Erscheinung.

§ 2. Die verbreitetsten Ansichten über das Verhältnis der Erscheinung zum Ding-ansich, stehen noch zu sehr unter dem Einfluß des kantischen Dualismus. Mit dem Ausdruck: "Ding ansich" verbindet sich die Vorstellung eines gewissen höheren Wertes gegenüber der Erscheinung, die diesem Begriff ganz fremd ist. Wird alles bloß Subjektive von der Erscheinung in Abrechnung gebracht, so gelangen wir im Denken zu einer Darstellung der objektiven Ordnung der Dinge.

Wie verhält sich nun diese Ordnung der absoluten Wesen zu ihrer Erscheinung? Nicht anders - als sich überhaupt Elemente zu ihren zusammengesetzten Produkten verhalten. Zwar erfahren das Sein und die Beschaffenheit der realen Wesen in ihrer Verbindung und in der Vorstellung keine Ergänzung. Aber aus der Übereinstimmung und dem Zusammenwirken der Qualität der Sinnesorgane und der einwirkenden Beschaffenheiten der Objekte entsteht doch erst ein Ganzes der Erscheinung. Ist die Empfindung rot, blau, sauer, süß etc. weniger real, als die entsprechenden äußeren Vorgänge, die wir als Vibrationen des Äthers und chemische Bewegungen zu denken haben? Im gleichen Verhältnis, wie die Empfindung zu ihrer objektiven Veranlassung, steht überhaupt das wirkliche eigene Geschehen in den realen Wesen zu ihren äußeren Beziehungen. Da es durchgängig die Beschaffenheit des einwirkenden Wesens ist, welche im Andern ein inneres Geschehen erzeugt; so wirkt auch im Auge nicht es selbst, sondern das Licht. Die Empfindung empfindet nicht ihren eigenen Mechanismus oder Apparat, sondern vermöge desselben die einwirkende Qualität des Objekts selbst. Das Erkennen bezieht sich nicht auf sich selbst, sondern auf seine Gegenstände und es ist die Beschaffenheit der Dinge, welche durch ihre Einwirkung auf das erkennende Subjekt zunächst zum Bewußtsein gelangt, nicht dessen eigene Qualität, welche sich erst durch die Rückwirkung der Empfindungen vom Objektiven abzuheben beginnt. So behält die unbefangene, natürliche Auffassung ihre Berechtigung, wenn sie die Dinge: rot und blau nennt, anstatt zu sagen: "mir ist rot und blau". Daraus wird auch der natürliche Wert des Lebens bestimmt, das ein Wissen ist, nicht bloß der engen, hinschwindenden Persönlichkeit, sondern der Dinge selbst. Das Wissen ist die Entäußerung des Subjektiven, die Aufhebung der Schranken des bloßen Seins für sich. Im Wissen des Menschen kommt die untermenschliche Natur zurr vollendeten Erscheinung.

§ 3. Im menschlichen Bewußtsein verbinden sich die Vorstellungselemente zu Begriffen. Auf ihnen beruth die Entwicklungsfähigkeit und geistige Präponderanz [Überwiegen - wp] des Menschen. Auch wenn die Begriffe keine Realität außerhalb des menschlichen Subjekts haben, so sind sie dessenungeachtet in ihm wirkend. Oder sollen sie deshalb nicht real sein, weil sie erst im menschlichen Geist wirklich sind? Was berechtigt uns, dem Zusammenwirken der Vorstellungselemente weniger Realität zuzuschreiben, als der Verbindung anderer einfacher Wirkungen in der Natur? Wird nicht auch die Gestalt der Dinge und die Verbindung ihrer Merkmale erst durch eine psychische Zusammenfassung der für sich vorhandenen Elemente und Elementarwirkungen real? Denn ansich existieren nicht Gestalten und Gesetze der Dinge, sondern die Elemente und die Systeme ihres Zusammenwirkens. Jene entstehen erst, indem die Reihe der Einwirkungen dieser auf uns in die Einheit der Anschauung oder des Gedankens verknüpft werden; und sind daher im Bewußtsein allein da. Dieselbe Art von Wirklichkeit, die den Gestalten unserer Sinnesgegenstände zukommt, ist auch den Begriffen unseres Denkens eigen. Daher wirken sie auch, und werden zu moralischen Mächten, wie die Beziehungen der realen Elemente zu physischen Kräften werden. Die Realität der Begriffe beruth darauf, daß sie durch einen natürlichen Prozeß des inneren Geschehens gebildet werden. Sie sind psychische Naturerzeugnisse. Mit ihrer Realität ist aber keineswegs das Sein eines Gegenstandes außerhalb seiner selbst gesetzt; - Begriffe als solche haben überhaupt keinen Gegenstand außerhalb des Denkens, denn "alles Tatsächliche ist ein Individuelles, Gattungen aber existieren nur im Geiste". Wie es abnorme Gebilde der äußeren Natur gibt, deren Mißgestalt durch eine ungewöhnliche Abänderung der Umstände hervorgebracht wird; so gibt es im psychischen Leben gleichsam pathologische Begriffe, die aus einer fehlerhaften Verbindung der Vorstellungselemente entspringen. Wie aber in der Konkurrenz ums Dasein jene naturwidrigen Formen durch naturgemäße verdrängt werden, so gehen auch in der Geschichte des menschlichen Wissens willkürliche und falsche Gedankengebilde unter; - und hier wie dort überlebt nur das Passende und Vollkommene.

§ 4. Die individuellen Dinge und Vorgänge werden in den Weltbegriff zusammengefaßt, dessen wesentliches Merkmal die Einzigkeit ist; denn auch das Übermenschliche, das wir zwar nicht erkennen, an dessen Grenze wir aber sind, fällt in seinen Umfang hinein. Die Wirklichkeit und Einzigkeit der Welt ist mehr als eine Folgerung des Denkens, sie ist auch ein Prinzip des sittlichen Handelns. Unsere Handlungen können so wenig, als unsere Vorstellungen bloß subjektiv sein, sollen sie nicht allen Wert und jede Bedeutung verlieren. Nur die Überzeugung der realen Bedeutung und Fortwirkung unserer Handlungen verleiht den Werturteilen über dieselben eine mehr als angenommene Schätzung. Eine abgeschiedene, subjektivistische Theorie, wie der Idealismus, erweist sich auch in moralischer Hinsicht als unwirksam. Nicht in Selbstversunkenheit, wie die Inder wähnen, sondern in Handlungen erscheint das Sittliche.

Das Sittliche beruth seinem Wesen nach auf Willensverhältnissen, auf Verhältnissen zwischen wollenden Subjekten; und von der Realität dieser Subjekte hängt die Möglichkeit des Sittlichen ab. Nur wer an der Realität des Psychischen in gleicher Weise festhält, wie an der des Physischen und den geistigen Erzeugnissen und Tätigkeiten die gleiche Gesetzmäßigkeit zuerkennt, wie den physischen Ursachen, vermag sich zum sittlichen Handeln zu erheben. Hat das Geistige ebenso eine Entwicklungfähigkeit und Kraft der Fortwirkung, wie das Physische eine Erhaltung und Steigerung erfährt, so haben auch die Handlungen der Einzelnen und Hinschwindenden eine dauernde Wirksamkeit und höhere Bedeutung. Der wahre Fortschritt der Gattung beruth auf einem sittlichen Vervollkommnungsprozeß der Individuen. Denn das sittliche Handeln bezieht sich seiner Natur nach auf die Gesellschaft, daher liegt an ihm das allgemeine Heil der Menschheit. An den Fortgang des Wissens ist der moralische Fortschritt gebunden. Das Handeln geht aus dem Wissen hervor und in Bezug auf das sittliche Handeln ist alles Wissen nur Mittel, nicht Zweck. Zwar ist das Wissen nicht zunächst oder immer beim Einzelnen moralisch wirksam; aber je tiefer es sich versenkt und je weiter es verbreitet wird, desto mehr verwandelt es sich in eine sittliche Kraft; - als solche wird das Wissen zur praktischen Einsicht, der Verstand zur Weisheit. Aus der Vermehrung der Einsicht folgt die Verbesserung der Gesinnung, - und so ist der Realismus oder das System des Wissens um die Natur, die Voraussetzung und Stütze der Ethik.
LITERATUR - Alois Riehl, Realistische Grundzüge , Graz 1870
    Anmerkungen:
    23) Herbart, Metaphysik, Bd. 2 der Werke von Hartenstein, § 295; Bd. IV § 252
    24) a. a. O. Bd. IV Seite 254
    25) a. a. O., Seite 254.
    26) Buckle, Geschichte der Zivilisation von England, der Pagets "Pathology" dafür anführt (deutsch von Ruge) Seite 367.
    27) Im Grunde ist Darwins Naturphilosophie die Bewährung und Ausführung des Herbartschen Gedankens; daß Gattungen und Arten nicht existieren, vielmehr alles Tatsächliche ein Individuelles ist.
    28) Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen etc., Bd. II, 2. Abt. Seite 471 (deutsch von Carus, Stuttgart 1868).