p-4 F. SchumannG. HeymansAugustinusA. DöringH. Bender    
 
HEINRICH BRÖMSE
Die Realität der Zeit
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"Während der Raum in jeder äußeren Erfahrung durch Ausdehnung und Entfernung gegeben ist und das immer gleichbleibende positivste Element der gesamten Außenwelt zu sein scheint, haben wir keinen festen Anhaltspunkt für eine gleich sichere Auffassung der Zeit, da sie uns beständig zerrinnt und als ein sich beständig selbst Negierendes auftritt. Um irgendeiner Anschauung der Zeit Ausdruck zu geben, hat daher auch die Sprache kein anderes Mittel, als zu räumlichen Analogien ihre Zuflucht zu nehmen, wie z. B. von einer Zeitlinie, Zeitstrecke einem Zeitpunkt, Zeitraum, einem Fließen, Vergehen der Zeit usw. redet."

"Daß man als zeitliches Maß des Geschehens gerade die astronomischen Bewegungen der Erde und des Mondes benutzt, läßt natürlich den Schluß zu, daß die so gewonnenen Zeitteil wirklichen Abschnitten der Zeit entsprechen. Vielmehr ist diese nur das Prinzip, das die Möglichkeit einer solchen Einteilung zuläßt, weil es die Gleichförmigkeit, die Kontinuität des Geschehens darstellt, - wie der Raum die Möglichkeit der Kontinuität von Objekten äußerer Anschauung bietet."


E i n l e i t u n g

§ 1. Terminologische Bemerkungen. - Es ist ein Übelstand in der Geschichte der Philosophie, daß die sprachlichen Ausdrücke nicht nur für nebensächliche, sondern auch gerade für grundlegende Begriffe in ihrer Bedeutung außerordentlich großen Schwankungen ausgesetzt sind. Zu den Bezeichnungen, deren wechselnder Gebrauch oft geradezu verhängnisvoll geworden ist, gehören in erster Linie die Ausdrücke "Objekt" und "objektiv". Ohne daß hier davon gehandelt werden soll, wie sie mit "Subjekt" und "subjektiv" teilweise die Rolle getauscht haben, sei nur auf ihr Verhältnis zu den Begriffen "Realität" und "real" hingewiesen. Es zeigt sich, daß mit "objektiv" vielfach ein solcher Gegensatz zu "subjektiv" verbunden wird, daß damit nicht - oder nicht nur - die phänomenale Gültigkeit, sondern das real Wirkliche bezeichnet werden soll. Demgegenüber sind in anderen Darstellungen "objektiv" und "real" gänzlich verschiedene Begriffe, derart, daß sich jenes auf den Inhalt einer Vorstellung bezieht und nur innerhalb der Vorstellung als real gilt, während es eine über deren Grenzen hinausgehende Realität nicht verbürgt.

Dem an zweiter Stelle genannten Sprachgebrauch, der mir weitaus natürlicher und zweckentsprechender ist, habe ich mich im Folgenden angeschlossen. Jeder Vorstellungsinhalt ist hiernach Objekt, das sich auf ihn Beziehende objektiv, - wie seine Auffassung durch das Subjekt das subjektive Element der Erfahrung ist. Die metaphysische Realität wird durch jene Bezeichnungen in keiner Weise berührt (1).

§ 2. Aufgabe der Untersuchung. - Die empirische Realität, insofern man unter empirisch-real das in der Erfahrung tatsächlich Vorhandene versteht. Es gilt, die metaphysische Rechtsgültigkeit der Zeit zu prüfen, d. h. zu untersuchen, ob ihr nicht nur Existenz als Form oder Inhalt psychischer Vorgänge, sondern unabhängig von der Erfahrung zuzusprechen ist.

Bei einer solchen Untersuchung über die metaphysische Realität handelt es sich ferner nicht um die Erklärung, wie die Zeitvorstellung überhaupt zustande kommt, aus welchen Wurzeln sie stammt. Dies ist Sache der Psychologie, deren Aufgabe es auch ist, eine Beantwortung der Frage anzubahnen, ob diese Vorstellung aus angeborenen Anlagen oder aus Verschmelzungsprozessen von Sinneseindrücken zu erklären ist, mit anderen Worten, ob die psychologische Entstehung der Zeitvorstellung auf einer nativistischen [auf Vererbung beruhend - wp] oder genetischen [entstehungsgeschichtlichen - wp] Theorie aufzubauen ist. Es handelt sich hier nicht um die Genesis, sondern um den Wahrheitsgehalt der bereits vorliegenden Vorstellung.

§ 3. Unterschiede der Raum- und Zeitvorstellung. - Man hat sich daran gewöhnt, Zeit und Raum als parallele Vorstellungen aufzufassen, und nicht ganz ohne Unrecht. Dennoch ist ein doppelter Unterschied zwischen beiden zu konstatieren: der erste ist metaphysischer, der zweite erkenntnistheoretischer Art.

Es ist zunächst zu beachten, daß vom Zeitproblem die Frage nach dem Geschehen abhängt. Unter keinen Umständen ist überhaupt eine Vorstellung des Geschehens ohne zeitlichen Verlauf denkbar. Mag man sich ein auch auf einen noch so winzigen Abschnitt zusammengedrängtes Geschehen vorstellen, niemals läßt sich dies anders als eine Aufeinanderfolge von Ereignissen denken. Keineswegs ist es möglich, es dadurch zu einem zeitlosen zu machen, daß man es in eine Linie mit dem Verhältnis von Grund und Folge stellt. Wenn sich aus der Natur eines Dreiecks stets ergibt, daß seine Winkel zusammen 2 R betragen, so ist dieses Verhältnis weit davon entfernt, dem Geschehen zu entsprechen, da ja gerade dessen Hauptbestimmung, daß nämlich ein Vorgang an die Stelle eines damit aufhörenden anderen tritt, jenem nicht anhaftet. Da Grund und Folge demnach stets gleichzeitig existieren müssen, so daß diese nicht auf jenen, sondern aus ihm folgt, so läßt sich nicht das Geschehen auf eine solche rein logische Tatsache zurückführen oder auch nur mit ihm vergleichen, man müßte dann von seinem wesentlichsten Faktor absehen, was doch offenbar eine Ungereimtheit ist. Es erscheint mir demnach nicht nur als eine unbewiesene, sondern als eine unbeweisbare, weil in sich widerspruchsvolle Hypothese, daß dem Geschehen sogenannte intelligible, der Zeit nicht unterworfene Zustände in der Welt der Dinge ansich entsprechen sollen.

Bei der ersten Frage also schon, die sich in der Metaphysik erhebt - wenn man die Tatsache des realen Seins als solche vorausgesetzt hat -, spielt das Zeitproblem eine so wichtige Rolle, daß es unmittelbar mit jener verknüpft ist.

Das Raumproblem dagegen stellt sich erst später ein. Denn es ist bei der Frage, ob im Seienden ansich ein Geschehen anzunehmen ist, zunächst gleichgültig, welche Struktur man diesem Seienden und seinen Veränderungen zuzuschreiben hat. Erst nach der Erledigung jener Frage entsteht die Aufgabe zu untersuchen, welcher Art das Geschehen ist, ob ein materielles oder ein psychisches, und damit verbunden die Frage, ob das Seiende als räumlich oder als unräumlich zu denken ist. Gewiß wäre es psychologisch möglich, diese Frage jener nach dem Geschehen überhaupt vorangehen zu lassen, doch könnte sie nur unter der stillschweigenden Voraussetzung irgendeiner Lösung des Zeitproblems gestellt und beantwortet werden. Dieses hat demnach in einem metaphysischen Sinn den Vorrang vor dem Raumproblem und bildet damit einen wichtigeren, weil mehr grundlegenden Faktor in jedem System, das von der Welt als Gesamtheit gelten will.

Ganz anders verhalten sich beide Probleme in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Mit Recht widerspricht LOTZE "der Gewohnheit, die seit KANT unter uns üblich geworden ist, von einer Anschauung der Zeit zu reden, die der des Raumes ebenbürtig ist" (2). Denn während der Raum in jeder äußeren Erfahrung durch Ausdehnung und Entfernung gegeben ist und das immer gleichbleibende positivste Element der gesamten Außenwelt zu sein scheint, haben wir keinen festen Anhaltspunkt für eine gleich sichere Auffassung der Zeit, da sie uns beständig zerrinnt und als ein sich beständig selbst Negierendes auftritt. Um irgendeiner Anschauung der Zeit Ausdruck zu geben, hat daher auch die Sprache kein anderes Mittel, als zu räumlichen Analogien ihre Zuflucht zu nehmen, wie z. B. von einer Zeitlinie, Zeitstrecke einem Zeitpunkt, Zeitraum, einem Fließen, Vergehen der Zeit usw. redet.


I. Die möglichen Auffassung
der Zeit als Realität

§ 4. Die Zeit als Substanz. - Die Auffassung, nach der die Zeit als metaphysisch real zu betrachten ist, läßt, wenn wir KANTs Unterscheidung folgen (Kr. d. r. V. Seite 60), eine doppelte Möglichkeit zu. Entweder ist nämlich bei dieser Annahme die Zeit etwas für sich Bestehendes oder etwas, was man den Dingen als "objektive" (hier = metaphysisch reale) Bestimmung anhängt. Folgen wir zunächst dieser Unterscheidung, bei der freilich zu bemerken ist, daß der vieldeutige Begriff "Bestimmung" noch einer besonderen Einteilung bedarf!

Es mag hier nur der Vollständigkeit halber kurz dargelegt werden, daß es unmöglich ist, die Zeit in dem Sinne als etwas für sich Bestehendes zu betrachten, daß sie als Substanz ihrer Existenz wie ihrem Wesen nach etwas Selbständiges wäre. Wenn auch vom Substanzbegriff keineswegs das Prinzip der Veränderung ausgeschlossen werden muß, derart, daß das Dasein der Substanz nicht einer Entwicklung fähig wäre, so ist doch ihr wesentlichstes Merkmal, daß als Träger aller Veränderungen ein beharrendes Element bleibt, dessen Natur eine konstante ist. Derart ist der Substanzbegriff bei SPINOZA, bei LEIBNIZ, bei HEGEL, bei SCHOPENHAUER, bei den Materialisten, kurz in allen noch so sehr voneinander abweichenden Auffassungen des Seins als Realität. Daß dieser Begriff nicht auf die Zeit angewendet werden kann, liegt auf der Hand. Denn wollen wir irgendein Merkmal der Zeit als grundlegend angeben, so kann es kein anderes als das einer Reihe sein, von deren Gliedern immer nur eins als wirklich angesehen werden kann, um sofort einem anderen Platz zu machen. Der Begriff eines im Wechsel beharrenden Elements führt, auf die Zeit angewendet, vielmehr zur Vorstellung eines Seins, in dem eine ständige Gegenwart und - bei Annahme mehrerer Elemente des Seins - eine Gleichzeitigkeit alles Seienden herrscht. Einen Fortschritt zu einem neuen Zustand würde eine solche Auffassung nicht zulassen.

Eine zweifache Möglichkeit ist vorhanden: entweder das wahre Wesen der Welt in einem ewigen Sein zu erblicken oder dem Seienden eine metaphysisch reale Entwicklung zuzuschreiben. In keinem dieser beiden Fälle, die ein Drittes auszuschließen scheinen, - obwohl es nicht an Versuchen einen solchen Mittelweg einzuschlagen gefehlt hat, - ist der Begriff der Zeit als Substanz denkbar. Denn entscheidet man sich für das erstere, so würde die Zeit in der Allgegenwart des Seienden bestehen. Damit ist aber gerade ihre wesentlichste Bestimmung beseitigt und ihr Gegenteil gesetzt: die Aufhebung der Zeit, für die in der neueren Philosophie der Begriff der Ewigkeit gewählt ist. Wählt man dagegen den zweiten Fall, indem man ein reales Geschehen annimmt, so verwandelt sich sofort die Allgegenwart in eine Aufeinanderfolge von Zuständen, so daß auch - nach dem Obigen - hier die Beibehaltung der Zeit als Substanz unmöglich ist.

§ 5. Die Zeit als selbständiger Verlauf. - In diesem Fall stellt sich eine andere Auffassung ein, nach der die Zeit als ein selbständiger Verlauf angenommen wird. Daß auch diese undenkbar ist, soll im Folgenden bewiesen werden.

Zunächst würde aus einem solchen Verlauf nichts Sicheres über seine Richtung zu erkennen sein. Wir könnten nur sagen, daß ein Zeitmoment durch einen anderen ersetzt wird, obwohl wir auch hier schon auf Schwierigkeiten stoßen, da sich derartige Momente nur willkürlich feststellen lassen, aus der Zeit selbst aber in keiner Weise gewonnen werden können. Nehmen wir indessen solche Momente an, so würde es unmöglich sein, mehr über sie auszusagen, als daß sie in regelmäßiger Folge einander abblösen. Ob aber die Richtung aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft geht oder umgekehrt, ist gänzlich unerkennbar. Beide Fälle lassen sich behaupten, ohne daß darum irgenwelche sonstigen Bestimmungen geändert zu werden brauchen. Man könnte sagen, daß die Zeit mit den Veränderungen der Dinge fortschreitet, diesen also parallel verläuft. Es ließe sich aber auch die entgegengesetzte Anschauung verteidigen, daß vielmehr der Strom der Zeit aus der Zukunft kommt und in das Meer der Vergangenheit abfließt (3). In beiden Fällen kommen wir über einen bildlichen Vergleich nicht hinaus und haben nichts über die Wirklichkeit ausgesagt.

Werden wir hierdurch gegen die Auffassung der Zeit als eines selbständigen Verlaufs schon mißtrauisch, so erheben sich sofort noch gewichtigere Gründe gegen jene Annahme. Mag die Zeit in ihrem Lauf parallel mit dem Geschehen der Dinge oder diesem entgegenfließen, das ist gewiß, daß es in keiner Weise Berührungspunkte zwischen einem System beständig sich verändernder Dinge und einem selbständigen Verlauf der Zeit geben kann. Irgendeine Bedeutung ist in diesem Fall der Zeit im Reich des seienden nicht zuzugestehen. Wie sie unabhängig von der Existenz der Dinge ist, so sind es diese von ihr. Dies ist so selbstverständlich, daß es kaum des eingehenden Beweises bedürfte, den LOTZE dafür bringt (4). Man würde bei dieser Theorie, wenn man sie konsequent verfolgt, sogar gezwungen sein, eine zweite Zeit anzunehmen, um das Geschehen in der Welt der Dinge zu begreifen. Denn da kein Geschehen ohne eine bestimmte Geschwindigkeit denkbar ist, müßte man für das Geschehen ein zeitliches Maß annehmen, zu dem der selbständige Zeitstrom untauglich ist.

Dies führt uns zu einem weiteren Paradoxon, das sich aus einer solchen Auffassung ergäbe. Der Zeitstrom selbst könnte nicht anders als mit bestimmter Schnelligkeit der Aufeinanderfolge seiner Wellen gedacht werden (5). So würden wir sogar in die Lage versetzt, um ihn überhaupt vorstellen zu können, auf ihn ein Maß der Geschwindigkeit anzuwenden, das nicht aus dem zu messenden Gegenstand selbst, sondern nur aus einer anderen Zeitvorstellung gewonnen werden könnte.

Ich bin mir wohl bewußt, hiermit nichts Neues vorgebracht zu haben; immerhin ist es gut, um überhaupt zu etwas Positivem zu kommen, die Ungereimtheiten zu beleuchten, die sich aus der Auffassung der Zeit als einer beharrenden Substanz oder eines selbständigen Verlaufs ergeben.

§ 6. Die Zeit als Eigenschaft der Dinge. - Nicht weniger unrichtig würde es sein, wenn man die Realität der Zeit darin erblicken wollte, daß diese eine Eigenschaft der Dinge wäre, sei es, daß sie als den einzelnen Dingen inhärierend [innewohnend - wp] oder als Eigenschaft des gesamten Weltinhalts seinem Wesen nach gedacht würde. Denn es ist klar, daß die Zeit keinerlei Bestimmung des Wesens der Dinge enthält, sondern allein deren Existenz betreffen kann (6). So wenig wie man diese für eine Eigenschaft eines Dings erklären kann, ist das mit der Zeit möglich. Faßt man alle Realität der Welt etwa als ein ungeheures Subjekt, das ihr Wesen bezeichnet, mit einem Prädikat, das über dessen Existenzform Näheres aussagt, so gehört der Begriff der Zeit zu letzterem. Er bezieht sich nicht auf das Was, sondern auf das Daß der Dinge.

Wenn man den kantischen Ausdruck "objektive Bestimmung" (siehe § 4) als reale Eigenschaft nimmt, so trifft also auch der zweite von KANT angeführte Fall nicht zu, und es scheint kein Raum in der Wekt für die metaphysische Realität der Zeit zu sein.

Sie ist weder ein Ding, noch ein Vorgang, noch eine Eigenschaft der Dinge. Ist es möglich, ihr noch eine andere Form der Realität zu wahren? Dies glaube ich bejahen zu müssen. Es gilt zunächst, zu zeigen, welches diese Form nur sein kann, wenn die Zeit real ist; und es gilt sodann, zu beweisen, daß die Zeit real ist. Ist dies geschehen, so folgt unmittelbar, daß nunmehr jener hypothetisch gewonnene Satz von der Form ihrer Realität apodiktisch [gewiß - wp] wird.

§ 1. Die Zeit als Form des Geschehens. - Stellen wird im Ding die essentia und existentia einander gegenüber, so ist gefolgert, daß die Zeit keine Bestimmung jener sein kann. Es bleibt somit als letzte Möglichkeit für ihre Realität übrig, daß sie als Bestimmung der existentia aufzufassen ist. Rechnen wir diesen Fall zur "objektiven Bestimmung", so ergibt sich eine Unterabteilung des zweiten Gliedes der kantischen Unterscheidung.

Wenn der Begriff existentia seinem eigentlichen Wesen nach in einer Anwendung auf die Dinge-ansich nur ein reines, ewiges Sein bedeutete oder wenn man ihn nur in einem logischen Sinn auf die Setzung eines Dinges bezöge, so würde in ihm kein zeitliches Moment angetroffen werden können. Es würde im ersteren Fall die ewige Gegenwart eines metaphysischen Dings, im letzteren die einfache Position eines logischen Objekts betreffen. Der Begriff der Zeit ist mit keinem von beiden verbunden.

Nehmen wir an, daß die Dinge-ansich gestaltungs- und entwicklungsfähig sind, so ist damit das Prinzip des Geschehens aufgestellt und dieses ist ohne einen zeitlichen Verlauf undenkbar. Sowie es kein Geschehen ohne Dinge gibt, auf die es sich bezieht, so ist die Zeit nicht, wenn kein reales Geschehen angenommen wird. Sie ist nunmehr kein selbständiger Vorgang mehr, der dem Geschehen parallel oder diesem entgegenläuft. Sie gewinnt ihre ganze Realität erst aus diesem und ist nichts weiter als eine besondere Bestimmung oder Form des Geschehens, deren Wesen noch näher zu erklären ist (7). Nicht sie selbst vergeht als ein Vorgang für sich, sondern die Ereignisse vergehen in ihr, wie es auch keinen objektiven Sinn hat zu sagen: die Zeit vergeht schnell oder langsam, sondern nur subjektive Bedeutung.

Man könnte vielleicht wiederum eine Unterscheidung treffen wollen und fragen, ob die Zeit als Form des Geschehens für subjektiv-immanent oder für transzendent zu halten ist, ob ihr nur Gültigkeit für unsere Erfahrung oder eine solche für die Welt der Dinge-ansich zukommt. Indessen würde diese hier nicht angebracht sein, denn es ist hier von der Voraussetzung eines metaphysisch realen Geschehens ausgegangen: in Beziehung auf dieses kann die Zeit, wenn jene Annahme richtig ist, nur in einer transzendenten Bedeutung erfaßt werden. Ist jene Annahme berechtigt, so ist auch die Folgerung richtig, da das Geschehen ohne eine bestimmte Geschwindigkeit schlechterdings undenkbar ist, wenn diese auch nicht in jedem einzelnen Fall festgestellt werden kann. Die einzelnen Geschwindigkeiten, die einzelnen zeitlichen Momente setzen eine absolute Zeit voraus, die, wenn das Geschehen real angenommen wird, gleichfalls als real gelten muß. Daß man als zeitliches Maß des Geschehens gerade die astronomischen Bewegungen der Erde und des Mondes benutzt, läßt natürlich den Schluß zu, daß die so gewonnenen Zeitteil wirklichen Abschnitten der Zeit entsprechen. Vielmehr ist diese nur das Prinzip, das die Möglichkeit einer solchen Einteilung zuläßt, weil es die Gleichförmigkeit, die Kontinuität des Geschehens darstellt, - wie der Raum die Möglichkeit der Kontinuität von Objekten äußerer Anschauung bietet.

Das vorläufige Ergebnis ist demnach, daß die Zeit, wenn sie überhaupt als Realität gedacht werden soll, nichts weiter ist als die reale Form des Geschehens, die erst die Möglichkeit aller gleichförmigen Gliederungen, welche man im Geschehen treffen kann, gewährt (8).

Es fragt sich nunmehr, ob wir überhaupt das Recht haben, der Zeit eine metaphysische Realität zuzuschreiben. Die wesentlichste Annahme, die gemacht wurde, damit sie als Realität hypothetisch festgestellt werden konnte, bezog sich auf das Geschehen. Es ist im Folgenden demnach vorwiegend zu prüfen, auf welche Gründe sich diese Annahme stützt. Der Beweis für die Realität der Zeit ist ohne den Beweis eines realen Geschehens lückenhaft. Denn immer regt sich der Einwand: ist dieses in Wirklichkeit transzendent oder etwa nur eine Projektion subjektiver Erscheinungen? Wäre es letzteres, so hat auch die Zeit nicht für die Welt des real Seienden, sondern nur für die empirischen Gegenstände Gültigkeit.

Selbst wenn nun die metaphysische Realität des Geschehens erwiesen wäre, so könnten dennoch Skeptiker an der Realität der Zeit zweifeln. So ist auch die notwendige Verknüpfung der Realität beider, die bisher gleichfalls angenommen und behauptet wurde, zu beweisen.

Dies sind die Probleme, die im Folgenden untersucht werden sollen.
LITERATUR Heinrich Brömse, Die Realität der Zeit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik [Neue Folge], Bd. 114, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) Sogar innerhalb desselben Werkes, z. B. gerade in KANTs "Kritik der reinen Vernunft" findet sich in diesen Punkten nicht selten ein beträchtliches Schwanken des Sprachgebrauchs, durch das das Verständnis wesentlich erschwert wird. So wird Seite 318 (hier wie sonst nach der KEHRBACH-Ausgabe zitiert) dem Raum, Seite 219 den Kategorien objektive Realität in einem immanenten Sinn zugesprochen, während dieselbe Bezeichnung "objektive Realität" (Seite 327, 451 und öfter in einem transzendentalen oder transzendenten Sinn gebraucht wird. Ähnliches gilt von vielen anderen grundlegenden Ausdrücken wie dem eben gebrauchten "transzendental" usw., besonders von der Bezeichnung "Gegenstand" von dem VAIHINGER (Kommentar zur KANTs "Kritik der reinen Vernunft", Bd. II Seite 7 und 17) sogar eine dreifache Bedeutung nachgewiesen hat. Siehe auch von HARTMANN, "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus", dritte Auflage, Ausgewählte Werke, Bd. I, Seite 10 und 11.
    2) Lotze, Metaphysik, Seite 268
    3) Lotze, Metaphysik, Seite 269f
    4) Lotze, Metaphysik, Seite 281
    5) AUGUST DÖRING: "Wäre die Zeit ein wirklicher Verlauf, so müßte sie auch ihr eigenes Tempo haben." ("Was ist die Zeit?" in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 14, 1890, Seite 406.
    6) "Sein Wirken" (das des Dings ansich) "ist veränderlich ... aus einem veränderten Wirken unter sonst gleichgebliebenen Verhältnissen folgt aber eine Veränderung im Dasein. Demnach ist das Ding-ansich veränderlich, also sein so uns so bestimmtes Dasein selbst zeitlich. Infolgedessen fordert auch um die Dinge ansich die Veränderung ein Beharrliches, das Existierende ein Subsistierendes, das Dasein eine daseiende Substanz, welche selber als Substanz nicht mehr veränderlich, nicht mehr zeitlich ist." (EDUARD von HARTMANN, Kritische Grundlegung etc., a. a. O., Seite 96.
    7) "Die absolute d. h. alles Zeitliche in sich synthetisch befassende Zeit ist nichts als die Abstraktioin der zeitlichen Extension vom Weltprozeß; sie ist genau so lang wie dieser, aber auch um keinen Augenblick länger. Da sie nur eine Abstraktion von der Tätigkeit und Veränderung ist, die wir Weltprozeß nennen, so hat sie mit ihm angefangen und endet mit ihm. Eine leere Zeit ist ein widerspruchsvoller Begriff, da sie besagen würde: die Dauer einer Veränderung, die keine Veränderung ist." (EDUARD von HARTMANN, Kategorienlehre, Ausgewählte Werke, Bd. 10, Seite 104)
    8) Wenn TRENDELENBURG (Logische Untersuchungen, Bd. I, zweite Auflage, Seite 155) die Bewegung als Quelle der Zeit - wie des Raumes - bezeichnet, so zeigt der im Obigen wie im Folgenden dargelegte Standpunkt keine Übereinstimmung, wohl aber eine gewisse Verwandtschaft mit dieser Erklärung, wie überhaupt mit TRENDELENBURGs Ausführungen. Ich bemerke dazu, daß mir erstens die Bewegung als eine zu dürftige Quelle erscheint, insofern jede Veränderung oder was dasselbe ist: jedes Geschehen überhaupt zur Zeitvorstellung führt. Freilich ließe sich dagegen einwenden, daß für TRENDELENBURG hier die Bewegung mehr als eine Ortsveränderung ist, daß er in dieser nur ein "äußeres Kennzeichen" sieht, "das als ein Zweites aus dem Wesen (der Bewegung) entspringt, aber nicht als ein Ursprüngliches das Wesen selbst bildet." (Logische Untersuchungen I, Seite 151). TRENDELENBURG weist dabei auf ARISTOTELES hin, der die Bewegung nicht als Art der Veränderung, sondern diese "als eine eigentümliche Art der Bewegung (die qualitative Bewegung)" faßte. Diesem Einwand ist jedoch zu entgegnen, daß sprachlich die Bewegung durchaus als Ortsveränderung und nur bei bildlicher Übertragung in einem anderen Sinn gebraucht wird, daß daher auch philosophisch das Prinzip der Veränderung, des Geschehens, jedenfalls für ein allgemeineres und begrifflich ursprünglicheres als das der Bewegung angesehen werden muß. - - - Setzen wir immerhin einmal für das Geschehen den Begriff der Bewegung, so erhebt sich ein zweiter, gewichtigerer Einwand gegen TRENDELENBURG. Dieser leitet einseitig die Zeit aus der Bewegung ab. Daß eine enge Beziehung zwischen beiden besteht, ist offenkundig. Nur ist zunächst mit der Bewegung unmittelbar die Zeit gegeben, so daß man nicht mit dem Ausdruck: "die Bewegung ist Quelle der Zeit" die Bewegung als Ursache nehmen darf, die - selbst wieder zeitlich - der Zeit vorausgeht. Aber auch hiervon abgesehen, kann die Bewegung nicht als Bewirkendes überhaupt der Zeit gegenüber aufgefaßt werden, denn die Zeit ist die selbst ursprüngliche Form der Bewegung - wie des Geschehens - und ihre Quelle ist keine andere als die der Bewegung selbst und der Welt überhaupt. Kein einseitiges Verhältnis des Hervorbringenden zum Hervorgebrachten waltet zwischen Bewegung und Zeit, sondern eine solche Wechselbeziehung, daß jene als Inhalt, diese als Form betrachtet werden muß, wobei nicht jene diese schafft, sondern beide gleich ursprünglich für einander geschaffen sind. Daß ersteres nicht der Fall ist, scheint mir auch schon daraus hervorzugehen, daß aus der Bewegung nie jene der Zeit eigentümliche Bestimmung, das kontinuierlich gleichmäßige Verhältnis ihrer Glieder, abgeleitet werden kann. - - - TRENDELENBURGs Ansicht würde einwandfreier sein, wenn er allein für das Bewußtsein die Erzeugung der Zeitvorstellung aus der Bewegung folgern würde. Wie er aber die Bewegung als gleich ursprünglich dem Denken wie dem Sein angehörend betrachtet (Seite 168), so läßt er auch für dieses die Zeit aus der Bewegung hervorgehen; und dies ist zu bestreiten.