tb-4 Das Ende des wissenschaftlichen SozialismusDie Tyrannei der Sozialdemokratie    
 
SIMON KATZENSTEIN
Der Anarchismus
und die Arbeiterbewegung


"Der Parlamentarismus ist die eigentliche Herrschaftsform der Bourgeoisie. Hört man die Anarchisten, so ist die parlamentarische Tätigkeit der Sozialdemokratie nichts als eine Komödie politischer Streber, die auf den Schultern des Proletariats emporsteigen und im Grunde mit Regierung und Bourgeoisie unter einer Decke stecken."

"Das Parlament ist das wirksamste Herrschaftsmittel der Kapitalistenklasse. Niemand hat diese seine Wirksamkeit, die Lüge seiner  Vertretung der Volksinteressen  schärfer kritisiert, die Unzulänglichkeit des ganzen parlamentarischen Systems entschiedener betont als die Sozialdemokratie. Und doch hat sie überall eine ihrer wichtigsten Aufgaben in der Eröffnung der parlamentarischen Bühne für die Vertreter der Arbeiterklasse und der möglichsten Vermehrung dieser gewählten Vertreter erblickt. Geschah das aus Inkonsequenz oder aus dem ihr von den Anarchisten unterstellten gemeinen Motiv, auch teilhaben zu wollen an der parlamentarischen Komödie der Beschwindelung des Volkes zum Zweck seiner Beherrschung und Ausnutzung?"

Allgemeines

In GOETHEs "Faust" bezeichnet der Teufel sich als einen Teil der Kraft, "die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Von den Anarchisten kann man das Gegenteil sagen: sie wollen das Gute, leider aber ist es ihnen nur vergönnt, stets das Böse zu schaffen. Sie setzen ein Ideal, wie es größer und schöner kein Denker je ersonnen, kein Dichter geschaut hat - und in der Wirklichkeit tun sie alles, um die Entwicklung zu diesem Ziel hin, ja den einfachsten Fortschritt der Organisations- und Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse lahmzulegen. Gewiß ist ein Gesellschaftszustan, in dem keine Herrschaft des Menschen über den Menschen besteht, keiner mehr in seiner völligen Freiheit des Tuns oder Lassens beschränkt ist, in dem alles allen gehört und alles aufs Beste gedeiht, weil alle aus Gemeinsinn und wohlverstandenen Eigeninteresse vernünftig und gerecht handeln, ein wahrhaft idealer - beinahe so schön wie das Schlaraffenland des deutschen Märchens mit seinem Jungbrunnen und seinen gebratenen Tauben, die in den Mund fliegen. Oder ernsthaft gesprochen: so leer und phantastischt die Bestrebungen und Forderungen unserer Anarchisten im allgemeinen sind, so liegen in ihnen doch eine Reihe von Gedanken und Entwicklungsmöglichkeiten, die auf einer höheren Stufe des Gesellschaftslebens sich fruchtbar erweisen und die sozialistischen Organisationsformen entwickeln und fortbilden können. Sinnlos und unklar im höchsten Grad aber ist es, mit dem Überspringen aller Zwischenglieder, ohne Rücksicht auf das geschichtlich Gewordene und die Bedingungen seiner Umgestaltung, unvermittelt der Gegenwart die höchsten Ideale der Zukunft als sofort zu erfüllende Forderungen vorzusetzen und ihr dabei durch unverständige Vorwegnahme künftiger Daseinsbedingungen die Werkzeuge und Kampfeswaffen vorzuenthalten, die erst die Eroberung und sachgemäße Begründung jenes künftig zu schaffenden Zustandes ermöglichen.

Hört man die Anarchisten, so sind sie die unversöhnlichen Feinde der herrschenden Staatsordnung und der kapitalistischen Wirtschaft, und das ist bei den meisten auch sicherlich so gemeint. Sieht man aber ihre wirkliche Tätigkeit an, so findet man, daß sie viel mehr geeignet ist, die kapitalistische und zwangsstaatliche "Ordnung" zu festigen.

Ich will hier nicht viel reden von der sinnlosen und unverantwortlichen Art, in der sie vor 10 bis 20 Jahren in Westeuropa die "Propaganda der Tat" in Worten und zum Teil auch in Wirklichkeit betrieben haben. Nicht allein, daß harmlose und in Wirklichkeit fast ohnmächtige Vertreter der herrschenden Gesellschaft, wie der Präsident CARNOT und die österreichische Kaiserin ELISABETH, Leute, die nie zu den Verfolgern der Arbeiterbewegung gehört hatten und dazu von geringem politischem Einfluß waren, anarchistischen Attentaten zum Opfer fielen; daß überspannte Burschen in friedliche Menschenmengen Bomben schleuderten, durch die unschuldige Menschen verletzt und getötet wurden: sogar  gemeine Verbrechen niedrigster Art  wurden unter dem Schild des welterlösenden Anarchismus begangen, Raubmörder, wie RAVACHOL und andere, wurden von ihren anarchistischen Gesinnungsgenossen wie Heilige verehrt. Und erst unter dem Eindruckk der allgemeinen Empörung, die freiheitsfeindliche Unterdrückungsmaßnahmen zum Schaden der gesamten Arbeiterbewegung hervorgerufen hatte, schwangen sich einige anständig gesinnte Anarchisten, wie ELISÉE RECLUS, auf, gegen die infame und wahnsinnige Taktik einen schwachen Protest zu erheben.

Diese Taten hatten nicht allein mit gutem Recht die Verurteilung aller ehrlichen Menschen herausgefordert - sie boten auch den Reaktionären und Kapitalsöldnern erwünschten Anlaß, das Vorurteil der ungeschulten Massen gegen den Sozialismus und die Arbeiterbewegung überhaupt aufzureizen und Zwangsgesetze, die jeder Freiheit und allen Arbeiterinteressen entgegenwirkten, herbeizuführen. "Gesegnet sei die Bombe", schrieb in Frankreich GRANIER von CASSAGNAC, jener offenherzige Sprecher der bonapartistischen Söldlinge des klerikalen Kapitalismus. Früher hatte er mit dem anderen Wort: "Die Gesetzlichkeit tötet uns!" der Wut der reaktionären Meute über die auf gesetzlichem Boden siegreich fortschreitende sozialistische Bewegung, die keine Gelegenheit zu den gewünschten Zwangsgesetzen und direkten gewaltsamen Unterdrückungsmaßregeln bot, klassischen Ausdruck verliehen. So hat die anarchistische Bewegung dort, wo sie zeitweilige Bedeutung hatte, tatsächlich  für die Reaktion und gegen die Arbeiterbewegung gearbeitet.  Und es war nur durchaus logisch, daß unter dem deutschen Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie (1878 bis 1890) die Lockspitzel des Systems BISMARCK-PUTTKAMER immer wieder darauf ausgingen, den Anarchismus zu fördern, daß sie anarchistische Zeitungen unterstützten oder gar selbst gründeten - wie dies von dem Londoner anarchistischen Organ "Der Einbrecher", das unter Abwerfung aller "theoretischen" Verbrämung kurzweg Raub, Diebstahl und sonstige "Gauner taktik"  proklamierte, behauptet wird. Man dachte, damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die Arbeiterschaft, deren ehrliche und vernünftige Überzahl natürlich von derart verbrecherischen Hanswurstereien nichts wissen wollte, zu spalten - zugleich aber dem ohnehin ängstlichen Bürgertum immer neuen Schrecken einzuflößen und so mit dem freundwillig gelieferten Material immer von neuem die Notwendigkeit der Unterdrückungsmaßregeln zu beweisen. Ist es doch auch vom berüchtigten Pariser Polizeipräfekten ANDRIEUX in behaglicher Breite erzählt worden, wie er selbst aus einem geheimen Polizeifonds die Mittel geliefert hat, um eine anarchistische Zeitung zu unterhalten. Das war die Zeit, in der man einen Anarchisten vom Polizeispion und Lockspitze überhaupt nicht mehr unterscheiden konnte, wo sich in den anarchistischen Führerkreisen neben edlen Schwärmern und rabiaten Fanatikern direkte gemeine Verbrecher und notorische Polizeisubjekte breit machten.


Anarchistische Taktik

Inzwischen hat der Anarchismus auch in Westeuropa seine politische Aktualität verloren. Die "anarchistische Gefahr" hat längst aufgehört, dem polizeifrommen Bürger beim Lesen seiner Leibzeitung ein angenehmes Gruseln zu verursachen und ihn im Vertrauen zur alles wissenden und weise lenkenden Obrigkeit stets neu zu festigen. Heute ist der Anarchismus, soweit er nicht, wie in Deutschland, eine politische Kuriosität darstellt, rein auf seine eigentliche und Hauptarbeit beschränkt: die Spaltung und Hemmung der Arbeiterbewegung. Seine Losung ist die Lehre vom alleinseligmachenden und alle in größter Geschwindigkeit erlösenden  Generalstreik.  Seine "positive" Arbeit ist eine Sorte  Antimilitarismus,  die dem Nationalismus der Bourgeoisie, der schon zu verdorren begann, wieder neue Kraft verleiht; ferner der Kampf gegen den  Parlamentarismus,  gegen die Mitarbeit der Sozialisten an Gemeindepolitik und sozialer Gesetzgebung; nicht zum mindesten auch gegen die Zentralisation der  Gewerkschaften,  Tarifverträge und dgl.

Daß die Arbeiterschaft durch eine einmütige und opferbereite Einstellung der Arbeit unter geeigneten Umständen einen großen politischen Einfluß ausüben kann, haben die Ereignisse in Belgien, Italien und Rußland bewiesen. Ebenso aber auch, daß diese allgemeine Arbeitsteilung kein Wundermittel ist, ,das unter allen Bedingungen angewendet werden und jeden gewünschten Erfolg erzielen kann. So wahr es ist, daß die Arbeit des Proletariats das Fundament ist, das die ganze Gesellschaft trägt, die zusammenbrechen muß, wenn jene aufhört: ebenso wahr ist es, daß auch die Arbeiterklasse nicht kurzerhand und unter allen Bedingungen ihre Verbindung mit der herrschenden Gesellschaft lösen, daß sie ihre Abhängigkeit vom Kapital nicht mit einem Schlag beseitigen kann. Als Störung des sozialen Mechanismus für vorübergehende Zeit und zu einem bestimmten Zweck kann der Massen- oder Generalstreik Großes bewirken - als Kern aber und Hauptinhalt der gesamten sozialistischen Aktion, als das eigentliche Mittel zur Beseitigung des Kapitalismus und Schaffung des Sozialismus ist er ein Unding. In diesem Sinne ist seine Propaganda ebenso gefährlich für die Entfaltung der sozialistischen Bewegung wie sinnlos vom Standpunkt einer geschichtlichen Betrachtung. Zur Erhaltung und Leitung des gesellschaftlichen Organismus bedarf es noch anderer Funktionen, als sie heute in den Reihen der sozialistischen Arbeiterschaft vertreten sind, und deren Träger erst gewonnen oder herangebildet werden müssen. Und die Umgestaltung einer ganzen, doch nicht nur durch Zufall und Gewalt, sondern auch durch gesellschaftliche Notwendigkeit und bestimmte soziale Leistungen entstandenen und zusammengewachsenen gesellschaftlichen Organisation kann nie der Erfolg eines glücklichen Handstreichs oder auch einer langwierigen, mühsamen und mitunter auch enttäuschenden gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser die Bahn frei zu machen, durch Organisation und Schulung der Arbeiterklasse - durch politische, gewerkschaftliche, genossenschaftliche Arbeit und sozialistische Erziehung - durch wirtschaftliche Hebung der Arbeiterschaft, Erweiterung ihrer und Schwächung der feindlichen Macht - schließlich durch Eroberung der entscheidennden politischen Positionen in Staat und Gemeinde: das ist die  Aufgabe der Arbeiterbewegung.  Auch der politischen und wirtschaftlichen Zwecken dienende Massen- und unter Umständen auch Generalstreik ist eines der Mittel dieser Organisation und Schulung der Massen, unter Umständen das wirksamste von allen. Aber zur Voraussetzung hat er, wie die Resolution des Jenaer Parteitages es zutreffend ausspricht, die größte  Ausdehnung der politischen und gewerkschaftlichen Organisation  der Arbeiterklasse. Und diese Organisation muß  einheitlich  sein in Ziel, Taktik und Leitung. So wertvoll die Selbstverwaltung für die intensive Bearbeitung der Massen, für die persönliche, individuelle Entfaltung der einzelnen und ihrer Gruppen ist, so bedarf es doch für den Kampf vor allem der völligen Geschlossenheit. Einheitlichkeit und Disziplin müssen die Leitsterne einer proletarischen Bewegung sein, die sich gegen die stärksten Organisationen der herrschenden Klassen in Großindustrie, Grundbesitz und Finanz, Regierung, Kirche und Armee sieht, die jemals die Geschichte gekannt hat. Hier haben persönliche Abweichungen und Eigenbrödeleien zu schweigen. .Wie im Feld vor dem Fein, so ist in diesem Kampf gegen die immer fester sich schließende Macht der herrschenden Klassen jeder ein Verräter, der die Reihen der proletarischen Kampfesorganisation bricht und die Stoßkraft ihres Ansturms dadurch vermindert.

Aber der Anarchismus ist ja seinem Wesen nach die vollendete System- und Disziplinlosigkeit. Ohne Überlegung und ohne Gewissen fallen sie der in Partei- und Gewerkschaftsbewegung kämpfenden Arbeiterklasse in den Rücken und tun um ihrer phantastischen Ziele willen alles, umd die Kraft des wirklichen proletarischen Vormarsches zu hemmen. So sehr man zugeben wir, daß die allermeisten Anarchisten in gutem Glauben an die angeblich revolutionierende Wirkung ihrer Taktik ihre Wege gehen, so könnten doch tatsächlich Agenten der herrschenden Klassen nicht anders handeln, wollten sie die Arbeiterbewegung lähmen. In Deutschland ist ja die anarchistische "Bewegung" völlig einflußlos und hat, allen Renomistereien zum Trotz, auch keine Aussichten, Einfluß zu gewinnen - wo sie mehr Boden hat, wie gegenwärtig noch in Frankreich und bis vor kurzem in Hollend und Italien, ist sie ein Trennungskeil, getrieben ins Innerste des Proletariats, mit Vorliebe gerichtet auf die Spaltung der gewerkschaftlichen von der politischen Bewegung und auf die Fernhaltung der Gewerkschaften von Zentralisation und finanzieller Stärkung, die doch für ihre Ausgestaltung und kräftige Wirksamkeit unentbehrlich sind.

Ihre Hauptagitations- und Kampfmittel ist neben der leeren, utopisischen und phantastischen Phrase die  Verleumdung:  Entstellung und Verdächtigung des persönlichen Charakters der politischen und gewerkschaftlichen Vertrauensmänner des Proletariats und des sozialen und politischen Charakters seiner Einrichtungen und Aktionen. Ganz gemeine Streber, Ämterjäger und Sesselkleber, Leute, die hinter den Kulisen mit den Feinden des Proletariats gemeinsame Sache machen, die als Parlamentarier oder Gewerkschaftsführer nichts tun, als ihre Auftraggeber in Dummheit und Unselbständigkeit erhalten, jede abweichende Meinung verfolgen, aus Angst um ihr Amt und ihr Einkommen jede ernsthafte Vorwärtsbewegung der Arbeiterklasse aufhalten und ihr die Spitze abbrechen - so etwa sehen in anarchistischer Beleuchtung die Leute aus, die ihre Person, ihre Freiheit und die ganze Tätigkeit ihres Lebens seit Jahrzehnten für die politische und gewerkschaftliche Erziehung und Machterweiterung des Proletariats eingesetzt haben. Man lese die anarchistische Presse, und man wird erstaunt und von Ekel erfüllt sein über das Maß an frivoler Verdächtigung und niedriger Beschimpfung, der dort unaufhörlich Männer ausgesetzt sind, deren die, die sie wirklich kennen und ihre Arbeit nicht kritiklos, aber mit dem ehrlichen Willen des Verstehens verfolgt haben, mit Achtung gedenken.

Und was ist es, was uns dafür  positiv  geboten wird? Es ist nicht möglich, sich einigermaßen ein wirklich klares Bild von der anarchistischen Lehre zu machen. Hat doch jeder Anarchist seine eigene "Theorie", getreu jener absoluten Freiheit, die sich auch auf die Logik und jede Art der Erkenntnis erstreckt. Klar und allen gemeinsam ist nur die Vorsilbe "an": ohne. Ohne Herrschaft, ohne zwingende Verpflichtung, ohne Eigentum - im übrigen bleibt es der Neigung und Phantasie jedes einzelnen überlassen, sich ein rein kommunistisches System der ganzen Menschheit oder größerer Gemeinwesen oder auch der einzelnen Wohn- und Arbeitskommunen - oder frei produzierende und miteinander im Tauschverkehr stehende "Gruppen" - oder auch völlig freie individualistische Konkurrenzwirtschaft auszumalen. Ähnlich ist es mit der Eigentumslosigkeit, dem Kommunismus, der bindenden Wirkung der Vereinbarung. Sicher ist nur, daß es keine Beamten, keine Wahlen oder Abstimmungen, keine Gesetze geben wird. Regierungen sind nichts als schädliche Tiere im blühenden Garten der Individualitäten. Auch in der Arbeiterbewegung und der Revolution sind Organisationen und Leitungen verderblich. Wirksam und segensreich ist nur der ungehemmte Wille der unorganisierten Masse, die in ihrer unerforschlichen Weisheit - wie früher der liebe Gott - alles zum Guten richten, die alte Zwangsherrschaft in einem kühnen Anlauf über den Haufen rennen und die neue gerechte und gütige Ordnung der Dinge, ohne Zwang und Mehrheitsbeschlüsse, ohne Unterordnung oder Beschränkung des freien Willens schaffen wird. Etwas deutlicher ist das, was die Anarchisten  nicht wollen.  Nicht wollen sie die ganze Taktik der sich organisierenden und planvoll diszipliniert kämpfenden Arbeiterbewegung. Die Aktionsmittel, die sie selbst empfehlen, sind fließend und flüchtig wie Meeressand: bewaffneter Aufstand (anfangs der siebziger Jahre in Spanien); Propaganda der Tat durch Mord, Raubmord und Plünderung als Selbstzweck mit Organisierung des Gauner- und Verbrechertums (wie zuletzt in Rußland); dann wieder revolutionäre Gewerkschaften; Produktiv-, Konsum- und Siedlungsgenossenschaften; Kolonnien außerhalb der kapitalistisch und staatlich verseuchten Welt - neuerdings Antimilitarismus und Generalstreik. Die anarchistischen Moden wechseln wie die Pariser Damen, fast ebenso rasch und ebensowenig logisch. Ein geistreicher Franzose hat einmal das Programm des Anarchismus in zwei Paragraphen zusammengefaßt:
    § 1. Es wird nicht sein.
    § 2. Niemand wird beauftragt, diese Bestimmung durchzuführen.
So bleibt also nur die negative Seite: die Bekämpfung der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Aktion.


Antiparlamentarismus

Hört man die Anarchisten, so ist die parlamentarische Tätigkeit der Sozialdemokratie nichts als eine Komödie politischer Streber, die auf den Schultern des Proletariats emporsteigen und im Grunde mit Regierung und Bourgeoisie unter einer Decke stecken. Abgesehen von dem letzten Vorwurf, deckt sich die anarchistische Argumentation auch hier wunderbar mit der unserer unsaubersten Gegner im bürgerlichen Lager, die auch nur gemein persönliche Motive, terroristische und trügerische Mittel unserer Tätigkeit anerkennen. In der systematischen Verleumdung des gehaßten Feindes finden die Anarchisten sich auch hier mit den niedrigsten kapitalistischen Pressesöldnern in holder Eintracht zusammen. Was ist in Wirklichkeit Zweck, Mittel und Erfolg der parlamentarischen Arbeit? Der Parlamentarismus ist die eigentliche Herrschaftsform der Bourgeoisie. Unter einfachen Verhältnissen, ohne Großbetrieb, entwickelten Verkehr und ausgesprochen kapitalistische Entfaltung besteht, je nach der besonderen Entwicklung des Volkes, entweder eine urwüchsige, den bescheidenen und begrenzten gesellschaftlichen Bedürfnissen angepaßte Demokratie oder ein feudal-bürokratischer Absolutismus bevorrechteter Stände - gleichviel, ob in monarchischem oder aristokratischem Gewand. Die entwickeltet Bourgeoisie drängt nach einer anderen Organisation des Staatswesens. Die altväterlich demokratische wie die bevormundend patriarchalische Form sind zu eng für die weitspannenden wirtschaftlichen Gebilde des Kapitalismus, bieten zu wenig Spielraum für die Erwerbs- und Machtgelüste einer an Zahl geringen, an wirtschaftlichen und intellektuellen Machtmitteln reichen und in der Verfolgung ihrer Klasseninteressen skrupellosen Gesellschaftsschicht. Ihre wachsende Bedeutung erzeugt das  parlamentarische System,  in dem sie wirklich, nach Abbé SIEYES' Forderung,  alles  sein kann.

In diesem Zusammenhang und auf dieser Stufe ist das Parlament, namentlich solange es durch Zensur- oder Privilegienwahlen dem Einfluß der Massen entrückt ist, das wirksamste Herrschaftsmittel der Kapitalistenklasse. Niemand hat diese seine Wirksamkeit, die Lüge seiner "Vertretung der Volksinteressen" schärfer kritisiert, die Unzulänglichkeit des ganzen parlamentarischen Systems entschiedener betont als die Sozialdemokratie. Und doch hat sie überall eine ihrer wichtigsten Aufgaben in der Eröffnung der parlamentarischen Bühne für die Vertreter der Arbeiterklasse und der möglichsten Vermehrung dieser gewählten Vertreter erblickt. Geschah das aus Inkonsequenz oder aus dem ihr von den Anarchisten unterstellten gemeinen Motiv, auch teilhaben zu wollen an der parlamentarischen Komödie der Beschwindelung des Volkes zum Zweck seiner Beherrschung und Ausnutzung? Keineswegs! Es ist das Mißgeschick des oberflächlichen und fanatischen Beurteilers, das Wesen und die dauernde Bedeutung einer Sache nie von der geschichtlich gegebenen und vorübergehenden Form, in der sie gerade in Erscheinung tritt, unterscheiden zu können. Wir sahen,, daß der Parlamentarismus das typische politische Herrschaftsmittel der Bourgeoisie ist, wie die das englische Parlament, das französische der Julimonarchie und der dritten Republik, der deutsche Reichstag und der österreichische Reichsrat der 1870er Jahre klar dartun. Aber er ist es durchaus nicht unter allen Umständen. So übt die heutige deutsche Großindustrie, namentlich die "schwere", die Kohlen- und Eisenindustrie von Rheinland-Westfalen, ihren äußerst starken politischen Einfluß am allerwenigsten durch die Parlamente, in denen sie nur schwach - im Reichstag höchstens durch ganz vereinzelte Abgeordnete - vertreten ist, sondern teils direkt durch Geltendmachung ihrer gewaltigen wirtschaftlichen Macht, teils durch ihre Beziehung zu Regierung und Hofkreisen. Ebenso die Hochfinanz - wogegen es dem junkerlichen Großgrundbesitz und der katholischen Kirche gelungen ist, sich auch starke parlamentarische Vertretungen zu sichern.

Aber auf der anderen Seite sehen wir, wie gerade der Parlamentarismus ein Mittel zur Wahrung der  Arbeiterinteressen  und zur Erweiterung und Stärkung ihrer Machtstellung geworden ist. Seit die deutsche Arbeiterbewegung im Parlament vertreten ist, hat sie - abgesehen von einigen Überschwänglichkeiten - niemals einen Zweifel darüber gelassen, daß sie die "Lösung der sozialen Frage", d. h. die Überwindung der Klassenherrschaft und die Sozialisierung der Gesellschaft auf parlamentarischem Weg nicht für möglich hält. Was sie von der parlamentarischen Mitarbeit erhoffte, war nichts anderes als die Benutzung der gesteigerten Erregung der Wahlbewegungen zum Eindringen in weitere Kreise, also zu einer wirksameren Propagierung unserer Ideen - ferner die Verwendung der Parlamentstribüne mit ihrer gesicherten Redefreiheit und dem mächtigen Widerhall im ganzen Land zur wirksameren Kritik des herrschenden Systems und zur Aufklärung der Massen - weiter die erleichterte Kontrolle und intimere Kenntnis der Regierungspolitik und der Praktiken der Verwaltung - schließlich auch die Erringung möglichst vieler, sie es auch, einzeln genommen, kleiner und unscheinbarer Verbesserungen auf sozialem, politischem und kulturellem Gebiet.

Und diese begrenzten und nüchternen Erwartungen haben sich auch in vollem Umfang erfüllt, derart, daß die bisherige Bewegung in ihrem Fortgang die Gewähr des endgültigen Sieges unserer Sache bildet. Während der Anarchismus sich in leeren Phantasien und leeren Schimpfereien erschöpfte und nicht vom Fleck kam, ist die Sozialdemokratie in zäher, unermüdlicher, praktischer Arbeit zu der weitaus stärksten politischen Partei geworden. In den weitesten Volkskreisen ist sie anerkannt als die Schutzwehr der Gerechtigkeit, die Sachwalterin der Bedrückten. Die Beschwerden über Soldatenmißhandlungen, die Mitteilungen über unlautere Beziehungen zwischen Kapital und herrschenden Mächten gehen ihren Vertretern ebenso zu wie die geheimen Erlasse der Regierung, die von ihren Abgeordneten vor der Öffentlichkeit kritisiert werden. Sie sind es, die durch die Brandmarkung der militärischen Greuel, der Ausschreitungen der Klassenjustiz, der Frivolität "weltpolitischer" Dipolomatenstücke, durch Aufrollung des sozialen Elends der Fabrikarbeiter, der Hausindustriellen, der ländlichen Tagelöhner, durch Aufdeckung der Schäden des Zoll- und Steuersystems, der Unzulänglichkeiten der sozialen Gesetzgebung und ihrer Durchführung nach allen Seiten hin das Licht der Erkenntnis verbreiten, die Ausgebeuteten zur Empörung anstacheln.

Und schließlich kann niemand, der mit gerechtem und sachkundigem Blick die Tatsachen betrachtet, bestreiten, daß durch die parlamentarische Mitarbeit auch manche positive Verbesserungen auf sozialem Gebiet erzielt worden sind. So unzulänglich unsere Arbeiterschutzgesetzgebung, unsere soziale Versicherung, die Sozialpolitik der Gemeinden usw. ist, so ist doch eine Reihe von sozialpolitischen Fortschritten durchgesetzt worden, und zum besten Teil durch den Einfluß der sozialdemokratischen Vertreter. Zweifellos bleibt hier noch unendlich viel zu tun, aber die Tatsache, daß ein Einfluß der Arbeiterklasse in negativer wie in positiver Weise durch die Parlamente, die Gemeindevertretungen, die Organe der sozialen Gesetzgebung geübt wird, ist unleugbar. Gewiß muß hier jede Überschätzung vermieden, muß der Aberglaube an eine Allmacht des Parlamentarismus oder auch nur an die Möglichkeit seiner Wirksamkeit ohne den Untergrund einer kraftvollen, klaren und tapferen Klassenbewegung der Arbeiter bekämpft werden. Ja, auch Übergriffe und Fehler durch eine allzu enge Anpassung an die gegebene politische und "nationale" Ordnung können stattfinden und müssen entschieden zurückgewiesen werden (wie das auch überall geschieht) - aber die Tatsache, daß der sozialdemokratische Parlamentarismus in seiner richtigen Funktion, als abhängiges Organ einer zielbewußten Arbeiterbewegung und in stetem Zusammenarbeiten mit der Arbeiterschaft und ihren Organisationen, eine Kraftquelle der Arbeiterbewegung ist, ein Mittel zur Annäherung an unsere letzten Ziele, kann nur von Unwissenden oder Böswilligen geleugnet werden. Der Parlamentarismus der Sozialdemokratie und die Wahlbewegung sind es auch vornehmlich, die das volks- und freiheitsfreundliche Gewand der bürgerlichen Parteien abgerissen, sie in der ganzen Blöße ihrer kapitalistischen Interessenpolitik dargestellt und damit weiten Schichten ihrer proletarischen Anhänger die Augen zu einer besseren Erkenntnis eröffnet haben.

So bekundet sich der Antiparlamentarismus der Anarchisten, möge er sich auf bloßes Schimpfen beschränken oder in der Störung sozialdemokratischer Versammlungen oder auch - wie seinerzeit in Chicago - in der Aufforderung zum Verkaufen der Wahlstimmen, da das Wählen ja doch nur Schwindel sei, äußern, als ein ohnmächtiges Mittel blinder oder verblendeter Toren, die ihre eigene Ohnmacht, ihre Unfähigkeit zum eigenen Schaffen verstecken hinter wilder Begeiferung der redlichen und erfolgreicheren Arbeit anderer.


Anarchismus und Gewerkschaftswesen

Nicht minder deutlich äußert sich diese Unfähigkeit zum Schaffen auf  gewerkschaftlichem  Gebiet. Die Gewerkschaft hat eine doppelte Aufgabe: Durch Organisation der Lohnarbeiter erweckt sie das Klassenbewußtsein, zeigt den Arbeitermassen die Macht, die in ihrer Vereinigung liegt, legt den unüberbrückbaren Gegensatz dar, der die Interessen der Arbeiter und der Kapitalisten trennt, erzieht die Arbeiter zur Leitung ihrer eigenen Angelegenheiten und zum Verständnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge - kurz, sie ist eine Schule des Klassenkampfes und eine Vorschule des Sozialismus. Und zugleich sucht sie durch Vorteile mannigfachster Art: Unterstützungswesen, Regelung der Arbeits- und Lohnbedingungen, Bildungspflege, Beeinflussung der staatlichen und kommunalen Sozialpolitik usw. die Lage der Arbeiter innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu verbessern und möglichst ohne Kampf durch eine friedliche Verhandlung oder gegenseitige Hilfe ihre Ziele zu erreichen. In Wirklichkeit besteht zwischen diesen beiden Aufgaben kein Widerspruch. Der Kampf ist für die Arbeiterbewegung nicht Selbstzweck, sondern nur das Notmittel, wenn gütliche Bemühungen versagen. Und der Schutz der Lebenshaltung wie deren stufenweise Hebung sind Mittel zur allmählichen Annäherung an den Zustand, in dem nach Eroberung der gesellschaftlichen Macht die rasche und durchgreifende Aktion der Sozialisierung einsetzen wird.

Kein Denkender, der auch nur etwas Kenntnis hat von der Macht des Kapitalismus, der gewaltigen Verzweigung seiner Hilfsmittel und der Stärke der Regierungen auf der einen, von der Rückständigkeit weiter Schichten der heutigen Arbeiterbevölkerung, dem nur allmählichen Zuwachs an intellektuellen Kräften und wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit auf der anderen Seite, wird sich der trügerischen Hoffnung hingeben, mit einem Schlag eine völlige Umgestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse herbeiführen und durch irgendein Zaubermittel, bestehe es in Propaganda, politischer Revolution oder der "Revolution der gekreuzten Arme", wie in schön-französischer Phrase der Generalstreik benannt wird, den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzen zu können. Geschichtliche Entwicklungsstufen lassen sich nicht überspringen oder wegdekretieren: eine der wichtigsten Einsichten, die die Arbeiterbewegung dem großen Meister KARL MARX verdankt. Wohl aber, setzt er hinzu, lassen sich die Geburtswehen des Übergangs abkürzen und mildern - umso rascher, je rascher und planvoller die Arbeiterklasse ihre Kräfte zusammenfaßt, um ihre Position zu verbessern und die Entscheidungskämpfe vorzubereiten.

Hierzu aber gibt es ganz gewiß keine unglückseligeren Mittel als die von den Anarchisten, die sich ja als Freunde der wirtschaftlichen Arbeiterbewegung aufspielen, empfohlenen. Zersplitterung, unsteter Wechsel, fliegende Hitze überschwenglicher Aktionen, denen mit dem sicheren Mißerfolg die tatlose Schlaffheit folgt: das sind die Mängel einer unorganisierten Masse, die zu überwinden die ernsteste Aufgabe jeder gesunden Gewerkschaftsbewegung ist. Eben das aber sind auch die Aktionsmittel der Anarchisten, deren Heilungsversuche hier wie überall nur geeignet sind, die beklagten Übel noch zu verschlimmern. Was der Arbeiterklasse gegenüber der alles umfassenden, feinverzweigten und tiefgreifenden Organisation der herrschenden Klassen auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, geistigen Verwaltungslebens am dringendsten nottut, ist gleichfalls  Organisation:  straffe, planvoll auf alle Gebiete sich ausbreitende, wohldisziplinierte Organisation. Der Anarchismus aber bedeutet, lehrt, fördert nichts anderes als  Desorganisation.  Sein Lebensprinzip bewirkt nur die Schwächung der Aktion der Arbeiterklasse. Weil ihm das Verständnis fehlt für Disziplin, die selbstbewußte Unterordnung freier Menschen unter die selbstgeschaffene Ordnung, höhnt er über Führer-Despotismus und Hammelherdengehorsam. Weil ihm Geduld und Opfermut fehlt für die langsame, nicht nach außen renommierende, aber innerlich kraftvolle und unentbehrliche Arbeit des langsamen Aufbaus, spottet er über Unterstützungswesen, Organisationsfragen und das ganze Gebiet der gewerkschaftlichen Verwaltung. Weil ihm die Einsicht in die tatsächlichen Machtverhältnisse, der Ernst zu sachgemäßer Fortbildung der bestehenden wirtschaftlichen Ordnung abgeht, darum schilt er über Kleinlichkeit und Verrat, wenn Tarifverträge und sonstige Regelungen der Arbeitsverhältnisse mit den Unternehmern vereinbart werden. Was natürlich nicht hindert, daß auch die Anarchisten die Vorteile dieser von ihnen geschmähten Vereinbarungen nachher gerne für sich in Anspruch nehmen.

Fluktuation der Mitglieder, die aus der Organisation ein beständig wechselndes Bassin ohne Stetigkeit und Zuverlässigkeit machen muß, niedrige Beiträge, die keine dauernde, kräftig durchgeführte Aktion ermöglichen (1); Zersplitterung der Gruppen und Mangel an geschulten, berufsmäßig tätigen Organen - unter solchen Unzulänglichkeiten leidet anfänglich jede Gewerkschaftsbewegung. Ihr zu begegnen, werden die Beiträge erhöht, um die finanzielle Leistungsfähigkeit zu sichern. Unterstützungen werden eingeführt, die nicht allein den Mitgliedern in Notfällen zustatten kommen, sondern auch dem Verband die nötige Ständigkeit des Mitgliederbestandes sichern und, wie die Arbeitslosenunterstützung, in den Zeiten der Wirtschaftskrise die Lebenshaltung der Berufsgenossen vor der Herabdrückung durch sie sich zu jedem Lohn anbietenden Arbeitslosen schützen. Durch Zentralisation der Ortsvereine und der Branchen in nationalen Industrieverbänden wird den einzelnen Gruppen für Kampf- und Unterstützungszwecke der Rückhalt mächtiger Organisationen gesichert, durch Anstellung erfahrender Kassenbeamter, Redakteure, Gauleiter, Arbeitersekretäre die Tätigkeit praktisch und theoretisch ausgebildeter Vertrauenspersonen, die sich ganz der gewerkschaftlichen Arbeit und der Wahrung der Interessen der Mitglieder widmen. Und Tarifverträge mit den Unternehmern legen die Errungenschaften vieljähriger Kämpfe fest und sichern so den Arbeitern gewisse, den beständigen Kämpfen entrückte Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse, ermöglichen es, die Kräfte für den organisatorischen Ausbau und die Gewinnung und Schulung neuer Mitgliedermassen zu verwenden: den Untergrund für weitere Arbeit, weitere Kämpfe und weitere Errungenschaften.

Die Anarchisten bekämpfen die Zentralisation im Namen der heiligen Souveränität der Einzelnen und ihrer Gruppen. Sie bekämpfen Unterstützungswesen, höhere Beiträge und Berufsbeamte mit den oberflächlichsten und demagogischsten Gründen, wieder im gleichen Ton wie die Reptilien des "Scharfmachertums", dessen Geschäfte sie auch hier aufs Beste wahrnehmen, wenn auch jedenfalls wider Willen und glücklicherweise ohne Erfolg.

Wenn die Anarchisten die Wahrheit sagten, so schritten unsere deutschen Gewerkschaften von Mißerfolg zu Mißerfolg, hätten den Kampfescharakter völlig eingebüßt und tatsächlich keine Bedeutung im wirtschaftlichen Leben. Als Scheingründe dienen ihnen hier die Mißerfolge einiger großer, vorwiegend in der Metall- und Textilindustrie durchgefochtenen Kämpfe, namentlich auch der des großen Bergarbeiterausstandes und der Berliner Metallarbeiteraussperrung. Dabei aber berücksichtigten sie nicht, daß es sich gerade hier um die allerstärksten Gruppen des Großkapitals handelt: daß in den meisten der hier in Betracht kommenden Zweige überhaupt erst seit kurzer Zeit von der Möglichkeit, gegen solche Gegner zu kämpfen, die Rede sein kann; und daß auch hier mit der steigenden Mitgliederzahl und finanziellen Kräftigung erst die gewaltige Stärke gewonnen wird, die erforderlich ist zu solchen Kämpfen mit festgeschlossenen Riesenkapitalisten, hinter denen der ganze Apparat der Großbanken und der Regierung steht. Doch auch hier sind bereits einige Errungenschaften zu verzeichnen. So hat ein Teil der Berliner Metallindustrie sich von der Führung der Scharfmacher befreit und mit dem Verband einen Tarifvertrag abgeschlossen, ebenso wie auch das mächtige und hochmütige Reedereikapital sich schon zu Verträgen mit der früher verachteten Organisation der Hafenarbeiter hat herbeilassen müssen. Und im Baugewerbe, in der Holzindustrie, bei den Buchbindern, in der bayerischen Metallindustrie usw. sind die Aussperrungen des Unternehmertums häufig zurückgeschlagen worden.

Wie unwahr die Behauptung der Anarchisten ist, daß die großen Gewerkschaften durch ihre Zentralisation und ihre Unterstützungseinrichtungen ihren Charakter als Kampforganisationen und Mittel zur Hebung der Lage der Arbeiter einbüßten, wird durch die Tatsachen bewiesen. So hatte der Deutsche Maurerverband, der im Jahre 1906 seine Mitgliederzahl von rund 159 000 auf nahezu 184 000 erhöht hat, in diesem Jahr für Lohnkämpfe nicht weniger als 1 240 259 Mark verausgabt (dazu 24 195 Mark für Gemaßregelte). (2) Und von  sämtlichen Zentralverbänden  wurden für Streikunterstützung 13 748 412 Mark ausgegeben), (3) mehr als in den 12 Jahren 1891 bis 1902 zusammen. Der Holzarbeiterverband verzeichnete im Jahre 1906 insgesamt 1236 Lohnbewegungen mit 68 938 Beteiligten. In 599 Fällen wurden die Differenzen ohne Kampf erledigt. Außerdem gab es 374 Angriffsstreiks, 187 Abwehrstreiks und 40 Aussperrungen mit zusammen 23 038 Beteiligten. Von diesen Kämpfen waren, soweit Berichte vorlagen,  erfolgreich  390 (66,2 %) mit 15 867 Personen (59,7 %); teilweise erfolgreich 76 (12,9 %) mit 4896 Personen (18,4 %); erfolglos 123 (20,9 %) mit 5797 Personen (21,9 %). Der entgangene Arbeitsverdienst belief sich auf 2 439 866 Mark, wovon 823 984 Mark durch Streikunterstützung gedeckt wurden. Damit wurde erzielt für 36 570 Kollegen (im Vorjahr 25 485) eine Verkürzung der Arbeitszeit um durchschnittlich 2,7 (2,4) Stunden pro Woche und für 46 942 (32 708) eine Lohnerhöhung von 1,67 (1,62) Mark pro Mann und Woche: insgesamt rund 5 Millionen Stunden Arbeitszeitverminderung und rund 4 Millionen Mark Lohnerhöhung aufs Jahr. (4)

Und vom Verband der Zimmerer wurden im Jahre 1905 für 33 700 Mitglieder in 376 Filialen Lohnerhöhungen von 1 bis 7½ Pfennig pro Std. erzielt. 123 Mitglieder wurden wegen "Streikvergehens" unter Anklage gestellt, und in etwa 47 Fällen erfolgten Verurteilungenn zu insgesamt 2¾ Jahren Gefängnis und 774,50 Mark Geldstrafe.


Schluß

Ich habe diese Verhältnisse etwas eingehender beleuchtet, um daran die Haltlosigkeit und Leichtfertigkeit der anarchistischen Gewerkschafts taktik  zu zeigen, die sich erdreistet, mit lokalistischer Zersplitterung der Organisation, mit der Unbeständigkeit des Mitgliederstammes, den der Verzicht auf Unterstützungseinrichtungen mit sich bringt, ohne Ansammlung genügender Mittel nur durch "Begeisterung" und "Elan" den Kampf mit dem Kapital auszufechten. Gerade, als ob eine Schar zusammengelaufener und immer wieder auseinanderlaufender, schlecht bewaffneter und undisziplinierter Leute eine moderne, schwer ausgerüstete und gut verteidigte Festung im Sturm nehmen wollte. Solche Sturmangriffe ohne Vorbereitung und Zusammenhang sind die einzige Kampfeswaffe der Anarchisten, denen die langsam-zähe Arbeit des Festungskrieges viel zu langweilig und umständlich ist. Jeden Streik zu einem Sympathie-Generalstreik ausdehnen, der dann unweigerlich verloren geht; ohne finanzielle Kräftigung und ausgebaute Organisation "direkte Aktion" zur Gewinnung des Achtstundentages unternehmen, die keine starke Unternehmermacht brechen und nur zur Entlassung der energischsten Gewerkschafter und ihrem Ersatz durch Streikbrecher führen muß: das sind so die Kampfmittel von Leuten, deren Schicksal es ist, nie zu lernen und stets Kinder zu bleiben. Freilich allzuoft bösgeartete Kinder. Wo eine Gewerkschaft an ständigen Mißerfolgen krankt, da stellt sich unweigerlich der Anarchist ein, der zeigt, daß "alles doch nichts nützt", und daß nur ein eleganter Sprung, unter Verzicht auf alle Hilfsmittel, aus der Grube ans Licht emporführen wird. Der Erfolg ist, daß mit allen Sprüngen jene in ihrer tiefen Elendsgrube stecken bleiben - bis sie entschlossen die leeren anarchistischen Ratschläge beiseite werfen und mit den erprobten Mitteln der Gewerkschaftsbewegung Schritt für Schritt sich emporzuarbeiten beginnen. Diese Einsicht hat sich bei den  holländischen  Arbeitern, die lange genug der anarchistischen Lockung gefolgt sind, durchgerungen. Heute ist die Gewerkschaftsorganisation der Anarchisten dort ohnmächtig. Sie hat in Italien und großenteils auch in Spanien wie in Österreich die Windbeutelei der Anarchisten den Arbeitern enthüllt und sie zur planvollen und mühsamen, dafür aber auch erfolgreichen Taktik der Sozialdemokratie und der organisierten Gewerkschaftsarbeit geführt. Und ich zweifle nicht, daß die bisherigen und die noch bevorstehenden Erfahrungen auch in Frankreich und Rußland zur völligen Überwindung des anarchistischen Fiebers, dieses Symptoms der Unreife und inneren Kraftlosigkeit, führen werden, jenes Strudels ohne Ziel, der in den meisten germanischen Ländern: in Deutschland wie in England und beiden skandinavischen Völkern nie die geringste Wirkung auf den breiten und tiefen Strom der Arbeiterbewegung geübt hat. Er kann nirgends mehr sein als ein bloßes Durchgangsstadium, das gegenüber der Macht der Erkenntnis und unter dem Druck der wirtschaftlichen Notwendigkeit rasch überwunden wird.

Mag die ferne Zukunft der sozialistischen Entwicklung sich die Formen der gesellschaftlichen Organisation schaffen, die dem Stand der dann lebenden Menschen entsprechen werden; mag dereinst ein gewaltiger Auffschwung der Produktivität der Arbeit und eine tief-sittliche Erziehung aller zum sozialen Pflichtgefühl jede Form des Zwangs und der unfreiwilligen Unterordnung überflüssig machen:  Heute haben wir mit den Menschen und Dingen zu rechnen, die wir vor uns sehen.  Heute ist es eine Frivolität, die an Verrat grenzt, gegenüber dem schwergepanzerten Riesenkapitalismus die Arbeiterschaft auf den leichten Stab unorganisierter und planloser Unternehmungen zu verweisen. Und völliger Verrat ist es, durch eine planmäßige Verdächtigung und Verleumdung der tausendfältig bewährten Taktik der Arbeiterbewegung und ihrer Vertrauensleute die Massen einfangen zu wollen für Luftgebilde, die vor dem rauhen Luftzug der Wirklichkeit bald verfliegen, und die als ihren Niederschlag auf dieser nüchternen Erde nichts zurücklassen als Enttäuschungen und Nichtswürdigkeiten.

Doch die Gefahr, daß der Anarchismus je auf die Dauer siegreich werden und die Aktion der Arbeiterklasse entkräften könnte, ist  nicht  vorhanden. Überall führt die Erkenntnis von der gewaltigen und geschlossenen Macht des Feindes und die Einsicht in die Notwendigkeit, ihr eine gleich gefestigte und leistungsfähige Organisation der Arbeiterklasse entgegenzustellen, die Arbeiter zur Klarheit über die theoretische Hohlheit und praktische Gefährlichkeit der anarchistischen Heilmittel. Der wirkliche Schaden besteht aber nur in den inneren Kämpfen, die der Anarchismus in die Arbeiterbewegung trägt, und die ihre Aktionskraft vermindern und verlangsamen.

Aber auch das wird überwunden werden - umso rascher, je intensiver eine ernsthafte theoretische Aufklärung und kräftige praktische Arbeit betrieben, der Einfluß wirrer Köpfe und unlauterer Charaktere ferngehalten wird. Unsere Parole heißt:  Einigkeit und geschlossenes Vorgehen.  Vorwärts und aufwärts führt uns die Kampfesbahn. Mögen immer gemächliche Schlachtenbummler und verdächtige Marodeure im Vollgefühl ihrer "Freiheit" sich vereinzelt am Weg herumtreiben!
LITERATUR: Simon Katzenstein, Der Anarchismus und die Arbeiterbewegung, Berlin 1908
    Anmerkungen
    1) SOMBART zitiert einen englischen Gewerkschafter, nach dem der "Idealismus" gewisser französischer Gewerkschafter immer zum Hochheben der Arme, nie aber zum Greifen in die Tasche ausreicht. Und ebenso ist die ständige Klage unserer Anarchistenpresse - jede "Gruppe" von einigen Dutzend Mann hat ihr eigenes Organ, damit nur ja der geheiligten Individualität nichts abgehe - das Ausbleiben der Beiträge und der Abonnementsgelder: gerade kein Zeichen der werktätigen Begeisterung, die doch die verachtete "Herdendisziplin" ersetzen müßte.
    2) Im Jahre 1907: 1 701 309 (und 60 251) Mark
    3) Im Jahre 1907: 13 196 363 Mark
    4) Im Jahre 1907: für 21 664 im Durchschnitt 2,6 Stunden wöchentliche Arbeitszeitverkürzung (dazu später in Kraft tretend für 20 119 im Durchschnitt 1,1 Stunden) - für 44 360 im Durchschnitt 1,45 Mark Lohnerhöhung wöchentlich (später in Kraft tretend für 12 884 im Durchschnitt 1,11 Mark).