p-4 Jürgen MittelstraßRobert Tigerstedt    
 
RUDOLF HOLZAPFEL
Wesen und Methoden
der sozialen Psychologie


"Eine Änderung der Gedanken, der Orientierung in Bezug auf menschliche Erlebnise und Beziehungen kann überhaupt eine entsprechende Wertschätzungsänderung (Reform, bzw. Revolution) mit sich bringen: so kann eine positive Orientierung, welche die positive und negative Bedeutung der Erlebnisse und Beziehungen für die Menschheitsentwicklung hervorhebt, den konstanten Absolutismus der Isolationswertschätzung in sporadischen Relativismus umwandeln. Es ergibt sich für die Sozialwissenschaft die Aufgabe, ihre Begriffe einer durch sie selbst vervollkommneten Wertkritik zu unterwerfen, um hierdurch eine bedeutendere Impulsivkraft für das individuelle und menschheitliche Leben zu erreichen."

Der allgemeinste rein kopierende Begriff einer Wissenschaft entsteht meistens aus Vorstellungen, welche auf möglichst voller Inkludierung typischer und individueller Naturmomente, viel seltener aus solchen, welche auf möglichst voller Inkludierung typischer, möglichst voller Ausschaltung individueller Naturmomente und auf organistischer, relativ voller Ergänzungskomplementierung beruhen, weil sich die letztere vor hinreichender Orientierung gewöhnlich anorganisch gestaltet.

Nachdem aber der allgemeinste, rein kopierende Begriff einer Wissenschaft, somit auch der Sozialwissenschaft, schon entstanden ist, wird hierdurch das Entstehen solcher konkreter Vorstellungen sehr befördert, die auf Inkludierung solcher typischer Momente, welcher der Allgemeinbegriff hervorhebt, auf Ausschaltung derjenigen individuellen Momente, welche er nicht hervorhebt und auf  organischer,  relativ voller Ergänzungskomplementierung beruhen. - Somit vermag das Hervorbringen des allgemeinsten rein kopierenden Allgemeinbegriffs dem ästhetishen Vollendungsmaximum viel seltener, als der hervorgebrachte Allgemeinbegriff bedeutend angenähert zu werden, da er sehr leicht und häufig konkrete Vorstellungen assoziative hervorrufen kann, welche auf möglichst voller Inkludierung typischer, möglichst voller Ausschaltung individueller Naturmomente und auf organischer, relativ voller Ergänzungskomplementierung beruhen. - Nachdem der Sozialphilosoph den allgemeinsten, rein kopierenden Begriff der Sozialwissenschaft hervorgebracht hat, kann er zu den abstrakten Konkretisierungen, d. h. zum Verallgemeinern der Teilgebiete I., II., III. ... N-ter Ordnung des gesamten Gebietes der Sozialwissenschaft schreiten. Vom allgemeinsten empirischen Sozialbegriff kann er also zunächst zum Verallgemeinern eines Teilgebietes I. Ordnung schreiten, welches weniger Glieder als das Gesamtgebiet umfaßt. Er kann jetzt eher als beim Hervorbringen des allgemeinsten Begriffs des sozialen Gesamtgebiets von solchen Vorstellungen ausgehen, welche durch organistische Komplementierung, bzw. organische, relativ volle Ergänzungskomplementierungen mitbedingt worden sind, weil sie jetzt viel leichter und häufiger entstehen und weil er schon über die gemeinsamen Momnte sämtlicher Bestandteile des sozialen Gesamtgebietes, somit auch über diejenigen gemeinsamen Momente sämtlicher Bestandteile des Teilgebiets I. Ordnung, welche auch sämtlichen Bestandteilen aller anderen Teilgebiete gemein sind, hinreichend orientiert ist. Er kann, von solchen Vorstellungen ausgehend, eher zum allgemeinsten, rein kopierenden Begriff des Teilgebiets I. Ordnung gelangen, als er vorher von ihnen ausgehend, den des sozialen Gesamtgebietes bilden konnte. Nachdem er den allgemeinsten Begriff des Teilgebietes I. Ordnung gefunden hat, kann der Sozialphilosoph zum Verallgemeinern eines Teilgebietes des Teilgebiets I. Ordnung, d. h. zum Teilgebiet zweiter Ordnung fortschreiten, wobei er noch eher von organisch komplementierten Vorstellungen ausgehen kann, als beim Hervorbringen des allgemeinsten Begriffs des sozialen Gebietes und des Teilgebietes erster Ordnung, weil er über diejenigen gemeinsamen Momente sämtlicher Bestandteile des Teilgebiets zweiter Ordnung orientiert ist, von denen manche sämtlichen Bestandteilen des Gesamtgebietes erster Ordnung und somit auch denen des Teilgebietes zweiter Ordnung gemein sind.

Zu je weiteren Konkretisierungen der Teilgebiete III., IV., ... N-ter Ordnung der Sozialphilosoph schreitet, desto eher kann er sich der organisch komplementierten Vorstellungen zum Abstrahieren allgemeiner Begriffe bedienen, ohne Gefahr zu laufen, individuelle, bzw. anorganische Momente in die hervorzubringenden Begriffe zu inkludieren.

Hat der Sozialphilosoph auf diesem Konkretisierungsweg sämtliche Teilgebiete I., II., III., ... bis zur N-ten Ordnung erschöpft, welche sich auf das in Vergangenheit und Gegenwart Vorkommende beziehen, so kann er zu weiteren Abstraktionen nur durch  Fingierung  typisch analoger Vorstellungskomplexe mittels möglichst voller Inkludierung typischer Ausschaltung individueller Naturmomente und organischer Zusatz-, bzw. Ergänzungskomplementierung gelangen. Die so entstandenen Begriffe werden umso revolutionärer und umso mehr neu sein, je voller die vorhergehende Ausschaltung individueller Naturmomente und die Ergänzungskomplementierung war.

Ein sozialphilosophisches Schaffen wird umso mehr dem ästhetischen und wissenschaftlichen Vollendungsmaximum angenähert werden, auf je mehr abstrakte Konkretisierungsreihen es sich erstrecken wird, deren Abstraktionen nur aus organisch relativ voll ergänzungskomplementierten Vorstellungen hervorgehen konnten.

Das Gebiet sozialer Menschenbeziehungen ist so unabsehbar groß, daß eine sehr spezialisierte Teilgebietssystematik kaum antizipiert werden könnte. Vielmehr müßte eine solche Systematik aus den Forschungen der Sozialphilosophen allmählich herauswachsen. - Die einzelnen Menschengefühle sind so sehr miteinander verknüpft und kommen in so zahlreichen Modifikationen und Verschlingungen vor, daß fast ein jedes Gefühl zu Gegenstand einer eigenen Disziplin werden könnte. Wahrscheinlich wird eine solche Psychologie in Zukunft sehr kultiviert werden.

Die  Wahl und der Umfang  der Teilgebiete wird in der Sozialwissenschaft bedeutend mehr von den Lebensbedürfnissen des Philosophen mitbedingt und bestimmt werden, als in anderen Wissenschaften, da die Sozialwissenschaft über sämtliche geistige Verkehrsverhältnisse des Menschenlebens orientieren soll. Je komplizierter und mannigfaltiger die Erlebnisse des Sozialphilosophen, desto kompliziertere und mannigfaltigere eigene und mitmenschliche Orientierungsbedürfnisse wird er, hinreichende Begabung und Vorbereitung vorausgesetzt, durch seine Sozialanalysen befriedigen können. - Meine eigenen sozialpsychologischen Untersuchungen, die in meiner  Psychologie der sozialen Gefühle  (1) enthalten sind, entsprangen hauptsächlich ethischen und künstlerischen Bedürfnissen, die mich beim völligen Mangel an entsprechender, deskriptiver fremder Erfahrungsorientierung zum  Selbst-hervorbringen  einer solchen drängten. Das Auffinden der unumgänglichen Bedingungen der Annäherung der menschlichen und menschheitlichen Entwicklung an das allseitige Vollendungsmaximum empfand ich als größte und großartigste Aufgabe des Philosophen und gelangte so zur allgemeinen genetischen und vergleichenden Analyse des menschlichen Idealverhaltens, d. h. des Verhaltens, welches antizipierte und verwirklichte "Ideale" betrifft. Erst nach der zentralsten und wichtigsten Problemlösung der "Ideal"-Psychologie ist mir die Systematik meiner Sozialpsychologie völlig klar geworden, da sie sich zum großen Teil - ganz unwillkürlich und nicht nur aus antizipierten methodologischen Reflexionen entwickelt hatte.

Die Frage nach dem möglichst vollkommenen Ideal, nach einem Panideal, welches für ein Individuum von größtmöglicher Entwicklung unvermeidlich und unentbehrlich wäre - kann nur nach vorhergehender allgemeiner Analyse des Idealverhaltens überhaupt und nach der  ethischen, ästhetischen bzw. künstlerischen  und sämtlichen Schätzungsverhaltens beantwortet werden. - Die Lösung der Teilfragen der Idealpsychologie nach dem möglichst vollkommenen ethischen, ästhetischen, entwicklungspsychologischen Ideale etc. muß aus den allgemeinsten Analysen menschlichen Schätzens und Schaffens hervorgehen, soll sie nicht das Schicksal der Predigten teilen. - Da die Annäherung an das Vollendungsmaximum nur durch Vergleichen verschiedener Entwicklungsinhalte zustande kommen kann, so müssen auch alle vorbereitenden sozial- und koordinationspsychologischen Analysen die graduellen Entwicklungsunterschiede der menschlichen Individuen und der Entwicklungsphasen eines Individuums berücksichtigen und hervorheben. Die Psychologie sowohl der entwicklungsgenialsten und produktivsten Individuen, als auch der minimal Entwickelten, wird auf diesem Weg nicht in zwei heterogene Teilgebiete zerklüftet, sondern durch End- und Übergangsglieder einheitlich nuanciert. Fast bei jedem Verhalten, bei allen Gefühlen wurden die intra- und extrasozial unterscheidenden graduellen Merkmale gesucht und wenigstens angedeutet. Dieses Verfahren finden in den Schätzungsanalysen selbst seine ethische und ästhetische Rechtfertigung und Billigung. Da diese Rechtfertigung für die ganze Sozialanalyse wesentlich charakteristisch ist, so will ich sie hier besonders hervorheben. Die Psychologie sowohl der entwicklungsgenialsten und produktivsten Individuen, als auch der minimal Entwickelten, wird auf diesem Weg nicht in zwei heterogene Teilgebiete zerklüftet, sondern durch End- und Übergangsglieder einheitlich nuanciert. Fast bei jedem Verhalten, bei allen Gefühlen wurden die intra- und extrasozial unterscheidenden graduellen Merkmale gesucht und wenigstens angedeutet. Dieses Verfahren finde in den Schätzungsanalysen selbst seine ethische und ästhetische Rechtfertigung und Billigung. Da diese Rechtfertigung für die ganze Sozialanalyse wesentlich charakteristisch ist, so weill ich sie hier besonders hervorheben.

Die unumgängliche Mitbedingung einer bedeutenden Entwicklungsfähigkeit ist eine hinreichend bedeutende Selbstentwicklung und Selbstentwicklungsliebe, bzw. hinreichend stabiles und intensives Begehren oder Wollen der Beförderung und Erhaltung eigener Entwicklung. Die relativ bedeutende und komplizierte Selbstentwicklungsliebe setzt ein relativ bedeutendes und kompliziertes  Verstehen  nicht eigener Entwicklung voraus:
    1. weil jene stets an eine relativ bedeutende und komplizierte Selbstentwicklung geknüpft ist;
    2. weil sie stets eine größere Selbstentwicklung antizipiert als diejenige ist, welche das antizipierende Individuum besitzt. Diese Antizipation könnte ohne irgendwelche Kenntnis nichteigener Entwicklung und ohne irgendwelche Übung im ästhetischen Genießen fremder Mehrentwicklung bedeutend kompliziert nicht vorkommen.
Dieses Verstehen nichteigener Entwicklung kann sich zum Mitgefühl, bzw. Gegengefühl steigern. Für je unumgänglicher ein Individuum die nichteigene Entwicklung als Mittel für Beförderung der eigenen hält, je unentbehrlicher sie dem Individuum als solches und als Mittel ästhetischen Genusses oder anderer sozialer Vorteile ist (wie z. B. des Mitgefühls, Mitkampfes, Mithilfe etc.), desto intensiver, häufiger, stabiler und befestigter sind die positiv altruistischen Gefühle und Handlungen, deren Objekt die nichteigene Entwicklung ist. Je entwickelter und entwicklungsfähiger ein Individuum ist, desto größere und kompliziertere nichteigene Entwicklung kann ihm unentbehrlich und Objekt hoher altruistischer und ästhetischer Gefühle werden. Je entwickelter es ist, desto größer müßte seine Selbstentwicklungsliebe, somit die Liebe der analogen Selbstentwicklungsmittel, also vorzüglich der eigenen und nichteigenen Entwicklung gewesen sein.

Die unumgängliche Mitbedingung der größtmöglichen Selbstentwicklung ist die größtmögliche Selbstentwicklungsliebe, geknüpft an größtmögliche Entwicklungsliebe überhaupt, d. h. entsprechende, rein deskriptive Sozialorientierung vorausgesetzt, an größtmögliche Liebe der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung.

Wie der Mensch aus nacheinanderfolgenden und gleichzeitigen Änderungskomplexen, so besteht auch die Menschheit aus nacheinanderfolgenden und gleichzeitig nebeneinander vorkommenden Menschengruppen. Ein jeder Mensch ist in manchen Richtungen mehr entwicklungsfähig, in manchen mehr entwickelt, als in anderen, somit kommt bei allen eine ganze Skala von nacheinanderfolgenden und gleichzeitigen potentielen und kinetischen Entwicklungskräften vor. Demnach besteht die Menschheitsentwicklung aus einer Skale von kinetischen und potentiellen inter- und intra-individuellen Entwicklungsunterschieden.

Je mehr die Entwicklung eines Individuums dem Vollendungsmaximum angenähert ist, desto näher ist auch die Liebe der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung ihrem Vollendungsmaximum. Dabei entspricht die Skale der Liebesintensitäten der mehr oder weniger deskriptiv erfaßten Skala inter- und intra-individueller Entwicklungsunterschide; die größere Liebe wird auf die für größer geschätzte (eigene oder nichteigene) Entwicklung gerichtet.

Nur bei Beobachtung des Postulats unterschiedsgradueller Entwicklungsberücksichtigung kann die bedeutenste, vielseitigste und komplizierteste Menschheitsentwicklung erreicht, bzw. erhalten, bewahrt, gerettet werden:
    1. weil die Aufopferung größerer Entwicklungsfähigkeit, bzw. Entwicklung um einer geringeren willen vermieden,
    2. weil unvermeidlichenfalls die geringere Entwicklung, bzw. Entwicklungsfähigkeit um einer größeren willen aufgeopfert wird.
Nur bei Beobachtung des Postulats unterschiedsgradueller Entwicklungsberücksichtigung kann die Entwicklungssteigerung der größtmöglichen Menschenanzahl zustande kommen. Für die größtmögliche Entwicklungssteigerung bedeutend entwicklungsfähiger Individuen ist nämlich die der meist-entwicklungsfähigen, für die nicht bedeutend und wenig entwicklungsfähigen Individuen, die der bedeutend und somit auch die der meist-entwicklungsfähigen unerläßlich.

Die Absicht eines Menschen kann auf die Beförderung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung gerichtet sein und dennoch wegen der Unvollkommenheit der Ausführungsmittel statt zum beabsichtigten Erfolg, zur Hemmung oder Schädigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung führen. Analog kann die Absicht auf Hemmung oder Schädigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung gerichtet sein und dennoch wegen der Unvollkommenhit der Ausführungsmittel statt zum beabsichtigten Erfolg, zur Beförderung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung führen. - Demnach wird die Beförderung, bzw. Hemmung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung umso mehr von den Absichten des Individuums und umso weniger von unvorhergesehenen, unerwünschten Umständen abhängen, je entwickelter und je vollkommener orientiert das Individuum sein wird. - Die Hemmung, bzw. Schädigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung erfordert bei weitem unkompliziertere Mittel (schon die Unterlassung der Förderung kann als ein solches gelten) als deren Beförderung. Unvorhergesehene Umstände förden die unterschiedsgraduelle Menschheitsentwicklung nur sehr selten; dafür hemmen sie dieselbe sehr häufig, weil sie doch leichter geschädigt als gefährdet werden kann. Die eventuelle Schädigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung, bzw. Gefahren, Bedrohungen in Bezug auf dieselben ließen sich sehr häufig und sehr leicht, jedenfalls bei weitem leichter als deren Förderungsmittel von normalen Individuen voraussehen. Absichten, welche auf Lebensänderungen ohne positive Mitberücksichtigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung gerichtet sind, führen sehr häufig zur Hemmung derselben.

Enthielten sie diese Mitberücksichtigung, so wäre dieser Hemmung in vielen und vielleicht in den meisten Fällen vorgebeugt. Unvermutet könnten dann nur entwicklungsfördernde, wenn auch unbeabsichtigte Erfolge kommen. Überdies vervollkommnen die auf unterschiedsgraduelle Menschheitsentwicklung gerichteten oder mitgerichteten Absichten die Orientierung des Individuums in Bezug auf Beförderung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung und steigern so die Möglichkeit, in der Folge solche, bzw. ähnliche Absichten ausführen zu können. Folglich könnten die auf Beförderung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung gerichteten oder mitgerichteten Absichten normaler Menschen unter vielen, vielleicht meisten Umständen zum Objekt rein deskriptiver, positiver Kritik in Bezug auf unterschiedsgraduelle Menschheitsentwicklung werden, allenfalls unter bei weitem mehr Umständen als die, welche entweder auf Hemmung der letzteren oder auf irgendwelche Lebensänderungen ohne positive Mitberücksichtigung der unterschiedsgraduellen Menschheitsentwicklung gerichtet sind.

Bevor ich an die Darstellung der Systematik der Hauptgebiete meiner Sozialpsychologie gehe, will ich vorerst die Methoden der vorausgeschickten vorbereitenden Analysen schildern. Letztere verhalfen mir nämlich zur Erweiterung und schärferen Bestimmung der Sozialpsychologie. - Am prägnantesten können die sozialen Verkehrsgefühle hervorgehoben und analytisch abgegrenzt werden, wenn man deren Analyse die Untersuchung der mit ihnen direkt kontrastierenden Gefühle, d. h. der  Isolationsgefühle  entgegenstellt.

Das Isolationsgefühl stellt sich hier als ein soziales Beziehungsgefühl dar, welches nur als Kontrast zum Verkehrsgefühl zur Abhebung gelangt, auf einem Verhältnis der Individuen zu ihren Verkehrsobjekten beruth und ohne solches ganz unvorstellbar ist. Eine Beziehung, ein Verhältnis kann geändert, modifiziert werden, wenn ein Glied oder mehrere, bzw. alle Mitglieder variiert werden.

Somit vermag die soziale Koordinationspsychologie und analog die Soziologie die mannigfaltigsten Beziehungsvariationen nur durch Substituierung allerlei individueller Inhalte anstelle der zum Zweck einer begrifflichen Variierung ausgeschalteten Mitgliedsinhalte analytisch zu zergliedern und zu konkretisieren.

So erhalten wir für die Sozialwissenschaft folgendes methodologisches Variierungsschema:
    I.Für die soziale Koordinationspsychologie:
    Änderung der Beziehung:
    1. durch Änderung der Individuums;
    2. durch Änderung des Beziehungsgegengliedes
      a) des wahrgenommenen
      b) des vorgestellten [b1: kopierten; b2: fingierten; b3: anthropomorphen; ab1: extrasozialen; ab2: intrasozialen;
    3. durch Änderung sowohl des Individuums, wie auch seines Beziehungsgegengliedes

    II.Für die Individualsoziologie:
    Änderung der Beziehung:
    1. Durch Änderung des Individuums;
    2. Durch Änderung der Beziehungsgruppe, bzw. der Beziehungsgruppen
      a) der wahrgenommenen;
      b) der vorgestellten [b1: kopierten; b2: fingierten; b3: anthropomorphen;
    3. durch Änderung sowohl des Individuums, wie auch seiner Beziehungsgruppe, bzw. Beziehungsgruppen.

    III. Für die Soziologie:
    Änderung der Beziehung:
    1. durch Änderung einer sozialen Gruppe;
    2. durch Änderund einer Gegenglied-Gruppe
      a) wahrgenommenen;
      b) vorgestellten [b1: kopierten; b2: fingierten; b3: anthropomorphen
    3. Durch Änderung aller Gruppen
Diese Variationen können das gesamte Menschenleben: Erhaltung, Entwicklung, Lust, Unlust betreffen.

Daher kann das obige Schema folgendermaßen konkretisiert werden
    I. Für die soziale Koordinationspsychologie:
    Änderung der Beziehung:
    1. durch Änderung des Erhaltungs - Entwicklungs - Lust - Unlust - Zustandes oder aller dieser Zustäde des Individuums
    2. oder des Beziehungsgegengliedes;
    3. oder sowohl des Individuums, wie auch des Beziehungsgegengliedes.

    II. Für die Individualsoziologie:
    Änderung der Beziehung:
    1. durch Änderung des Erhaltungs - Entwicklungs - Lust - Unlust - Zustandes, oder aller dieser Zustände des Individuums;
    2. oder der Beziehungsgruppe, bzw. Beziehungsgruppen;
    3. oder sowohl des Individuums, wie auch der Beziehungsgruppe, bzw. -Gruppen.

    II. Für die Soziologie
    Änderung der Beziehung:
    1. durch Änderung des Erhaltungs - Entwicklungs - Lust - Unlust - Zustandes oder aller dieser Zustände der Gruppe;
    2. oder der Gegenglied-Gruppe;
    3. oder sowohl der Gruppe, wie auch der Gegengliedgruppe.
Welche Substituierungsarten können bei der Anwendung dieser Variierungsmethode vorkommen? - Da die Menschheit ein unterschiedsgradueller Entwicklungskomplex ist, so können allerlei Individuen als Repräsentanten der unterschiedsgraduellen Entwicklungsskala substituiert werden. Damit aber das Werden psychischer Bestände scharf und klar hervortrete, ist es unumgänglich, verschiedene Entwicklungsphasen eines und desselben Individuums zu substituieren. So muß man von einem bestimmten Zustand ausgehen, das Anderswerden desselben, seine Bedingungen, wie auch seine bestimmende Bedeutung für die Beziehung darstellen und dann zum Endglied dieses Werdens, zum neuen Zustand und zur entsprechend modifizierten Beziehung gelangen.

Die menschlichen Beziehungsglieder stehen im engsten Zusammenhang mit nicht-menschlichen Komplexen. Die Änderungen dieser Komplexe kommen natürlich bei denen der Beziehungsglieder, bzw. der Beziehungen mehr oder minder in Betracht - je nachdem sie eine mehr oder minder bedeutende Mitbedingungsrolle spielen. Hier können und müssen oft allerlei Hilfswissenschaften eingreifen, sollen die Sozialwissenschaften nicht einseitig psychologisch oder gar unpsychologisch werden. Man vergesse aber nicht, daß es sich hier um Mitbedingungen psychischer Erlebnisse handelt und daß die nichtpsychologischen Hilfswissenschaften auf Kosten der Psychologie nicht überschätzt werden dürfen.

Eine ausführlich konkretisierende Untersuchung müßte demnach die den Anfangs-, Übergangs- und Endzustand der Beziehungsglieder mitbedingenden, außerhalb der sozialen Beziehung liegenden Komplexänderungen berücksichtigen, ja, oft ganz besonders hervorheben. Sämtliche psychophysiologische Zustände des Menschen sind zugleich Entwicklungs-Mitbedingtes und Entwicklungsmitbedingung. Daraus ergibt sich eine neue Aufgabe der Analyse:
    1. die Bedeutung der Beziehungen für die Entwicklung, bzw. Rückentwicklung der Beziehungsglieder und der Menschheit;
    2. die Entwicklungsstufe, welche die Anfangs-, Übergangs- und Endzustände der Beziehung in der unterschiedsgraduellen Entwicklungsskala des Individuums und der Menschheit einnehmen;
    3. die außerhalb der geistigen Beziehung vorkommenden Mitbedingungen der Entwicklung, bzw. Rückentwicklung - darzustellen.
Sämtliche psychophysischen Zustände sind aber  auch  zugleich Mitbedingtes und Mitbedingung von Erhaltung und Lust, bzw. Unlust; somit ergibt sich die Aufgabe:
    1. die Bedeutung der Beziehungen für die Erhaltung und Lust-, bwz. Unlust der Beziehungsindividuen und der Menschheit;
    2. die Erhaltungs- und Gefühlsstufe, welche die Anfangs-, Übergangs- und Endzustände der Beziehung in der unterschiedsgraduellen Erhaltungsskala des Individuums und der Menschheit einnehmen. (Die Erhaltungsskala unterscheidet sich sehr wesentlich von der Entwicklungsskala);
    3. die außerhalb der geistigen Beziehung vorkommenden Mitbedingungen der Erhaltung und Lust, bzw. Unlust darzustellen.
Auf diesem Weg kann man vervollkommnete Kriterien der Entwicklung, Erhaltung und Lust gewinnen.

Da die Entwicklungssteigerung erst in der Zukunft ihre Verwirklichung erreichen kann, so können sowohl die Bedingungen als auch die Inhalte unerreichter Entwicklung nur durch analoge Antizipierungen vorgestellt werden. Nur solche Komplementierungen vermögen das Leben des Individuums und der Menschheit zu revolutionieren und dem Vollendungsmaximum anzunähern. Diese Antizipationen können zu Maßstäben für die jeweilige individuelle Entwicklung werden. Sie entsprechen aber nur dann der Wirklichkeit, wenn sie die allen Annäherungen an das Vollendungsmaximum gemeinsamen Momente begrifflich inkludieren.

Daß hier die geringste methodische Unvorsichtigkeit oder Neigungsschwäche zu ungeheuerlichen Zukunftsdeutereien führen kann, ist selbstverständlich.
    "Das wissenschaftliche Ideal der (soziologischen) Dynamik ist die Astronomie. Wie diese Sonnen- und Mondfinsternisse auf Jahrtausende hinaus mit unfehlbarer Sicherheit vorausberechnen kann, so möchte sie, als Ideal gedacht, die Konstellation des künftigen sozialen Geschehens mit mathematischer Präzision voraussagen und wenn irgend möglich, diese Prognose in mathematische Formeln kleiden. Hier nun befindet sich die Soziologie auf einem Irrweg, in einer Sackgasse, aus welcher wir sie befreien müssen, sollen wir anders jener Gefahr entrinnen, welcher einst die Geschichtsphilosophie, die Vorläuferin der Soziologie, erlegen ist, daß sie nämlich ihre Ziele zu hoch gesteckt hat und an der Trunkenheit ihrer Phantasie zugrunde gegangen ist." - LUDWIG STEIN, Wesen und Aufgabe der Soziologie.
Eine Änderung der Gedanken, der Orientierung in Bezug auf menschliche Erlebnise und Beziehungen kann überhaupt eine entsprechende Wertschätzungsänderung (Reform, bzw. Revolution) mit sich bringen: so kann eine positive Orientierung, welche die positive und negative Bedeutung der Erlebnisse und Beziehungen für die Menschheitsentwicklung, bzw. für die unterschiedsgraduelle Menschheitsentwicklung hervorhebt, den konstanten Absolutismus der Isolationswertschätzung in sporadischen Relativismus umwandeln. Es ergibt sich für die Sozialwissenschaft die Aufgabe, ihre Begriffe einer durch sie selbst vervollkommneten Wertkritik zu unterwerfen, um hierdurch eine bedeutendere Impulsivkraft für das individuelle und menschheitliche Leben zu erreichen.

Dem Obigen gemäß müßte man bei der Untersuchung der Isolation von den Verkehrsgefühlen ausgehen, um durch den Übergangszustand des Isoliert- werdens  zum Isoliert- sein  zu gelangen. Dabei zeigt sich aber auch eine nachfolgende Umkehrung des Verhältnisses sehr fruchtbar und für sämtliche Beziehungsanalysen sehr empfehlenswert. So entstehen folgende Schemata:
    A. Verkehrsgefühl - Isoliert-werden - Isolation.
    B. Individuum verkehrend, ändert sich - wird isoliert, ist verändert - ist isoliert.
    C. Individuum verkehrend, wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt, oder mehr (positiv, bzw. negativ) erhaltungsgesichert, - wird isoliert, ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder mehr (positiv, bzw. negativ) erhaltungsgesichert - ist isoliert.

    Umkehrung:
    A. Isolation - Verkehrssozial-werden - Verkehrsgefühl.
    B. Individuum ist isoliert, ändert sich - wird verkehrssozial, ist verändert - Individuum verkehrt.
    C. Individuum ist isoliert, wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert - wird verkehrssozial, ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert - verkehrt.
Die Analyse dieser Fälle macht die der andern, welche auf Änderung der Verkehrsobjekte oder sämtlicher Beziehungsglieder beruhen, beinahe überflüsig, weil sich die letztere Analyse sehr leicht analog aus der ersteren erschließen läßt. - Schon die Sprache trennt die Isolation in  "Einsamkeit"  und  "Vereinsamung".  Die Analyse zeigt, daß das Gesamtgebiet der Isolation in der Tat aus diesen zwei Hauptarten besteht, daß somit die Psychologie und Soziologie der Isolaton in die Untersuchung der  Einsamkeit  und die Analyse der  Vereinsamung  begrifflich zerfällt.

Während die Einsamkeit mehr den Charakter der Freiwilligkeit besitzt, so ist die Vereinsamung durch die Unfreiwilligkeit, den Zwang, die Notwendigkeit charakterisiert. Es muß also gezeigt werden, wie Individuen von allerlei Entwicklungsgraden und in allerlei Entwicklungsphasen zum Begehren, bzw. Wollen einer Verkehrsunterbrechung gedrängt, wie sie durch eigene oder nichteigene Änderung zur Verkehrsunterbrechung gezwungen und wie sie von andern Individuen von allerlei Entwicklungsgraden und -Phasen verstoßen, verlassen, verbannt werden. So können die Keime der Feindseligkeiten, Entzweiungen, Kriege, die gegenseitige Entfremdung von Gruppen, Rassen, Völkern beleuchtet werden.

Die Isolation kann durch Unterbrechung des Verkehrs des Individuums mit Mitmenschen oder mit sich selbst bedingt werden.

Die Isolationsanalyse zerfällt demnach in neue Abzweigungen:
    1. Untersuchung der Isolation in Bezug auf Mitmenschen;
    2. Untersuchung der Isolation in Bezug auf sich selbst. Während die Unterbrechung des Verkehrs mit den Mitmenschen sowohl durch geistige wie auch körperliche, bzw. räumliche Trennung bedingt werden kann, so vermag das Individuum in Bezug auf sich selbst fast nie räumlich, meistens nur zeitlich isoliert zu werden.
Der Verkehr mit den Mitmenschen kann entweder teilweise oder völlig, dagegen der mit sich selbst nur teilweise und nur mit dem Tod vollständig aufgehoben zu werden.

Somit muß die Analyse ferner in folgende Teilgebiete geschieden werden:
    1. Untersuchung der Isolation unter Mitmenschen;
    2. Untersuchung der mitmenschenleeren Isolation;
    3. Untersuchung der Isolation in Bezug auf sich selbst.
Die Menschen sind Elementenkomplexe, welche sich stets ändern und neue Kombinationen eingehen. Sie können sich also in Bezug auf vergangene, gegenwärtige und künftige Entwicklungszustände isoliert fühlen. Demgemäß soll der Sozialforscher die Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsisolation als drei Teilgebiete begrifflich voneinander abgrenzen. Hier könnte man analog auch allerlei reaktionäre und fortschrittliche Strömungen untersuchen, welche durch Isolationsgefühle in Bezug auf vergangene Zeitalter, Kulturen, einzelne Bestandteile derselben, wie auch in Bezug auf vorausgedachte, künftige Kulturen, Kämpfe und Strömungen mitbedingt werden.  Die Untersuchung der Isolation ist Bezug auf Vorstellungen  ist vielleicht das reichste Teilgebiet der Isolationsanalyse. Auf diesem Gebiet bewegt sich der Forscher ebenso frei von wahrnehmbaren Fesseln, wie der Mathematiker auf dem seinigen; wenn er nur recht viel erlebt und durch hinreichend mannigfaltige Wahrnehmungsbeziehungen seine Vorstellungstätigkeit vervollkommnet hat - so wird er die historisch gewordenen Vorstellungsbeziehungen in all ihrer Kompliziertheit nachbilden und vielleicht eine neue mit Leichtigkeit gestalten können. Die Welt der Vorstellung ist unendlich größer als die der Wahrnehmung. Ist die Wahrnehmung eine Quelle der Vorstellung, so ist die letztere oft eine Schöpferin der neuen Wahrnehmung. Kein Mensch vermag mit dem bloßen Wahrnehmungsverkehr auszukommen - ein jeder sucht und findet seinen Vorstellungsverkehr. Dieser vermag seine Bedürfnisse bedeutend leichter und häufiger als der Wahrnehmungsverkehr zu befriedigen, weil er viel freier als der letztere gewählt werden kann. In diesen Analysen wird man reiche Aufschlüsse über die verborgensten Motive und Geheimnisse religiösen und metaphysischen Verhaltens finden. Sämtliche Religionen, die metaphysischen System und die besten Kunstwerke beweisen uns, daß die Menschen wenigstens ebenso oft mit ihren Vorstellungen wie mit ihren Wahrnehmungen verkehren. Somit wird der Isolationsforscher die große Aufgabe haben:
    1. die religiöse,
    2. die metaphysische,
    3. die philosophische und künstlerische Vorstellungsisolation
möglichst genau zu untersuchen.

Eine Übergangsanalyse werden hier die Isolationsuntersuchungen in Bezug auf introjektionistisch, bzw. anthropomorph aufgefaßte Wahrnehmungskomplexe bilden.

Sehr fruchtbar müßte auch eine Analyse des Introjezierens der Verkehrs- und Isolationsgefühle in Wahrnehmungs- und Vorstellungs-, selbst Begriffskomplexe werden. Auch die  Erkenntnistheorie  müßte dabei gewinnen, da die Gefühle des "Wissens", "Erkennens", "Seins" etc. zweifelsohne Nachklänge menschlicher Beziehungen enthalten. Alles, was der Mensch wahrnimmt oder vorstellt, findet er als Glied eines Zusammenhangs vor. Da dieses Zusammenhang-vorfinden an allem Vorkommenden erfahren, erlebt wird - wird  alles  auf dieses Grunderlebnis mehr oder minder bewußt apperzeptiv zurückgeführt. Alles wird nicht nur als ein Zusammenhangsglied, sondern als ein allem andern, als solches Zusammenhangsglied Ähnliches, d. h. als  "Etwas"  erlebt. Gelangt dieses  Etwas-Erlebnis  zur vorzüglichen Abhebung und wird es mit relativ konstanter Aufmerksamkeit fixiert, so entsteht das "Sein", d. h. das relativ konstante Aufmerken auf das Etwas-Erlebnis. - Ist einmal die Seinserfahrung entstanden, so kann sie antizipiert werden; knüpfen sich an die "Seins-Antizipation" "Erwartung" und Spannungsgefühle in Bezug auf ein Etwas-Erlebnis, welches aber zur erwarteten Zeit nicht eintrifft, so entsteht das  "Vermissen von Etwas",  das Erleben von  "Nichts"  und  "Nichtsein",  dem sich Enttäuschungsgefühle anschließen.

Die soziale Gewohnheit, sich selbst als ein "Ich", ein "Einzelsein", somit als Gegenglied einer menschlichen Beziehung zu erleben, geht fast imme auf das Etwas-Erlebnis über. Die "Zusammenhänge" alles Vorkommenden werden dann als "Beziehungen", d. h. "soziale Beziehungen" introjektionistisch empfunden: das "Sein" wird als "Einzelsein", als "Subjektsein" erfahren. Dieses Gefühl kann ganz analog zum menschlichen "Einzelsein" mannigfaltigste Variationen durchlaufen: so kann es zum "Einzigsein", "Ausnahmesein", zum "Idealsein" werden.

Da die Sozialwissenschaft fast immer mit dem Ichbegriff operieen muß uns besonder die Individualsoziologie die Ichbeziehungen hervorzuheben die Aufgabe hat - so sollte der Soziologe die  Ich-Analyse  und deren Konkretisierungen durchaus nicht vernachlässigen und womöglich mit derselben  nicht  allzuspät nach den allgemeinsten koordinationspsychologischen Begriffsbestimmungen einsetzen.
Ich habe diese Untersuchung mit der Isolationsanalyse, welcher sie doch sehr verwandt ist, verwoben. Die wichtigste Konkretisierung der Ich-Untersuchung ist die  Analyse des Genies,  welche selbstverständlich mit der Auffindung des  allgemeinsten,  empirischen  Geniebegriffs  beginnen muß, wenn der Forscher, statt sich wissenschaftlich theoretisch zu verhalten, nicht in das hergebrachte subjektive Genieschätzungsverfahren geraten soll. Nur eine so konkretisierte Analyse der Ichgefüle vermag den großen Streit der Geschichtsforscher und Soziologen hinsichtlich der Feststellung des "Verhältnisses" des "Individuums", bzw. "Genies" zur "Gruppe", "Gesellschaft" oder "Masse" einer endgültigen Lösung entgegenzuführen.

Die Desorientierung auf diesem Gebiet hat sowohl für die Wissenschaft, wie für Politik und Pädagogik die verhängnisvollsten Folgen gehabt. Gerade diese Erkenntnislücken sind für politische Agitatoren und ehrgeizige Selbstverherrlicher sehr erwünscht. Die einen vergöttern das Volk, die Gesellschaft, die Masse, die andern das Individuum, den Einzelnen, den Einzigen, das Genie. Aber keiner dieser Götzendiener vermochte klar und deutlich zu sagen, was er unter Bezeichnungen, wie "Gesellschaft", "Einziger", "Genie" verstehe.

Während manche das Beeinflußtwerden des "Genies" durch seine Umgebung verleugnen, so möchten ihm andere sogar seine Existenz absprechen. Alle heben sie aber als allgemeines Merkmal des Genies nicht die Genieschätzung, sondern bevorzugte,  individuelle  Inhalte derselben hervor.

Gewöhnlich wird das Neuschaffenkönnen oder auch die mystische "Intution" als "Genie" generalisiert. Um zu erfahren, wie das "Genie", bzw. das "schöpferische" oder "intuitive" Genie durch seine "Umgebung" beeinflußt werde, muß man, von einer allgemeinen Analyse menschlichen Handelns ausgehend, bis zur Analyse menschlichen Schaffens und Neuschaffens gelangen. Daß aber ein jedes menschliches Individuum überhaupt beeinflußt wird, kann niemand im Ernst bezweifeln, der nicht von bösen metaphysischen Geistern besessen ist.

Je entwicklungsfähiger ein Individuum ist, desto vielseitiger kann es von der Umgebung beeinflußt werden. So ein Bedingtwerden soll man natürlich nicht mit dieser oder jener Abart desselben verwechseln oder identifizieren. Je nach der Anlage des Individuums und je nach der Art und Entwicklung seiner Umgebung kann seine eigene Entwicklung so oder anders bedingt oder bestimt werden. Die Umgebung kann entweder "Entwicklungsähnlichkeit" oder "Entwicklungsunähnlichkeit", mitbedingen, so daß das eine Individuum zur möglichst großen Übereinstimmung in Geschmack, Moral etc. mit seinem Volk, seiner Berufsgruppe, seiner Gesellschaft, seiner Zeit; ein anderes zur Empörung, eventuell zur Revolutionierung gedrängt wird. In beiden Fällen muß man ein soziales Gegenglied annehmen; im ersten dasjenige, mit welchem das Individuum übereinstimmt, im zweiten das Objekt, gegen welches das Individuum reagiert.
    "Wie große politische Persönlichkeiten das soziale Milieu durch ein entscheidendes Machtwort oder eine gewaltige Tat umstempeln können, so auch künstlerische und wissenschaftliche das literarische Milieu." - LUDWIG STEIN, Sozialphilosophie
Ein höchst wichtiges Teilgebiet der Analyse menschlichen Handelns, nämlich die Analyse menschlichen "Kampfes" wird nicht nur über das Verhältnis von Individuum, bzw. Genie zur Umgebung bedeutende Aufschlüsse geben, sondern auch die Grundlage soziologischer Untersuchung der Politik und des Krieges bilden. Da der Kampf eine Kombination von Angriff und Verteidigung ist, so zerfällt die Kampfanalyse in die des Angriffs und der Verteidigung. Angriff und Verteidigung sind Handlungen, somit kann deren Untersuchung in folgende Teilanalysen zerfallen:
    1. in die der Absichten, bzw. Zwecke, Ziele (Wollungsantizipationen); 2. in die Mittel, bzw. Waffen
      a) Angriffsmittel
      b) Verteidigungsmittel
    3. in die des Erfolgs und der Folgen (bzw. des Sieges und der Niederlage).
Die allgemeinsten Schemata wären:
    A. Kampflose Beziehung - Angreifen - Angriff;
    B. Individuum in kampfloser Beziehung - ändert sich, beginnt anzugreifen - ist verändert, greift an;
    C. Individuum in kampfloser Beziehung - wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder mehr (positiv, bzw. negativ) erhaltungsgesichert - beginnt anzugreifen, ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder mehr (positiv, bzw. negativ) erhaltungsgesichert - greift an.

    Umkehrung:
    A. Angriff - Friedlichwerden - Friede;
    B. Individuum greift an - ändert sich, wird friedlich - ist verändert, ist friedlich;
    C. Individuum greift an - wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert - wird friedlich, ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert, ist friedlich.


    II. A. Kampflose Beziehung - Verteidigen - Verteidigung.
    B. Individuum in kampfloser Beziehung, ändert sich, beginnt zu verteidigen - ist verändert, verteidigt;
    C. Individuum in kampfloser Beziehung - wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert, beginnt zu verteidigen - ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt, bzw. erhaltungsgesichert, verteidigt.

    Umkehrung:
    A. Verteidigung - Friedlichwerden - Friede;
    B. Individuum verteidigt - wird mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert, wird friedlich - ist mehr (positiv, bzw. negativ) entwickelt oder erhaltungsgesichert, ist friedlich.
Die menschlichen "Waffen" sind so verfeinert und differenziert, daß ein "Kampf" selbst in menschenscheidender zeitlicher und räumlicher Entfernung stattfinden kann. Diesen Kampf könnte man als einen mit Vorstellungskomplexen betrachten, weil die Kampfgegner sich nicht wahrnehmen. Einen Gegner kann man sich
    1. als gegenwärtig existierend
    2. als in Vergangenheit gewesen,
    3. antizipativ als künftig vorstellen.
Im Kampf mit vergangenen Individuen, bzw. Generationen erlebt der Mensch die Produkte, Schöpfungen derselben, bzw. Bestandteile der letzteren als Bedingung unerwünschten Variierens seines eigenen oder fremden "Ich". Findet er jene Vergangenheitsprodukte als Bestandteil eines nichteigenen "Ich" vor, so entsteht ein Kampf mit einem gegenwärtigen Gegner zum Zweck der Änderung, bzw. Aufhebung unerwünschter Ichbestandteile des Gegners, wobei diese Bestandteile den Charakter von Kulturwaffen vergangener Menschen, bzw. Generationen gewinnen und der Kampf sich zum Doppelkampf modifiziert.
LITERATUR: Rudolf Holzapfel, Wesen und Methoden der sozialen Psychologie, Archiv für systematische Philosophie, Bd. IX, Neue Folge, Berlin 1903
    Anmerkungen
    1) RUDOLF HOLZAPFEL, "Panideal", Psychologie der sozialen Gefühle; mit einem Vorwort von Ernst Mach, Leipzig 1901