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JÜRGEN MITTELSTRASS
Das Problem des methodischen Anfangs

"Begriffliche Arbeit ist zunächst einmal Arbeit an den elementaren Bausteinen des Denkens."

Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Denken aber bedarf der Disziplinierung, der  methodischen  Vernunft, wenn anders nicht an die Stelle einer dogmatischen Überlieferung, gegen die sich Aufklärung stets wendet, eine  vagabundierende  Vernunft, ein geistreicher Dilettantismus, der mehr unterhalten als begründen will, treten soll.

Mit anderen Worten: Aufklärung bedeutet den Gebrauch der Vernunft, sie ist weder stationär, ein Zustan, noch billig von andern zu haben, und sie ist  begriffliche  Arbeit, weil Klarheit innerhalb des Denkens immer auch begriffliche Klarheit ist.

Also genügt es nicht, die Maxime lediglich als einen negativen Grundsatz aufzufassen, mit dessen Hilfe man sich gegenüber fremdem Denken ein wenig Spielraum verschafft, sie schließt vielmehr die Aufforderung zur methodischen Vernunft mit ein. Die Redlichkeit der Begründungsbemühung bleibt ein gutgemeinter Vorsatz, solange ihr die nun einmal nötigen begrifflichen Mittel fehlen.

Der logische Aufbau begründenden Sprechens sowohl hinsichtlich seiner elementaren als auch hinsichtlich seiner komplexen Teile - und nichts anderes ist hier mit begrifflichen Mitteln gemeint - stellt somit den handwerklichen Teil aufgeklärten Denkens dar, in dem sich zeigen muß, ob eine ihrer Absicht nach vernünftige Selbständigkeit auch in der Lage ist, methodische Vernunft schon in ihren ersten Schritten nachzuweisen.

Das zentrale Problem, mit dem jedes aufgeklärte Denken zunächst einmal fertigwerden muß, ist das Problem des methodischen Anfangs. Umgekehrt wiederum läßt sich ein Denken, dessen Absicht in der hier getroffenen Unterscheidung nicht die vernünftige Selbständigkeit ist, gerade dadurch charakterisieren, daß in ihm die Frage, wie man methodisch anfangen soll, keine Rolle mehr spielt. Sie wird dann entweder als bereits hinreichend beantwortet angesehen oder nicht einmal mehr als methodisch wichtige Frage aufgeworfen. In beiden Fällen schiebt sich wieder Geschichte vor den Gebrauch der Vernunft und läßt die Frage des Anfangs zu einem bloß biographischen Datum werden.

Wer mit der Geschichte  anfängt,  nutzt jetzt nur noch die Variationsfähigkeit des überkommenen Denkens aus, sei es in Form gelehrter Anmerkungen, sei es in Form  neuer  Entwürfe, die sich zumeist unschwer als voraussetzungsgleiche Alternativen erkennen lassen. Der Baukasten, den die Geschichte nur allzu bereitwillig denen, die es noch einmal versuchen wollen, in die Hände gibt, hält in (geschriebenen oder ungeschriebenen) Anweisungen noch manche Bauweisen offen, Arbeit an den Bausteinen selbst sieht er dagegen nicht vor.

Genau darum geht es aber. Begriffliche Arbeit ist zunächst einmal Arbeit an den elementaren Bausteinen des Denkens. Arbeit also nicht so sehr in dem Sinne, daß mit terminologischen Bestimmungen und einzelnen Schlußweisen gleich frei operiert wird, sondern diese Bestimmungen und Schlußweisen selbst allererst auf ihre methodische Durchsichtigkeit hin, daß Maß der Begründungsleistung, die schon hinter diesen elementaren Schritten steht, geprüft werden.

Ein kritisches Organon, nicht erst eine neue theoretische oder praktische Philosophie, macht bereits deutlich, ob im besonderen Fall mehr als der bloße Wille zur vernünftigen Selbstständigkeit die Bemühung bestimmt. Die Bewährung im Formalen bedeutet daher auch nichts anderes ald die Rechtfertigung einzelner methodischer Schritte durch den methodischen (logischen) Aufbau dieser Schritte selbst.

Wo eine solche Rechtfertigung, intersubjektiv kontrollierbar, gelingt, darf die Maxime, jederzeit selbst zu denken, als befolgt betrachtet werden; wo sie hingegen mißlingt oder nicht einmal, im Vertrauen auf die Geschichte, gesucht wird, kann auch von einer Bewährung im Formalen nicht die Rede sein, tritt erneut an die Stelle der methodischen Vernunft, die jener Maxime folgt, die dogmatische Vernunft, deren Berufung auf sich selbst (auf eine quasi  vererbte  Verläßlichkeit) in Wahrheitnur Berufung auf die Geschichte ist.

Wer eine vernünftige Selbständigkeit sucht und diese auch artikulieren will, muß also über gelegentlich geäußerte Kritik an  fremdem  Denken und dabei geltend gemachte Vorsätze zu geschichtsunabhängigen Betrachtungen hinaus anfangen. Und dieser Anfang muß, um nicht doch wieder auf Geschichte hinauszukommen, im Rahmen methodologischer Bemühungen erfolgen, diese zumindest von vornherein einschließen, da nur so die Behauptung, keine ungeklärten Voraussetzungen mitzuführen, wirklich einlösbar ist. Ein kontrollierbarer Begründungszusammenhang von Sätzen, von dem bisher schon mehrfach zur Charakterisierung der theoretischen und der praktischen Vernunft, insbesondere im Zusammenhang einer methodischen Darstellung der neuzeitlichen Physik gesprochen wurde ist insofern gleich ein recht anspruchsvolles Beispiel dafür, welche Rolle derartige Bemühungen im Aufbau des Wissens spielen.

Über Begründungszusammenhänge entscheidet ja nicht  inhaltliches  Denken, sondern  formales  Denken, also Logik, sofern diese in der Lehre von der (logischen) Implikation eine Theorie von Begründungszusammenhängen liefert. Ein weniger anspruchsvolles Beispiel ist die Lehre vom Begriff, in der zwar auch schon (im Rahmen der Ersetzbarkeit von Begriffswörtern durch äquivalente Wörter) von Sätzen (nämliche äquivalenten Sätzen) die Rede ist, deren Zusammenhang aber bloß durch begriffliche Bestimmungen (ohne explizit eingeführte logische Partikel, die zu einer Theorie der Implikation gehören) hergestellt wird.

Nun handelt es sich in beiden Fällen, sowohl bei dem Begründungszusammenhang von Sätzen als auch bei den Begriffen, bereits um spezielle Lehrstücke einer Methodologie, die so, wie sie in diesen Beispielen erscheinen mag, auch gesondert, nämlich als Logik, gelehrt und gelernt wird. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist nicht die These, daß jegliches Philosophieren mit Logik anzufangen habe, wohl aber, daß es Logik in sich aufnehmen muß, und zwar wiederum nicht als etwas, das andere machen, sondern als etwas, das immer auch zur eigenen Arbeit gehört.

Und nur weil es dabei um solche Lehrstücke geht, die nicht schon inhaltliche Sätze des eigenen Denkens sind und ohne die zudem noch das eigene Denken seine methodische Sicherheit verliert, empfiehlt es sich, gleich mit diesen Stücken anzufangen. Und dies vor allem dann, wenn wie zu Beginn jeder (historischen) Aufklärung vernünftige Selbständigkeit, also in gewissem Sinne selbst etwas Formales, die betonte Absicht eigener Bemühung ist.

Sofern sich dabei Aufklärung, wie dies innerhalb der ersten Aufklärung deutlich der Fall war, unter anderem auch gegen den mythischen Schein, die Behauptung absoluter menschlicher Ohnmacht, zu wenden hat, mag eine derartige Reihenfolge nicht allzu wichtig sein; in der Wendung gegen den sophistischen Schein, die Behauptung absoluter menschlicher Eigenmächtigkeit, wird sie auch innerhalb der ersten Aufklärung relevant. Denn gegenüber diesem sophistischen Schein hilft nu die Einsicht weiter, daß jede Behauptung die Verpflichtung zur Begründung nach sich zieht und Begründung ihrerseits ein methodisch kontrollierbares Geschäft, kein eristischer Zufall, ist.

Wenn also PLATON und ARISTOTELES ausdrücklich auch auf die methodischen Voraussetzungen des Denkens reflektieren, dann nicht zuletzt in der Absicht, eine bereits gegenüber der mythischen Einstellung artikulierte Selbstständigkeit als fehlgeleitete, in Wahrheit unvernünftige Selbständigkeit entlarven zu können. Das gleiche gilt  mutatis mutandis  (mit den notwendigen Änderungen) für die zweite Aufklärung, wenn auch unter der veränderten, die Situation noch verschärfenden Voraussetzung, daß diese Aufklärung nun weder ein rein mythisches noch ein rein sophistisches Denken, weder die mythische Negation der Selbständigkeit noch deren sophistische Potenzierung, vor sich hat.

Sie hat vielmehr ein scheinbar (nicht zuletzt der eigenen Behauptung nach) wohlbalanciertes Verhältnis von menschlicher Ohnmacht und Selbständigkeit vor sich, das auf den ersten Blick, zumal aus der Sicht des vor-neuzeitlichen Menschen, aus der ersten Aufklärung nur gelernt, sie nicht etwa übersehen oder gar rückgängig gemacht hat. Daß dies in Wahrheit jedoch nicht so ist, dogmatische Behauptungen über Gott, Mensch und Welt einen festen Kanon bilden, in den nun selbst Geschichte als vermeintlich begründendes Element eingegangen ist, wurde schon gezeigt.

Trotzdem ist damit die Aufgabe der zweiten Aufklärung schwieriger geworden. In Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vorgeschichte, der Tradition vor-neuzeitlichen europäischen Denkens, ist sie ständig der Gefahr ausgesetzt, ihrerseits zu viel zu behaupten. Der Versuch, selbst ohne Geschichte auszukommen, das Denken von neuem zu beginnen, vermag sich in der Regel nur sehr unzureichend der Versuchung entziehen, für jeden Satz der Tradition gleich einen besseren Satz bereitzuhaben. Daß auch dies noch eine Form von Geschichtsabhängigkeit ist, bleibt dabei oft unverstanden.

Anders die methodische Bemühung, die als begriffliche Arbeit an den elementaren Bausteinen des Denkens dieser Gefahr entgeht. Hier fällt es in gewissem Sinne leichter, von vorne zu beginnen. Da es im Rahmen von Logik und Methodologie immer auch um die ersten Schritte geht, begriffliche Arbeit an elementaren Bausteinen im Grunde nichts anderes als deren anfängliche Bereitstellung ist, muß hier, was innerhalb des theoretischen und praktischen Denkens eine, oft geradezu geschichtlich getadelte (!), Ausnahme bleibt, die Regel sein.

Die schon von KANT so verstandene Aufforderung, Aufklärung nicht in Kenntnisse, sondern in die Redlichkeit der Begründungsbemühung zu setzen, wird somit noch begünstigt durch den Umstand, daß die Frage nach einem neuen Anfang ihrerseits bereits ein methodologische Frage ist.

Innerhalb der zweiten Aufklärung ist diese Frage auch stets so behandelt worden. D.h. überall dort, wo sich eine neuartige vernünftige Selbständigkeit, sei es unter Hinweis auf eine erfolgreiche Naturwissenschaft, sei es in Erwartung paradiesischer Lebensbedingungen, zu artikulieren sucht, geschieht dies im Bewußtsein, daß allgemein eine Steigerung des poietischen (nachahmenden) Könnens auf besseren methodischen Einsichten beruht.

Fortschritt bleibt, charakteristischerweise als  progrés de la raison  bezeichnet, ursächlich mit einem methodisch neu gesetzten Anfang verbunden, selbst wenn er endlich nur noch als ein bloßes Anwachsen faktischen Wissens und dessen technischer Nutzung verstanden wird. Darüber hinaus gehören Traktate über die Methode zum festen Bestand literarischer Tätigkeit, sie bilden gewissermaßen die Leitpublikationen der zweiten Aufklärung. Angefangen mit DESCARTES "Regulae ad directionem ingenii" und dem "Discours de la méthode", über LOCKEs "Essay", den wiederum LEIBNIZ neu zu formulieren sucht, und HUMEs erstem "Enquiry" bis hin zu KANTs "Kritik der reinen Vernunft" schreibt man, um mit SPINOZAs unvollendetem Traktat zu reden,  de emendatione intellectus  (Verbesserungen des Intellekts).

Nach der aristotelischen Einteilung rückt damit gegenüber Metaphysik und praktischer Philosophie des Organon in den Mittelpunkt des Interesses, womit wiederum nicht auch schon eine Entscheidung über den sachlichen Primat einer Disziplin gefallen ist, sondern lediglich der Einsicht Rechnung getragen wird, daß jeder theoretische oder praktische Entwurf schließlich genau so ernst zu nehmen ist, wie er seinerseits begriffliche Arbeit ernst nimmt.

Aufklärung läßt sich in diesem Sinne auch als die methodisch gewordene Vernunft verstehen, wobei allerdings gleich unterstellt wäre, daß  methodisch  immer schon  begrifflich klar  heißen darf. Faktisch, d.h. für den einzelnen oder gar eine ganze Epoche, ist dies zumeist nur angenähert der Fall, da natürlich auch der Wille zur methodischen Vernunft noch hinreichend Raum für pseudo-begriffliche Überlegungen läßt.

THESEUS hatte ein Wollknäuel, den Faden der Ariadne, der ihn nach getaner Arbeit, der Liquidierung des Minotaurus, wieder aus dem Labyrinth führte. Das neuzeitliche Denken, das sich in das Labyrinth der Philosophie begibt, um dort dem scholastischen Geist aufzulauern, besitzt ein solches Knäuel nicht und findet daher auch nur sehr langsam, seine gute Absicht zum einzigen Begleiter nehmend, aus diesem herrenlos gewordenen Gebäude heraus.

Die Sprache wäre ein guter Faden gewesen; sie blieb auch nicht unbemerkt, doch verhaspelt sich gerade hier das Denken immer wieder bei dem Versuch, einer wohl ungewohnt schlichten Auskunft zu folgen. Statt auf die möglichen Leistungen der Sprache zu reflektieren, bemüht es sich um eine Klärung vorsprachlicher Ideen, um so - wie es scheint - dem Faden besser folgen zu können; es gibt Knoten und Schlingen. Noch innerhalb des alten Gebäudes baut sich das neuzeitliche Denken ein neues, neuzeitliches Labyrinth.

Aus diesem Labyrinth hat das neuzeitliche Denken erst in diesem Jahrhundert wieder herausgefunden, insofern erst jetzt deutlich zu werden beginnt, daß Sprachphilosophie weniger eine besondere philosophische Disziplin neben anderen philosophischen Disziplinen, etwa der Bemühung um das Recht oder der Bemühung um die Natur, ist, auch solche Disziplinen wie Psychologie oder Sinnesphysiologie in ihrem Aufbau nicht schon voraussetzen muß, sondern selbst eine Grundlegung der Philosophie leistet und damit auch allein imstande ist, das Problem des methodischen Anfangs zu lösen.

Sowohl innerhalb der analytischen Philosophie, die heute ihrer Herkunft nach so verschiedene Positionen wie die des logischen Empirismus (RUDOLF CARNAP, HANS REICHENBACH) und die der  Oxford-Philosophy  (LUDWIG WITTGENSTEIN, JOHN L. AUSTIN) repräsentiert, als auch innerhalb der konservativer gesonnenen kontinentalen Entwicklung von inhaltbezogener Sprachwissenschaft (LEO WEISGERBER) und Sprachhermeneutik (MARTIN HEIDEGGER) ist dieses Problem in Angriff genommen und, abgesehen von einer pragmatisch- behavioristisch Wendung des logischen Empirismus (CHARLES MORRIS im Anschluß an CHARLES S. PEIRCE und WILLIAM JAMES), in der erneut eine fremde Disziplin, hier die (empirische) Semiotik, zur Begründung auch noch des sprachlichen Verhaltens herangezogen wird, unter Hinweis auf die Unhintergehbarkeit der Sprache zu lösen versucht worden.

Wenn dabei auch der Rekurs auf die Umgangssprache als letzte Metasprache, wie man sich nun auszudrücken pflegt, unbefriedigend bleibt, eine methodisch voreilige Einschränkung gegenüber der Möglichkeit einer geordnet aufgebauten Sprache bedeutet, und in diesem Zusammenhang auch nur das Sprachvermögen, nicht aber das faktische Sprechen, um dessen Disziplinierung es in erster Linie geht, unhintergehbar ist, so lassen alles diese Bemühungen doch erkennen, daß das neuzeitliche denken seine sprachlichen Voraussetzungen nunmehr erreicht und erstmals nicht aus einem ästhetischen (stilistischen) Interesse, sondern aus einem methodisch-exakten Interesse bemerkt, daß es selber spricht. Vernunftkritik wird zur Sprachkritik, Erkenntnistheorie zu Logik und Sprachphilosophie.

Was diese Einsicht so lange verzögert hat, ist in der vorausgegangenen kritischen Darstellung der Positionen DESCARTES und LOCKEs hinreichend deutlich geworden. Das psychologistische Mißverständnis, wonach erst eine Theorie über  innere  Vorgänge das Sprechen, nunmehr als etwas bloß Äußerliches aufgefaßt, zu erklären vermag, bzw. die Annahme, daß Wörter nichts anderes als Namen für Ideen (oder Vorstellungen), diese wiederum Bilder von Weltausschnitten sind, läßt einer Reflexion auf begriffliche (sprachliche) Mittel, also den logischen Aufbau begründenden Sprechens hinsichtlich seiner elementaren und seiner komplexen Teile, als ein von vornherein ergänzungsbedürftige, wenn nicht in dieser Form gar falsch gestellte Aufgabe erscheinen.

Eines Mannes "Speech or Discourse is a publishing of some Energy or Motion of Soul", schreibt noch 1751 JAMES HARRIS in seinem, auch in Deutschlang einflußreichen Buch "Hermes: or a Philosophical Inquiry Concerning Language an Universal Grammar" (1). Psychologie, in erkenntnistheoretischen Traktaten, auch cartesischer Tradition, um sinnesphysiologische Teile ergänzt, verspricht den Schlüssel zum exakten Denken obgleich andererseits gerade die zeitgenössische Psychologie, eine philosophisches Fach, den Nachweis der Exaktheit schuldig bleibt.

Und wie hätte sie diesen Nachweis auch anders als durch einen Rekurs auf die Klarheit ihrer begrifflichen Mittel, also auf sprachliche Handlungen, nicht  seelische  Vorgänge, erbringen können? Die Möglichkeit einer Beseitigung des Mißverständnisses lag offen vor Augen; sie wurde dennoch übersehen.

Die Frage, warum das neuzeitliche Denken innerhalb einer bewußt kritisch verstandenen Erkenntnistheorie den Umweg über psychologisch und sinnesphysiologische Erörterungen nahm und damit der beabsichtigten vernünftigen Selbständigkeit mehr schadete als diese förderte, läßt sich nur in Form einer Vermutung beantworten. Die Gewohnheit des monologischen lautlosen Sprechens, das "Sich Gedanken machen", "Sich etwas durch den Kopf gehen lassen" (recht verstanden: das "Mit sich selbst zu Rate gehen", "Mit sich selbst sprechen") verführt dazu, erst einmal gegenüber dem dialogischen artikulierten Sprechen von einer wohlunterscheidbaren selbständigen Handlung zu reden und dann schließlich die eigentlich noch immer naheliegende methodische Auszeichnung des artikulierten Sprechens vor dem lautlosen Sprechen, damit des dialogischen Sprechens vor dem monologischen Sprechen, umzukehren, artikuliertes Sprechen als ein lautgewordenes Sprechen und damit sogar als etwas bloß Sekundäres aufzufassen.

Aus dem Sprechen wird erst jetzt das Denken, das - wie jeder Schüler meist schmerzlich zu erfahren pflegt - dem (artikulierten) als etwas eigentümlich fremd Gewordenes, Inneres, weit oberhalb der Stimmbänder Liegendes vorauszugehen habe. Kein Wunder, wenn man es jetzt als vordringliche Aufgabe ansieht, erst einmal dieses Denken zu erklären, wobei als archimedischer Punkt nicht mehr das Sprechen (als elementare Sprechhandlung: das Prädizieren), sondern die Beziehung zwischen Dingen (Weltausschnitten) und Gedanken (Ideen und Vorstellungen) betrachtet wird.

Daß gerade diese Beziehung wiederum nur über Unterscheidungen gegeben ist, die zunächst einmal, wenn sie gelernt werden, sprachlich, also in Form von Prädikationen, getroffen werden, bleibt unerkannt. Was auf einer theoretischen Stufe wieder möglich ist, nämlich zwischen Welt (dem Material getroffener Unterscheidungen) und Denken (nun verstanden als Titel für alle sprachlichen Handlungen) zu unterscheiden, wird hier schon als elementar ausgegeben.

Elementar ist aberaber ist nur die Prädikation selbst, nicht (jedenfalls nicht in strenger Form) dasjenige, das sich ihrer bedient, also z.B. die beliebte Sprechweise von Welt (oder Sein) und Denken (oder Bewußtsein), sofern diese dazu benutzt wird, ein Stück Elementarunterricht zu bestreiten, mit der Absicht, über den methodischen Anfang des Wissens zu lehren. Genau dies aber tut das beginnende neuzeitliche Denken und versäumt damit über seiner Entdeckung des Selbstbewußtseins eine weit wichtigere Entdeckung: die Entdeckung der Sprache als der Basis aller Unterscheidungssysteme.

Nun hat seltsamerweise das psychologistische Mißverständnis über den Anfang des Wissens sprachphilosophische Bemühungen nicht etwa behindert, sonder diese sogar gefördert. Wenn LOCKE ein ganzes Buch seines "Essays der Sprache widmet, dann tut er dies nicht, weil die Tradition des europäischen Denkens, in besonders ausgeprägter Form zuletzt innerhalb der humanistischen Bewegung, derartige Studien nun einmal verlangte.

Die für sein System fundamentale Korrelation von sinnlichem Datum und ideeller Repräsentanz muß vielmehr, an den Ansprüchen dieses Systems selbst gemessen, so lange unvollständig, jedenfalls nicht praktikabel bleiben, als nicht festgelegt ist, wie eine sprachliche Umsetzung von Ideen und deren Beziehung untereinander gedacht werden soll.

Für LOCKE gibt es hier allerdings kaum Probleme. Sprechen wird, wie bereits erwähnt, einerseits als bloße Benennung von Ideen, andererseits als phonetische und graphische Wiedergabe von Ideenverbindungen aufgefaßt. Daß dies auch willkürlich geschehen kann, gehört nach LOCKE zu den Risiken des Sprechers, bzw. einer Sprachgemeinschaft, nicht etwa zu den Schwächen seines Systems. Und gerade diese Möglichkeit, sprachlich willkürliche Setzungen zu treffen, ist es jetzt, die der Sprachphilosophie (als einer philosophischen Disziplin neben anderen) einen neuen Spielraum verschafft.

Es ist im Grunde der Spielraum, den der (sprachphilosophische) Nominalismus von jeher für sich in Anspruch nahm, nun jedoch in seiner Relevanz für eine Ordnung des sprachlich mit seinem kontinentalen Kollegen DESCARTES teilt. LOCKE konnte den Nominalismus bei HOBBES und OCKHAM studieren studieren dessen "Summa Totius Logicae" 1675 in neuer Auflage in Oxford erscheint (zuvor Paris 1488, Venedig 1522); er selbst beschäftigte sich seit 1671 mit Vorarbeiten zum "Essay" und war 1675  student  in Christ Church, Oxford. Es mag durchaus sein, daß LOCKE in seinen sprachphilosophischen Studien von vornherein von OCKHAM, bzw. dem ja auch in ockhamistischer Tradition schreibenden HOBBES, abhängig war, er hat jedenfalls nicht übersehen, daß dieser Nominalismus, dem er selbst wenig Neues zuzusteuern weiß, überaus gut zu seinem eigenen erkenntnistheoretischen Entwurf paßte.

Ruft man sich nun noch in Erinnerung, daß die neuzeitliche Physik, angefangen mit der Galileischen Physik, im Nominalismus gelegentlich nach einer, wenn auch vorläufigen Rechtfertigung sucht, wird verständlich, wie aktuell ein theoretisches Konzept sein mußte, das dem Nominalismus einen breiten Raum gewährt und sich selbst als Grundlegung auch der Physik versteht.

Wissenschaftstheorie wird von nun an ein nominalistisches Lehrstück, d.h. sie macht von genau jenem Spielraum Gebrauch, den ein mentaler Rationalismus begrifflichen Konstruktionen, also nicht zuletzt auch Logik und Sprachphilosophie selbst, gewährt. Daß dieser mentale Rationalismus, ganz gleich ob in cartesischer oder in empiristischer Tradition, innerhalb solcher begrifflicher Konstruktionen auch des beginnenden neuzeitlichen Denkens alsbald keine Rolle mehr spielt, zeigt, wie überflüssig er ist.

Trotzdem wird er beibehalten; und dies einfach darum, weil man auf die Frage des methodischen Anfangs keine bessere Antwort weiß. Eine unzureichend begründete Theorie über den Anfang des Wissens gibt somit, wegen ihrer nominalistischen Konsequenzen, jeglicher philosophischer Beschäftigung mit begrifflichen Konstruktionen den Weg frei und verhindert doch zugleich eine bessere Einsicht in den methodischen Charakter begrifflichen Sprechens.

Mit jenem Rationalismus muß somit die Frage nach dem Anfang des Wissens schließlich unbeantwortet bleiben, ohne ihn muß sie scheinbar wieder auf die systematisch ausweglose Alternative von sprachlichem Realismus und sprachlichem Nominalismus zurückführen. Skylla und Charybdis der neuzeitlichen Philosophie auf ihrer Suche nach methodischer Vernunft.
LITERATUR - Jürgen Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung, Berlin-New York 1970
    Anmerkungen
  1. London 1751, Seite 15. Das Buch erscheint 1788 in deutscher Sprache, nachdem insbesondere HAMANN und HERDER den Plan einer Übersetzung gefördert hatten.