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CARL STUMPF
Psychologie und Erkenntnistheorie
[3/3]

"In den Denkarten des gemeinen Verstandes, zum Unterschied von der wissenschaftlichen Forschung, findet sich zufällige Notwendigkeit (Gewohnheit und dgl.) mit wahrer Naturnotwendigkeit vermischt. Daß Hume das letztere Element und dessen wesentlichen Unterschied vom ersten nicht beachtete, ist der Haupteinwurf, welchen Tetens gegen ihn zu machen hat. Er bemerkt aber sehr wohl, daß damit die Schwierigkeiten noch nicht ganz behoben sind. Was positiv dann noch zu tun bleibt, das sei die Aufzeigung des Gewißheitsgrades wissenschaftlicher Induktionen. Es gebe Wahrscheinlichkeiten, welche der völligen Gewißheit nahekommen, ja sogar unendlich große Wahrscheinlichkeiten. Nunmehr geht Tetens zum Begriff der  objektiven  Notwendigkeit über und definiert zuerst den Begriff der objektiven Wahrheit oder Gültigkeit überhaupt. Objektiv kann nichts anderes heißen als allgemein und unveränderlich subjektiv. In diesem Sinne schreiben wir Verhältnissen und Beziehungen objektive Wahrheit zu, während wir die absoluten Inhalte (Farben, Töne) nur als Zeichen betrachten. Wenn die Wahrheit als Übereinstimmung unserer Gedanken mit den Sachen definiert wird, so kann das nur heißen, daß sich Idee zu Idee verhält, wie Sache zur Sache und daß die erkannten Verhältnisse unter den Ideen für jeden Verstand, der die Ideen denkt, gültig seien."

Anhang

1. Historisches über die Unterscheidung
von Materie und Form des Vorstellens



Die erkenntnistheoretische Gegenüberstellung von Raum und Zeit einerseits und den sinnlichen Qualitäten andererseits hängt offenbar mit dem ganzen Entwicklungsgang der Physik zusammen. Philosophisch wurde sie von DESCARTES durch den Hinweis auf die Evidenz der Mathematik zu begründen versucht. Für die "Formen des Denkens" sodann lagen die Keime in DESCARTES' und LEIBNIZ' Lehre von den virtuell angeborenen Ideen. Daß in dieser Hinsicht LEIBNIZ' Lehre von den virtuell angeborenen Ideen. Daß in dieser Hinsicht LEIBNIZ' Nouveaux Essais (veröffentlich 1765) einen höchst eingreifenden Einfluß auf KANT geübt haben, erscheint mir zweifellos. Aber die alte Unterscheidung von Materie und Form wird von LEIBNIZ noch nicht auf diese Fragen angewandt; er versteht die Ausdrücke in ontologischem Sinne, nur mit der Umdeutung, die er den von ARISTOTELES und der Scholastik überkommenen Terminis gegeben. ARISTOTELES selbst allerdings hatte von seinen ontologischen Grundbegriffen auch in der Erkenntnistheorie Gebrauch gemacht, indem er Sinn und Verstand als "formaufnehmende" Vermögen definierte; doch wird niemand darin das Vorbild der Kantischen Lehre erblicken, die vielmehr den stärksten Gegensatz dazu bildet. In anderer Weise wird die Unterscheidung formaler und materialer Prinzipien gelegentlich von Wolffianern in der Erkenntnislehre verwertet, so von CRUSIUS (1), und (mit Beziehung auf diesen) auch vom vorkritischen KANT selbst. (2) Wir gehen vielleicht nicht fehl, wenn wir darin die ersten Keime oder Vorboten der späteren Unterscheidung suchen. Aber auch da muß man sich natürlich hüten, hinter den gleichen Ausdrücken schon den gleichen Sinn zu suchen.

In dem hier in Betracht kommenden Sinne findet sich der Gegensatz von Materie und Form des Vorstellens bei KANT bekanntlich zuerst in seiner Inauguraldissertation 1770, und zwar bezüglich Raum und Zeit. In der  Kritik der reinen Vernunft  ist der Formbegriff dann auch auf die Kategorien angewandt. Raum und Zeit aber als Formen der sinnlichen Anschauung zu fassen, dazu lagen Antriebe teils in LEIBNIZ' Definition derselben als bloßer Ordnungen der Phänomene, teils in den Schwierigkeiten, die KANT selbst bereits früher in der Definition dieser Vorstellungen gefunden und die ihn zu wiederholter Umbildung seiner Ansichten geführt hatten. (3)

Doch lassen sich auch deutliche äußere Anregungen im Hinblick auf die Unterscheidung von Form und Materie der Vorstellungen namhaft machen. Die Priorität LAMBERTs ist in neueren Darstellungen mehrfach erwähnt. Zwar in LAMBERTs bester Schrift, dem "Neuen Organon" (164) (4), ist unmittelbar nichts davon erwähnt. Nur die Betonung der apriorischen Erkenntnis zum Unterschied von der bloß aposteriorischen (welch' letztere allein LAMBERT in LOCKEs "Anatomie unserer Begriffe" findet), enthält hier eine Vorausdeutung auf KANT, während zugleich die Aufzählung dieser apriorischen Erkenntnisse (noch deutlicher in der späteren "Architektonik") an die Schotten erinnert. Jene Unterscheidung apriorischer und aposteriorischer Urteile ist aber nicht identisch mit der von Form und Materie des Vorstellens, so eng auch beide Unterscheidungen im Gedankengang der  Kritik der reinen Vernunft  zusammenhängen. Direkt und ausdrücklich steht die letztere zuerst im Brief LAMBERTs an KANT vom 3. Februar 1766, wo LAMBERT die Frage aufwirft und bespricht, ob oder inwiefern die Kenntnis der Form zur Kenntnis der Materie unseres Wissens führe. LAMBERT weist darauf hin, daß alle unsere Erkenntnisse vom Formalen, wie sie in der Logik und Metaphysik vorkommen, unbestritten richtig seien und daß nur da Streitigkeiten entständen, wo man die Materie zugrunde legen wollte. Die Form, sagt er, bestimmt schlechthin keine Materie, aber sie bestimmt die Anordnung derselben, und insofern soll aus der Theorie der Formen kenntlich gemacht werden können, was zum Anfang dient und was nicht.

Dies sind ganz unverkennbar die Anlässe, ich möchte geradezu sagen die Grundzüge, der Kantischen Formenlehre, wie sie dann zunächst in der Inauguraldissertation entwickelt wurde, und zugleich ihrer Beziehung zu den synthetischen Urteilen a priori, wie sie in der  Kritik der reinen Vernunft  dargestellt wird.

In seiner "Anlage zur Architektonik", welche 1771, also kurz nach KANTs Inauguraldissertation, erschien, sagt LAMBERT (Vorrede V, XVI), die Schwierigkeiten im Begriffe der Form und dessen ,was zur Form gehöre, hätten ihn längst beschäftigt, obgleich er sie nicht, soviel er gewünscht, aufklären konnte. Freilich erstrecken sich seine Betrachtungen darüber (II, 233f) wesentlich nur auf Feststellung des Sprachgebrauchs in den verschiedenen Fällen, wo man von Form und Materie redet. Aber es ist interessant zu sehen, wie er daei von der  aristotelischen  Lehre, von der alten ontologischen Bedeutung der Ausdrücke, ausgeht und dann auch in der Vernunftlehre die Formen der Erkenntnis (das Bejahen und Verneinen, die Allgemeinheit und Besonderheit, das Wenn, Entweder - Oder, Sowohl - Als auch usf.) von der Materie (dem Subjekts- und Prädikatsbegriff) unterscheidt. In den Beispielen, die er hier zur Form rechnet, sind die Kantischen Kategorien (der Qualität, Quantität, Relation) unverkennbar. Er fügt auch hier hinzu, daß ihm eine Theorie der formalen Ursachen der menschlichen Erkenntnis immer von äußerster Wichtigkeit geschienen habe.

Ein andere äußere Anregung kam von TETENS, dessen "Philosophische Versuche über die menschliche Natur" (1776) ja nach dem bekannten Ausspruch HAMANNs in jener Zeit "stets aufgeschlagen auf KANTs Tisch lagen". Die Empfindungen, sagt TETENS (I, 336f). Ferner unterscheidet TETENS in der Lehre von den notwendigen Urteilen formal und material notwendige (I, 512 siehe unten) und ist hier sehr nah an KANT herangerückt.

Mit der Betonung dieser äußeren Einflüsse soll KANTs Originalität nicht herabgesetzt werden. Seine philosophische Größe wird ohnedies nicht geringer, wenn ein entschiedener Irrtum nicht sein ausschließliches Eigentum ist.


2. Die Verhältnislehre und die
Notwendigkeitslehre des Nicolas Tetens

"Für die empirische Psychologie", sagte EDUARD ERDMANN in seiner ausführlichen Geschichte der neueren Philosophie, 1842, "möchte TETENS mehr geleistet haben als irgendeiner vor oder nach ihm." BENEKE, einer der wenigen, die während der idealistischen Periode TETENS' Bestrebungen fortsetzten (der allerdings auch zugleich seine Neigung zum Psychologismus beibehielt), hatte sogar geurteilt, man sei vor KANT in der Psychologie weiter gewesen als nachher (5). Gleichwohl ist die historische wie die sachliche Bedeutung seiner Lehre bis vor Kurzem nur wenig im Einzelnen gewürdigt worden. Selbst in der so reichen psychologischen Fachliteratur der Gegenwart wird der "deutsche LOCKE" (6) fast nur als Urheber der durch KANT allgemeiner gewordenen Dreiteilung von Verstand, Gefühl und Willen angeführt, obschon gerade diese  nicht  von ihm, sondern von MENDELSSOHN herrührt. (7) Vom kritizistischen Standpunkt widmete ALOIS RIEHL 1876 in seinem "Kritizismus" (I, Seite 187f). TETENS eine eingehendere Betrachtung. 1878 besprach HARMS in den Abhandlungen der Berliner Akademie TETENS' ganze Lehre, ohne bei einzelnen Punkten besonders zu verweilen. Eine durch mich veranlaßte Dissertation über TETENS' Erkenntnistheorie von SCHLEGTENDAL (Halle 1885) behandelt seine schwierige Lehre von der Wahrnehmung und von der Erkenntnis der objektiven Existenz. Eine andere von ZIEGLER (Leipzig 1888) bezweckt hauptsächlich wieder Beurteilung vom kritizistischen Standpunkt. Wir wollen im Folgenden das Wesentliche von dem, was TETENS über zwei in unserer Abhandlung besprochene Punkte lehrt, kurz zusammenstellen. Die Verhältnislehre findet sich nach mehreren Seiten ausführlicher bei SCHLEGTENDAL, die Notwendigkeitslehre meines Wissens noch nirgends hinreichend dargestellt.

a. Verhältnisse, lehrt TETENS, kann man nicht im engeren Sinn fühlen (empfinden), sondern nur denken, erkennen, bemerken, apperzipieren. In einem weiteren Sinne des Wortes mag man dies auch als ein Fühlen bezeichnen. Dasselbe bezieht sich auf einen Übergang, eine Veränderung, die wir in uns finden, wenn wir z. B. über Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit urteilen. Dieses Gefühl des Übergangs geht dem Urteil vorher. So unter anderem auch bei der Kausalität.

In unseren Vorstellungen sind Unterschiede und Verhältnisse wohl in gewissem Maße schon vor der Wahrnehmung derselben vorhanden; aber sie treten erst durch die Wahrnehmung ganz hervor, werden "völlig leserlich"; weshalb es im strengen Sinne keine unbewußten Vorstellungen gibt, keine Vorstellungen, in denen schon dieselben Unterschiede und Verhältnisse gedacht würden, die wir im Bewußtsein erkennen.

Das Wahrnehmen, wodurch die Verhältnisgedanken erst (aktuell) entstehen, ist eine Art von Urteilen, aber nicht ein Urteilen im engeren Sinn, wobei letzteres vielmehr bereits Ideen, d. h. bewußte, unterschiedene Vorstellungen voraussetzt.

Die Relationen der Einerleiheit, Verschiedenheit und dgl. sind ein Ens rationis [Gedankending - wp], nur subjektivisch im Verstand vorhanden. Der Gedanke vom Verhältnis ist "ein Machwerk von derjenigen Kraft, mit welcher wir die in uns gegenwärtigen Vorstellungen von den Dingen als Sachen vergleichen und ihnen dann sozusagen ein Siegel unserer vergleichenden Tätigkeit aufdrücken" (I, Seite 276; vgl. Seite 288 "Gedanken von Verhältnissen, welche die Denkkraft zu den Vorstellungen hinzusetzet").

Bezüglich der räumlich-zeitlichen Verhältnisse (I, 277, 359) muß man von den Verhältnissen selbst ein Absolutes unterscheiden, welches ihnen zugrunde liegt, das Fundamentum relationis [Beziehung mit einem Fundament in den Objekten - wp] und dieses  kann  auch etwas Objektives sein. Aber die Beziehungen selbst sich auch hier nur Gedanken der Denkkraft. TETENS läßt sich darauf nicht näher ein, bemerkt aber, daß "die ganze Spekulation über die erwähnten Gemeinbegriffe des Verstandes am Ende auf psychologische Untersuchungen über ihre Entstehungsart und ihre subjektive Natur im Verstand beruhe" (was man, wie fast alle seine Ausführungen, nicht unbedingt billigen kann). Später bespricht er im Vorbeigehen KANTs in der Inauguraldissertation aufgestellte Raum- und Zeitlehre, und hier scheint er jenes "Absolute" als die Summe der sinnlichen Qualitäten zu verstehen, die in der jeweiligen Raumanschauung vereinigt werden. (8)

Den Ursprung des Kausalbegriffs bespricht TETENS wieder an einer anderen Stelle (I, 312f) und findet ihn in der Wahrnehmung unseres eigenen Bestrebens, besonders aber der Unterbrechungen unseres Bestrebens durch einen Widerstand. Bei der Annahme objektiver Ursachen setzen wir aber auch voraus, daß die Wirkung in der Ursache  gründe,  und dies kann nichts anderes heißen, als daß ein Verstand, welcher die Ursache deutlich und vollständig sich vorstellen könnte, die Vorstellung von der Wirkung in sich hervorbringe oder wenigstens mit der der Ursache verbinden müsse. "Wir haben keine andere Idee von der objektiven Ursache als diese innere subjektive Verursachung im Verstand." (Weitere Untersuchungen über die Notwendigkeit in Kausalurteilen, 494f. Vgl. unten.)

Endlich hat TETENS auch bereits eine Klassifikation der allgemeinen einfachen Verhältnisse versucht (I, 330f), mit Anschluß an eine von LEIBNIZ aufgestellte, die er korrigiert und erweitert. Er bemerkt hierbei, "daß diese Aufsuchung aller von uns gedenkbaren Verhältnisse und Beziehungen der Dinge den Umfang und die Grenzen des menschlichen Verstandes aus einem neuen Gesichtspunkt darstellt. Sollten wir behaupten können, daß nicht noch mehrere allgemeine objektivistische Verhältnisse von anderen Geistern denkbar sind, wovon wir so wenig einen Begriff haben als von einem sechsten Sinn und von der vierten Dimension? -

Diese knappe Übersicht sollte nur den Charakter und die Tendenz von TETENS' Untersuchungen über die Frage der Verhältnisbegriffe andeuten. Man erkennt den tiefbohrenden und zugleich weitblickenden Forscher. Freilich will er manchmal tiefer bohren nicht bloß als die Geduld und Fassungskraft von Lesern reicht, die nicht vom gleichen Eifer für psychologische Zergliederung beseelt sind, sondern auch tiefer als die Sache selbst es in Wirklichkeit gestattet, was notwendig Dunkelheiten erzeugt. So, wo er die der Wahrnehmung vorhergehenden und zugrunde liegenden Prozesse schildert. Er spricht da auch weitläufiger von einer "Zurückbeugung" (Reflexion) der Vorstellungskraft als Bedingung des Wahrnehmens und dgl. Es dürfte schwer sein, alle diese Vorgänge und Unterschiede so, wie er sie zu beschreiben weiß, in sich zu beobachten. (9) Der vielgetadelte unsystematische Vortrag, die vielfachen Wiederholungen, Modifikationen der Darstellung - dies alles erschwert das Verständnis seiner Lehre nicht so sehr als der eben genannte Zug, der einen wirklichen Fehler der Forschungsmethode bedeutet. Gegenüber den Erkenntniskritikern, welche TETENS als Psychologen mit den höchsten und unbedingten Lobsprüchen beehren, um ihn als Erkenntnistheoretiker umso schärfer zu verurteilen, müssen gerade vom psychologischen Standpunkt eine gewisse Einschränkung des Lobes beantragen. Er hat öfters des Guten zuviel getan, die Analyse zu weit treiben wollen. Dagegen kann ich die erkenntnistheoretische Tendenz, soweit sie in seiner Verhältnislehre vorliegt, nicht anders als gesund finden. Eine Neigung zum Psychologismus zeigt sich erst in der Notwendigkeitslehre.

b) TETENS unterscheidet subjektive und objektive Notwendigkeit. Er untersucht zunächst, ob in allen Fällen bei gegebenen Vorstellungen ein Urteilsakt und nur  ein  bestimmter Urteilsakt erfolgen muß. Sowohl die "dunklen" Urteile, welche durch undeutliche, ununterschiedene Vorstellungen reflexartig hervorgerufen werden, als die ursprünglichen klaren Urteile (wie der Glaube an die Außenwelt), die schon unterschieden Vorstellungen (Ideen) voraussetzen, erfolgen mit Notwendigkeit. Erst später entsteht Zweifel, Verneinung. Auch beim Prozeß des Folgerns, wodurch aus gegebenen Urteilen neue abgeleitet werden, kann das Fortschreiten des Verstandes durch mancherlei entgegenwirkende Kräfte unterbrochen werden.

Wichtiger ist die Frage, ob das Urteil bei gegebenen Vorstellungen nur in  einer  Weise erfolgen kann. In dieser Hinsicht sind notwendige Urteile, bei denen außer den zu beurteilenden Vorstellungen nichts weiter die Denkkraft bestimmt, zu unterscheiden von zufälligen, die auch noch von anderen Umständen (z. B. von Gewohnheiten oder Instinkten) abhängen. Bei den ersteren besteht eine durchaus feste und eindeutige Beziehung zwischen dem Vorstellungsinhalt und dem daraus resultierenden Urteil, bei den letzteren nicht. Man kann sich nicht gewöhnen,  2x 2  für gleich mit 5 zu halten.

Nicht alle notwendigen Urteile sind Identitätssätze. Vor allem ist die Wahrnehmung unserer eigenen psychischen Zustände, die wir für durchaus wahr halten müssen, ein notwendiges Urteil, ohne unter den Satz der Identität zu fallen. Sodann ist die Anerkennung der Abhängigkeit eines Schlußsatzes von den Prämissen in einem richtigen Schluß ein notwendiges und doch kein Identitätsurteil. Auch das allgemeinste Kausalgesetz und die allgemeinsten Urteile über Inhärenz gehören hierher. (Auf die nähere Ausführung des TETENS bezüglich des Kausalgesetzes gehen wir hier nicht ein.)

TETENS unterscheidet aber unter diesen (subjektiv) notwendigen Sätzen wieder zwei Klassen: die formal notwendigen, die in der Natur der Denkkraft ansich begründet sind, und die material notwendigen, die in der Materie des Urteils begründet sind. Zur letztere Klasse gehören die geometrischen Lehrsätze, das Kausal- und das Substanzgesetz, zur ersteren der Satz des Widerspruchs und der Identität, die Erkenntnis von Unterschieden in konkreten Fällen, ebenso die (unmittelbaren) konkreten Erkenntnisse von Kausalbeziehungen, endlich die innere Wahrnehmung oder die Erkenntnis der eigenen augenblicklichen Zustände als solcher.

In den Denkarten des gemeinen Verstandes, zum Unterschied von der wissenschaftlichen Forschung, findet sich zufällige Notwendigkeit (Gewohnheit und dgl.) mit wahrer Naturnotwendigkeit vermischt. Daß HUME das letztere Element und dessen wesentlichen Unterschied vom ersten nicht beachtete, ist der Haupteinwurf, welchen TETENS gegen ihn zu machen hat. Er bemerkt aber sehr wohl, daß damit die Schwierigkeiten noch nicht ganz behoben sind. Was positiv dann noch zu tun bleibt, das sei die Aufzeigung des Gewißheitsgrades wissenschaftlicher Induktionen. Es gebe Wahrscheinlichkeiten, welche der völligen Gewißheit nahekommen, ja sogar unendlich große Wahrscheinlichkeiten.

Nunmehr geht TETENS zum Begriff der  objektiven  Notwendigkeit über und definiert zuerst den Begriff der objektiven Wahrheit oder Gültigkeit überhaupt. Objektiv kann nichts anderes heißen als allgemein und unveränderlich subjektiv. In diesem Sinne schreiben wir Verhältnissen und Beziehungen objektive Wahrheit zu, während wir die absoluten Inhalte (Farben, Töne) nur als Zeichen betrachten. Wenn die Wahrheit als Übereinstimmung unserer Gedanken mit den Sachen definiert wird, so kann das nur heißen, daß sich Idee zu Idee verhält, wie Sache zur Sache und daß die erkannten Verhältnisse unter den Ideen für jeden Verstand, der die Ideen denkt, gültig seien.

Man sage nicht, die Verhältnisse, die wir erfassen, seien vielleicht auch andere als die wirklichen, selbst Ähnlichkeit und Verschiedenheit seien bloß Denkarten unseres Verstandes. Wir haben gar keinen Begriff von einem Verstand, der nicht mit den Verhältnissen von Einerleiheit und Verschiedenheit dächte. So verschieden wir sonst die Denkkraft annehmen können: ohne diese Merkmale würde das Wort Denkkraft oder Verstand überhaupt keinen Sinn haben. Und da "objektiv" nichts anderes bedeutet als "für jeden Verstand gültig", so sind jene Verhältnisse objektiv. "Die Dinge ansich" (man bemerke auch den Ausdruck) "sind einerlei oder verschieden, das heißt auch nichts mehr als sie sind es für jedwede Wesensart, welche die Verhältnisse der Einerleiheit und der Verschiedenheit gedenken kann."

In diesem Sinne sind dann auch die oben erwähnten Notwendigkeiten objektive Notwendigkeiten. Das Dasein eines Verstandes, für den ein viereckiger Kreis möglich wäre, muß ich ebenso notwendig verneinen wie die Existenz eines solchen Kreises selbst.

Auch unter den objektiven Wahrheiten macht TETENS einen Unterschied zwischen notwendigen und zufälligen; aber dieser geht nicht etwa dem oben erwähnten zwischen notwendigen und zufälligen Urteilen überhaupt parallel. TETENS versteht vielmehr darunter den Unterschied von Gesetzen und bloßen Tatsachen. Zu den letzteren gehören alle bloßen Kollokationen [Anordnungen - wp], aber auch die eigene Existenz. Sie ist objektiv zufällig, wenngleich subjektiv notwendig (wir würden sagen: eine evidente Tatsache).

Trotz vieler tiefer und scharfer Blicke, welche uns TETENS hier wieder nicht bloß als Psychologen, sondern auch als Erkenntnistheoretiker zeigen, ist eine Neigung zum Psychologismus in diesen Ausführungen nicht zu verkennen. Ich lege weniger Gewicht darauf, daß er die psychologischen und die erkenntnistheoretischen Aufgaben im Prinzip nicht ausdrücklich genug auseinanderhält: aber er hat entschieden einen erkenntnistheoretischen Mißgriff dadurch begangen, daß er die "Notwendigkeit" in unseren Erkenntnissen identifiziert mit der psychologischen Nötigung, in bestimmten Fällen so und nicht anders zu  urteilen.  Diese Nötigung ist vorhanden, aber sie ist nur der Ausfluß jener inneren sachlichen Notwendigkeit, daß es so und nicht anders sei, die nicht wieder durch psychologische Gesetze begründet werden kann, wenn man sich nicht in einen Zirkel verwickeln will. Freilich folgen ihm hierin Manche der Heutigen, die gleichwohl gegen den Psychologismus polemisieren. Es ist auch zumindest unvorsichtig, wenn TETENS sagt, daß der Satz des Widerspruches ein "Naturgesetz" sei, dem der Verstand als Verstand so unterworfen ist, wie das Licht dem Gesetz des Zurückfallens und des Brechens" (I, Seite 513). Ein Naturgesetzt wird aus übereinstimmenden Einzelerfahrungen erschlossen, der Satz des Widerspruchs bedarf solcher Bewährung nicht. Wahrscheinlich wollte TETENS mit diesem Vergleich auch nur die unbedingte Nötigung erläutern, mit der wir ihn für wahr halten. Aber auch damit hätte er eben das Unterscheidende der Erkenntnis-Notwendigkeit nicht getroffen.

In diesen Ausstellungen mit den Kritizisten einverstanden, kann ich ALOIS RIEHL doch nicht zugeben, daß TETENS' Erkenntnistheorie auf "die ultima ratio des Empirismus, den Suffrage universel [das allgemeine Wahlrecht - wp]" hinauslaufe, insofern er objektive Wahrheit als allgemein-subjektive Wahrheit definiere (a. a. O. I, Seite 199). TETENS gründet nicht nicht das Zutrauen zum Satz des Widerspruches und ähnlichen Sätzen darauf, daß sie allgemein geglaubt werden, sondern er gründet umgekehrt die Behauptung, daß diese Wahrheiten für jeden Verstand wahr sind, auf die Notwendigkeit, mit der sie gegeben sind. Er macht sie so wenig abhängig von der Erfahrung, daß er vielmehr die Möglichkeit des Verstandes verneint, für welchen  A  nicht gleich  A  wäre, während ihm sehr wohl ein Bewußtsein möglich erscheint, für welches eine ganz andere Anschauungswelt als für uns existierte.

TETENS ist sogar darin mit KANT einig oder sein Vorläufer, daß er zu diesen apriorischen Erkenntnissen auch synthetische Sätze rechnet. Freilich indem er das Zutrauen zu denselben näher zu motivieren sucht, gerät er unversehens in die Schilderung eines psychologischen Apparates, aus dem sie gleichsam hervorspringen, wird ihm die logische Evidenz zu einem mechanischen Zwang.

So ist es begreiflich, wie KANT sich zu einer ablehnenden Stellung gegen die Psychologie veranlaßt fand. Aber er ist damit in den entgegengesetzten Fehler verfallen.
LITERATUR: Carl Stumpf, Psychologie und Erkenntnistheorie, Abhandlungen der Philosophisch-Philologischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 19. Bd., München 1892
    Anmerkungen
    1) CHRISTIAN AUGUST CRUSIUS, Weg zur Gewißheit, 1747, § 421
    2) Der einzig mögliche Beweisgrund etc. (1763), 1. Abt. Zweite Betrachtung Nr. 1. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze etc. (1764) Dritte Betrachtung § 3.
    3) Das Verhältnis seiner Lehre von Form und Materie zur LEIBNIZschen bespricht KANT im Abschnitt "Amphibolie der Reflexionsbegriffe" in der  Kritik der reinen Vernunft:  über den historischen Entwicklungsgang erfahren wir daraus nichts.
    4) Auf welches WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie I, Seite 546, II, 29 in dieser Hinsicht Bezug nimmt.
    5) EDUARD BENEKE, Psychologische Skizzen 1825, Seite 611, vgl. über TETENS Seite 601f
    6) Mit diesem Beinamen ehrte man ihn nach ROSENKRANZ, Geschichte der Kantischen Philosophie, Kants Werke XII, Seite 65.o AUERBACH und von KRIES in DUBOIS-REYMONDs Archiv für Physologie, 1877, Seite 342, 349
    7) So berichtet WUNDT in seiner Übersicht der deutschen philosophischen Literatur dem englischen Publikum im  Mind II,  Seite 515, J. B. MEYER habe in seiner "Psychologie Kants" entdeckt, daß Kant seine Dreiteilung von TETENS habe. III Seite 156 berichtigt er dies dahin, daß bereits E. ERDMANN diese Entdeckung in seinem "Grundriss der Geschichte der Philosophie" gemacht habe. Aber die Entdeckung E. ERDMANNs (bereits in seinem 20 Jahre früheren ausführlichen Werke) ist  falsch,  und eben dies ist es, was J. B. MEYER überzeugend nachwies, während er zugleich auf MENDELSSOHN hinwies.
    8) TETENS, Philosophische Versuche I, Seite 359. Auf die Inaugural-Dissertation wird jedenfalls auch Seite 277 (Erwähnung KANTs) angespielt.
    9) Es wäre wohl möglich, der Lehre von der Rückbeugung (die auch TIEDEMANN in seinem Handbuch der Psychologie, 1804, Seite 96f akzeptiert hat), einen tatsächlichen Sinn abzugewinnen, insofern Wahrnehmen nur möglich ist, wenn die Empfindung eine gewisse Zeit dauert und währenddessen die jeweilig früheren Stadien des Eindrucks, sich zeitlich gleichsam zurückschiebend, im Bewußtsein verbleiben; anders ausgedrückt: insofern das Bewußtsein auf sie zurückgewandt bleibt. Das gilt dann auch für die Wahrnehmung von Verhältnissen. Doch ist es nicht dieser Umstand allein, den TETENS im Auge hat. In besonderen Fällen kann man noch in einem anderen Sinn von Rückbeugung oder Reflexion sprechen, nämlich bei der Wahrnehmung gewisser Verhältnisse, die den Inhalten nur mit Rücksicht auf einen psychischen Akt zukommen, wie das der Vielheit. - Ein Hin- und Hergehen zwischen Gliedern des Verhältnisses als Bedingung der Verhältnisvorstellung statuieren auch neuere Psychologen (LOTZE, Metaphysik, Seite 531; SIGWART, Logik I, Seite 37). Ich möchte auch dies nicht für ein unbedingtes Erfordernis halten. Es gibt, scheint mir, Verhältniswahrnehmungen, die durch den gegebenen absoluten Inhalt ausgelöst werden, ohne daß irgendein angebbare psychische Tätigkeit dazwischentritt.