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ROBERT EISLER
Zur Theorie des Werturteils
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"Aus der Weglassung des Index subjectivus entsteht im Bewertungsstreit eine eigentümliche, unlösbare Antinomie, denn naturgemäß stehen gegensätzliche deskriptive Werturteile, sobald die subjektive Abhängigkeit zum Ausdruck gebracht wird, auch wenn sie dasselbe Objekt betreffen  (0  gefällt mir, dir nicht), im disparaten, nicht im kontradiktorischen Gegensatz; d. h. sie sind  verträglich,  können gleichzeitig wahr sein und eine  logische  Entscheidung zwischen ihnen ist  weder möglich noch nötig,  da der Satz vom Widerspruch in diesem Fall keine Anwendung findet."

d) Nicht unerwähnt darf viertens in diesem Zusammenhang BRENTANOs Meinung bleiben, es seien die wahren und falschen Werturteile durch das Kennzeichen der Evidenz zu unterscheiden. Ich glaube, auch dieser verzweifelte Versuch, aus der, durch die unerkannte falsche Fragestellung verursachten Situation herauszukommen, muß als mißlungen betrachtet werden. Mir scheint PLATO in der dieser Studie als Motto vorangesetzten Stelle ganz richtig eben die Evidenzlosigkeit des Werturteils - im objektivistischen Sinn natürlich - als das charakteristische Merkmal desselben hervorzuheben, während im Gegensatz dazu über deskriptive Bestimmungen, wie Größe, Gewicht, Zahl etc. ein Streit nur sozusagen "vor der Erfahrung" möglich ist. (15) Gäbe es wirklich eine Evidenz der Urteile über objektiven Wert oder Unwert, dann müßte - analog den Urteilen über andere deskriptive Bestimmungen, d. h. analog der Entwicklung der Wissenschaft - doch wenigstens in einigen Punkten Übereinstimmung erzielt worden sein etc. Nun kann jedoch ganz im Gegenteil bei den auf der objektivistischen Werttheorie aufgebauten Disziplinen, wie z. B. bei der normativen Ästhetik, von irgendeinem positiven Ergebnis nicht die Rede sein, (16) was vielleicht mehr als alles andere beweist, daß die objektivistische Theorie einer weiteren Entwicklung auf diesem Weg nicht fähig ist.

So glaube ich deshalb in dieser gedrängten Übersicht gezeigt zu haben, daß der Versuch, eine Übereinstimmung zwischen der objektivistischen Werttheorie und den Erfahrungen über subjektive Wertungsdifferenzen herzustellen, die Forschung in eine Sackgasse geführt hat. Es ergibt sich daraus ganz von selbst die Notwendigkeit einer Umbildung der Werttheorie im Sinne einer Anpassun an die neuen Erfahrungen, da sich eine Angliederung im umgekehrten Sinn nicht hat durchführen lassen.

Zu diesem Zweck wollen wir zunächst unser Augenmerk denjenigen Tatsachen zuwenden, die bestimmt sind, die Grundlage für die durchzuführende Umbildung der Werttheorie abzugeben, nämlich den individuellen Wertungsdifferenzen.

Ausgehend vom Schema eines historischen Phänomens muß von vornherein erwartet werden, daß eine Änderung der subjektiven oder, wie wir sie dort bezeichnet haben, der  S-Bedingungen, nicht minder eine Änderungsbedingung für das historische Phänomen und damit für die betreffenden Werte bilden wird, als eine Änderung der objektiven (U)-Bedingungen. Die gegenteilige Annahme einer Unabhängigkeit der historischen Phänomene von einem Teil der in Betracht kommenden Antezedentien [Vorhergehendes - wp] würde einer speziellen Beweisführung bedürfen; und zwar dürfte man sich keineswegs mit der Konstatierung einer noch so großen Anzahl intersubjektig-konstanter Werte begnügen; diese würden gar nichts zugunsten der objektivistischen These beweisen, da man doch immer noch den Einwand bereit hätte, daß in diesen speziellen zur Vergleichung herangezogenen Fällen innerhalb der so überaus komplizierten Erscheinungsgruppe  S  eben diejenigen Bedingungen übereingestimmt hätten, von denen die betreffenden Werte abhängig zu denken seien.

Was dagegen die subjektive Abhängigkeit betrifft, so genügt es, wenn überhaupt ein eigener Beweis nötig gefunden wird, eine gewisse Reihe von Werten über größere räumliche und zeitliche Entfernungen hinaus zu verfolgen, um sich von der Tatsache der individuellen Wertungsdifferenzen zu überzeugen. Das reichste und bestgeordnete Material zu einer solchen Zusammenstellung bietet uns wohl die Kunstgeschichte. (17)

Unter der Voraussetzung einer Unabhängigkeit der ästhetischen Werte von der Beschaffenheit der wertenden Individuen müßte die kunsthistorische Entwicklung in gerader Linie nach einem erkennbaren Ziele (der "wahren Schönheit") hin fortschreiten. Nun wird aber heutzutage wohl kein ernst zu nehmender Forscher mehr behaupten, daß dieses Bild dem tatsächlichen Verlauf auch nur annähernd entspricht. Je mehr unsere Kenntnis vom Geist und den Zielen der einzelnen Perioden sich vertieft, desto deutlicher erkennen wir einen stetigen Wechsel der Richtungen und Stile, ein historisches  panta rhei  [Alles fließt - wp], eine Entwicklungslinie, die eine gemeinsame Richtung nur in sehr beschränktem Maß aufzuweisen hat. Übereinstimmend mit diesen sozusagen im Aufriß darstellbaren Schwankungen, zeigt auch jeder historische Querschnitt, jeder Vergleich verschiedener, zeitlich zusammenfallender Erscheinungen die auffallendsten Ungleichheiten. Seit LESSING durch die im 17. Literaturbrief gegebenen Hinweise die Aufmerksamkeit auf die nationale Bestimmtheit des künstlerischen Schaffens gelenkt hat, ist diese Erkenntnis der Forschung nicht mehr verloren gegangen. Die tägliche Erfahrung zeigt uns - unter den überaus günstigen, gegenwärtig bestehenden Verhältnissen besonders auffällig - daß auch innerhalb enger nationaler und sozialer Gemeinschaften tiefgehende Wertungsdifferenzen bestehen. Ja selbst die Wertungen des Einzelindividuums können in diesem allgemeinen Fluß der Werte nicht als letzte, unveränderliche Einheiten betrachtet werden. Mehr oder minder bedeutende "Umwertungen der Werte" lassen sich auch in der Geschichte des Einzellebens verfolgen. GOETHEs Verhältnis zur Gothik in seinen verschiedenen Lebensaltern, der Fall NIETZSCHE-WAGNER und hundert andere Beispiele könnten hier aufgeführt werden, wenn diese Erscheinung dem Kunsthistoriker nicht ohnedies aus vielfacher Erfahrung bekannt und wohlvertraut wäre. Bildet doch z. B. der Wechsel der Stilperioden im Leben der einzelnen Meister ein Haupthilfsmittel der chronologischen Bestimmung undatierter Werke.

Zweifellos gibt es natürlich inmitten aller dieser auffallenden Schwankungen gewisse, relativ konstantere, durchlaufende Werte. So kann z. B. nicht daran gezweifelt werden, daß das Prinzip der Symmetrie zu allen Zeiten und in den verschiedensten Kulturperioden einen wichtigen ästhetischen Faktor gebildet hat. Ja, sogar gewisse auffallende Abweichungen von diesem Prinzip (in der japanischen Dekoration, in der modernen Raumkomposition sowie zum Teil in der des Barockstils) können nur auf der Basis dieses Prinzips überhaupt verstanden werden (in analoger Weise wie die Verbindung von Dissonanzen im Gefühl für eine harmonische Tonverbindung begründet ist). Neben derartigen vollständig und ausnahmslos durchlaufenden Werten gibt es solche, bei denen Schwankungen zwar durch Vergleichung zeitlich weit abstehender Perioden beobachtet werden können, die jedoch im Querschnitt des Geschichtsbildes als nahezu konstant erscheinen (Vgl. z. B. das Phänomen der harmonischen Klangverbindungen) (18). Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Zahl der durchlaufenden Werte in anderen historischen Reihen (wie z. B. bei den ethischen und bei den primitiveren Realwerten) eine weit größere ist und die Umwertungen, wo solche vorkommen, viel weniger rasch und viel weniger tiefgehend sind. Alle diese Erscheinungen relativer Konstanz würden sich nun natürlich mehr oder minder gut auch der objektivistischen Auffassung fügen, sind jedoch, wie bereits bemerkt wurde, durchaus nicht geeignet, als Argumente gegen den Subjektivismus ausgespielt zu werden. Die betreffenden Werte sind eben einfach von weniger leicht und weniger stark variablen S-Bedingungen abhängig zu denken.

Es kann demnach als erwiesen betrachtet werden, daß:
    a) von gleichen oder identischen Subjekten verschiedene Objekte,

    b)  gleiche  oder  identische  Objekte von  verschiedenen Subjekten verschieden  gewertet werden, daß also die Werte sowohl von der Beschaffenheit des Objekts als auch von der des Subjekts abhängig zu denken sind.
Die Theorie des Werturteils mit diesem Fundamentalprinzip in Übereinstimmung zu bringen, ist unsere nächste Aufgabe. Zunächst ergibt sich dabei die Notwendigkeit einer schärferen Bestimmung der werttheoretischen Aussageinhalte.

Ein bestimmtes Werturteil (z. B.: das ist schön) kann verschiedene Bedeutungen annehmen, die am zweckmäßigsten durch die betreffenden Gegensätz hervorgehoben werden. Also:
    a) "Das ist schön" gleich "es gefällt mir."
    Gegensatz: "Es gefällt mir nicht, es mißfällt mir."

    b) "Das ist schön", gleich: "dieses Objekt ist geeignet, zu gefallen."
    Gegensatz: "Es ist ungeeignet, zu gefallen."

    c) "Das ist schön", im Gegensatz zu:
    "Das ist gut, nützlich" usw.
Das Urteil  a)  beschreibt den ganzen werttheoretischen Tatbestand, es konstatiert ein bestimmtes Verhalten eines Subjekts zu einem Bestandteil seiner Umgebenung. Wir nennen ein solches Urteil ein  deskriptives Werturteil.  Das Urteil  b)  äußert sich nur über die zureichende oder unzureichende Qualifikation eines Umgebungsbestandteils als objektive Teilbedinung eines bestimmten Wertphänomens. Wir bezeichnen es als  begründete Werturteil.  Das Urteil  c)  reiht das betreffende Wertphänomen nach gewissen Kennzeichen in eine Klasseneinteilung ein. Wir bezeichnen es als  subsumtives Werturteil. 

Es ist klar, daß die Frage nach der Evidenz der Werturteile, nach möglichen Fehlerquellen usw. für jede Gruppe von Aussagen einzeln untersucht werden muß.

Wir beginnen mit den deskriptiven Werturteilen. Diese zerfallen nach folgenden Gesichtspunkten in weitere Unterabteilungen:

Die Beschreibung des werttheoretischen Tatbestandes kann erfolgen:
    I. Im Hinblick auf Dasein, Qualität und Intensität des die Vorstellung des fraglichen Objekts begleitenden Gefühls  (psychologisches Werturteil). 

    II. Mit Bezug auf die Größe  W,  bestimmt aus dem von einem bestimmten Subjekt auf die Existenz der betreffenden Erscheinungskomplexion ausgeübten fördernden oder hemmenden Einfluß  (biologisches Werturteil). 
Des weiteren kann das wertende Subjekt mit dem urteilenden zusammenfallen oder nicht. Wir unterscheiden demgemäß Urteile über  Eigen werte von solchen über  Fremd werte.

Dann kann noch das Wertphänomen mit der Urteilsfällung zeitlich zusammentreffen oder nicht, wonach Urteile über gegenwärtige von solchen oder nicht, wonach Urteile über gegenwärtige von solchen über nicht gegenwärtige (vergangene oder zukünftige) Werte unterschieden werden müssen.

Die Hervorhebung dieser unterscheidenden Merkmale ist speziell aufgrund der von uns vertretenen Auffassung des Wertbegriffs nötig geworden.

Solange man das historische Phänomen psychologisch erklärte, d. h. solange man die Größe  W  als abhängig von der Gefühlslage variabel betrachete, solange entfiel natürlich eine eigene, vom psychologischen Werturteil verschiedene Klasse von Aussagen.

Ebenso entfällt natürlich die Unterscheidung zwischen Fremdwert und Eigenwert für den, der im Wert eine objektive Beschaffenheit eines Umgebungsbestandteiles erblickt. Auch die Unterscheidung gegenwärtiger und nicht gegenwärtiger Werte hat keinen Sinne, solange der Wert als bloß an die Existenz eines bestimmten Objekts gebunden gedacht wurde.

Zu den einzelnen Gruppen von Aussagen ist folgendes zu bemerken:

Die Tatsachen, die im psychologischen Werturteil beschrieben werden, sind (natürlich nur, wenn es sich um gegenwärtige Eigenwerte handelt) der unmittelbaren Erfahrung gegeben, zum Unterschied von den mittelbaren, durch die biologischen Werturteile ausgedrückten Erkenntnissen.

Wir haben weiter oben auseinandergesetzt, daß in einigen speziellen Fällen das Bild der Gefühlslage nicht mit dem der Wahlwerte übereinstimmt. In einem solchen Fall ist es natürlich denkbar, daß ein Werturteil aufgrund der psychologischen Zugeordneten allein abgegeben wird, das dann dem biologischen Tatbestand widerspricht. Eine so häufige Aussage z. B. wie die: "Ich höre mir nie eine Tragödie an, denn Jammer und Elend habe ich genug im täglichen Leben", könnte so aufgefaßt werden, wenn es nicht wahrscheinlicher wäre, daß dieses deskriptive Werturteil den Tatbestand insofern richtig beschreibt, als der tragische Genuß für die Betreffenden tatsächlich nicht existiert.

Der Unterschied zwischen Eigenwerten und Fremdwerten kommt natürlich bloß für das psychologische Werturteil in Betracht, daß die Größe  W  am eigenen wie am fremden Subjekt gleich gut bestimmt werden kann. Die fremden Gefühle dagegen sind nur als Aussageninhalte gegeben, ein deskriptive psychologisches Urteil über einen Fremdwert ist demnach eine Aussage, abgegeben aufgrund einer fremden Aussage. Die Fehlerquellen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben, sind dem Historiker wohl bekannt. Das beste Hilfsmittel zur Kritik der fremden Aussagen bietet natürlich die direkt beobachtbare Größe  W,  an die man sich überhaupt bei der Untersuchung von Fremdwerten vorzugsweise halten wird.

Wichtiger für die Größe der Evidenz von Werturteilen ist die Unterscheidung zwischen Urteilen über gegenwärtige und nichtgegenwärtige Werte. Beobachten wir zunächst die Urteile über vergangene Werte. Solche Urteile können:
    a) aus der Erinnerung
    b) aufgrund von Aussagen,
    c) aus den erhaltenen historischen Tatsachen, den Monumenten,
    d) mittels eines Rückschlusses von den gegenwärtigen Werten aus
abgegeben werden. Erinnerungsurteile wird man meist über vergangene Eigenwerte fällen. Die Fehlerquellen der Erinnerungsurteile sind aus der allgemeinen historischen Methodik ebenso wie die anzuwendenden Kontrollen und Berichtigungen zur Genüge bekannt.

Für die Urteile über vergangene Fremdwerte aufgrund von Aussagen gilt das oben über die Urteile aufgrund von Aussageinhalten überhaupt Gesagte. Von maßgebender Bedeutung ist dabei natürlich noch die Frage, ob die betreffenden Aussagen gleichzeitige sind, oder ob noch die Erinnerung (Überlieferung) als Fehlerquelle mitgerechnet werden muß.

Ferner bilden noch die  historischen Tatsachen  eine, und zwar vielleicht die wichtigste Grundlage für Urteile über vergangene Werte. Da nämlich, wie wir gezeigt haben, das Wertphänomen einer Überführung einer Gruppe von Umgebungsbestandteilen aus ihrer Anfangslage in eine abweichende Endlage gleich zu achten ist, setzt sich jedes Wertsubjekt in dieser durch sein Eingreifen determinierten Erscheinungskomplexion - der historischen Tatsache - ein Denkmal seiner positiven Wertungen. Naturgemäß muß bei einer Erscheinungsgruppe, deren allgemeiner Charakter als historische Tatsache bekannt ist, d. h. in deren genetisch zugeordnete Vergangenheit nachweisbar ein biologischer Faktor eingeschaltet war, - bevor man aus derselben Schlüsse auf die Wertungen jenes Individuums zieht, die Frage aufgeworfen werden, inwiefern an der Gestaltung dieser Komplexion von Anfang an andere Einflüsse beteiligt waren. Die betreffenden Determinationen müssen dann, solange diesbezüglich keine weiteren Erfahrungen vorliegen, als indifferenz gezählt werden. Allgemein gesprochen wird zwischen "Gewolltem" und "Erreichtem", d. h. zwischen derjenigen Determination des Objekts, die unter den günstigsten äußeren Verhältnissen, bei reichlichsten Machtmitteln und zweckmäßigster Ausnützung derselben sowie beim geringsten äußeren Widerstand - herbeigeführt worden wäre und den unter gegebenen Verhältnissen wirklich eingetretenen ein gewisser Abstand anzunehmen sein, den wir als "technische Differenz" bezeichnen und der bei der Wertbestimmung in Anschlag zu bringen ist.
Schließlich sind spätere Veränderungen des Monuments abzurechnen und zwar
    a) materielle Änderungen, wie z. B. das Nachdunkeln von Gemälden (19), die Kupferkrankheit etc.;

    b) relative Änderungen, wie sie speziell an kunsthistorischen Monumenten in Betracht kommen.
Zur Theorie dieser Änderungen, deren Kenntnis für den Kunsthistoriker von größter Wichtigkeit ist, kann ich hier in diesem allgemeinen Zusammenhang nur einige kurze Andeutungen geben. Das materielle Monument (die bemalte Tafel, der behauene Block, das beschriebene oder bedruckte Material) ist ansich natürlich nicht dem ganzen Kunstwerk gleichzusetzen. Es erscheint im Leben seines Schöpfers gewissermaßen als Knotenpunkt eines weitverzweigten, mehr oder minder komplexen Systems von Vorstellungsassoziationenn, Einfühlungen etc. Daß z. B. gewisse eigentümlich nuancierte grüne Farbmassen Wälder, diese hellergrünen, mit bräunlichen, abwechselnden rautenartigen Gebilde Felder und Wiesen, jener gewundene Streif einen bild-einwärtsführenden Weg nur mittels gewisser assoziativer Beziehungen vortäuschen, wird allzu leicht außer acht gelassen. Und von diesen einfachen und scheinbar zwingend auftretenden Ähnlichkeitsassoziationen angefangen bis zu den verwickelten gedanklich-literarischen Beziehungen einer trezentistischen [14. Jahrhundert -wp] Freskenreihe einerseits, zu jenen eigentümlichen, in abgekürzten Assoziationen begründeten Einfühlungen, die, scheinbar unvermittelt an Form und Farbe anknüpfend, jeder Erscheinung ihren eigentümlichen Stimmungscharakter verleihen, andererseits, ist alles in einem beständigen Wechsel begriffen. Die "Auffassung" des Kunstwerks, weit entfernt davon, durch das gleichbleibende, materielle Substrat eindeutig bestimmt zu sein, wechselt unaufhörlich. Ursprünlich vorhandene Einfühlungen gehen verloren; neue, die mit den alten wenig zu tun haben, treten hinzu usw. Es ist klar, daß diese "relativen Änderungen" nicht minder sorgsam in Anrechnung gebracht werden müssen wie die materiellen, wenn anders das betreffende Urteil über die der Vergangenheit angehörigen Werte der Wahrheit entsprechen soll.

Was die negativen Wertungen anlangt, so hinterlassen sie naturgemäß keine Monumente, da ja in diesen Fällen die bewertete Komplexion eben durch das Wertungsphänomen vernichtet, bzw. in eine indifferente Lage übergeführt wird. Immerhin wird man aus den Monumenten indirekte Aufschlüsse auch über die negativen Wertungen der betreffenden Individuen zu gewinnen in der Lage sein; natürlich darf der Schluß vom Fehlen gewisser Erscheinungsformen in einer Monumentengruppe auf deren negative Bewertung nur mit größter Vorsicht vollzogen werden, da dieses Fehlen auch andere Gründe haben kann. Neben dem "nicht wollen" kann auch ein "nicht können" oder ein "nicht kennen" in Betracht kommen (vgl. das oben über "technische Differenz" Gesagte).

So kann man z. B. in vielen Fällen in der Kunstgeschichte eine gesetzmäßige Abfolge dreier Stilperioden beobachten (20): die Zeit vor der Entdeckung der für den betreffenden Stil charakteristischen Motive, die Zeit von diesem Anfang bis zur höchsten Steigerung der betreffenden Richtung und die Zeit der Reaktion gegen diesen Stil, z. B. MIEREVELT, REMBRANDT, A. van der WERFF usw. Nun kann die gewollte Ausscheidung des betreffenden Motivs (letzter Stil), wenn uns die Chronologie im Stich läßt oder unter anderen ungünstigen Verhältnissen leicht verwechselt werden mit dem Unvermögen zur betreffenden Form (erster Stil); die Schlichtheit eines Empirestils z. B. mit der Steifheit eines archaischen Produkts und umgekehrt (21). Auch kann z. B.das Fehlen eines Motivs, das man geneigt ist, auf eine negative Wertung desselben zurückzuführen, seine Ursache tatsächlich im mangelhaften Erhaltungszustand der betreffenden Monumente haben (vgl. z. B. die Farblosigkeit der antiken Skulpturen).

Schließlich haben wir uns noch viertens mit der Erschließung vergangener Werte aus gegenwärtigen oder, wie wir diese Methode kurzweg nennen wollen, mit dem Schluß von der Gegenwart auf die Vergangenheit zu beschäftigen. Von der objektivistischen Auffassung aufs ausgiebigste an passender und unpassender Stelle angewandt, hat diese Schlußweise auf subjektivistischer Grundlage nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn mit Grund angenommen werden kann, daß die betreffenden subjektiven Komplementärbedingungen im betreffenden Zeitraum annähernd gleich geblieben sind. Ein klassisches Beispiel für einen falschen Rückschluß bietet die eben erwähnte Kontroverse über die polychrome Plastik der Alten, wo man den handgreiflichen historischen Zeugnissen immer wieder die ästhetische Unmöglichkeit dieses Verfahrens (vom damaligen, jetzt wieder überwundenen Standpunkt aus) entgegenhielt.

Zum Schluß sei noch in Kürze der Urteile über zukünftige Werte gedacht. Ihre Grundlage bildet natürlich der Schluß von der Gegenwart aus und alles oben über diesen Modus Gesagte gilt auch hier. Nebenbei sei an dieser Stelle noch auf eine häufige Quelle des Irrtums aufmerksam gemacht. Beurteilt man nämlich künftige Werte nicht aufgrund eines tatsächlich beobachteten gegenwärtigen Wertphänomens, sondern "auswendig", d. h. aufgrund der Vorstellungen von Gefühlen, die sich assoziative an die Vorstellungen der Wertobjekte knüpfen, so wie etwa die Schüler des CORNELIUS bei der Ausführung der großen Münchner Fresken, statt die Farbzusammenstellungen zu probieren und in effektiver Wertung gegeneinander abzustimmen, wie z. B. BÖCKLIN es tat (22), "auswendig" über die "Nebensache" des Kolorits berieten, so kann die betreffende Prognose je nach der größeren oder geringeren Erfahrung des Urteilenden über vergangene Werte desselben Objekts der Wahrheit mehr oder weniger nahekommen. Daß z. B. der taube BEETHOVEN an seinen "auswendig" komponierten Quartetten etwas geändert hätte, wenn er sie tatsächlich hätte "hören" können, ist im Gegensatz zum obigen Beispiel wenig wahrscheinlich.

Damit wären die deskriptiven Werturteile so ziemlich erledigt und wir wenden uns nun der zweiten Gruppe von Aussagen zu, die wir unter dem Namen der begründenden Werturteile zusammengefaßt haben. Die Trennung dieser Aussagen von den Urteilen über das Dasein der Wertrelation selbst gehört mit zu den wesentlichen Konsequenzen des werttheoretischen Subjektivismus. Für die objektivistisch-ontologische Auffassung des Wertbegriffs, die in der Determination des Objekts ansich bereits den zureichenden Grund des historischen Phänomens erblickte, entfiel naturgemäß eine solche Scheidung der Aussageinhalte. Der Objektivismus konnte z. B. aus den Aussagen über Gefallen und Mißfallen nach der Formel: "Was schön ist, gefällt" (das Objekt  0  gefällt, gefällt nicht) direkt die begründenden Werturteile:  0 ist schön, ist nicht schön  gewinnen.

Durch die Berücksichtigung der subjektiven Abhängigkeit verwickeln sich naturgemäß diese Verhältnisse bedeutend. Zunächst wird es notwendnig, im deskriptiven Werturteil das beteiligte Subjekt ebenso durch einen sprachlichen Hinweis zu charakterisieren, wie es bisher mit dem beteiligten Objekt gewesen ist. Also z. B.  0 gefällt mir, dir, dem A, B, C  usw. Durch die unkritische Weglassung dieses "Index subjectivus" wird die Beschreibung des werttheoretischen Tatbestandes von unserem Standpunkt aus entweder unvollständig (elliptisch) oder falsch. Unvollständig, wenn die Determination der  S -Bedingungen zwar als bedeutungsvoll mitgedacht, jedoch sprachlich nicht zum Ausdruck gebracht wird; falsch, wenn durch diese Weglassung das subjektive Moment als ein Adiaphoron [nicht Unterschiedenes - wp] bezeichnet werden soll (also  0  gefällt allen, bzw. jedem beliebigen). Aus der Weglassung des Index subjectivus entsteht ja im Bewertungsstreit jene eigentümliche, unlösbare Antinomie, auf die wir bei der Kritik des Objektivismus hingewiesen haben; denn naturgemäß stehen gegensätzliche deskriptive Werturteile, sobald die subjektive Abhängigkeit zum Ausdruck gebracht wird, auch wenn sie dasselbe Objekt betreffen  (0  gefällt mir, dir nicht), im disparaten, nicht im kontradiktorischen Gegensatz; d. h. sie sind  verträglich,  können gleichzeitig wahr sein und eine logische Entscheidung zwischen ihnen ist  weder möglich noch nötig,  da der Satz vom Widerspruch in diesem Fall keine Anwendung findet. Insofern aber ein solches Werturteil einer  Bewertung in Worten  gleichzusetzen ist, insofern es nicht zu theoretischen, sondern zu praktischen Zwecken gefällt ist, insofern die Beschreibung des subjektiven werttheoretischen Tatbestandes nicht bloß zum Zweck der Mitteilung, sondern zum Zweck der  Beeinflussung  stattfindet, insofern findet dann im Bewertungsstreit eine dynamische Lösung der Gegensätze nach der oben entwickelten Formel statt.  Zu den Machtmitteln,  die bei einem solchen Bewertungsstreit ins Treffen geführt werden - Autorität, soziale Überordnung, gewinnende Rhetorik usw. -  gehören  auch die bereits kritisierten,  logischen  Pseudolösungen, solange der Glaube an ihre Wahrheit unerschüttert bleibt. Und insofern besitzt der Objektivismus auch eine bestimmte historische Bedeutung, indem er bestehende Werte über ihre eigentliche Lebensdauer hinaus, sozusagen in einem petrifizierten [versteinerten - wp] Zustand zu erhalten geneigt ist. Dieser historischen Funktion, deren Bedeutsamkeit übrigens leicht überschätzt werden kann, entspricht natürlich ein im entgegengesetzen, auflösenden Sinn wirksamer Einfluß subjektivistischer Anschauungen (23). Mit der Erkenntnistheorie des Werturteils haben natürlich alle diese Verhältnisse nichts zu tun.

Erst webb azs den, wie gesagt, im disparaten Gegensatz stehenden, deskriptiven Werturteilen Schlüsse auf die Setzbarkeit oder Nichtsetzbarkeit eines Umgebungsbestandteiles als objektive Teilbedingung einer bestimmten Wertung gezogen, also begründende Werturteile abgeleitet werden, ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen widerstreitenden Behauptungen eine Entscheidung zu treffen. Das typische, in diesem Fall einzuschlagende Verfahren, das auf den ersten Blick von einer gewissen Paradoxie nicht freizusprechen ist, soll nun zur Erörterung gelangen.

Gesetzt den Fall, es werde das Objekt  0 
    von  S1  positiv, von  S2  nicht-positiv (24)
gewertet. Diesem Tatbestand enstprechen die deskriptiven Werturteile
    gefällt mir (S1) und  0  gefällt mir (S2) nicht.
Soll nun in einwandfreier Weise aus diesen Aussagen der Index subjectivus eliminiert und ein objektives Urteil (eine Aussage ad rem [zur Sache selbst - wp]) gewonnen werden, so muß sich damit naturgemäß auch der Aussageinhalt verändern. Dem Objekt ansich Wert zuzuschreiben, ist ja doch ex definitione widersinnnig (siehe oben). Demnach kann, wie bereits hervorgehoben wurde, vom Objekt nur die genügende oder ungenügende  Qualifikation als objektive Teilbedingung  einer bestimmten Wertung ausgesagt werden. Was nun diese Frage anlagnt, so beweist das  Eintreten  des betreffenden Wertphänomens zwischen  S1  und  0  einerseits die  Erfüllung aller  Teilbedingungen, der objektiven sowohl als auch der subjektiven, da die Nichterfüllung der einen oder der anderen offenbar das Zustandekommen der Wertung hätte verhindern müssen. Was dagegen den zweiten Fall - das Ausbleiben des betreffenden Wertphänomens zwischen  S2  und  0  - anlangt, so läßt diese Erscheinung als Folge betrachtet, ansichnoch keinen konkludenten [übertragbaren - wp] Schluß auf die mangelhafte Qualifikation des Objekts zu, da auch die Nichterfüllung der subjektiven Komplementärbedingungen das Resultat in diesem Sinne beeinflußt haben kann. Während also aus dieser Erscheinung, für sich betrachtet, noch kein Schluß gezogen werden kann, bringt die erste positive Erfahrung mit der zweiten negativen zusammengehalten, die Fragezu einer unzweideutigen Entscheidung. Da dasselbe Objekt unter veränderten  S-Bedingungen einen positiven Wert gezeigt hat, kann im zweiten Fall  nicht die  mangelhafte  objektive  Qualifikation schuldtragend sein. Da dieselben Argumente auch für den entgegengesetzten Fall gelten, daß nämlich ein Objekt  0  von  S1  negativ, von  S2  nicht-negativ gewertet wird, können wir das für die Ableitung der begründenden Werturteile gültige Gesetz wie folgt aussprechen:
    Im Streit über die Qualifikation eines Objekts als Teilbedingung einer positiven, bzw. negativen Wertung ist nur die positive, bzw. negative Wertung ad rem beweiskräft; die ungleichsinnige Wertung (also die negative, bzw. positive) berechtigt nur zu einem Urteil über die Nichterfüllung der subjektiven Voraussetzungen. 
Die Farblosigkeit dieses Gesetzes in seiner allgemeinen Fassung verschwindet augenblicklich, sobald man die Konsequenzen dieses Prinzips an einem bestimmten Fall ins Auge faßt. Bestimmt man (und das muß z. B. die erste Aufgabeeiner wissenschaftlichen Ästhetik sein) die objektiven Teilbedingungen der positiven ästhetischen Wertung, d. h. bestimmt man den Umfang des Begriffs "schön" inseiner Bedeutung gleich "setzbar als objektive Teilbedingung einer positiven ästhetischen Wertung", so ergibt sich aus dem eben abgeleiteten Gesetz:
    Negative Kritik beweist, für sich genommen, nichts gegen die Schönheit einer Erscheinungsgruppe.

    Läßt sich jedoch der Negation durch S1 eine Positivwertung durch S2 entgegenstellen, so ist der Nachweis geführt, daß der Grund des Ausbleibens der positiven Wirkung im ersten Fall in der Nichterfüllung subjektiver Teilbedingungen bei S1 zu suchen ist. 
Sucht man nun in Übereinstimmung mit diesen Ableitungen den Umfang des Begriffs "schön" in dieser Bedeutung (also nicht gleich "ästhetisch wertvoll" - deskriptiver Sinn des Begriffs -, sondern gleich "setzbar als objektive Teilbedingung einer positiven Wertung") zu bestimmen, so ist von vornherein als feststehend zu betrachten, daß jede Theorie, die in ihren Voraussetzungen eine negative Kritik enthält, als unzureichend (auf unvollständigem Material aufgebaut) - jede Theorie, die in ihren Konsequenzen zu einer negativen Kritik führt, als falsch (mit gewissen Tatsachen der Erfahrung in Widerspruch stehend) betrachtet werden muß.

Als die gesuchte Umfangsbestimmung aber ergibt sich mit Rücksicht darauf die folgende:  Schön ist, was irgendjemandem gefällt, bzw. zu irgendeiner Zeit gefallen hat. 

Und damit hat uns gerade die subjektivistische Auffassung der ästhetischen Tatsachen zu der einzigen denkbaren, objektiven Grundlage einer wissenschaftlichen Ästhetik geführt. Der Begriff "schön" hat einen festen, intersubjektiv konstanten Umfang erhalten, was uns nicht wundern wird, wenn wir nur festhalten, daß dieser Begriff nach unserer Auffassung ein absolut wertfreier ist, daß er, weit davon entfernt, eine neue Bewertung zu enthalten, vielmehr nichts weiter bedeutet, als eine Aussage über eine aus einer vorgefundenen Bewertung abgeleitete deskriptive Bestimmtheit des Objekts.

Die so vollzogene Ausschaltung der negativen Kritik bildet ein Prinzip von größter Fruchtbarkeit für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Ästhetik. Denn die Tatsache, daß die Ästhetik in dem Sinne, wie sie heute verstanden wird, gründlich abgewirtschaftet hat, daß das mühsam errichtete Regelwerk unter dem Einfluß des neuerwachten Interesses an den mit dem Kunstleben zusammenhängenden Fragen Stück für Stück in Trümmer gesunken ist, kann nicht mehr geleugnet werden (25). Und keiner, der Gelegenheit gehabt hat, in das Treiben der "Ästhetiker" auch nur den flüchtigsten Einblick zu gewinnen, wird darüber im geringsten erstaunt sein. Denn wenn die Ästhetik bisher überhaupt eine Wissenschaft war, was wahrscheinlich nur wenige, Fernerstehende, zuzugeben geneigt sein werden, dann war sie mindestens eine "fröhliche Wissenschaft" im buchstäblichen Sinne des Wortes. Hatte man sich an mathematischen, erkenntnistheoretischen, formallogischen, psychologischen und biologischen Fragen matt und müde gedacht, dann kam "nach der Arbeit das Vernügen", dann ergänzte man sein System durch eine Ästhetik, die die "harmonische Bekrönung", den "schönen" Abschluß des Lehrgebäudes bilden sollte. Und eine solche Ästhetik muß in der Tat recht leicht zu erlangen gewesen sein; war doch das nötige Erfahrungsmaterial ohne weiteres zur Hand. Wer die sixtinische Madonna, den  Laokoon,  den olympischen ZEUS und eventuell noch die VENUS von MILO kannte oder zu kennen glaubte, war schon sattsam mit Kenntnissen ausgerüstet und konnte von seinem Standpunkt hoheitsvoll auf den armen Kunsthistoriker herunterschauen, der sich in seiner Beschränktheit bemühte, die Kunst darzustellen,  wie sie war  und wie sie  ist,  mit allen ihren "Schwächen und Unvollkommenheiten", während jener in ewiger Ruhe, an goldenen Tischen thronend, die Kunst schilderte,  wie sie sein sollte,  und, mit unbedingter Machtvollkommenheit, zu loben und zu tadeln, ausgerüstet, unnachsichtlich die Abweichungen von der  wahren und einzigen  Schönheit verdammte. Überdies hatte der Ästhetiker, während die anderen Wissenschaften dauernd unter den "Beschränkungen" zu leiden hatten, die ihnen die Erfahrung auferlegte und alle Augenblicke zu Abänderung und Widerruf gezwungen werden konnten, die freie, autonome Wahl unter seinen Erfahrungsdaten und konnte Sätze von ewiger, unwandelbarer Gültigkeit aufstellen. Was nicht ins System paßte, war eben nicht "schön". Aber noch mehr: der Ästhetiker nahm nicht nur die äußerste Definitionsfreiheit in puncto "Schönheit" in Anspruch, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mußten sich auch wirklich - bei Strafe negativer Kritik - an seine Begriffsbestimmungen halten. Kurz, der Kunstrichter schien im Reich der Kunst allmächtig, und das platonische Ideal der Intellektuellen von der Philosophenherrschaft - hier zumindest - verwirklicht. Und diese, zugleich lächerlichen und traurigen Zustände fanden ihre Hauptstütze in der Möglichkeit negativer Kritik. Man muß nur bedenken, daß man, solange diese Eselsbrücke der Ästhetik offen stand, jede beliebige Theorie aufstellen konnte, ohne daß irgendeine Instanz der Erfahrung dieselbe erschüttern konnte. Ich erinnere nur z. B. an BÖTTICHERs Theorie der architektonischen Schönheit (26), die er angeblich aus den griechischen Bauten abstrahiert hatte. Aufmerksam gemacht, daß sein System auf eine ganze Menge griechischer Architekturen nicht paßt, antwortete er, das beweise nur, daß es auch bei den Griechen Geschmacksverirrungen gegeben hat. Eine derartige Argumentation, die sich selbst von der Berücksichtigung des Tatsachenmaterials fallweise entbindet, war natürlich nur durch die erkenntnistheoretische Unklarheit und Verwirrung möglich, die auf diesem Gebiet infolge der inneren Widersprüche der objektvistischen Voraussetzungen herrschte. Solange "Wert" als objektive Eigenschaft galt und solange man bei den subjektiven Wertungenn den Unterschied zwischen "wahr" und "falsch" machte, konnte man die z. B. durch eine vorliegende Reihe von Kunstwerken repräsentierten Werte an seinen eigenen gewissermaßen nachprüfen und die diesen widersprechenden Wertungen einfach von der Betrachtung ausschließen. Vom subjektivistischen Standpunkt aus ist es jedoch selbstverständlich ganz ausgeschlossen, die zu beschreibenden und zu begründenden Wertungen einer Zeit mit den eigenen nicht etwa zu vergleichen, sondern zu vermengen. Daß z. B. das Menschenideal der archaischen griechischen Kunst (27) uns heutzutage durchaus nicht ideal vorkommt, hat mit der Tatsache, daß es von den Griechen so empfunden wurde, gar nichts zu tun. Keinesfalls wird doch durch unsere Wertschätzungen die  Tatsächlichkeit  der abweichenden griechischen Wertschätzungen, auf die es doch der Theorie allein ankommt, in Frage gestellt.

Ich möchte an dieses Beispiel anknüpfend, einige Bemerkungen über das Verhältnis der exakten Geschichtsdarstellungen zum Werturteil überhaupt einschalten. Für die Geschichtsdarstellung (die Methode  b)  ergibt sich aus den geänderten werttheoretischen Voraussetzungen die Notwendigkeit, den Wert nicht als eine bloß von der Konstanz des Objekts abhängige Bestimmtheit zu betrachten und demgemäß eine Vermengung dieses Momentes mit zeitlich entlegenen anderen Momenten zu vermeiden. So gut wie die historische Beschreibung eine spätere Übermalung eines Gemäldes von der älteren Originalarbeit trennen muß, so wenig darf man vom subjektivistischen Standpunkt aus außer acht lassen, daß z. B. wenn uns REMBRANDTs Bilder der letzten Periode, in denen er dem modernen Empfinden am nächsten kam, die liebsten sind, dies eine Tatsache ist, die das Datum 1870 - 1900 unf folgende trägt, die in die moderne Kunstgeschichte gehört, und von den damals bestehenden, für die holländische Kunstgeschichte allein bedeutungsvollen abweichenden Wertungen streng getrennt werden muß. Die Wertschätzung des Christentums durch NIETZSCHE ist eine Tatsache von größter Bedeutung für die Erkenntnis NIETZSCHEs und für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, allein mit dem historischen Christentum und seiner Erkenntnis hat diese Erscheinung wenig zu tun. Der naive egozentrische Standpunkt des Objektivismus in diesem Punkt äußert sich am drastischsten in zwei verschiedenen Formen. Historische Ereignisse, für die dem Autor infolge der abweichenden Wertungsgrundlagen das Verständnis fehlt, werden
    a) als Fehler, Irrtümer im logischen,
    b) als Verirrungen im moralischen Sinn dargestellt.
So bedauert z. B. ein älterer, aber seinerzeit vielgelesener Kunsthistoriker (28), daß dem unstreitig hochbegabten REMBRANDT nicht gebildete, kunstverständige Ratgeber zur Seite gestanden seien, die ihn auf das  wahrhaft  Schöne hätten hinlenken können. Führte man so einerseits die abweichenden Wertungen auf Unkenntnis der "wahren Werte" zurück, so hielt man es andererseits manchmal für "bösen Willen", wenn irgendeine historische Persönlichkeit nicht nach dem "wahrhaft Guten" strebte und brandmarkte ein solches Verhalten dann als unmoralisch. (29)

Naturgemäß hat man schon sehr früh, ausgehend von der Kritik spezieller Fälle, die Bemerkung gemacht, daß derartige Bewertungen bloß den - wie die Erfahrung zeigte - individuell verschiedenen Standpunkt des Autors zum Ausdruck brächten, daß in strittigen Fällen keinerlei Einigung zu erzielen sei und daß daher die Werturteile von den übrigen, objektiv geltenden Forschungsergebnissen zu trennen seien (30). Mit immer mehr Nachdruck wurde und wird die Forderung erhoben, derartige Bewertungen zu unterlassen. Diese Forderung, ansich natürlich vollkommen berechtigt, darf jedoch nicht zu einer  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] einer exakten Geschichtsdarstellung aufgebauscht werden. Ansich wäre es einerseits pedantisch, andererseits undurchführbar, demjenigen, dem es ein persönliches Bedürfnis ist, seine Wertschätzung einer Zeit oder einer Person zum Ausdruck zu bringen, eine solche Meinungsäußerung zu verbieten. Und solange diese Bewertungen, die als Rudiment der älteren lehrhaften, pragmatischen Geschichtsdarstellungen aufzufassen sind, getrennt von der eigentlichen, beschreibenden Darstellung ohne bestimmenden Einfluß auf dieselbe einherlaufen, kann gegen dieses Persönlichkeitsstreben in erkenntnistheoretischer Beziehung kaum etwas eingewendet werden.

Vom Standpunkt einer exakten Methode absolut zu verwerfen ist nur die unkritische Verwendung von Werturteilen als Basis für die Ableitung objektiver Erkenntnisse. Als typisches Beispiel für derartige, in der Kunstgeschichte leider nicht allzuseltene Schlußfolgerungen, kann die von LEGROS am Katalog der REMBRANDT-Radierungen ausgeübte Kritik aufgeführt werden. Dieser Kenner bezeichnete nämlich nahezu drei Viertel der Blätter als unecht, mit der Begründung, dieselben seien des Meisters "nicht würdig". Mit welcher Vorsicht man bei einer derartigen Argumentation vorgehen muß, zeigt eine kleine, für den Kunsthistoriker höchst lehrreiche Begebenheit. WILHELM KAULBACH äußerte beim Anblick der  heiligen Cäcilie  von RAFAEL, das Kolorit dieses Bildes sei von vollendeter Schönheit, aber die Komposition lasse zu wünschen übrig. Nun hat MORELLI in der sarkastischen Weise, die ihm eigentümlich ist, hervorgehoben, daß, während die Komposition sich natürlich unverändert erhalten hat, das Kolorit in seinem heutigen Zustand auf einen Restaurator der napoleonischen Zeit zurückgeht. Der nah verwandte Geschmack seines älteren Zeitgenossen hatte KAULBACH begeistert, während ihn die - unverstandene - Feinheit der klassischen Originalarbeit kalt ließ. Man stelle sich nun ein aufgrund derartiger Bewerungungen gefälltes Urteil über historische Echtheit oder Unechtheit vor!

Vom subjektivistischen Standpunkt aus verbietet sich ein solches Verfahren von selbst. (31) Es müssen selbstredend die historischen Wertungen der betreffenden Zeit und nicht die eigenen des Autors sein, auf die man sie bei einer derartigen Argumentation stützt, will man nicht zu so lächerlichen Ergebnissen kommen, wie jene Historiker, die aus dem REMBRANDT-Werk die obszönen Blätter (32) streichen wollten, weil sich ihr Philistergefühl dagegen sträubte, diese, von einer bewunderswürdigen Freiheit und von einem beispiellosen Darüberstehen zeugenden Arbeiten anzuerkennen. Derartige Geschichtsfälschungen sind übrigens heute infolge einer Neueinführung exakter Vergleichsmethoden durch MORELLI und seine Nachfolger kaum mehr an der Tagesordnung.

Noch haben wir, nachdem wir das subjektivistische Prinzip in der Theorie des deskriptiven und des begründenden Werturteils durchgeführt und in einer kleinen Abschweifung die Stellungen des Werturteilts innerhalb der historischen Beschreibung erörtert haben, einige Worte dem  subsumtiven  Werturteil zu widmen. Eine derartige Subsumtion unterscheidet sich in formaler Beziehung durch nichts vom allgemeinen Typus. In materialer Beziehung knüpft sich an die Tatsache der Aufstellung von Wertklassen, die ja die unmittelbare Voraussetzung der werttheoretischen Subsumtion bildet, ein nicht ganz unbedeutendes Problem, das eigentlich im Rahmen der vorausgehenden Studie hätte zur Darstellung gebracht werden sollen. Man trifft nämlich dann und wann auf Versuche, diese Klassenbildung auf eine rein psychologische Grundlage zu stellen, indem man eine in der unmittelbaren Erfahrung gegebene inhaltliche Verschiedenheit der Wertgefühle annimmt. Wie bereits an anderer Stelle betont wurde, sind derartige "Erfahrungen" außerordentlich schwer zu kontrollieren. Zweifellos werden oft komplizierte, mittelbar erfahrene Momente durch eine Art Rückübersetzung ins psychologische mit unmittelbaren Bewußtseinsdaten verwechselt. Mir persönlich scheint hier etwas dergleichenvorzuliegen. Wenn ich auch keineswegs mit jenen Versuchen einverstanden bin, alle Verschiedenheit im Inhalt der Gefühle, die nicht im Gegensatz  Lust - Unlust  aufgeht, zu unterdrücken und so diese Phänomene einem eindimensionalen Kontinuum einzuordnen, so glaube ich doch nicht an die Möglichkeit einer  unmittelbaren  Unterscheidung z. B. zwischen "ethischem" und "ästhetischem" Wohlgefallen. Es ist klar, daß die verschiedenen Situationen, auf denen die spezielle Werttheorie durch Reflexion eine Klassifikation der Wertungen aufbaut, einen Widerschein auch auf den Komplex der subjektiven Abhängigen werfen und so jedes bestimmte Gefühlsphänomen sozusagen mit einem jeweils verschiedenen Kranz von "fringes" (JAMES) umgeben müssen. Allein deswegen eine ursprünglich gegebene inhaltliche Verschiedenheit anzusetzen dürfte doch ein zu weitgehende Annahme sein. Demnach können die Versuche, die Wertklassenbildung auf einer ursprünglich gegebenen, rein psychologischen Basis aufzubauen, wohl als aussichtslos betrachtet werden.

Da die praktische Durchführung dieser Klassifikation im übrigen als Aufgabe der speziellen Werttheorie erscheint und somit über den Rahmen dieser allgemein-methodologischen Untersuchung hinausgreift, erübrit uns nur noch, auf eine unzulässige Form der Gruppenbildung aufmerksam zu machen, die in der herkömmlichen Wertlehre, besonders auf gewissen Spezialgebieten eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Ich meine die  Klassifikation durch eine Schichtung von Bewertungen.  Hierher gehörige Beispiele sind unter anderen die Unterscheidungen zwischen "materiellen" und "geistigen", "zeitlichen" und "ewigen" Gütern, "höheren" und "niederen" Bedürfnissen, "sinnlichem" und "ästhetischem" Wohlgefallen usw. Es soll hier natürlich nicht im einzelnen untersucht werden, inwiefern diesen Einteilungen wirkliche oder vermeintliche deskriptive Bestimmtheiten zugrunde liegen und inwiefern dieselben daher eine gewisse objektive Geltung besitzen können. Nur darauf muß hingewiesen werden, daß diese Klassifikationen, soweit sie auf Bewertungen aufgebaut sind, stets eine individuell, zeitlich und örtlich begrenzte Bedeutung behalten werden und daher einen bloß subjektiven Wahrheitswert beanspruchen können. Man halte z. B. nur die Wertschätzungen einer Zeit, wie der des CORNELIUS, mit ihrer Verachtung der "sinnlichen Reize" zugunsten der "inhaltlichen Beziehungen" zusammen mit der modernen (genauer gesagt: letztvergangenen), rückhaltlosen Hingabe an die "künstlerische Form" und dem Hand in Hand damit gehenden absprechenden Urteil über die "unkünstlerischen" Reize eines literarischen Programms, eines Witzes, einer Novelle im Bild. Welche Kluft liegt, um ein anderes Beispiel zu nennen, zwischen den Wertschätzungen der nikomachischen Ethik, in der die Erkenntnis als höchstes Gut gepriesen wird, und jenen bekannten Sätzen aus "Jenseits von Gut und Böse" über den relativen Wert von Wahrheit und Irrtum! Derartige Beispiele, wie sie leicht ins Ungezählte vermehrt werden könnten, sind vorzüglich geeignet, die Nachteile einer auf derartige Kriterien gestützten Einteilung zu beleuchten.

Damit wäre die Logik des Werturteils in den wichtigsten Punkten erledigt und wir wenden uns nun einer viel umstrittenen Frage zu, deren Erörterung den ergänzenden Abschluß einer Theorie des Werturteils zu bilden geeignet ist. Die Frage nach der  Priorität im Verhältnis von Wert und Werturteil  - um diese handelt es sich nämlich - hat in der Geschichte der Philosophie - allerdings in einem Zusammenhang, der einer exakten Betrachtungsweise eher fern liegt - eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Die Schlagworte "Intellektualismus" - "Voluntarismus", unter denen die metaphysisch aufgebauschten Streitmeinungen verfochten wurden, sind zur Genüge bekannt. Uns kann es sich natürlich nicht darum handeln, die Priorität eines "Seelenvermögens" vor dem anderen festzustellen; unsere Erörterung beschränkt sich streng auf die Frage, ob die Wertgrößen von rein präsentativen Bewußtseinserscheinungen abhängig zu denken sind oder nicht. Dieses Problem besitzt natürlich vom Standpunkt einer auf psychologischer Basis aufgebauten Werttheorie eine Bedeutung, die wir ihr von unserem Standpunkt aus auch nicht entfernt zuschreiben können. Denn da wir eingangs gezeigt haben, daß ein rein psychologisches Motivationsgesetz überhaupt nicht aufgestellt werden kann, entfällt von selber auch jener extreme Intellektualismus (HERBART), der die Wertbeziehung überhaupt in ihrer ganzen Geltung auf rein präsentative Voraussetzungen zurückführen will. Mit anderen Worten: das intellektualistische erscheint als Spezialfall eines rein psychologischen Motivationsgesetzes  eo ipso  [schlechthin - wp] ausgeschlossen. Nebenbei gesagt bildet das intellektualistische Motivationsgesetz das psychologische Korrelat des werttheoretischen Objektivismus, und die gegen diesen gerichtete Kritik kehrt folgerichtig ihre Spitze auch gegen jenen. Betrachtet man nämlich in einem objektivistischen Sinn die historischen Phänomene als allein abhängig von der Beschaffenheit des Wertobjekts, dann erscheint im Zusammenhang der psychologisch Zugeordneten die Erkenntnis des Objekts in dieser Beziehung (das Werturteil) als unmittelbare Ursache des Wertphänomens. In diesem Zusammenhang erhält natürlich das Werturteil eine ganz andere, über die reine Beschreibung eines vorhandenen Tatsachenkomplexes hinausreichende Bedeutung. Das Werturteil erscheint als eine  primäre Bewertung  und der betreffende dynamische Wert als proportional der logischen Verbindlichkeit zur Anerkennung der Wahrheit des Werturteils. Aus der  gleichmäßigen  logischen Verbindlichkeit ergibt sich dann die intersubjektive Gültigkeit des Wertes, die Geradlinigkeit der historischen Entwicklung usw.; kurz: alle oben kritisierten, unhaltbaren Konsequenzen des Objektivismus.

Dieser extreme Intellektualismus kann heute wohl als überwunden bezeichnet werden. Schon der herkömmliche psychologische Subjektivismus hat durch die Erhebung des Wertgefühls zum bestimmenden werttheoretischen Kriteriums den von der "Umgebung" beschaffenheitlich bestimmten  intellektuellen,  psychologischen Antezedentien [das Vorausgehende - wp] die subjektiv abhängigen emotionalen Erscheinungen angereiht und so dem Werturteil eine bloß sekundäre, beschreibende und mitteilende Bedeutung übrig gelassen (33).

Wir unsererseits haben in den vorausgehenden Ausführungen die Gelegenheit ergriffen, diese  sekundäre, beschreibende  Bedeutung des Werturteils nach allen Seiten hin klarzustellen und die Konsequenzen aus dem werttheoretischen Subjektivismus mit voller Strenge zu ziehen. Dabei konnten wir bereits auf eine bestimmte, mehr als beschreibende, historische Bedeutung hinweisen, die dem gefällten Werturteil nicht ansich, sondern kraft gewisser dynamischer Verhältnisse in gewissen Fällen zukommt und die von der theoretisch-wissenschaftlichen Bedeutung desselben strengstens zu trennen ist. (Eine für die kunsthistorische Betrachtung einer Gruppe von Monumenten vollkommen bedeutungslose Kritik kann z. B. durch die Autorität des Urteilenden usw. einen bestimmten Einfluß auf das Schicksal dieser Werke gewinnen. Man erinnere sich z. B. an die vandalische Vernichtung der barocken Kunstschätze in Bayern durch den Purismus LUDWIGs I. und seiner ästhetischen Ratgeber.)

Wir kommen nun zu einem, in einem anderen Zusammenhang bereits erörterten, viel wichtigeren werttheoretischen Spezialfall, der geeignet wäre, bei oberflächlicher Betrachtung als Argument gegen die Auffassung des Werturteils im Sinne einer reinen Beschreibung ausgebeutet zu werden. Wir haben weiter oben die konstitutiven, bzw. konsekutiven [unmittelbar nachfolgenden - wp] Relationen der Erscheinungen als Voraussetzungen der  Wertübertragung  kennen gelernt, ohne doch damals auf die weiteren biologischen Voraussetzungen dieser Erscheinung in den einzelnen Fällen näher eingegangen zu sein. Nun ist es ohne weiteres einleuchtend, daß in gewissen Fällen, z. B. bei der Wertübertragung vom "Zweck" auf das "Mittel" für das subjektive Verhalten nicht die funktionellen Beziehungen "ansich", sondern die Abhängigkeitsverhältnisse, insofern sie in der Vergangenheit des betreffenden Individuums als Erlebnisse erscheinen, bestimmend sind. Mit anderen Worten: die unmittelbare Voraussetzung einer Wertübertragung vom "Zweck" auf das "Mittel" ist eine "Erfahrung" über die Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie zwischen den in Betracht kommenden Erscheinungen bestehen. Derartige, in Form von Urteilen ausgedrückte Erfahrungen können nun natürlich einen größeren oder geringeren Wahrheitswert besitzen und es wird daher parallel mit dem Fortschritt der Erkenntnis, d. h. mit der Ersetzung unhaltbar gewordener durch richtigere Abhängigkeitsurteile  bei gleichbleibden primären Werten ein Wandel der vermittelten Wert stattfinden.  Beispiele einer derartigen Erscheinung sind die stetige Vervollkommnung der "Mittel" (Maschinen, Methoden) eines bestimmten Produktionszweiges, die Entwertung früherer Produktivgüter durch "zweckmäßigere" Typen, die Ausschaltung ehemals für zweckmäßig gehaltener Heilmittel aus der Therapie usw. Wir bezeichnen die so entstehende sekundäre geradlinige Geschichtsentwicklung als  "technologischen Fortschritt".  In allen hierher gehörigen Fällen erscheint aber ein Wert als abhängig von einem Urteils- (Erkenntnis-) Akt und es liegt daher nahe, diesen Tatbestand im Sinne der Priorität des Werturteils aufzufassen. Als eine weitere Konsequenz dieser Auffassung erscheint dann die Unterscheidung zwischen "wahren Werten" und "Scheinwerten", sowie die Annahme der Möglichkeit einer logischen Entscheidung eines Bewertungsstreits in diesem Sinne. Gegen diese Ausdeutung der Sachlage ist einzuwenden, daß das hier in Betracht kommende "wertübertragende" Urteil kein  Werturteil,  sondern ein Urteil über eine deskriptive Bestimmtheit des Wertobjekts ist und daß dieser objektiven Erkenntnis eine  mehr-als-beschreibende, wertverleihende  Bedeutung deshalb nicht zugesprochen werden kann, weil die Setzung des betreffenden Wertes außer von dieser objektiven Relation noch vom Bestehen eines entsprechenden primären Wertes abhängig zu denken ist. Demgemäß kann, wenn z. B. mit Bezug auf ein gegebenes "Ziel" über die "Zweckmäßigkeit" verschiedener "Mittel" gestritten wird und wenn dann in einem solchen Fall eine intersubjektive Einigung erzielt wird, doch nicht von einer logischen Entscheidung eines Bewertungsstreits gesprochen werden. Hat doch, wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, in einem solchen Fall gar kein Bewertungsstreit stattgefunden.

Die Unterscheidung zwischen "wahren Werten" und "Scheinwerten" ja nach der Wahrheit oder Unwahrheit der wertvermitteltenden Urteile ist naturgemäß insofern nicht ganz korrekt, als ein "Scheinwert", solange bloß das betreffende Urteil für wahr gehalten wir, durchaus kein "scheinbarer", sondern ein sehr realer Wert ist. (Man denke z. B. an den Wert eines Amuletts für einen Primitiven.) Ebenso kann in den Fällen des sogenannten "Tatirrtums", wo eine vermittelte Wertung durch ein falsches Übertragungsurteil zustande kommt, d. h. wo die Folgen einer Maßregel von den erwarteten abweichen, nie von einer falschen  Wertung  die Rede sein.

Versuchen wir nun nach diesen Erwägungen die Bedeutung der Urteilsakte für die Setzung und Aufhebung von Werten, mit anderen Worten: die historische Bedeutung der intellektuellen Vorgänge zu bestimmen, so ergibt sich, daß die Erkenntnis der einzelnen Tatsachenkomplexe  nur  für die Gruppierung der  vermittelten  Werte bei  gegebenen  Primärwerten mittelbar bedeutungsvoll erscheint und daß daher gewisse Erkenntnisse durch die Einführung gegebener Primärwerte einen  normativen  Charakter von  relativ begrenzter  Verbindlichkeit gewinnen können. Und zwar deckt sich bezeichnenderweise der Geltungsbereich dieser Verbindlichkeit nicht mit dem (unbegrenzten) Geltungsbereich der betreffenden (wahren) Erkenntnisse, sondern mit dem der vermittelnden Primärwerte. So ist z. B. die Verbindlichkeit der logischen Normen von der Setzung eines primären Wertes der Wahrheit abhängig. Für Urteile, die einen anderen (ästhetischen usw.) Zweck verfolgen, erlischt selbstverständlich die Verbindlichkeit der logischen Gesetze. Aus ähnlichen Gesichtspunkten eine Rechtfertigung einer normativen Ästhetik zu geben, ist in Ermangelung eines in ähnlicher Weise intersubjektiv setzbaren Primärwertes unmöglich. Was schließlich die Verbindlichkeit der ethischen Normen anlangt, so haben wir an anderer Stelle bereits auf ihre  rein  dynamische, in speziellen, soziologischen Verhältnissen begründete Basis hingewiesen.

Die intellektuelle Entwicklung erscheint demnach einzig und allein im Sinne des technologischen Fortschritts als historisch bedeutungsvoll, das heißt sie ermöglicht die Verwirklichung gegebener Werte durch die "zweckmäßigsten" Mittel. Der Traum einer Neubildung von Werten durch die Werttheorie, der als Kernpunkt aller bisher unternommener Versuche der Aufstellung mehr-als-beschreibender, das heißt normativer Erkenntnisse zugrunde lag, muß endgültig als verloren gegeben werden. 
LITERATUR Robert Eisler, Zur Theorie des Werturteils, Studien zur Werttheorie, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    15) Über eine dem Bewertungsstreit ganz analoge Frage aus dem Gebiet wertfreier Urteile und ihre Lösung vgl. AVENARIUS, Weltbegriff, Seite 121f
    16) Über den Bankbruch der normativen Ästhetik vgl. CORNELIUS GURLITT, Deutsche Kunst usw., sowie die neuere Kunstkritik in alle Richtungen.
    17) Im weitesten Sinn, nicht beschränkt auf die Geschichte der bildenden Künste.
    18) Zur Frage der geschichtlichen Wandlungen im Gefühl für "harmonische Verbindungen" vgl. u. a. folgende Beispiele. Die Quartenfolgen des GUIDO von AREZZO sind unserem modernen Gefühl unerträglich. Umgekehrt ist es eine gut beglaubigte historische Tatsache, daß bei den Griechen die Terz (und zwar nicht nur die phythagoräische [64:81], sondern auch die natürliche Terz 4:5 ihres sogenannten syntonisch-diatonischen Geschlechts), wie wir durch DIDYMOS und PTOLOMAIOS wissen, als Dissonanz empfunden wurde. Übrigens hat die Terz bis in die frühe Neuzeit hinein als eine schlechte Verbindung gegolten. Ob dabei eine theoretische Tradition im Spiel war, oder ob es sich wirklich um den Ausdruck des lebendigen Kunstwollens der Zeit handelt, kann ich nicht entscheiden. Vgl. HELMHOLTZ, Lehre von den Tonempfindungen.
    19) Vgl. zum Beispiel die irrtümliche Auffassung von REMBRANDTs Schützenkompanie des FRANS BANNING-COCK als Nachtstück (daher die populäre Bezeichnung als "Nachtwache", ronde de nuit) bei DUCAMP.
    20) Zur Frage der in dieser Richtung obwaltenden Gesetzmäßigkeit vgl. A. GÖLLER, Ästhetik in der Architektur.
    21) Vgl. die Kontroverse über den "Dornauszieher", Zeitschrift für bildende Kunst, 1901
    22) RUDOLF SCHICK, Tagebuchaufzeichnungen
    23) Vgl. z. B. die historische Bedeutung der griechischen Sophistik und der französischen Aufklärungsphilosophie.
    24) "Nicht-positive" Wertung ist hier im Sinne eines kontradiktorischen Gegensatzes zu  positive  Wertung genommen und umfaßt demnach als Oberbegriff die Indifferenzlage und die Negativwertung.
    25) Vgl. CORNELIUS GURLITT, Die deutsche Kunst im 19. Jahrhundert.
    26) BÖTTICHER, Tektonik der Hellenen, 1843
    27) Vgl. JULIUS LANGE, Die Darstellung des Menschen in der älteren griechischen Kunst, 1899.
    28) FÜSSLI, Künstlerlexikon, Zürich 1763
    29) Vgl. zur Kritik eines speziellen, hierher gehörigen Falles die scharfsinnigen Ausführungen MACAULAYs in seinem "Macchiavelli". Mit dem feinen Takt des genialen Historikers empfand MACAULAY, obwohl er sich von objektivistischen Voraussetzungen speziell in moralischer Hinsicht nicht völlig befreien konnte, doch die Ungerechtigkeit, die in einer derart engherzigen Beurteilung hochstehender Charakteres gelegen war, und gelangte, von diesem Gefühl geleitet, zu einer sehr scharfsinnigen erkenntnistheoretischen Kritik dieses Verfahrens. - MACAULAY, Essays, Bd. 1.
    30) Vgl. zu dieser Frage die entgegengesetzten Meinungen in jenem berühmten Streit um die Objektivität der historischen Methode, der merkwürdigerweise mit den Namen SCHLOSSER und RANKE in Verbindung gebracht wurde.
    31) Auch bei der beliebten Periodisierung der Kunstgeschichte nach "Blüte-, Verfalls- und Frühzeit" kann nicht vorsichtig genug vorgegangen werden.
    32) Die sogenannten  sujets libres  des BARTSCH-Kataloges.
    33) Vgl. SPINOZA, Ethik, Teil III, § 9; Teil IV und V, § 29 und HUME, Treatise, B III, Teil 3, § 1