ra-2Paul TillichDie Trennung von Staat und KircheReinhold Niebuhr    
 
ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Psychologie und Erkenntnistheorie
in der Religionswissenschaft

[1/3]

"Die Analyse bleibt freilich daran gebunden, daß man selbst irgendwie religiöse Zustände an sich kenne oder wenigstens hypothetisch nachzuerzeugen vermöge. Allein darin ist sie mit der Psychologie der Logik und der Moral, vor allem mit der der Kunst, in gleicher Lage. Das kann keinen Einwurf begründen, sondern nur die Unzuständigkeit vieler bezeichnen, die in dieser großen Frage ohne Kenntnis des Gegenstandes mitreden."

Die heutige Religionswissenschaft hält sich an dasjenige, was ohne Zweifel tatsächlich vorliegt und ein Gegenstand wirklicher Erfahrung ist,  an das subjektive religiöse Bewußtsein selbst.  Das Mißtrauen gegen kirchliche und gegen rationalistische Dogmen hat im Denken der Gegenwart jede andere Behandlung unmöglich gemacht. So ist es der Geist des  Empirismus,  der hier wie an anderen Punkten vollständig gesiegt hat. Der Empirismus auf diesem Gebiet bedeutet aber die  psychologische Analyse.  Diese Analyse wird dann auch von der Gegenwart im weitesten Umfang betrieben: einerseits von den Anthropologen und Prähistorikern, welche das Seelenleben der Primitiven untersuchen und uns hierbei die besondere Rolle und Bedingtheit der Religion in diesen Zuständen zeigen, andererseits von den modernen Experimentalpsychologen und psychologischen Empirikern, welche die Religion aus der Selbstbeobachtung und vor allem aus den gesammelten Fremdbeobachtungen und Selbstzeugnissen studieren und die hierbei gefundenen Grundphänomene von den Begriffen der Experimentalpsychologie aus beleuchten. Die ersteren schildern den großen Grundstock religiösen Denkens, der von der primitiven Psyche in ungezählten Jahrtausenden prähistorischer Entwicklung gebildet worden ist und dessen Denkformen noch heute bis in die innerlichsten und sublimsten Religionen hereinreichen. Die zweiten schildern die seelischen Zustände selbst, welche zunächst ja nur in der gegenwärtigen eigenen und fremden Erfahrung unmittelbar erfaßbar sind und die ja auch erst in der entwickelten Religion sich selber durchsichtig und zu charakteristischer Eigentümlichkeit herausdifferenziert sind, Mit etwas anderem Ausdruck kann man sagen: die Anthropologen sind die, Psychologen der Vergangenheit, die auch die heutigen Primitiven und Wilden nur als Anschauungsmaterial für die prähistorischen Entwicklungsstufen verwenden; die Experimentalpsychologen sind die Psychologen der Gegenwart, die auch die Kenntnis von früheren Entwicklungsstufen nur als Mittel des Verständnisses der heutigen Erscheinungen verwenden. Zwischen ihnen stehen die Religionshistoriker der großen geschichtlichen Gebiete, des Hinduismus, des Chinesentums, des Semitismus, Parsismus, Hellenismus usw., die die Zwischenstufen zwischen der prähistorischen Religion und den großen Gegenwartsreligionen, dem Christentum, dem Buddhismus und dem Islam, auf ihre religiösen Grundideen und deren geschichtliche Wandlungen zu untersuchen haben; sie stehen auch insofern in der Mitte, als die von ihnen geschilderten Gebiete überall sich herausarbeiten aus dem prähistorisch-anthropologischen Grundstock und im Laufe ihrer Entwicklung sich überall hineinerstrecken in die Gefühls- und Empfindungswelt, die der Gegenwart vertraut ist.

Viele meinen nun, daß die Gesamtwissenschaft von der Religion ihren eigentlichen Schwerpunkt habe in der Religionspsychologie der Anthropologen und daß alles weitere sich zur Urreligion nur verhalte wie ein Ausläufer und ein Nachhall; die Religion sei eine Erzeugnis der urmenschlichen Psyche mit ihrer alles personifizierenden und auf persönliche Interessen beziehenden Betrachtung der Dinge, die ihr überall Zusammenhänge einer unerkannten und geheimnisvollen objektiven Welt mit dem menschlichen Wohl und Wehe als personhafte Einwirkungen unbekannter Mächte vortäusche und in dieser Täuschung die eigentümlich religiösen Zustände hervorbringe; dem aber habe die alles depersonfizierende Wissenschaft ein Ende gemacht, indem sie den weltweiten Zusammenhang der Dinge in seiner Gleichgültigkeit gegen menschlich-persönliche Werte und in seinem Unterschied von menschlich-persönlichem Willen erleuchtet habe; damit seien der Religion im seelischen Gesamtleben die Wurzeln abgestorben, der Religionshistoriker schildere uns nur den allmählichen Übergang der primitiven, sinnlich-lebendigen Urreligion in abstrakt-metaphysische Verkleidungen und die moderne Religionspsychologie zeige uns nur die Reste urmenschlicher Empfindung, die ohne festen Halt in der Naturanschauung sich nun bloß mehr an persönliche Gefühle und Bedürfnisse des sich nicht in die objektive Welt resignierenden romantischen Individuums klammern. Was so spricht, ist die Religionspsychologie des Positivismus. Aber das ist dann eben Positivismus und nicht reiner und wirklicher Empirismus. Es ist nicht eine Analyse der Religion, sondern eine Beurteilung des Wahrheits- und Wertgehaltes der Religion aufgrund einer bestimmten Weltanschauung, nicht Religionspsychologie, sondern psychologisch-anthropologische Wegargumentierung der Religion. Die Gründe für eine solche Haltung liegen auch ganz deutlich nicht in der Psychologie selbst. Denn die Gegenwartsreligion ist noch in voller Lebendigkeit und kann sehr wohl aus sich selbst verstanden werden; andererseits wird auch die primitive Religion jederzeit eine große Menge innerlicher religiöser Indifferenz bei äußerlicher Befolgung des Kultus enthalten haben. Die verringerte soziale und äußerliche Macht der Religion hat doch zugleich zu einer Individualisierung und Vertiefung der persönlichen Religion geführt und es ist daher unmöglich, aus der heutigen größeren Freiheit zur Irreligion irgendetwas über den Wesenszusammenhang der Religion an sich mit den Sonderbedingungen der urmenschlichen Psyche zu folgern. Ja, es ist im Grund leichter, die primitive Relition zu deuten aus der Gegenwartsreligion, als die Gegenwartsreligion aus der primitiven, deren innerstes Gefühlsleben sich nur wenig zu offenbaren vermag. Die angebliche Umwandlung der Urreligion in abstrakte Metaphysik ist keine Umwandlung der wirklichen Religion, sondern nur die Entstehung eines Doppelgängers der Religion, neben dem diese überall bestehen und zu neuen spezifisch-religiösen Entfaltungen zeugungskräftig bleibt. Die Bezeichnung der aus der Urreligion entstehenden und in die Gegenwart reichenden Religionsbildungen als eines bloßen Überbleibsels, die Betrachtung der ganzen Gegenwartsreligion als eines romantischen Eigensinns oder einer rückständigen Beschränktheit, all das ist ganz deutlich nur eine Messung des Wahrheitsgehaltes der Religion an der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie dem Positivisten aus der gleichgültigen Gesetzmäßigkeit der Welt und aus der Flüchtigkeit ihrer organischen Hervorbringungen folgen zu müssen scheint. Es ist der Gegensatz der positivistischen Metaphysik gegen die religiöse Metaphysik, der hier spricht, nichts anderes. Aus diesem Grund ist aber auch der Positivismus keine reine und unbefangene Religionspsychologie, sondern eine Widerlegung der Religion aufgrund der positivistischen Metaphysik und die Einkleidung dieser Widerlegung in die Gestalt einer psychologisch-anthropologischen Entwicklungslehre, deren beide Endpunkte, die angebliche Begründung der Religion im personifizierenden Denken des Urmenschen und das angebliche Absterben der Religion in der Gegenwart und Zukunft, nur Behauptungen, aber keine psychologisch feststellbaren Tatsachen sind.

Eine wahrhaft empirische Religionspsychologie benützt mit Dank das von den Anthropologen beschaffte Material und versteht viele Verwicklungen und Verfeinerungen der Gegenwart aus den einfacheren Urformen. Aber das Wesen der Sache selbst muß sie in einer Analyse der lebendigen Gegenwartsreligion suchen, die ihr zunächst lediglich eine Tatsache ist und von dieser Tatsache aus wird sie auch erst die anthropologischen Darstellungen voll verstehen zu können meinen. Es deutet ja auch die Anthropologie überall die Urreligion aus Analogien gegenwärtiger Gedankenverbindungen und es ist oft die Frage, ob die von ihr benützten Analogien tief und ernstlich genug aus dem Wesen der Sache geschöpft sind. So sind wir von allen Seiten her auf eine psychologische Analyse der Gegenwartsreligion gewiesen. Die Gegenwartsreligion bedeutet nun freilich in erster Linie die eigene Religiosität des Forschers, die er als wirkliche oder hypothetisch nachempfundene besitzen mag. Und so ist eine solche Analyse von all den Gefahren und Einseitigkeiten der Selbstbeobachtung bedroht. Allein diese Gefahren, die der Positivismus in seinem Interesse überall geflissentlich übertreibt, lassen sich kompensieren. Neben die Selbstbeobachtung tritt die Beobachtung anderer, besonders die Beobachtung extremer und charakteristischer Fälle oder die Beobachtung von Angehörigen fremder Konfessionen und Religionen. Je weniger das beobachtete fremde religiöse Leben mit den eigenen gedanklichen Interessen zu tun hat, umso mehr darf man an Objektivität der Beobachtung glauben. Dazu kommt die eigentlich religiöse Literatur, in der die Religion sich tausendfach naiv und energisch ausspricht, sodann Biographien, Berichte und Worte von besonders charakteristischen führenden religiösen Persönlichkeiten, also von Propheten, Sehern, Stiftern, Heiligen, Reformatoren und Seelenleitern. Auch die Psychopathologie kann mit Erfolg verwertet werden, indem ja die krankhaften Vorgänge nur Steigerungen und Isolierungen der normalen sind und damit hier wie auf anderen Gebieten Rückschlüsse auf das Normale erlauben. Die Analyse bleibt freilich daran gebunden, daß man selbst irgendwie religiöse Zustände an sich kenne oder wenigstens hypothetisch nachzuerzeugen vermöge. Allein darin ist sie mit der Psychologie der Logik und der Moral, vor allem mit der der Kunst, in gleicher Lage. Das kann keinen Einwurf begründen, sondern nur die Unzuständigkeit vieler bezeichnen, die in dieser großen Frage ohne Kenntnis des Gegenstandes mitreden. Es bleibt die Aufgabe einer reinen Empirie, einer wirklichen Psychologie der Religion, die religiöse Erfahrung ohne Vorurteil für oder wider zu studieren, sie in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit zu erfassen, Zusammenhang und Analogie mit anderen psychischen Phänomenen festzustellen, die besondere Färbung zu bezeichnen, die den allgemeinen psychischen Funktionen zuteil wird, wenn sie unter die Wirkung der besonderen religiösen Zuständlichkeit geraten. Gedankeninhalte, Bilder, Kulte, Organisationen der Religion wechseln unbegrenzt; aber bei aller Verschiedenheit kommt ihnen eine spezifische Eigentümlichkeit zu, die eben um deswillen zunächst in einer gewissen Formbestimmtheit dieser Zustände und Erfahrungen gesucht werden muß. Die rein empirische Religionspsychologie sucht die besondere Form derjenigen seelischen Vorgänge und Zustände, die wir als religiös bezeichnen und mit dieser Bezeichnung gegen andere deutlich abheben, gleichgültig zunächst gegen den gedanklichen Inhalt dieser Zustände, gegen die Wahrheitsfrage, gegen die tausendfach wechselnden Inhalte, die unter der Wirkung dieser Form stehen. Denn es ist hier von vornherein klar, daß die Inhalte unermeßlich wechseln, daß aber allen religiösen Zuständen verschiedensten Inhaltes eine Formbestimmtheit eignet, die heute wie ehemals nicht von allen erlebt wird, die aber heute wie damals in allen, die sie erleben, charakteristische Wirkungen stärkster und kenntlichster oder auch schwächerer und matterer, aber immer eigentümlicher Art hervorbringt. Diese Formbestimmtheit gilt es, psychologisch festzustellen und dann das Verhältnis der Inhalte zu dieser Form gleichfalls rein psychologisch aufzuhellen.

Eine solche empirische Religionspsychologie ist denn auch von der modernen Psychologie mit beträchtlichem Erfolg geschaffen worden. Zwar die deutsche Literatur ist daran nur sehr wenig beteiligt. Die deutschen Theologen haben sich fast nur an die älteren Bestimmungen der Kantischen, Schleiermacherschen, Hegelschen und Friesschen Psychologie gehalten, die zwar den richtigen Weg im Prinzip beschritten haben, die aber doch das Rein-Psychologische allzu sehr mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Wahrheitsfragen verbinden, als daß es zu einer wirklichen Unbefangenheit der Auffassung kommen könnte. Die deutschen Psychologen andererseits stehen unter dem Bann der Psychophysiologie und der quantitativen Maßbestimmungen und haben sich daher an dieses Gebiet, das solchen Bestimmungen nicht zugänglich ist, nie gerne herangemacht. Der Führer der deutschen Psychologie, WILHELM WUNDT, bezeichnet von diesem Standpunkt aus die ethischen, ästhetischen und religiösen Zuständlichkeiten lediglich als komplexe Phänomene, die es mit den bisherigen Methoden einer psychologischen Mechanik aufzuhellen noch nicht gelungen ist. Er hofft ihnen beikommen zu können auf dem Umweg über eine Völkerpsychologie, welche diese komplexen Phänomene aus älteren und einfacheren Phänomenen sowie aus den Verwicklungen dieser durch die soziale Entwicklung erklären zu können vielleicht einmal hoffen darf. Allein gerade diese Bezeichnung als komplexer Phänomene ist schon ein Präjudiz, das nicht ohne weiteres gelten darf. Denn das ist eben die Frage, ob es nur die größere Komplexität oder eine qualitative Eigentümlichkeit ist, die diese Erfahrungen auszeichnet. Und auch die Abschiebung an die Völkerpsychologie kann nichts helfen; denn die gleiche Frage würde sich dann für die einfacheren und älteren Formen erheben und diese Frage könnte dann bei ihnen doch nicht ohne Analyse der gegenwärtigen Erfahrungen beantwortet werden. Die eigentliche Ursache dieses ausweichenden Verfahrens liegt denn auch in der Grundlage der psychologischen Analysen dieser Schule. An der Psychophysiologie und dem Wahrnehmungsproblem geschult, dringt sie überall auf exakte Messungen und mit Hilfe dieser auf eine streng kausal-mechanische Verknüpfung der seelischen Phänomene, wo überall die verwickelteren sich mechanisch aufbauen auf den einfacheren. Rein qualitative Unterschiede der Erscheinungsgruppen und bloße Kausalverhältnisse der Anregung oder Hemmung gibt es nach der ganzen Voraussetzung nicht. Das Prinzip der "schöpferischen Synthese" ist das Äußerste, was hier geleistet werden kann, aber diese Synthes, die die Teilfaktoren nur in ein von der Summe verschiedenes Ganze verwandelt, führt keine qualitativ selbständigen Erfahrungsgruppen, sondern nur Umwandlungen von mechanischen Summen in qualitative Einheiten herbei. Auf diesem Wege wird es aber immerdar unmöglich sein, der Religion psychologisch beizukommen, die nun eben einmal überall sich als eine qualitativ selbständige Erfahrungsgruppe fühlt und die auch die Völkerpsychologie schwerlich in eine schöpferische Synthese, d. h. in ein Produkt einfacherer Faktoren, das die wunderbare Eigenschaft hat, sich ohne Hinzutritt von irgendetwas Neuem doch den Schein einer neuen, das bloße Produkt überschießenden, qualitativen Einheit zu geben, wird verwandeln können. Es ist das Dogma eines bestimmten Kausalitätsbegriffs, das hier vorausgesetzt ist und das die Religion als bloße komplexe Erscheinung anzugreifen nötigt, statt sie in möglichst reichlich und vielseitig gesammelten Zeugnissen zunächst aussagen zu lassen, was sie für sich selber ist. Ertragreicher als die deutsche Psychologie ist für unseren Gegenstand die französische, die sich sehr viel mutiger an die komplexen Erscheinungen wagt. Aber hier ist unter der Vorherrschaft des Positivismus im ganzen die Neigung vorherrschend, die Religion wesentlich anthropologisch oder medizinisch und psychopathologisch im Zusammenhang mit körperlichen Bedingungen aufzufassen. Es ist die Verwechslung von Bedingungen und Entstehungsweisen mit dem Wesen der Sache selbst, das doch nur aus der Sache festgestellt werden kann und durchaus nicht ausschließlich an diese Bedingungen gebunden ist. Immerhin haben hier die Arbeiten der RIBOTschen Schule und dann in viel höherem Grad, weil mit tieferem Verständnis, die Untersuchungen von MARILLIER, MURISIER und FLOURNOY das Problem erheblich gefördert. Unbefangener als alle diese hat aber die englisch-amerikanische Psychologie unseren Gegenstand untersucht. Es sind vor allem die Amerikaner, deren Neigung zur Psychologie ja bekannt ist und die gerade die Anwendung der modernen Psychologie auf die religiösen Phänomene mit Vorliebe betreiben. Es seien hier nur LEUBA, STARBUCK, COE genannt. Sie haben sich zu einer eigenen Zeitschrift, einem American Journal of religious psychology and education, vereinigt. Der Geist dieser Psychologie ist im allgemeinen der der englischen, die sammelnde und ordnende Analyse, die durch keine voraus begründete metaphysische oder methodische Theorie bestimmt ist, sondern vor allem die Fülle der Tatsachen selbst in ihrem eigenen Sinn zur Anschauung bringen möchte, um das Ganze dann weniger spekulativ als praktisch zur Basis der Menschenkenntnis und Menschenbehandlung zu verwerten. Auf das Einzelne hier einzugehen, ist nicht möglich. Ich möchte nur auf ein großes Werk hinweisen, das diese Bemühungen vereinigt und, wenn es auch den Stoff der Religionspsychologie nicht entfernt erschöpft, doch als ein hervorragendes Beispiel der besten und feinsten Leistungen moderner Religionspsychologie gelten darf. Es sind die Gifford-Lectures von WILLIAM JAMES, betitelt: "The varieties of religious experience". Gegründet auf die Breite des Anschauungsmaterials, wie es die moderne historisierende und empirische Denkweise zusammengetragen hat und ausgerüstet mit den feinen Generalisationen psychischer Vorgänge, die die moderne Psychologie aus zahllosen Einzelbeobachtungen und Experimenten herausgearbeitet hat, ist das Buch typisch für die großen Leistungen, aber auch für die Grenzen der modernen Religionspsychologie. Es ist daher das zweckmäßigste, an dieses Meisterwerk die weitere Erörterung des uns hier beschäftigenden Problems anzuknüpfen.

Die charakteristischen Züge treten von Anfang an hervor. Schon der Titel zeigt sie. Es handelt sich um Erfahrungen und Phänomene, die wie alle anderen Erfahrungen Gegenstand der Analyse werden können und müssen. Es handelt sich dann aber vor allem um die unbegrenzte Fülle der Mannigfaltigkeit dieser Erfahrungen, die von Haus aus nur nach einer gemeinsamen Formbestimmtheit suchen läßt und die daher den Inhalt der einzelnen religiösen Vorstellungen zurücktreten läßt. Die weiteren charakteristischen Züge sind die Ablehnung aller medizinisch-psychologischen Ableitungen der Religion als Annex körperlicher und zerebraler Zustände. Was JAMES hier ausführt, gehört trotz aller Kürze zum Treffendsten, was darüber gesagt worden ist. Ebenso aber wird auch jeder Allgemeinbegriff, jedes "Wesen" der Religion, jedes Hinschielen auf Metaphysik und Wahrheitsfragen an der Schwelle abgewiesen. Es handelt sich um selbständige, eigentümliche Phänomene, die zunächst über sich selbst sich äußern sollen und deren Einordnung in allgemeinere Formen psychischen Geschehens ohne Aufhebung ihrer Selbständigkeit sehr wohl möglich ist. Denn es ist jedesmal eine besondere Bestimmtheit, die diese Formen in den religiösen Erfahrungszuständen annehmen. Nicht minder fehlt hier schließlich jenes Streben nach einer Mechanik des Bewußtseins und jenes Dogma vom kausal-notwendigen Aufbau des Bewußtseins. Es wird neben den bloßen Verwandlungen und Kombinationen das Eintreten qualitativ selbständiger Erfahrungen nicht von vornherein ausgeschlossen und der Kausalzusammenhang nicht nur als Zusammenhang der notwendigen Hervorbringung, sondern je nach dem Sachverhalt auch als bloßer Zusammenhang der Anregung und Förderung oder als solcher der Hemmung und Ausschaltung betrachtet. Eben daher stammt die Frische und Unbefangenheit der Analysen, die JAMES aus einer beneidenswerten Kenntnis charakteristischer Fälle gibt. JAMES hebt mit vollem Recht die unendlich verschiedene Intensität der religiösen Erfahrungen hervor und die Mannigfaltigkeit des Anblicks und der Urteile, die sich hieraus ergibt. Mit gleichem Recht hebt er den Zusammenhang dieser verschiedenen Intensität mit den unableitbaren typischen Grundverfassungen des Seelenlebens, mit der optimistischen und der melancholischen Grundlage, hervor; von hier aus ergeben sich auch innerhalb des gleichen Religionskreises stets wesentlich verschiedene Typen der Religosität. Indem er sich dann an die intensivsten Erfahrungen hält, bestimmt er als das Charakteristische der religiösen Zuständlichkeiten die Empfindung einer Gegenwart des "Göttlichen", das man zwar durch andere Ausdrücke umschreiben kann, das aber dabei doch immer das spezifisch Göttliche bleibt mit den entgegengesetzten Gefühlswirkungen feierlicher Abstandsempfindung und enthusiastischer Erhebung. Er schildert dieses Präsenzempfindungen und verdeutlicht sie an visionären und halluzinatorischen Vergegenwärtigungen des Abstrakten. Daran reihen sich fördernde oder hemmende Bedingungen des Hervortretens dieser Präsenz- und Realitätsempfindung, Beschreibungen der Wirkungen auf Gefühlsleben und Handeln und vor allem die Analyse des gewöhnlich Bekehrung genannten Vorgangs, in welchem die religiöse Erfahrung aus unterbewußten Vorbedingungen auf verschiedene Weise zum Zentrum des seelischen Lebens wird. Alles das ist Beschreibung, aber gestützt auf eine Fülle von Beispielen und erläutert aus den allgemeinen psychologischen Kategorien, die nur durch den Eintritt des religiösen Phänomens eine durchaus spezifische Färbung erhalten. Es ist eine Beschreibung im Sinne der KIRCHHOFFschen Mechanik; überall werden dauernde und gleichartige Typen und ebenso gleichartige Bestimmungen ihres Verhältnisses zum übrigen seelischen Leben gesucht ohne den Anspruch, hierdurch zugleich eine begriffliche Notwendigkeit des Zusammenhangs dargetan zu haben. damit aber ist die charakteristische Eigenart der religiösen Phänomene in einer Weise erfaßt, wie in keiner anderen bisherigen Analyse. Man kannn vom psychologischen Standpunkt aus dem Buch nur vorwerfen, daß es einseitig die mystischen und gefühlsmäßigen Zustände bevorzugt und den religiösen Gedanken unterschätzt, wie es denn auch die psychologische Entstehung der Verknüpfung des "Göttlichen" mit konkreten Vorstellungen und die Wirkung dieser Verknüpfung fast ganz ununtersucht läßt. Damit hängt denn auch sehr eng ein zweiter Mangel zusammen, daß es die Übertragung religiöser Kräfte und Gefühle, die ja stets durch Vermittlung der religiösen Vorstellungswelt stattfindet, nicht beachtet. Allein das sind doch nur Einseitigkeiten und Unterlassungen, die zwar mit JAMES' ganzer Auffassung eng zusammenhängen, die aber doch durch weitere Untersuchungen ergänzt werden können. Das Ganze ist trotz alledem doch eine wirkliche und echte, rein empirische Religionspsychologie.

Aber eben deshalb ist das alles nur eben  Psychologie.  Es leistet für die Religionswissenschaft keinen anderen Beitrag, als den der psychologischen Fixierung der Eigenart des Phänomens, seiner Umgebungen, Beziehungen und Folgen. Es ist selbstverständlich, daß hierbei das Phänomen sich in einer unbegrenzten Fülle von Verschiedenheiten darstellt; und der bevorzugte Ausgangspunkt von ungewöhnlichen und exzessiven Erscheinungen verbreitet sogar über die Religion häufig den Charakter des Bizarren und Abnormen. Es ist damit also gar nichts gesagt über den Wahrheits- oder Realitätsgehalt dieser Erscheinungen. Das ist ja auch bei dem ganzen Prinzip solcher Psychologie unmöglich. Sie analyisiert, bringt Typen und Kategorien hervor, zeigt verhältnismäßig konstante Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Hier aber liegen nun die Grenzen einer solchen Psychologie, die in ihren Beschreibungen endlos erweitert werden könnte, die aber niemals dadurch über das Geltende und den Wahrheitsgehalt von sich aus Auskunft geben kann. Das aber kann für die Religionswissenschaft nicht das letzte Wort sein. Fordert sie vor allem empirische Kenntnis des Phänomens, so fordert sie das doch nur, um aufgrund dieser Kenntnis die Frage nach dem Wahrheitsgehalt beantworten zu können. Das dann aber auf ein ganz anderes Problem, auf das  erkenntnistheoretische,  das seine eigenen Lösungsbedingungen hat. Es ist unmöglich, bei einer bloßen empirischen Psychologie stehen zu bleiben; es handelt sich nicht bloß um gegebene Tatsachen, sondern um den Erkenntnisgehalt dieser Tatsachen. Diese Frage aber wird nicht mehr der reine Empirismus beantworten können; die Frage nach dem Wahrheitsgehalt ist überall eine Frage nach dem Geltenden. Die Frage nach dem Geltenden aber kann nur entschieden werden durch logische und allgemein-begriffliche Untersuchungen. Denn das Geltende kann nicht festgestellt werden durch Häufung tatsächlicher Erscheinungen oder durch willkürliche Festlegung und Zurechtstutzung von irgendetwas Tatsächlichem, sondern nur durch den Rückgang auf allgemeingültige, dem Denken oder der Vernunft innewohnende Begriffe. Der Erweis des Geltenden ist daher Rationalismus und die Erkenntnistheorie ist rationalistisch oder sie ist die Theorie von der Nicht-Erkenntnis. Damit treten wir vom Boden des Empirismus über auf den des  Rationalismus  und es ist die Frage, was die Erkenntnistheorie oder der Rationalismus für die Religionswissenschaft bedeutet. Eben damit müssen wir uns aber auch von JAMES entfernen und nach einem anderen Typus der Behandlung religionswissenschaftlicher Dinge ausblicken.

Auch JAMES geht zwar zu diesem Problem über, aber, indem er es vom Boden des reinen psychologischen Empirismus aus zu lösen versucht, scheint er nur zu beweisen, daß dieser zu solcher Leistung unfähig ist. JAMES kombiniert eine Anzahl sehr verschiedener Antworten zur Lösung des Problems. An erster Stelle steht die rein psychologische Antwort, daß die Religion zu den wichtigen und wirkungsreichen Äußerungen des Seelenlebens gehört, daß daher das die Religion einschließende Seelenleben das vollständigere, gegenüber einem es ausschließenden sei und daß größere psychologische Vollständigkeit größere Wahrheit bedeutet. Das aber ist ein Argument, das mir ganz zweifellos eine rationale, allgemein begriffliche Voraussetzung zu enthalten scheint, nämlich die teleologische Idee einer einheitlichen Organisation des Bewußtseins, die zur vollen Erschöpfung und Entfaltung des in ihr angelegten Inhaltes führen muß. Die zweite Antwort ist biologisch: die Religion spielt eine wesentliche Rolle in der Anpassung des Menschen an seine Umgebung, sie ist geradezu die Anpassung an das Ganze der Welt und des Lebens und der spezifisch religiöse Mensch bedeutet somit geradezu für die Menschheit die Gewinnung einer höheren Energie, eines Enthusiasmus und einer Zusammenfassung der Menschheit in Sympathiegefühlen, die für die Entwicklung des Menschen unentbehrlich ist. Aber auch dieses Argument schließt ein rationales Apriori, den teleologischen Glauben an die Einheit und Füreinander-Bestimmtheit des geistigen und natürlichen Daseins und damit des Weltganzen, ein. Das dritte Argument ist metaphysischer Natur und zwar introspektiv-metaphysischer Natur: die Behauptung und Empfindung aller Religion, auf einer Einwirkung der übersinnlichen Welt zu beruhen, ist sehr wohl möglich, wenn wir in der Religion eines so große Rolle spielenden unterbewußten "subliminalen oder transmarginalen" Prozess als Eingangstor solcher Wirkungen betrachten; gegen die Anerkennung einer solchen Wirkung spricht keinerlei Unmöglichkeit, für sie die Empfindung der Religion selbst und die praktische Unentbehrlichkeit der Religion für das geistige Leben; man muß sich eben mit einer Metaphysik des Möglichen und Wahrscheinlichen begnügen, da eine Metaphysik absoluter Beweiskraft nicht zu haben ist. Aber diese Möglichkeit ist doch auch schon Möglichkeit nur durch das rationale Moment, das in ihr liegt, durch den Rückschluß aus der Erfahrung auf erregende Ursachen und durch den rationalen Glauben an die Erkenntnisfähigkeit eines solchen Schlusses. Das vierte Argument ist noch strenger metaphysich und zwar ist es eine kosmische Metaphysik, die hierbei in Betracht kommt: die Wirkung des Übersinnlichen in der Religion läßt uns nach andersartigem Hereinragen des Übersinnlichen in die Erfahrung suchen, das uns das nur innerlich erfahrene Hereinwirken auch unabhängig vom Subjekt bezeugt; JAMES glaubt an ein solches Hereinragen, weiß aber dafür kein Beispiel anzuführen als etwa dasjenige, was den spiritistischen Erfahrungen vielleicht als Wahrheit zugrunde liegen mag. Aber dieses Argument ist nun erst recht nicht rein empirischer, sondern rationaler Natur, indem hier erklärende Folgerungen aus Tatsachen auf lediglich dem Gedanken erfaßbare Ursachen die entscheidende Rolle spielen. Und schließlich: sind mit alledem für das Problem des Wahrheitsgehaltes stark rationale Kräfte und Voraussetzungen aufgeboten und ist mit ihnen der strenge, reine Empirismus des bloß Tatsächlichen und Einzelnen fraglose durchbrochen, so ist vor allem schon der Versuch der psychologischen Analyse selbst, die Phänomene zu reduzieren auf eine einheitliche Grundlage und von den bloß zufälligen Besonderheiten, die für JAMES - freilich mit Unrecht - gerade in den Vorstellungsinhalten liegen, durchweg zu abstrahieren, bereits ein Streben nach allgemeinen Begriffen und Gesetzen, das a priori voraussetzt, daß die seelischen Erscheinungen sich aus solchen einheitlichen Gesetzen des Bewußtseins müssen begreifen lassen; es brauchen nicht die mechanischen Gesetze einer zunehmenden Komplikation einfacher Elemente zu sein, aus denen der Gesamtaufbau des Bewußtseins und mit ihm die Religion sich naturwissenschaftliche begreifen läßt, aber es müssen Gesetze sein, die aus eigener autonomer Notwendigkeit in die bunte seelische Mannigfaltigkeit Einheit und Zusammenhang hineinwirken, indem sie in ihr Zentren für die Angliederung einheitlicher Bewußtseinsgruppen schaffen. Es brauchen nicht Naturgesetze sein, die den Bewußtseinsablauf lückenlos regieren; aber es muß Bewußtseinsgesetze geben, in denen das Bewußtsein das Maß von Einheit, das ihm im Ganzen oder in einzelnen Gruppen eignet, autonom und mit dem Anspruch auf Geltung hervorbringt. Gerade wenn die Gruppen psychischer Erscheinungen nicht durch das Fatum mechanischer Verknüpfung gebildet werden, wird die Frage frei und unausweichlich, ob nicht die Gleichartigkeit dieser Gruppe in einer inneren Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der sie hervorbringenden Tätigkeit begründet sei. Die Ausscheidung einer Gruppe eigenartiger, durch eine besondere Formbestimmtheit charakterisierter Erscheinungen enthält die Frage nach dem Wesen und Sinn des Allgemeinen, das in diesem rein Tatsächlichen enthalten ist.
LITERATUR Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts and sciences in St. Louis / Massachusetts, Tübingen 1905