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BERNHARD SCHMEIDLER
Über Begriffsbildung und Werturteile
in der Geschichte

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"Indem die Geschichte Wissenschaft sein will, darf die Art dieser Beschreibung nicht willkürlich in das Belieben eines jeden gestellt sein, sie muß als allgemeingültig erwiesen werden können. Die Frage ist, durch welche Mittel eine solche Allgemeingültigkeit erreicht werden kann."

I. Kapitel
Die historische Begriffsbildung

2.

Wenn somit die RICKERTsche Charakteristik der Geschichtswissenschaft verworfen werden muß, weil sie auf unbewiesenen Voraussetzungen beruth und zu unvollziehbaren Konsequenzen führt, so erhebt sich die Frage, ob nicht eine andere Beschaffenheit und Struktur dieser Wissenschaft und ihrer Begriffe möglich ist. RICKERT folgert von der Voraussetzung, die ihm vorläufig einmal zugestanden werden möge, aus, daß die Geschichte sich mit dem Einmaligen, Individuellen beschäftige, ohne weiteres, daß sie daher mit den auf naturwissenschaftliche Weise gebildeten Begriffen nichts anzufangen vermöge, daß sie einer Begriffsbildung nach eigenen Prinzipien bedürfe. Hier ist aber doch von einer Notwendigkeit nichts zu sehen. Die naturwissenschaftlich gebildeten Begriffe selbst gehen allerdings auf das Allgemeine, sie sind ja das abstrahierte Allgemeine aus dem Konkreten, Besonderen, aber so gut wie man die eine Tätigkeit des Abstrahierens vornehmen kann, kann man sie doch durch eine Synthese des Gesonderten gewissermaßen wieder rückgängig machen und durch Beziehung bestimmmter, allgemeiner Begriffe aufeinander in Über- oder Unterordnung oder Gleichsetzung ein bestimmtes Individuelles beschreiben, soweit es dem jeweiligen Zweck entspricht. Die volle Anschaulichkeit selbst kann ja niemals erreicht werden, aber eine solche Leistung verlangt auch keine Wissenschaft; wohl aber können wir, wenn wir für ein Gebiet von Erscheinungen durch Abstraktion und Begriffsbildung die Elemente und die zwischen ihnen stattfindenden Beziehungen festgestellt haben, durch Beschreibung der Kombinationen, durch die Beziehung dieser Elemente aufeinander im einzelnen die tatsächlichen Vorgänge auf diesem Gebiet, das Werden der konkreten Erscheinungen beschreiben und schildern. Wenn also die Geschichte nicht darauf ausgeht, vom Allgemeinen, sondern vom Besonderen zu reden, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß sie mit einer Begriffsbildung nach Art der naturwissenschaftlichen durch Vergleichung und Zusammenstellung des Gemeinsamen nichts anfangen kann, daß sie eine eigene Begriffsbildung nach besonderen Prinzipien nötig hat; eine notwendige, logische Folgerung aus der Eigenschaft der Geschichte als "Wirklichkeitswissenschaft" ist das durchaus nicht.

Aber soviel ist doch jedenfalls klar, daß, wenn sie allgemeine Begriffe anwenden sollte, sie dieselben in anderer Richtung und Zusammenstellung benutzen würde, um ihre Objekte zu erfassen, als die Naturwissenschaft und es ist die Art dieser Richtung auch bereits angedeutet worden: die Geschichte will wissen, wie ihre Objekte geworden sind. Wir finden diese Definition der Geschichte klar ausgesprochen bei BERNHEIM, der die Wissenschaften dadurch unterscheidet, daß die Naturwissenschaft wissen will, "wie die Objekte beschaffen sind und sich verhalten, ihr allgemeines Sein und Wesen", die Geschichtswissenschaft, "wie sie zum Besonderen geworden sind, bzw. werden, was sie sind, ihre Entwicklung." RICKERT bekämpft diese Definition mit ganz unzureichenden und unzutreffenden Gründen. Berücksichtigt man nämlich, daß auch die Geschichte der allgemeinen Begriffe zur Darstellung ihrer Objekte als Voraussetzung bedarf, so ergibt es einen ganz klaren Sinn, zu sagen, die Naturwissenschaft beschäftige sich mit der allgemeinen Geltung solcher Begriffe, mit der durch sie festgestellten und ausgesprochenen zeitlosen Natur des Seienden, die Geschichte damit, wie das durch solche allgemeinen Begriffe unterschiedene und aufgefaßte Sein in der Dauer der Zeit geworden sei, sich entwickelt habe. Von einer Spur eines platonischen Begriffsrealismus ist hier offenbar nichts zu finden, sondern es ist nur die verschiedene Richtung angegeben, in welcher die Wissenschaften die beide Mal vorhandenen und auf gleiche Weise gebildeten allgemeinen Begriffe verwenden, das eine Mal selbst als Objekt und letzten Zweck, das andere Mal als Voraussetzung, als Mittel zur Auffassung und Darstellung des Besonderen. Die logische Struktur der historischen Wissenschaft würde dann ganz allgemein formuliert die sein, daß sie aus der konkreten Wirklichkeit durch Bildung eines mehr oder weniger allgemeinen Begriffes eine Anzahl Erscheinungen heraushebt und untersucht, wie, d. h. durch den Einfluß welcher Faktoren dieselben in der Dauer der Zeit diese bestimmte Gestalt angenommen haben oder wie sie geworden sind.

Nimmt man das einmal vorläufig als erwiesene Struktur historischer Darstellung an, so sieht man sogleich eine gewisse Verwandtschaft, welche sie mit RICKERTs Ansichten hat. Auch danach wird der Historiker die Tatsachen in einem Geschichtswerk daraufhin untersuchen, welche Bedeutung sie für die Verwirklichung eines gewissen Endeffektes gehabt haben, nur daß dieser Endeffekt nicht in der mindesten Beziehung zu einem absolut Seinsollenden steht, sich nicht durch einen absoluten Wert aus der Fülle des Geschehens heraushebt, sondern jedes beliebige Ereignis sein kann, das zu untersuchen der Historiker gerade einen Anlaß hat; demgemäß erhalten die in diesen Zusammenhang (der in der Tat mit Rücksicht auf das Ziel gebildet ein teleologischer ist) aufgenommenen bzw. aus ihm ausgeschlossenen Ereignisse nicht eine absolute Qualifikation als historisch, bzw. nichthistorisch, sondern sie werden als in diesem Zusammenhang wirksam und bedeutend, bzw. unwirksam und unbedeutend bezeichnet, womit nicht gesagt ist, daß sie nicht in anderer Hinsicht sehr großes Interesse haben und sehr wichtig sein können. RICKERT bringt als Beispiel dafür, daß über die Qualifikation eines Ereignisses als "historisch" seine Bedeutung entscheidet, den Unterschied zwischen der Tatsache, daß FRIEDRICH WILHELM IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte und dem Schneider, der seine Röcke machte. Ersteres Faktum sei unbedingt historisch, das letztere völlig gleichgültig, nicht historisch. Es ist leicht zu bemerken, daß das Beispiel keineswegs zutrifft; (5) der betreffende Schneider könnte sehr wohl in einer Geschichte der Moden, der Bekleidungstechnik und -industrie seine Stelle finden, während die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone in einer solchen voraussichtlich als bedeutungslos mit Stillschweigen übergangen würde. Es gibt also gar keinen absoluten Unterschied der Ereignisse und ihrer Bedeutung, sondern nur einen relativen in bezug auf die jeweilige Fragestellung, das Thema, und  bedeutend,  respektive  unbedeutend  bezeichnet nicht die Beziehung des betreffenden Ereignisses auf einen Wert, sondern eine größere oder geringere Wirksamkeit in der betrachteten Reihe der Ereignisse, die Folgen, die es zur Erzielung des Gesamtresultates hatte. Man sieht also, wie das Prinzip der Bedeutsamkeit, richtiger und unzweideutiger gesagt, der Wirksamkeit in der Geschichte allerdings eine große Rolle spielt, nur ist es nicht das Prinzip der ursprünglichen Begriffsbildung; (6) denn um zu entscheiden, ob ein Ereignis in einem Zusammenhang wirksam war, muß man den Begriff, durch den man diesen Zusammenhang ausscheidet und abgrenzt, im obigen Fall deutsche Geschichte, Geschichte der Moden etc. schon vorher haben. Das Prinzip der Wirksamkeit bestimmt im einzelnen den Zusammenhang historischer Darstellung, aber liefert nicht die Grundbegriffe einer historischen Auffassung.

Und noch in einem anderen Punkt ähnelt die tatsächliche Geschichtsschreibung stark der von RICKERT gegebenen Charakteristik, nur daß auch hier wieder eine andere Deutung stattfinden muß. Aus der Tatsache, daß der Mensch nach Verwirklichung - angeblich - absoluter, unbedingt seinsollender Werte strebt und daß die Geschichte durch handelnde, strebende Menschen vollzogen wird, hatte RICKERT geschlossen, daß sie als Teil des Weltprozesses, nach dem Prinzip der Verwirklichung des Seinsollenden aufgefaßt werden muß. Nach der obigen Charakteristik historischer Wissenschaft ist sie auf jedes Objekt anwendbar, die wirkliche Geschichte oder wenigstens die hier untersuchte beschäftigt sich aber nur mit dem Menschen. Dabei kann sie natürlich nicht die Tatsache übersehen, daß der Mensch in der Geschichte als ein wollendes, zwecksetzendes Wesen auftritt und findet tatsächlich, um zu schildern, wie die Dinge geworden sind, das beste Prinzip der Unterscheidung und Gliederung der Tatsachen in den verschiedenen Zwecken und Bestrebungen der Menschen. Da sie aber in diesen Bestrebungen nicht ein absolut Seinsollendes entdeckt, so lehnt sie jede Erörterung über die Frage, ob ein einheitlicher Sinn in der Geschichte sei oder nicht, als gleichgültig ab, ist in ihrer Objektivität nicht im mindesten von der Entscheidung dieser Frage abhängig und läuft andererseits, insofern sie mit dieser Gliederung der Dinge eine allgemeingültige Auffassung ermöglichen will, nicht auf ein System allgemeingültiger Werte, sondern auf eine Aufdeckung der allgemeinsten und alle Zeiten hindurch identischen Elemente der Menschennatur hinaus.

Die allgemeinste Formulierung des Unterschieds einer solchen Geschichtswissenschaft von der RICKERTschen ist also die, daß sie wissen wolle, wie die Dinge, die durch allgemeine Grundbegriffe zu erfassen und zu sondern sind, geworden seien, nicht aber, wie die Verwirklichung eines Systems allgemeingültiger Werte vor sich gegangen sei und gehe.



Bisher hatten wir die Möglichkeit und Ausführbarkeit einer derartigen Bearbeitung der Geschichte ohne weiteres vorausgesetzt; es gilt nunmehr, diese - von RICKERT ja bestrittene - Möglichkeit zu beweisen, uns zu Bewußtsein zu erheben, welche Voraussetzungen und Konsequenzen die Bearbeitung der Geschichte nach diesen Prinzipien hat. Gehen wir dabei von einem konkreten Fall aus. Angenommen, ein Historiker hat die Absicht zu schildern, wie die französische Revolution geworden sei. Dabei nimmt er in einer Beziehung eine freie Auswahl vor, er stellt sich zur Aufgabe die Erforschung gerade dieses Ereignisses, andere würden vielleicht ein anderes wählen. In einer zweiten Beziehung ist er aber hier nicht frei, nämlich in der Begrenzung des Themas, in der Bestimmung dessen, was denn eigentlich französische Revolution sei und was nicht, welche Erscheinungen darunter zu begreifen sind und welche nicht. Er wird eine Ansicht über das Wesen und den Umfang der von ihm zu bearbeitenden Erscheinung aufstellen müssen und es fragt sich, ist es möglich, diese Ansicht als eine allgemeingültige zu erweisen, eine Aufgabe in der Weise allgemeingültig abzugrenzen und daher über die Wirklichkeit der beobachteten Erscheinungen derart allgemeingültige Aussagen zu machen, daß keine neue Erkenntnis durch Aufdecken neuer Beziehungen und Hineinbeziehung anderer Erscheinngen in die Forschung gewonnen werden, sondern die Aufgabe darzustellen, wie die französische Revolution geworden sei, in jedem Fall als gelöst betrachtet werden kann? Ist es also möglich, eine solche Abgrenzung einer Reihe von Tatsachen von der übrigen Wirklichkeit vorzunehmen, eine Erscheinung derart begrifflich zu bestimmen, daß die auf die Erklärung des Werdens dieser Erscheinung gerichtete Aufgabe als in sich vollständig und erschöpfend, die mit Benutzung alles vorhandenen Materials - das einmal als vollständige gedacht werden möge - gearbeitete, der Fragestellung genau entsprechende und ihr ganz genügende Lösung als endgültig und unbedingt allgemeingültig bezeichnet werden kann?

Es müssen einige allgemeine Voraussetzungen gemacht werden, wenn diese Fragen bejaht werden sollen, die wir uns wieder am besten am speziellen Beispiel verdeutlichen. Der Historiker, der die französische Revolution erforschen will, bildet sich zunächst eine allgemeine Ansicht über diese Erscheinung, indem er sie etwa als eine politische bezeichnet. Der Sinn dieser Bezeichnung ist der, daß dasjenige Bestreben der Menschen, durch welches die betreffenden Ereignisse hervorgerufen wurden, ein politisches, d. h. auf die Macht der Gemeinschaft, des französischen Staates gerichtetes war. Die Bezeichnung eines Ereignisses als eines politischen ist also logisch genommen eine wirkliche Subsumtion desselben unter den Begriff "Politik" oder politische Geschichte in dem Sinne, daß das treibende Element des Ereignisses das uns anderweitig bekannt und eindeutig bestimmte Moment "politisches Streben" ist. Wäre nun das die einzige Bestrebung der menschlichen Seele, die wir kennen oder könnte der Historiker nachweisen, daß in allen Ereignisse, die in den durch diesen Begriff bestimmten Umkreis der Ereignisse gehören, sich lediglich politisches Streben geltend macht, so wäre seine Aufgabe eindeutig umschrieben und könnte auf keine Weise eine Erweiterung erfahren: er hätte dann nachzuweisen, wie unter dem Einfluß äußerer Faktoren und Ereignisse das politische Streben, dessen Wesen ihm bekannt ist, diese oder jene Richtung annahm und wie sich im Zusammenwirken beider Einflüsse der konkrete Verlauf der Ereignisse gestaltete. Die freigestellte Aufgabe, das Werden der französischen Revolution zu erklären, wäre dann eindeutig und erschöpfend gelöst, da das innere Wesen der Erscheinung bestimmt und alle diejenigen Ereignisse, welche aufgrund gleichen inneren Wesens als in den Zusammenhang gehörig erkannt wären, in der Darstellung am entsprechenden Ort verwertet wären.

Nun wissen wir aber, daß politisches Streben nicht das einzige im Menschen lebendige ist und im praktischen Fall wird der Historiker stets auf eine Reihe von Ereignissen stoßen, die unbedingt in den Zusammenhang seiner Darstellung gehören, die er aber nicht als politische bezeichnen kann, sondern etwa als wirtschaftliche, dem Streben nach einer besseren materiellen Lebenslage, nach Lebensgenuß entsprossen. Er stößt damit auf ein dem politischen wesensfremdes Element und ist genötig, um dessen spezielle Gestaltung in der damaligen Zeit und die Art seines Eingreifens in den politischen Zusammenhang der Dinge zu verstehen, den Zusammenhang der wirtschaftlichen Verhältnisse, die allgemeine wirtschaftliche Lage, unter der diese Bestrebungen eingreifen und aus der sie zu verstehen sind, mit in die Darstellung einzubeziehen, um das Ereignis französische Revolution, das er nunmehr seinem Wesen nach als ein politisch- wirtschaftliches erkannt hat, erschöpfend in allen seinen Beziehungen auffassen und erklären zu können.

Auf ähnliche Weise können wir etwa noch eine literarische Seite des Ereignisses konstatieren, indem wir den Einfluß literarischer und allgemeingeistiger Bestrebungen auf die Gestaltung der Dinge nachweisen. Allgemein gesprochen also bestimmen wir zunächst das Wesen eines historischen Ereignisses, bilden einen Grundbegriff davon, indem wir es auf eine Reihe ursprünglicher Funktionen, Richtungen des menschlichen Geistes beziehen, die im Ablauf desselben zur Betätigung gelangen.

Soll nun die Aufgabe gelöst werden, daß diese Wesensbestimmung einer Erscheinung, diese Abgrenzung ihres Umfangs gegen andere, mit denen sie im Ablauf der Dinge fortwährend verknüpft ist, vollständig und erschöpfend ist, derart, daß man die Gewißheit haben kann, ihren gesamten Inhalt bestimmt, alle Beziehungen in Betracht gezogen zu haben, so müssen zwei allgemeine Voraussetzungen erfüllt sein: einmal, es darf nur eine bestimmt begrenzte und in ihrem Wesen genau bekannte Zahl solcher letzter Elemente der Menschennatur vorhanden sind, auf die wir alle historischen Ereignisse beziehen können und müssen und dann müssen diese letzten Elemente in aller Geschichte die gleichen, und in ihrem letzten Wesen verständlich sein, wenn die durch Beziehung auf sie gebildeten Begriffe wirklich imstande sein sollen, alle Geschichte genügend zu erklären und verständlich zu machen.

Was die erste dieser beiden im wesentlichen auf das Gleiche hinauslaufenden Voraussetzungen betrifft, so ist es klar, daß wir niemals sicher sein können, das Wesen einer Erscheinung ganz erfaßt, sie voll beschrieben zu haben, solange es noch Seiten der menschlichen Natur gibt, zu der wir sie nicht in Beziehung gesetzt haben, solange wir nicht genau wissen, daß wir nunmehr alle Möglichkeiten erschöpft haben, nach denen ein historisches Ereignis überhaupt aufgefaßt werden kann. Läge die Sache wirklich so, wie man unter dem Eindruck der sich entwickelnden und immer neue Seiten der Menschennatur erschließenden Geschichtschreibung vielfach angenommen hat, daß jede Generation ihre eigenen, besonders ausgeprägten, noch nie dagewesenen und ganz neuen Eigenschaften hätte, die sie nun rückwärts in der Geschichte suchte und wohl mehr oder weniger in sie hineinsähe, wäre wirklich das Auftauchen neuer Eigenschaften unbegrenzt, so wäre in der Tat die Folgerung richtig, die man daraus gezogen hat, daß nämlich jede Generation von neuem die Geschichte, "ihre Geschichte" schreiben muß und man sich auf eine einheitliche, allgemeingültige Geschichtsauffassung in aller Ewigkeit nicht einigen kann. In Wahrheit ist das nur eine voreilige Abstraktion aus der tatsächlichen Entwicklung der Geschichtswissenschaft. Weil auf eine wesentlich politische Geschichtschreibung eine mehr auf das allgemeine innere Leben, auf die geistige und wirtschaftliche Entwicklung gerichtete folgte und weil man diese Richtungen, die sehr wohl Raum nebeneinander haben und gleich notwendig sind, in einen im Wesen der Sache gar nicht begründeten Gegensatz zueinander brachte, darum meinte man, als ein wesentliches Merkmal aller Geschichtschreibung ansehen zu müssen, was nur ein Kennzeichen ihrer Unfertigkeit, ihres Entwicklungsstadiums war, da sie sich die ihr zugehörigen Gebiete erst mühsam eroberte. Die politische Geschichtschreibung ist durch die geistes- und sozialgeschichtliche so wenig überflüssig gemacht worden, wie diese durch jene ersetzt und ausgeschaltet werden kann, jede erfüllt die Aufgabe, eine Seite des Menschendaseins zur Darstellung zu bringen, die wir als allgemein, als zu allen Zeiten vorhanden erkennen und die nicht anders, als durch die ihr eigentümlichen Begriffe aufgefaßt werden kann. Eine Unendlichkeit der Geschichte annehmen in dem Sinne, daß im vorliegenden, genau bekannten und begrenzten Tatsachenmaterial der Vergangenheit inhaltlich immer neue Beziehungen aufgedeckt werden könnten, heißt die Unmöglichkeit einer gesicherten historischen Auffassung proklamieren. Praktisch möge eine allgemeingültige Auffassung noch nirgends erreicht sein, die Tatsachen seien noch lange nicht nach allen möglichen Beziehungen untersucht, theoretisch muß man anerkennen, daß es eine gewisse Grenze der Möglichkeiten gibt, daß die Entwicklungsfähigkeit und die tatsächliche Entwicklung des Menschen, die ja nicht verkannt werden können, sich doch nur in bestimmbaren Grenzen bewegen, die die eindeutige Auffassung und das Verstehen des Vergangenen nicht unmöglich machen.

Und dieselbe Voraussetzung, nur etwas anders gefaßt, ist es, daß diese letzten Elemente des menschlichen Wesens durch alle Geschichte wesensgleich sein müssen, wenn die Geschichte anders verständlich sein soll. "Die Identität der Menschennatur ist das Grundaxiom jeder historischen Erkenntnis", (7) dieser Satz ist so einleuchtend und hinreichend behandelt, daß ein längeres Verweilen unnötig erscheint.

Kehren wir nunmehr wieder zu unserem Beispiel zurück, dem Historiker, der die französische Revolution in erschöpfender Weise historisch erklären will, so sehen wir, wie die Lösung einer solchen Aufgabe möglich ist. Er erforscht zunächst diejenigen Ereignisse, die man herkömmlicher Weise unter dem Namen französische Revolution zusammenfaßt, auf deren inneren Gehalt der in ihnen zutage tretenden Bestrebungen und setzt sie alsdann zu den demselben inneren Trieb entsprossenen Erscheinungen und Gebilden in Beziehung, erforscht die zwischen seiner Erscheinung und den innerlich gleichartig stattfindenden Verhältnisse, zwischen der Revolution und der allgemeinen Politik, Wirtschaft usw. der Zeit. Hat er alsdann alle in dem Ereignis lebendigen Triebkräfte aufgedeckt und alle Beziehungen zu gleichartigen Erscheinungen und Gebilden klargelegt, - was ihm, wie angenommen, der Zustand der Quellen einmal ermöglicht - so kann er sagen, seine Aufgabe gelöst, das Werden der betreffenden Erscheinung vollständig erklärt zu haben, (8) unter der obigen Voraussetzung, daß durch jene Kategorien eine vollkommene Beschreibung und allgemeingültige Einteilung der Triebkräfte der menschlichen Seele gegeben und außer ihnen keine Betätigungsweise mehr möglich ist.

Prüfen wir die hier geschilderten Denkoperationen auf ihre logische Bedeutung, so sehen wir, daß der Historiker durch Zusammenwirken zweier ganz verschiedener Operationen seinen Stoff gestaltet: durch Unterordnen des Besonderen unter das Allgemeine, des Exemplars unter den Gattungsbegriff und durch Einreihung des Gliedes in das Ganze. (9) RICKERT hat mit aller Energie bestritten, daß auch die logische Subsumtion Sache des Historikers sei und ihm nur die Bildung von Zusammenhängen, in die er einzelne Glieder einreiht, zugewiesen. Eine solche Meinung ist überhaupt nur möglich auf RICKERTs Standpunkt, indem man alle Geschichte als einen einzigen großen Zusammenhang ansieht, in welchem jedes einzelne Glied durch eine Bewertung als "geschichtlich" aus der Masse der übrigen "ungeschichtlichen" deutlich und unzweifelhaft herausgehoben ist. Gibt man aber diesen Wertzusammenhang der Geschichte auf, so bedarf man eines neuen Prinzips, aufgrund dessen man Zusammenhänge bilden und überhaupt erst bestimmen kann, ob und wofür ein Ereignis wirksam und bedeutend gewesen ist oder nicht. Dieses neue Prinzip ist aber unzweifelhaft "naturwissenschaftliche" Begriffsbildung, Subsumtion des Exemplars unter den Gattungsbegriff. Daß in dieser Weise z. B. der oben erwähnte Begriff des Politischen wirklich ein allgemeiner ist gegenüber den einzelnen Ereignissen, die ich durch ihn begreife, dürfte nicht schwer einzusehen sein; indem ich zwei Ereignisse, etwa den siebenjährigen Krieg und die französische Revolution als politische bezeichne, entnehme ich ihnen ein gemeinsames, auch für sich vorstellbares Element oder Merkmal und bilde dadurch den Begriff, der beide derart umfaßt, daß sie in ganz gleicher Weise unter ihn zu subsumieren sind wie der Löwe und der Elefant unter den Begriff Säugetier. Es liegen hier somit durchaus Exemplare eines Gattungsbegriffes, nicht Glieder einer Gattung vor.

Es ergibt sich also daraus für die Geschichte, wenn sie anders die Möglichkeit haben soll, ihre Aufgaben in allgemeingültiger und erschöpfender Weise zu lösen, die Notwendigkeit des Daseins eines Systems letzter, höchster Begriffe zur ausnahmslosen Subsumtion alles menschlichen Geschehens, d. h. eines Systems von Begriffen, die die dauernden und stets gleichbleibenden Seiten der Menschennatur erfassen und beschreiben, über die hinaus eine weitere Abstraktion und Aufzeigung von Gleichheiten unmöglich ist. (10) Durch die Beziehung des Einzelnen auf diese höchsten Begriffe wird der Stoff gegliedert, durch Zusammenfügung des Gleichartigen und die Erforschung der dazwischen stattfindenden zeitlich-ursächlichen Beziehungen werden alsdann die Zusammenhänge gebildet.

Zur vollständigen historischen Erkenntnis ist also vollkommene Begriffsbildung und die Herstellung eines lückenlosen Zusammenhangs in gleicher Weise notwendig, die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine und die Einreihung des Gliedes in das Ganze sind beides notwendige und nebeneinander hergehende Funktionen der historischen Methodik.

Wenden wir uns aufgrund dieser Resultate der vielbehandelten Frage zu, ob nur das Besondere oder auch das Allgemeine Gegenstand der geschichtlichen Forschung sein soll, so sehen wir, daß die Fragestellung in dieser Gegensätzlichkeit nicht richtig ist und zu keinen befriedigenden Resultaten führen kann. Wenn neuerdings von den Historikern immer wieder scharf betont wird, daß nur das Einmalige, Individuelle Gegenstand ihrer Wissenschaft sei, daß sie mit dem Allgemeinen nichts zu tun haben wollen, so ist eine solche Formulierung abzulehnen, da sie den Kern der Frage gar nicht trifft, die eigentlichen Schwierigkeiten nicht sieht. Es gibt ja gar kein Besonderes ohne das Allgemeine, das Besondere kann nur durch Beziehung auf das Allgemeine verstanden und gewürdigt werden; in die Gestalt, in der es als Besonderes auftritt, ist es erst durch die gestaltende und auslesende Kraft der allgemeinen Begriffe gebracht worden, hat erst durch sie seinen Inhalt und seine Bedeutung erhalten. Als ob es ein Besonderes "Leben Goethes", "Geschichte einer Stadt, eines Landes, eines Reiches" usw. an sich selbst gäbe, das der Forscher aus der Wirklichkeit hinübernähme und nur wiederzugeben hätte! Als Besonderes gibt es unzählige einzelne Handlungen und Geschehnisse, die in millionenfachen Zusammenhängen nach allen Seiten untereinander stehen. Wenn daraus verhältnismäßig abgeschlossene, einheitliche Objekte gestaltet werden, so ist das nur aufgrund einer allgemeinen Begriffsbildung möglich, die das ungestaltete Einzelne, wirklich Besondere den Begriffen "Leben eines Mannes", "Geschichte einer Stadt" usw. unterwirft und durch sie gestaltet. Objekt der Geschichte ist also in jedem Fall ein durch allgemeine Begriffe Gestaltetes, die Frage ist nur, inwieweit das Allgemeine selbst wieder Gegenstand geschichtlicher Erkenntnis sein kann. Auch hier ist gar nicht einzusehen, warum man die Grenzen gar zu eng stecken oder einen Gegenstand durchaus als ein Besonderes bezeichnen soll, der sich im Verhältnis zu anderen als sehr allgemein erweist. Zwar wird man eine Erörterung der allgemeinsten historischen Grundbegriffe, z. B. was denn politisches Leben sei und wie es sich regelmäßig äußere, nicht mehr als historisch, sondern als geschichtsphilosophisch bezeichnen, aber eine Aufgabe, wie z. B. die Darlegung des Charakters des politischen Lebens in Europa im 9. und 10. Jahrhundert, ist doch eine durchaus historische; nun ist das zwar ein Besonderes gegenüber dem allgemeinsten Begriff "politisches Leben", aber gegenüber den faktischen Ereignissen ein durchaus Allgemeines, dessen Abgrenzung auch gar nicht von selbst gegeben ist, sondern durch allgemeine Momente und Erwägungen bestimmt wird. Es ist in diesem Fall nicht viel mehr als ein Wortstreit, wenn man durchzuführen sucht, die Geschichte sei stets auf das Besondere gerichtet; in Wahrheit bedarf sie vielmehr des einen und des anderen zur Gewinnung ihrer Resultate und worauf die Absicht jeweilig im einzelnen gerichtet ist, hängt durchaus von den freien Interessen des einzelnen Forschers ab.

Stellen wir uns den bisher durchlaufenden Gedankengang noch einmal vor Augen. Die Geschichte hat, wie wir übereinstimmend mit RICKERT annahmen, das Ziel und die Aufgabe, die wirkliche Vergangenheit, das Werden des Menschengeschlechtes zu schildern und zu beschreiben. Indem diese Geschichte aber Wissenschaft sein will, darf die Art dieser Beschreibung nicht willkürlich in das Belieben eines jeden gestellt sein, sie muß als allgemeingültig erwiesen werden können. Die Frage ist, durch welche Mittel eine solche Allgemeingültigkeit erreicht werden kann. Das RICKERTsche Mittel war, die geschichtlichen Erscheinungen durch Beziehung auf absolute Werte zu sondern und den einmaligen Verlauf der Geschichte eindeutig als den Prozeß der Verwirklichung absolut sein sollender Werte abzugrenzen, aufzufassen und darzustellen. Diese Methode scheitert, wie wir sahen, an der Unmöglichkeit, die Existenz und den Inhalt absolut sein solender Werte nachzuweisen; wenn die Geschichte nur auf dieser Grundlage Wissenschaft werden, eine Allgemeingültigkeit der Resultate erzielen könnte, so müßte sie ewig darauf verzichten. Die in den hier vertretenen Ausführungen entwickelte Methode ist die, daß durch allgemeinste Begriffe alle jemals und irgendwo möglichen Äußerungen der menschlichen Natur umfaßt und ausgedrückt werden, so daß alle einzelnen Erscheinungen der Geschichte durch Beziehung auf dieses System allgemeinster, das Wesen des Menschengeistes ausdrückender Begriffe eindeutig in ihrem Wesen erfaßt und gegen alle anderen Erscheinungen abgegrenzt, d. h. wissenschaftlich allgemeingültig beschrieben werden. Die Geschichte ist und bleibt die Darstellung des wirklich Gewesenen, aber aufgrund und mittels eines Systems allgemeiner Begriffe, das sich mit den dauernden Eigenschaften und der gleichbleibenden Beschaffenheit der menschlichen Seele beschäftigt.


3.

Wir haben nunmehr die Voraussetzungen entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit eine allgemeingültige Geschichtschreibung, die sich eines nach den Prinzipien der Naturwissenschaft gebildeten Begriffssystem bedient, möglich ist; es gilt jetzt zu untersuchen, ob die wirkliche Geschichtswissenschaft sich einer solchen Methode bedient, ob sie in ein System allgemeiner Begriffe ausläuft wie die Naturwissenschaft, ob diese Begriffe wirklich in vollem logischen Sinn das Allgemeine aus dem Einzelnen enthalten, derart, daß das Einzelne unter das Allgemeine zu subsumieren ist.

Eine Reihe solcher allgemeiner Begriffe haben wir bereits mehrfach erwähnt, Politik, Wirtschaft, Religion, Literatur usw. Wie allgemein diese Begriffe in ihrer Anwendung sind, ersieht man zunächst einmal ganz oberflächlich daraus, daß wir die Geschichte und den Zustand jedes Volkes, auch z. B. eines solchen, von dem wir erst ganz neuerdings etwa durch Ausgrabungen etwas erfahren, ohne jemals vorher von ihm gehört zu haben, nicht anders auffassen und beschreiben können, als indem wir untersuchen, wie sein staatliches und politisches Leben, wie sein wirtschaftlichen Verhältnisse, seine Literatur und geistigen Bestrebungen usw. beschaffen waren. Wären nun diese Begriffe nicht allgemeingültig, deckten sie nicht gewisse Elemente auf, die in jedem menschlichen Gemeinschaftsleben in irgendeiner Weise enthalten sein müssen, so könnten wir unmöglich durch sie zu einem Verständnis dieser uns bisher völlig fremden Erscheinungen gelangen. In dieser Anwendung auf jeden neuen Fall ist schon das Postulat und die Behauptung ihrer Allgemeingültigkeit ausgesprochen.

Um nun aber genauer in die Struktur dieser Begriffe einzudringen und den Nachweis zu führen, daß die wirklich geübte Geschichtschreibung tatsächlich auf ihnen beruth, wollen wir ein einzelnes Gebiet derselben, dessen allgemeiner Charakter in den Einzeldarstellungen bereits klar durchdacht und zur Anschauung gebracht ist, einer näheren Betrachtung unterwerfen, nämlich die politische Geschichte. Der Begriff der politischen Geschichte, die gesonderte Behandlung staatlichen Lebens in seinem Zusammenhang ist allbekannt, welchen Sinn und welche Grundlage er hat, wollen wir nunmehr untersuchen.

Der Inhalt der Begriffe, die die politische Geschichtschreibung entwickelt hat, ist folgender: Die Wurzel der politischen Geschichte ist das Streben nach Macht. Es lebt in den Völkern, in allen Genossenschaften jeder Art das Bestreben, sich Anerkennung, Herrschaft, Vorteile im Genuß der irdischen Güter zu erzwingen und zu erobern. Indem wir nun alle diese Gemeinschaften in bestimmten Bedingungen der Natur und der Gesellschaft mit anderen solchen Gemeinschaften finden, verstehen wir die Aufeinanderfolge ihrer Handlungen und ihres Verhaltens, indem wir es stets auf dieses Bestreben der Selbstbehauptung, der Machtgewinnung beziehen und zurückführen, als technische Mittel zur Verwirklichung dieses obersten Zweckes ansehen.

Das Wesen, die innere Beschaffenheit dieses Strebens nach Macht ist dem Forscher aus seiner eigenen Seele bekannt, durch psychologische Interpretation weist er es in den ihm vorliegenden Berichten über menschliche Handlungen nach. Er entnimmt allen Handlungen, in denen er dieses Bestreben nachweist, dieses eine gemeinsame Merkmal und faßt sie aufgrund desselben unter den gemeinsamen Oberbegriff politisches Leben, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, zusammen. Aufgrund der Zeit- und Ortsbestimmung und der Einreihung in die ursächlichen Zusammenhänge wird dann der historische Zusammenhang gebildet und erforscht, die Geschichtsdarstellung aufgebaut und vollendet. Die Beziehung des Einzelnen auf einen allgemeinen Grundbegriff und auf den größeren Zusammenhang, in dem es sich verwirklicht hat, ist die Darlegung seines Wesens und seines Werdens, ergibt zusammen die historische Darstellung.

Wie sich das aus der Betrachtung politischer Geschichtsschreibung ergeben hat, so muß es auf anderen Gebieten seine Bestätigung finden und wir werden zur Erlangung dieser Bestätigung wenigstens einige kurze Blicke auf andere Gebiete der Geschichtsschreibung werfen müssen. In der Geschichte der Philosophie dürfte das Allgemeine das Streben nach Einheit der Erkenntnis sein, nach Erkenntnis der Welt in ihrem ganzen Umfang und nach einheitlichen Prinzipien. Indem dieses Streben es einerseits mit der Wirklichkeit als einer bestimmt gearteten zu tun hat, andererseits durch die Beschaffenheit des Geistes selbst bedingt ist, ergeben sich aus diesen Faktoren gewisse in ihrem Wesen stets gleichartige Probleme, die als ein gewissermaßen mittleres Gebilde das Maß der Vergleichung und Wesensbestimmung der einzelnen Erscheinungen abgeben. Eine Geschichte der Philosophie entsteht dann, indem die auf solche Weise inhaltlich bestimmten und erfaßten Einzelerscheinungen in den vollen Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit eingereiht und durch Berücksichtigung der aus anderen Sphären kommenden Einflüsse vollständig erklärt und abgeleitet werden. In der Wirtschaftsgeschichte dürfte das letzte Allgemeine das Streben nach Erhaltung und möglichst angenehmer Gestaltung des physischen und materiellen Lebens sein; die wirtschaftlichen Institutionen und Handlungen werden erklärt durch Beziehung auf diesen besonderen, von anderen unterschiedenen Trieb, das Hineinspielen anderer Bestrebungen, welches hier vielleicht besonders häufig und schwer zu unterscheiden ist, wird aufgedeckt, der Einfluß der Bedingungen des äußeren Lebens und Daseins auf die Gestaltung der wirtschaftlichen Triebe nachgewiesen und so das Einzelne als besondere Gestaltung des Allgemeinen im Zusammenhang des Wirklichen erklärt und abgeleitet, d. h. geschichtlich verstanden.

Wie hier, so dürfte auch auf allen anderen Gebieten die Beobachtung gemacht werden, daß sich das letzte Allgemeine, auf dem in seiner Selbständigkeit das Recht der Abgrenzung einer Reihe von Tatsachen von einer anderen beruth, nicht als ein Einziges, unberührt für sich Bestehendes nachweisen läßt, sondern daß es sich immer um die Kreuzung und Vermischung mehrerer letzter allgemeinster Grundtriebe handelt. Auch das politische Handeln, das doch in seinem Wesen so scharf bestimmt und eindeutig ist, bildet nicht rein die Grundlage der politischen Geschichte, oft genug überwiegt sogar der Einfluß ideeller und doktrinärer Bestrebungen, in Glaubenskriegen oder wirtschaftlicher Bedürfnisse, in Klassen- und Ständekämpfen. Noch schwieriger ist es oft auf anderen Gebieten, die man herkömmlicherweise zu einer Einheit zusammenfaßt, ein einheitliches, letztes Allgemeines nachzuweisen. In der Literaturgeschichte z. B. wird der Forscher Werke zu unterscheiden haben, die eher religiösen oder philosophischen oder wirtschaftlichen Trieben entsprungen sind als literarischen und sich oft kaum für berechtigt halten können, den Trieb der Kunst, der Wiedergabe des Geschauten und Erlebten um seiner selbst und der Befriedigung willen, die diese bildend schöpferische Wiedergabe verursacht, diesen eigentlich künstlerischen Trieb für die Grundtatsache der behandelten Erscheinung zu erklären. Aber auch wo eine solche Grundtatsache sich deutlicher herauslösen läßt, immer wird sie im konkreten Ablauf der Dinge mit anderen Bestrebungen vermischt erscheinen.

Es tritt eben hier die Tatsache zutage, daß Begriffsbildung stets ein Gestalten und Umformen der Wirklichkeit ist, daß wir dieselbe, wenn wir sie in ihrem tatsächlichen Dasein und Ablauf begreifen wollen, in eine andere Form und Gestaltung bringen müssen. Nicht in ihrer konkreten Totalität, sondern nur in einer nach festen Prinzipien vollzogenen Sonderung ist sie dem Geist faßbar. Die Begriffsbildung ist also eine Grundtatsache der historischen wie jeder Erkenntnis und wenn sie, bzw. da sie nach denselben Konsequenzen wie diese, einer Scheidung des Stoffes in abstrakte Gebiete und Reihen, die, ohne in der Wirklichkeit vorhanden zu sein, dennoch gebildet und gestaltet werden müssen, um die konkrete, gemischte Wirklichkeit einheitlich denken und aussprechen zu können.

Welches aber inhaltlich die Grundtriebe des Menschen sind, die auf diese Weise eine gesonderte Behandlung je eines Gebietes von Tatsachen ermöglichen und erfordern, welches allgemeine Bild des menschlichen Geistes sich aus einer solchen Bearbeitung ergibt, die Behandlung dieser Fragen gehört mehr dem Gebiet der Geschichtsphilosophie als der Geschichtslogik an und kann daher in diesem Zusammenhang füglich unterbleiben.

Dagegen können wir nunmehr das Resultat aller bisherigen Erörterungen dahin aussprechen, daß die historische Begriffsbildung durchaus auf das Allgemeine abzielt. Die historischen Vorgänge und Erscheinungen werden durch nachfühlendes Verständnis in ihrem Wesen erkannt und bestimmt, es werden allgemeinste Begriffe gebildet, die in ihrer Gesamtheit das Wesen jeder historischen Erscheinung enthalten und ausdrücken können. Die Absicht der wirklichen Darstellung mag dann auf das konkrete Einzelne gehen, sie ist nur möglich durch ein System oberster allgemeiner Begriffe, die nur in ihrer durchgängigen Allgemeinheit und Bestimmtheit die Allgemeingültigkeit der Darstellung verbürgen können. Dieses Allgemeine liegt jeder Auffassung des Einzelnen zugrunde, sie ermöglicht dasselbe erst. Die Geschichte ist dann von der Naturwissenschaft nur dadurch verschieden, daß in ihr nicht nur oder nicht einmal überwiegend die Erforschung des Allgemeinen, sondern vielmehr des Einzelnen Gegenstand der Wissenschaft ist, ihren eigentlichen und unterscheidenden Wert - bei den meisten wenigstens- begründet, und, wie erwähnt, dadurch, daß die geistige Tätigkeit zur Bewältigung des Stoffes nicht ein Messen von Sinneseindrücken, sondern ein Nachfühlen und innerliches Erleben des Überlieferten ist. Aber wenn so auch historische Wissenschaft und Darstellung noch von ganz anderen Interessen getrieben und belebt werden als die Naturwissenschaft nicht mit dem besonderen Prozeß der Begriffsbildung und seiner Eigenart zu verwechseln. In den vorstehenden Ausführungen hoffe ich gezeigt zu haben, daß die Bildung der historischen Begriffe nach den allgemeinen Regeln der "naturwissenschaftlichen" Begriffsbildung ebensowohl möglich als die in der Wissenschaft tatsächlich geübte ist.
LITERATUR - Bernhard Schmeidler, Über Begriffsbildung und Werturteile in der Geschichte, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 3, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    5) Wenn ich mich recht entsinne, lehnt bereits BERNHEIM - weder in seinem Lehrbuch noch sonst irgendwo kann ich die Stelle wiederfinden - das Beispiel RICKERTs in der oben gegebenn Weise ab, ohne freilich die vollen Konsequenzen des alsdann einzunehmenden Standpunktes zu ziehen.
    6) A. GROTENVELT in seinem Buch: Die Wertschätzung in der Geschichte, Leipzig 1903, erörtert Seite 155 - 163 die Frage, ob eine allgemeingültige Geschichtschreibung durch eine rein quantitative Methode, durch Heraushebung des am meisten Wirksamen möglich sei. Das Problem, das hier entspringt und dessen Lösung erst die Voraussetzung einer solchen Methode ist, das Problem einer allgemeingültigen und allumfassenden Begriffsbildung, hat er dabei gar nicht gesehen oder doch nicht in seinem ganzen Umfang und seiner Bedeutung erkannt.
    7) BERNHEIM, "Lehrbuch der historischen Methode usw.", Seite 170
    8) Hier muß bemerkt werden, daß mit den oben geschilderten Operationen die Frage einer allgemeingültigen Geschichtsschreibung erst zur Hälfte gelöst ist. Eine zweite wichtige Seite des Problems liegt in den Fragen, die sich bei der Erforschung der tatsächlichen kausalen Beziehungen ergeben. Ist es möglich, genau abzuschätzen und beweiskräftig darzutun, welche Faktoren die stärksten ausschlaggebenden für das Zustandekommen einer Entwicklung, eines Ereignisses waren oder kommen nicht auch hier persönliche Ansichten ins Spiel? Läßt sich allemal genau erweisen, was Ursache und was Wirkung war? Die Lösung dieser und ähnlicher Fragen würde zum Beweis der Behauptung, daß eine allgemeingültige, jedem Streit entziehbare Geschichtsauffassung möglich sei, ebenso gehören, wie die Behandlung des oben erörterten Problems. Hier soll aber nur untersucht werden, inwieweit die Begriffsbildung die Allgemeingültigkeit beeinträchtigt oder nicht.
    9) Diese Erkenntnis spricht BERNHEIM in seinem Lehrbuch, Seite 8 - 9, ganz klar aus. Umso auffallender ist es, daß er dann die Konsequenz derselben, daß die Geschichte eines allgemeingültigen Begriffssystems als Grundlage der Auffassung bedürfe, ablehnt. Interessante und zutreffende Ausführungen über den Unterschied der beiden Denkoperationen und über die Funktionen der Begriffsbildung überhaupt finden sich bei TH. KISTIAKOWSKI, "Gesellschaft und Einzelwesen. Eine methodologische Studie, Berlin 1899. Vgl. besonders Seite 61 - 67, Seite 111 - 114, 126, 138 - 139, 154 - 155, 161. Über die Notwendigkeit richtiger Begriffsbildung als Grundlage der gesamten Auffassung und spezielle der Auffindung von Gesetzen in der Soziologie: siehe Seite 46 - 55.
    10) Das ist die absolut logische Konsequenz einer Geschichtswissenschaft, welche schildern will, wie die menschliche Entwicklung geworden ist. BERNHEIM, Seite 118 - 126, wendet sich zum Teil mit den eben angeführten Gründen gegen diese Konsequenz, die doch in Wahrheit nicht aus der Welt zu schaffen ist. Mögen die einzelnen menschlichen Zwecke noch so individuell und verschiedenartig sein, wenn man sie einheitlich und richtig auffassen will, muß es ein System höchster Zweckbegriffe geben, das sie alle, wenn auch in noch so allgemeinen Umrissen, irgendwie umfaßt und beschreibt. Im Grunde genommen besagt das schon das "Grundaxiom von der Identität der Menschennatur". Daß die Zwecke und Bedürfnisse dann noch verschieden sind durch ihre Intensität, ist allerdings ein neues, in ein derartiges Begriffssystem nicht aufzunehmendes Moment und hat in der Tat auch die wichtigsten Konsequenzen für den Charakter historischer Erkenntnis. Die obige Forderung eines Systems oberster Zwecke, dem sich alle einzelnen subsumieren lassen, wird aber dadurch nicht berührt. - Über den Unterschied der obigen Begriffe von den LAMPRECHTschen Kulturzeitaltern, die er ebenso, wie oben geschehen, als "höchste Begriffe zur ausnahmslosen Subsumtion des historischen Geschehens überhaupt" definiert (Die kulturhistorische Methode, Berlin 1900, Seite 29).