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Über Begriffsbildung und Werturteile in der Geschichte [ 3/3 ]
II. Kapitel Begriffsbildung, Werte und Werturteile in der Geschichte 1. Das Resultat, zu dem wir im vorigen Kapitel gelangten, war dieses, daß eine Allgemeingültigkeit beanspruchende, wissenschaftliche Geschichtschreibung auf einem System allgemeinster Begriffe beruhen muß, welche jeden denkbaren geschichtlichen Stoff zu umfassen, abzugrenzen und in seinem Wesen zu erfassen imstande sind. Wir hatten ferner gesehen, daß die tatsächlich geübte Geschichtsschreibung wirklich auf ein System solcher höchster Begriffe hinzielt, daß es allem wissenschaftlichen Ergreifen geschichtlichen Stoffes zugrunde liegt. Es erwächst uns jetzt die Aufgabe, zu prüfen, in welchem Sinne bei dieser festgestellten logischen Struktur wissenschaftlicher Geschichtsschreibung noch von einem Einfluß menschlicher Werte und Werturteile auf die Geschichtschreibung geredet werden kann. ![]() Sieht man sich zunächst einmal das System allgemeinster Begriffe an, die oben als Prinzipien der Begriffsbildung entwickelt wurden, das Streben nach Macht als Grundlage der politischen Geschichte, nach Einheit der Erkenntnis, nach bester Lebensgestaltung als Grundlage der Geschichte der Philosophie, der Wirtschaft usw., so könnte wohl jemand auf den Gedanken kommen und sagen, dies seien ja alles gar nichts anderes als die RICKERTschen Kulturwerte ![]() ![]() Was ferner den einheitlichen den einheitlichen Aufbau des Inhalts der Geschichte betrifft, zu dem RICKERT durch sein System von Wertbegriffen gelangt, so ergibt sich in dieser Beziehung bei unseren obersten Allgemeinbegriffen ein ganz anderes Bild. Diese Begriffe enthalten nämlich, wie sehr sie auch darauf ausgehen, alle Betätigungen der menschlichen Seele zu erfassen und auszudrücken, jede Regung und Bewegung in der Geschichte zu beschreiben, nicht das mindeste Moment systematischer Natur, (11) etwa derart, daß sie alle Regungen der menschlichen Seele zu einer bestimmten Zeit in eine höchste Einheit zusammenzufassen gestatteten, aus der das Einzelne dann logisch deduziert und mittels deren durch das Gesetz der Kausalität die zukünftige Entwicklung als einheitlich notwendige Folge aus dem Gegenwärtigen erschlossen werden könnte. Sondern sie sind nur leere Begriffe ohne Beziehung zum Umfang der zu ergreifenden Tatsachen, ohne quantitative Bestimmtheit, lediglich Mittel der universalen Begreifung und Darstellung. Nicht von ihnen, sondern von den konkreten Tatsachen geht der Geschichtsforscher aus und nur diese sind das Ziel seiner Darstellung, die Begriffe nur das Mittel derselben; die Begriffe zum Ziel nehmen, heißt Psychologie treiben oder Geschichtsphilosophie, eine systematische Wissenschaft, nicht Historie. Diese beschäftigt sich immer nur damit, wie es denn eigentlich gewesen sei und um das allgemeingültig und einwandfrei darzustellen - je nach dem Stand der Quellen -, dazu bedient sie sich dieser Begriffe und muß sie sich ihrer bedienen. ![]() Indem diese Begriffe aber eine Reihe nebengeordneter sind, die sich nicht unter einen höchsten subsumieren lassen - denn der Begriff "Menschennatur", dem man sie als untergeordnet auffassen kann, ist dafür auch gänzlich leer und inhaltslos, für das Einzelne nichtssagend -, ergibt sich mit Notwendigkeit ein durchaus lockerer Aufbau der Geschichtswissenschaft. ![]() ![]() Ist das aber richtig, so ergibt sich zugleich, daß zur Bearbeitung einer Erscheinung immer ein Entschluß, eine Auswahl des Forschers notwendig ist, daß für das Zustandekommen wissenschaftlicher Arbeiten diese Begriffe allein überhaupt keine Rolle spielen. Es muß noch ein anderes Prinzip hinzutreten, das die Auswahl bedingt, Werte, des Forschers, der Zeit, welcher Herkunft auch immer und ihren Einfluß auf die Wissenschaft wollen wir nunmehr untersuchen. ![]() Schon der konkrete Stoff, von dem, wie gesagt, der Historiker ausgeht, der durch jene Begriffe bearbeitet werden soll, ist unzweifelhaft bereits durch Werte gesichtet und ausgewählt; ![]() ![]() ![]() Auf diese Weise ist das Verhältnis klargestellt, das zwischen Wertgesichtspunkten und jene obersten Begriffen in historischer Bearbeitung besteht, bzw. ohne inneren Widerspruch bestehen kann: die Werte geben den Anstoß, die Veranlassung zur Bearbeitung eines Ereignisses einer Partie der Geschichte, die Begriffe bestimmen die Art, die Methode der Arbeit, die Ausführung. Indem sie das ganze menschliche Leben umschreiben, ohne es zur Einheit eines höchsten Begriffes zusammenzufassen, gestatten sie eine sichere Abgrenzung der einzelnen Tätigkeiten und damit eine Heraushebung einzelner Ereignisse oder von Reihen aus dem geschichtlichen Ganzen, ohne durch diese Isolierung eine Verfälschung zu bedingen, es kann durch sie das Ereignis in seinem Wesen erfaßt und beschrieben, daher auch in allen wesentlichen Beziehungen zu anderen erforscht und so als eine innere Einheit aus dem Strom des Ganzen herausgehoben werden. Bei der Fülle der Ereignisse kann sich nun der Forscher eben denjenigen zuwenden, denen seine Neigung gilt und diese Auswahl des Stoffes ist nicht im mindesten unwissenschaftlich zu nennen, verstößt auf keine Weise gegen die Allgemeingültigkeit, wenn sie nur, nach den obigen Regeln vollzogen, die innere Einheit des Gegenstandes nicht zerstört, sein Wesen betreffende Beziehungen zu anderen Erscheinungen nicht übersieht. ![]() Noch in einer anderen Hinsicht können sich Wertgesichtspunkte in der wissenschaftlichen Arbeit geltend machen, ohne die Wissenschaftlichkeit der Resultate im Einzelnen zu beeinträchtigen. ![]() ![]() Haben wir so die wirkliche Geschichtsschreibung als ein Resultat mannigfachen Zusammenwirkens von Wertgesichtspunkten und methodischer Arbeit nach naturwissenschaftlicher Methode erkannt, ![]() ![]() Der erste Grund, den man dafür beizubringen pflegt, ist die Fülle des historischen Stoffes. Dieser mache eine Auswahl des Bedeutsamen notwendig, dessen, was der Historiker für Wert erachte, in die Darstellung aufgenommen zu werden und was nicht und eine solche Auswahl sei notwendigerweise durch die persönlichen Werturteile des Forschers bedingt, könne nicht in allgemeingültiger Weise vorgenommen werden. ![]() Wir sehen, dieser Ausgangspunkt ist genau das Problem des vorigen Kapitels, das Problem der Begriffsbildung, der Auswahl des Stoffes. Die Behauptung, Werturteile seien für die historische Methodik unentbehrlich, ist nichts als ein Versuch der Lösung dieses Problems. Nun haben wir im vorigen Kapitel einen ganz anderen Lösungsversuch gegeben und haben uns daher jetzt mit diesem andersartigen auseinanderzusetzen. ![]() Die Behauptung, Begrenzung und Bearbeitung des Themas sei notwendigerweise von persönlichen Werturteilen des Forschers abhängig, hat nur einen Sinn und eine Berechtigung, solange eine allgemeingültige Gliederung und Begrenzung des gegebenen Stoffes durch allgemeingültige Begriffe ausgeschlossen, prinzipiell unmöglich ist. ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Dennoch liegt nach einer weitverbreiteten Empfindung in der Geschichte ein Moment, das viele Forscher in einer solchen Art der Bearbeitung keine objektive Wissenschaft mehr sehen läßt. ![]() ![]() ![]() Der eine Ausweg, den man aus dieser Schwierigkeit gesucht hat, ist der oben genannte, der die Werturteile die Funktion der Auslese übernehmen ließ und der in Wahrheit kein Ausweg, sondern ein Verzweifeln an einer vollen Lösung des Problems ist, ein anderer, aber gleichfalls vielbetretener der, daß man Realbegriffe in der Geschichte zu bilden suchte, solche Begriffe, die die Summe des Nebeneinanderbestehenden und das innerste Wesen desselben ausdrücken sollten, die die Summe der Gegenwart und die Bedingungen der Zukunft in sich enthielten, den eigentlichen Inhalt der Geschichte zwar vereinfacht, aber doch in seiner Totalität umspannten. Hierher gehört der Versuch, ein eigentliches Arbeitsgebiet der Geschichte anzugrenzen wegen der materiellen Wichtigkeit des unter den Begriff politische Geschichte fallenden Stoffes oder allumfassende Begriffe zu bilden, die den wesentlichen Inhalt je eines "Kulturzeitalters" und alle Bedingungen für den Fortschritt derselben ausdrücken und enthalten und so den gesamten wesentlichen Inhalt der Geschichte und ihren Fortgang in ein Schema zu bringen, ![]() Weder der eine noch der andere Weg ist gangbar, wenn man die Geschichte als eine Wissenschaft aufrechterhalten will; denn die Werturteile zerstören die Allgemeingültigkeit und die Realbegriffe sind ein Schein, eine Täuschung, etwas unserer Erkenntnis in Wahrheit nicht Gegebenes, sind Scholastik. Der einzige mögliche Ausweg ist der, anzuerkennen, daß auch die Geschichte eine Begriffs-, keine Wirklichkeitswissenschaft im obigen Sinne ist, daß für jede Bearbeitung irgendeines geschichtlichen Stoffes eine Begriffsbildung, eine Scheidung notwendig ist; in dieser Tatsache an sich liegt noch keine Verfälschung der geschichtlichen Wahrheit. Dies wäre erst dann der Fall, wenn die Scheidung unmöglich in allgemeingültiger, als notwendig beweisbarer Weise sich vollziehen ließe, wenn sie je nach Belieben auf verschiedene Weise vollzogen werden könnte. Stehen dafür aber allgemeingültige Begriffe zur Verfügung, welche den gesamten Stoff gliedern - ohne ihn deshalb in einen allerhöchsten Realbegriff zusammenfassen zu wollen -, so liegt in der Funktion der Sonderung des Einzelnen vom Ganzen auf keine Weise eine Verfälschung, ein Verstoß gegen die Wahrheit und die Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes ist in durchaus allgemeingültiger Weise ohne jede Benutzung von Werturteilen ermöglicht. ![]() Das andere Moment, auf das man die Notwendigkeit von Werturteilen bei der Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes begründet, ist die oben charakterisierte Art historischer Begriffsbildung. Die Elemente historischen Daseins, die wir abstrahieren, kennen wir und abstrahieren wir nur aufgrund der Beschaffenheit unserer eigenen Seele, wir nähern uns dem Stoff durch Hineinfühlen, durch Verstehen, nicht durch Sinneseindrücke und deren Messung. Bei solcher Lage der Dinge, sagt man, ist es unvermeidlich, daß die Beschaffenheit der Seele des einzelnen Forschers, das Instrument, mit dem er arbeitet, Einfluß auf die Resultate gewinnt. Diejenige Richtung des menschlichen Seelenlebens, die in ihm selbst am feinsten ausgebildet ist, wird er auch in der Geschichte überall am ehesten aufspüren, sie verstehen können, sie lobend hervorheben, während er anderes übersieht, es nicht versteht, in seiner Bedeutung fälschlich und ungerecht zurücksetzt. ![]() Für den einzelnen Forscher ist das gewiß richtig und hundertmal nachgewiesen, für die Wissenschaft im ganzen liegt hier keine Schranke vor. Denn was im Forscher selbst Wertgefühl, halb unbewußt ist und ihn treibt, um es mitzuteilen, muß er es aussprechen, seine Meinung und Ansicht der Dinge in allgemeinverständlichen Worten und Sätzen formulieren. Diese aber lassen sich als wahr oder falsch nachprüfen, kontrollieren; Vorgänge, die ein Forscher vernachlässigt, zieht ein anderer heran, das Einseitige kann nachgewiesen, das Falsche ausgeschaltet werden. Vielmals ist dieser Prozeß vollzogen worden, das Resultat kann nur sein, daß wir immer allgemeingültigere Begriffe bilden, unter denen wir den historischen Stoff begreifen, daß persönliche Werturteile, Neigungen und Abneigungen immer mehr ausgeschlossen werden. ![]() Wenn also auch zugegeben werden muß, daß infolge der Beschaffenheit menschlicher Natur und geschichtlicher Methode ein Einfluß der Werturteile auf die Auffassung sehr wohl möglich und unzähligemale vorgekommen ist, so ist doch auch zu sagen, daß dieser Einfluß stets bemerkt und gerügt wurde, daß er ausgeschaltet werden kann und kein methodologisch notwendiger Bestandteil historischer Methodik ist derart, daß ohne das Waltenlassen von Werturteilen die im Wesen historischen Denkens und Forschens liegenden Ziele nicht erreicht werden könnten. ![]() Um aber die obigen Sätze und Erörterungen zu verdeutlichen und zu beleben, gebe ich einige Beispiele, die den Einfluß von Werturteilen auf die Geschichtsschreibung zeigen und zugleich den Weg erkennen lassen, auf dem sie ausgeschaltet werden. Als Beispiele dienen die bekannte Kontroverse zwischen SYBEL und FICKER über das mittelalterliche Kaisertum, TREITSCHKEs deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert und die Beurteilung FRIEDRICH WILHELMs IV. in der neueren Literatur. Der Streit zwischen SYBEL und FICKER drehte sich um die Bedeutung des mittelalterlichen Kaisertums. ![]() ![]() Dagegen trat FICKER 1862 mit einigen am Ferdinandeum zu Innsbruck gehaltenen Vorlesungen über "das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen" auf, die ursprünglich zwar nicht direkt gegen SYBEL gerichtet waren, aber doch eine der seinen entgegengesetzte Anschauung vertraten. Zunächst bekämpfte er darin die Berechtigung der - auch bei SYBEL hervortretenden - Anschauung, man könne die politischen Gebilde aller Zeiten nach ihrem Verhältnis zu den Nationen und deren Bedürfnisse als mit einem für alle Zeiten gültigen Maßstab messen. Die politischen Bedürfnisse seien sehr verschieden und nicht immer werde ihnen durch die Gebilde nationaler Staaten am besten genügt, auch die Weltreiche haben ihre Berechtigung als politische Form. Dann geht er dazu über, durch Gegenüberstellung des Kaisertums und der Bedürfnisse, denen es genügte, das Wesen desselben festzustellen, nachzuweisen, wie es seinem Wesen nach viel mehr in sich enthielt ![]() ![]() Der Kern der FICKERschen Ausführungen war also eine neue Bestimmung des Begriffs "Deutsches Kaisertum", indem er eine Reihe von neuen Momenten in den Begriff aufnahm, den SYBEL durch ein einziges richtig und erschöpfend charakterisiert zu haben meinte. SYBEL ging in seiner Entgegnung über "die deutsche Nation und das Kaiserreich" weniger auf die neue Begriffsbestimmung ein, als daß er vielmehr die Richtigkeit der seinen zu erweisen suchte. Jedesmal habe das Kaisertum, wenn die Bedingungen irgend gegeben waren, seine Grenzen zu überschreiten, sich schrankenlos auszudehnen gesucht, und jedesmal sei dem Versuch der Fall, die tiefe Erschöpfung gefolgt. So auf KARL den Großen die Wirren des 9. und 10. Jahrhunderts, auf OTTO den Großen die Kämpfe unter OTTO II., der Verfall unter OTTO III., auf HEINRICH III. die Wirren des Investiturstreites, auf FRIEDRICH BARBAROSSAs erste Periode die Zerstörung und Demütigung des deutschen König- und Kaisertums von 1176 - 1177 an, für das die sizilianische Periode nur ein letzter Versucht der Rettung, nichts anderes gewesen sei. Es war ohne Zweifel der einzige Weg zur Entscheidung des Streites, den SYBEL beschritt, die Verifizierung der beiderseits gebildeten Begriffe an den Tatsachen und FICKER konnte ihm sogleich nachweisen, daß er auf diesem Weg völlig scheiterte. Entgegen den Tatsachen mußte er, ![]() ![]() Dieses Beispiel ist charakteristisch für den Einfluß, den Werturteile auf geschichtliche Erkenntnis haben und für die Art, wie sie entfernt und ausgeschaltet werden können. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein Werturteil, die Abneigung gegen universalistische politische Pläne und Gebilde, - eine Abneigung, die mit Ereignissen der Gegenwart mehr oder minder eng zusammenhängt; solche Pläne werden an einem Gebilde einseitig nach diesen Plänen begriffen und verurteilt aufgrund des allgemeinen politischen Satzes, daß ungemessene, über das Bedürfnis hinausgehende Pläne den Untergang der Urheber und vieler anderer Betroffener nach sich ziehen müssen. Damit wird das Werturteil, das, solange es rein als solches ohne Beziehung auf den Verlauf der Dinge ausgesprochen wird, unangreifbar ist, der Kern einer Begreifung und Erörterung der Tatsachen, wird es in allgemeine und Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussagen umgewandelt. Diese Aussagen können jederzeit an den Tatsachen gemessen und nach den Regeln des allgemeinen Denkens als wahr oder falsch, die Begriffsbildung aufgrund des Werturteils kann als einseitig und dem Wesen der Dinge nicht gerecht werdend erwiesen werden. Gerade das den Werturteilen so oft innewohnende Bestreben, als allgemeingültige Sätze formuliert und in solche umgewandelt zu werden, ermöglich es, sie von der wahrhaften Begreifung der Tatsachen zu scheiden, aus der Begriffsbildung auszuschalten. Der Satz, daß die Werturteile ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil historischer Methodik seien, da ohne sie die Auswahl der Tatsachen nicht vollzogen werden kann, läßt sich also geradezu umkehren und dahin aussprechen, daß durch Prüfung der Begriffsbildung eines historischen Werkes, durch Analyse der Prinzipien, nach denen die Auswahl vollzogen wird, am leichtesten der Einfluß erkannt werden kann, den persönliche Werturteile auf die Auffassung der Tatsachen gehabt haben und auf diese Weise die Berechtigung oder Einseitigkeit dieser Auffassung am ehesten nachgewiesen wird. ![]() Ein Werk, dessen Grundbegriff nicht auf einer wahrhaft innerlichen Begreifung aller in Betracht kommenden Tatsachen beruth, sondern vielmehr wesentlich durch Werturteile gebildet und begründet wird, ist TREITSCHKEs "Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert"; alle Schwächen dieses Werkes lassen sich im wesentlichen auf diesen Mangel eines genügenden Grundbegriffes zurückführen. Das Ziel der Darstellung sind die großen Ereignisse der Jahre 1864 - 1870; alles was dazu half, sie herbeizuführen, wird als gut und billigenswert, alles Hemmende und Entgegengesetze als schädlich und verwerflich aufgefaßt. Sein Begriff "deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" lautet etwa: Zwei Mächte haben Deutschland aus der Vernichtung und Zerstörung des dreißigjährigen Krieges gerettet und emporgehoben, Preußen und der Protestantismus; deutsche Geschichte schreiben heißt verfolgen, wie diese historischen Mächte das Werk der Wiedergeburt vollzogen haben. Es ist klar, daß hier eine ganz unzulässige Verengung des Begriffs "Deutsche Geschichte" vorliegt; ![]() ![]() Haben die bisherigen Beispiele den verhängnisvollen Einfluß gezeigt, den Werturteile auf die Auslese der Tatsachen und Auffassung der Zusammenhänge haben können, - einen Einfluß, der aber, wie wir gleichfalls gezeigt haben, sehr wohl zu beseitigen ist -, so wollen wir uns nunmehr noch mit einem speziellen Gebiet historischer Auffassung beschäftigen, wo sich solche Einflüsse leicht geltend machen und der Frage, wie und ob sie dabei auszuschalten sind, nälich auf dem Gebiet der Erkenntnis historischer Persönlichkeiten. Als Beispiel diene die Behandlung FRIEDRICH WILHELMs IV. in der neueren historischen Literatur. Auf zwei Weisen kann man eine historische Persönlichkeit zu erfassen und darzustellen suchen, indem man sich durch psychologische Analyse ein Bild der Einheit ihres Wesens, ihres Charakters macht und ihre einzelnen Handlungen daraus abzuleiten sucht, oder indem man von der objektiven Weltlage, in die sie eingriff, ausgeht und hier die Motive ihres Handelns sucht. Beide Betrachtungsweisen ergänzen einander derart, daß die eine ohne die andere nicht vollzogen werden kann, es kann aber doch im gesamten Verfahren der eine oder der andere Gesichtspunkt vorherrschen. So wurde bisher das Verhalten FRIEDRICH WILHELMs IV. in der Märzrevolution und folgenden Zeit lediglich aus der Schwäche und Unsicherheit seines Willens, aus seiner ganz unstaatsmännischen Art abgeleitet, das Mißgeschick und die Niederlagen, die er erfuhr, wurden nur seinem Ungeschick und seiner Unentschlossenheit zugeschrieben, in der man wohl gar schon etwas Pathologisches, Vorboten der späteren Krankheit erkennen wollte. Von der gerade entgegengesetzten Seite faßte zuerst M. LENZ das Problem an (14). Er wies auf die ungeheuren Schwierigkeiten hin, die der Absicht des Königs, Preußen eine Verfassung zu geben, entgegenstanden, auf die naturgemäße Verquickung in der alle preußischen Angelegenheiten mit den deutschen standen, die sich wiederum mit den Verhältnissen zum Ausland, d. h. wesentlich Österreich und Rußland, aufs allerengste berührten. Preußen eine Verfassung geben hieß der Politik nach innen und außen eine neue Richtung geben und die Grundlagen für diese neue Politik konnten nicht so schnell gefunden, mußten erst allmählich gelegt werden. So wird hier auf das politische Problem hingewiesen, vor dem FRIEDRICH WILHELM IV. stand, es wird als Moment zur Erklärung seines Handelns herbeigezogen. ![]() Hatte LENZ nur den prinzipiell anderen Standpunkt ausgesprochen, von dem aus man des Königs Verhalten beurteilen kann, ohne sich weiter auf Beweise im Einzelnen einzulassen, ohne auch nur die These von der Willensschwäche des Königs, die allein all das Unheil verschuldet habe, ernstlich anzufechten, so brachte schon die nächste Zeit die überraschendsten Beweise für die Richtigkeit des neuen Standpunktes, von hier aus konnte mit quellenmäßigen Beweisen das Verhalten des Königes viel besser verständlich gemacht werden, als bisher. Das Schauspiel des 18. und 19. März und der Folgezeit enthüllte sich als eine Aktion politischer Kräfte, das bisherige Bild des tatenlosen und vor der Verantwortung zurückbebenden Schwächlings, des modernen HAMLET auf dem Thron, erwies sich als dringend der Korrektur bedürftig. ![]() Zunächst zeigte KOSER (15) in einem auf die Akten gegründeten Aufsatz, daß eine der treibenden Kräfte in FRIEDRICH WILHELM und seiner Politik von 1840 - 1848 der deutsche Gedanke war, das Streben nach neuem Aufbau und Ausbau der deutschen Verfassung, unter gebührender Berücksichtigung der Machtstellung Preußens, wenn möglich mit Österreich, wenn nötig ohne und gegen dasselbe. Als Mittel für diesen seinen deutschen Gedanken betrachtete er die Schaffung einer Verfassung in Preußen, da ein absolutistisches, "reaktionäres" Preußen, wie er wohl wußte, das Vertrauen Süddeutschlands niemals erwerben konnte. Es ließ sich also bereits von hier aus annehmen, daß die Haltung des Königs in der Revolution, seine Proklamation an meine lieben Berliner, das Annehmen der deutschen Kokarde usw. nicht nur ein schwächliches Nachgeben vor der Bewegung bedeuteten, sondern zum weitaus größeren Teil auch seinen eigensten Gedanken und Absichten entsprachen, die er unter den veränderten Umständen nunmehr mit veränderten Mitteln durchzusetzen gedachte. Einen weiteren Fortschritt brachte F. RACHFAHL in seinem Buch über "Deutschland, Friedrich Wilhelm IV. und die Märzrevolution." (16) Nach einer ausführlichen Würdigung der politischen Lage und der politischen Schwierigkeiten wandte er sich zu einer Untersuchung unserer Quellen über die Haltung des Königs am 18. und 19. März und kam zu dem überraschenden Resultat, daß die Aussagen über die Willensschwäche und Feigheit des Königs alle aus einem Kreis kamen, von hohen Militärs und Aristokraten am Hof, während andere Berichte nichts von einer solchen zu melden wissen; es ließ sich ein weiter Gegensatz der politischen Ansichten zwischen dem König und dieser seiner Umgebung in bezug auf die Politik in der deutschen und in der Verfassungsfrage feststellen, ![]() Ergab sich das alles aus der genauen Prüfung der alten Quellen, die infolge des neuen Standpunktes vielfach ganz anders verstanden und verwertet werden konnten, so erfolgte endlich die volle Bestätigung der neuen Ansichten durch die Auffindung neuer Quellen, der Papiere des Stadtrates NOBILING, eines vielfach an den Ereignissen mithandelnd beteiligten Mannes. (17) Durch sie wurde mit Evidenz das Märchen von der Fassungslosigkeit und den Tränen des Königs, so daß ihm die Erlaubnis zu jedem Vorgehen der Truppen fast mit Gewalt entrissen werden mußte, eben als Märchen, als pure Erfindung der Junker- und Militärpartei erwiesen, die ihr eigenes, keineswegs einwandfreies Vorgehen damit decken und rechtfertigen wollte. Die Verantwortung für die Zurückziehung der Truppen fällt fast ganz auf PRITTWITZ, der einen Befehl des Königs in beinahe böswilliger Weise mißverstand. Jede einzelne Phase des Ereignisses läßt sich als ein Spiel und Gegenspiel politischer Kräfte erweisen, in dem zwar die persönliche Eigenart der beteiligten Personen, speziell des Königs, noch immer zutage tritt, (18) aber bei weitem nicht mehr die überragende Rolle spielt, die man diesem Moment früher anweisen zu müssen geglaubt hatte. Die individuell-psychologische Interpretation ist in weitem Umfang verdrängt durch die politische, die Ereignisse werden nicht mehr durch Beziehung auf einen individuellen Charakter, sondern auf den allgemeinen Begriff "Politik", "politisches Handeln", "politisches Leben" erklärt. Durch Hineinbeziehung der unter diesen Begriff fallenden Ereignisse und Verhältnisse ergibt sich ein neuer, bisher nicht beachteter Zusammenhang, der die einzelnen Ereignisse besser und den Quellen gemäßer erklärt, als die alte Auffassung. ![]() Im Zusammenhang unserer Gedanken bedeutet das Beispiel einen Beweis für die Bedeutung und Wichtigkeit der allgemeinsten Begriffe, durch die alles geschichtliche Werden aufgefaßt werden kann. Denn es ergibt sich hier wieder ein weites Feld historischer Erkenntnis, das, an sich dem Einfluß persönlicher Neigungen und Bewertungen des Forschers sehr ausgesetzt, durch die obige Methode nunmehr auf beweiskräftig zwingende Weise allgemeingültig bearbeitet werden kann, ![]() ![]() Damit sind wir am Ziel unserer Ausführungen. Sie gipfeln in dem Bestreben, nachzuweisen, daß Erkennen und Bewerten zwei fundamental verschiedene Äußerungen des menschlichen Geistes sind, daß wenigstens auf dem Gebiet historischer Methodik ein Bund und eine Vermischung beider niemals zum Segen der Erkenntnis ausschlagen kann. Erkennen heißt, die Einzeldinge oder -erscheinungen unter allgemeinen Begriffen vorstellen, sie durch dieselben ordnen und gestalten und zwar in einer Weise, die für jedermann zwingend und beweisbar ist; eine Erkenntnis verdient und erhält diesen Namen erst, wenn sie allgemeingültig ist. Bewerten ist die praktische Stellungnahme des einzelnen Menschen zu den Dingen dieser Welt. Auch das Bewerten strebt nach einer Art Allgemeingültigkeit, aber einer ganz anderen als die Erkenntnis; stellt jemand für sich einen Maßstab als Wert auf, so werden ihm unbedingt alle Dinge, die diesem entsprechen, als wertvoll, alle anderen als gleichgültig oder wertfeindlich erscheinen. Deswegen können aber andere Menschen durchaus andere Wertmaßstäbe haben, ohne daß dieser Zwiespalt auf einen Ausgleich drängte. Das innerste Empfinden jedes Menschen wird sich vielmehr dem widersetzen, daß man ihm seine Werte als richtig oder unrichtig beweise; sie sind eine Tatsache des Lebens und seines Gefühls und niemals wird er sie den Regeln der Logik unterwerfen. Ebensowenig darf dieses Bewerten sich aber als Erkenntnis ausgeben, die Erkenntnis meistern wollen; sowie ein Werturteil als Aussage über eine äußere Wirklichkeit - nicht das Innenleben des Beurteilers - gegeben wird, unterliegt es unerbittlich der Prüfung an den Tatsachen nach den Regeln der Logik und wird wohl stets dadurch ad absurdum geführt werden: Erkenntnisse, die den Wertgefühlen des Menschen entstammen, haben jedenfalls von vornherein mindestens nicht die Wahrscheinlichkeit für sich, in allen Momenten treu die Wirklichkeit wiederzugeben. ![]() Sind somit diese beiden Äußerungen des menschlichen Geistes in ihrem Ursprung und Prinzip verschieden voneinander, so kann nicht eingesehen werden, ![]() ![]() ![]() ![]() ![]()
11) Hier liegt der Unterschied der obigen Begriffe zu den LAMPRECHTschen Kulturzeitaltern und Konstruktionen ähnlicher Art, die alle eben auf ein System der Wissenschaft, den Aufbau einer einheitlich notwendigen Entwicklung, hinzielen. 12) Von einem anderen Problem her kommt O. RITSCHL zu einem zumindest ähnlichen Resultat in seiner Schrift: Die Kausalbetrachtung in den Geisteswissenschaften. Bonn 1901, Seite 26 - 28. Den daselbst ausgesprochenen Gedanken, daß Monographien großen Stiles die bedeutendsten geschichtsschreiberischen Leistungen seien, habe ich an einem speziellen Beispiel durchgeführt, nämlich in Erörterung der Geschichtsschreibung RANKEs. Vgl. SCHMOLLERs Jahrbuch für Gesetzgebung usw., Bd. 27, Seite 117 - 162: Zur Entwicklung der Geschichtsschreibung Rankes. Ein Versuch ihrer theoretischen Würdigung. Vgl. besonders Seite 152 - 157 13) Lange, aber meist wenig zielführende Ausführungen über diese Frage bietet A. GROTENVELT in seinem bereits erwähnten Buch über die Wertschätzung in der Geschichte. Der Hauptanlaß, sich mit dem Problem zu beschäftigen, liegt in der Stellung, die BERNHEIM in seinem Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie dazu eingenommen hat, vornehmlich Seite 704 - 705. Daß RICKERT keineswegs dieselbe Stellung einnimmt, geht aus dem obigen hervor. 14) M. LENZ, "1848", Preußische Jahrbücher, Bd. 91, Seite 532f 15) REINHOLD KOSER, Friedrich Wilhelm IV. am Vorabend der Märzrevolution, Historische Zeitschrift, Bd. 83, Seite 43f 16) FELIX RACHFAHL, "Deutschland, Friedrich Wilhelm IV. und die Märzrevolution", Halle 1901 17) König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution im Lichte neuer Quellen, Preußische Jahrbücher, Bd. 110, Seite 264f, Seite 413f 18) Auch wenn man alle Ergebnisse RACHFAHLs annimmt, die doch im einen oder anderen Punkt noch nicht voll bewiesen sind, so bleiben auch nach seiner eigenen Darstellung noch genug Momente übrig, die das Verfahren des Königs zumindest als ein nicht sehr klares, autoritatives erkennen lassen; er hielt auch danach seine Absichten vielfach in einem merkwürdigen Halbdunkel (z. B. PRITTWITZ gegenüber) und trägt so an der Verwirrung und Ratlosigkeit jener Tage reichlich Mitschuld. 19) Dies ist noch etwas anderes, als die von O. LORENZ und BERNHEIM "Lehrbuch der historischen Methode usw." Seite 712f vertretenen relativen Wertmaßstäbe. Es ist die objektie Beschreibung der Wirksamkeit einer Persönlichkeit, der Veränderungen, die sie in der Weltlage hervorbrachte, ohne jede Beziehung auf ein Ziel des Geschehens, auf Werte, die bei BERNHEIM, Seite 715, sich doch wieder als die letzte Grundlage des von ihm empfohlenen Verfahrens erweisen. In unserem Beispiel ist demgemäß das Urteil über FRIEDRICH WILHELM IV., das der Forscher gewinnt, auch ganz unabhängig von den Zielen, die er der Entwicklung Preußens setzt, es besagt nur, welche der vorhandenen Möglichkeiten durch FRIEDRICH WILHELM verwirklicht worden ist und wie man, allgemein menschlich gesprochen, sein Verfahren und seine dabei zutage tretenden Charaktereigenschaften nennen wird. Das Verfahren ist ein Prozeß der Isolierung, der Benennung, der Subsumtion unter Begriffe, aber gar nicht der Bewertung. |