ra-2L. PohorillesP. KampitsWindelbandE. H. Schmitt G. Mehlis    
 
GOTTFRIED SALOMON
Mystik und Glaube
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"Das mystische Erleben ist stumm und namenlos, es kann nicht recht ausgesagt werden. Darum ist das Wort und der Begriff, dieser Wiederholungsversuch des Erlebens im Sprechen und Denken, die Leidenschaft des Mystikers, wie überhaupt die Ausdrucksmöglichkeit des inneren Gehaltes in äußeren Gestaltungen, des einzelnen Innewerdens in gemeinschaftlichen Mitteilungen die Leidenschaft des Religiösen ausmacht."

"Eckehart sagt: «Hätte ich einen Gott, den ich erkennen könnte, ich wollte ihn nicht länger für einen Gott halten». Im selben Sinn sagt später Jakobi: «Der Gott, der gewußt werden kann, ist kein Gott. Wer Gott unter keinerlei Form sucht, der ergreift ihn, wie er in sich selber ist. Hätte ich einen Gott, den ich erkennen könnte, ich wollte ihn nicht länger für einen Gott halten.»"

"Wenn das Mystische in das Theoretische übertragen wird, so entsteht als Kompromiß eine mystische Philosophie und Theologie, die notwendig zu einer unangemessenen und verfehlten Rationalisierung des irrationalen Erlebens in Begriffen wird, weil es kein System der Mystik im Christentum geben kann. Die deutsche Mystik erscheint nur als Ergänzung der christlichen Theologie, indem sie sich an die ihr wesensfremde Theologie anlehnt."


Vorwort

Diese vorläufige Veröffentlichung kann notwendigerweise nur einen sehr beschränkten und gedrängten Beitrag liefern, der als Ausschnitt einer größeren religionsphilosophischen Arbeit der systematischen Durchführung im Ganzen ermangelt. Es wird versucht, die Motive und Konstitutive der deutschen Mystik, am Beispiel Meister ECKEHARTs illustriert und des christlichen Glaubens, im Hinblick auf das Traktak: "der Frankfurter" (genannt: "die deutsche Theologie"), aufzuzeigen, um die Grundverhalten, aus denen erst die Struktur jener komplexen Gefüge verständlich wird, herauszuheben. Indem das Traktak als Musterbeispiel gewählt wurde, (ohne jedoch eine Gesamtdarstellung desselben zu geben), war damit bezweckt, die glaubensmäßigen Elemente des Traktats, die heute nicht recht in ihrer Bedeutung gewürdigt werden, anzugeben, und sind deshalb die Kapitel vom Gottmenschen, der Sünde und Nachfolge nebeneinander im Glauben und in diesem Traktak behandelt worden. Gerade an diesem Werk der sogenannten "Vorreformation" können die religiösen Grundverhalten in Bezug auf ihren Gegenstand und in ihrer Einwirkung aufeinander dargelegt werden. Die vielfältigen Verschlingungen des religiösen Lebens und Erkennens konnten allerdings kaum in einer mehr als schematischen Übersicht Erwähnung finden; nur die bedeutsamsten Anwendungen des Religiösen in den Problemkreisen des Gottmenschen und der Sünde sind ausführlicher, zuerst systematisch, dann historisch mit Bezug auf das Traktat dargestellt worden.

Da diese erste Arbeit so vieles aufgenommen und übernommen hat, gezient es sich, an dieser Stelle den besonderen Dank auszusprechen, den der Verfasser seinem verehrten Lehrer, Herrn Professor SIMMEL, für die Gesamtauffassung, für die historische Ansicht der christlichen Gruppen ERNST TROELTSCH, für die Darlegung der Mystik MARTIN BUBER und für die Einsicht in den Glauben SÖREN KIERKEGAARD schuldig ist. Der Traktat ist nach der Textausgabe von WILLO UHL (mit U.), Meister ECKEHART nach PFEIFFERs Texten mit PF.) und BÜTTNERs Bearbeitungen (mit B.) zitiert.


"Das Religiöse in seinem spezifischen Wesen, seinem reinen, von allem Ding freien Dasein ist ein Leben." - Simmel


Einleitung: Über das Religiöse.

Das Religiöse ist ein Geschehen und Verhalten des Wesens, in dem sich das Leben begründet und bestimmt. Dieses Wesensverhalten als Innenerlebnis und Ausgestaltung gibt eine Grund- und Bestimmungsinstanz für das Leben ab in der Beziehung zu einem metaphysischen und absoluten Leben durch das metaphysische und absolute Geschehen in der Seele. Die seelische, besonders geartete Zuständlichkeit, die sich in einem besonderen Gefüge und dessen Zusammenhang ausprägt, in diesen sozusagen sich "auslebt", ist nur die jeweilige Intensivierung und Aktualität des religiösen Lebens, um der Verwirklichung des Wesens willen, (ohne das Religiöse in dieser Zuständlichkeit zu erschöpfen). Denn das Religiöse als "transzendentes Leben" (1) und transzendierendes Leben, aus dem Wesen begründet und bestimmt, innegehalten und herausgestaltet, schafft als den Ausdruck des Lebens im Grunde und zur Vollendung ein religiöses Gefüge, das gleichfalls nur der vollständige Ausdruck des religiösen Geschehens und Verhaltens ist und dessen Merkmale beibehält. Die Aktualität und Intensität der wesensbestimmten Existenz in einem Geschehen und Verhalten zur Wesenseinheit und Wesensverwirklichung bildet jeweils in der "Tendenz zur Immanenz oder Transzendenz" Gefüge, als den Vergegenständlichungen der seelischen Verfassung, aus, indem die grundlegende und endgültige Lebensverfassung die Ordnung der Einheit und Ganzheit des Lebens im Wesensgrund und in der Wesensvollendung darstellt. Somit könnte man das religiöse Verhalten und Gefüge ein "existenziales" Verhalten und Gefüge nennen, wobei das religiöse Verhalten, das seinem Sinn nach auf die Vollendung hinzielt, darum alle anderen Verhalten übergreift, und ebenso das religiöse Gefüge die anderen existenzialen Gefüge, ästhetischer und ethischer Art, einbegreifen kann, weil des die letzte Ordnung bezweckt, und jene Gefüge ihm in einem vorläufigen Leben als Perspektiven des Interims [Zwischenzeit - wp] dienstbar werden können. Denn das religiöse Leben, das erst in der Vollendung die Ganzheit des Lebens umfaßt, bildet eine endgültige Einheit als den entsprechenden Ausdruck der endgültigen Einheit des Wesens, in der jene vorläufigen Einheiten aufgehoben sind. Diese Einheit, die sich selbst differenziert, ist nicht indifferent, eine abstrakte und negative, d. h. vom religiösen Leben losgelöste Einheit, sondern vielmehr der schöpferische Grund und das vollendete Geschehen des Wesens. Im Gegensatz zur theoretischen Einheit insbesondere, als der unexistenzialen Einheit, die ihre absolute Gültigkeit in einer von der Existenz isolierten und unabhängigen Ordnung besitzt, ist die religiöse Einheit die Einheit des Lebens selber, eine Einheit des absoluten Lebens. Dem Religiösen als einem "existenzialen" Verhalten, das in der Zuständlichkeit als religiöses Leben ansich keine Gegenständlichkeit besitzt, steht das Theoretische gegenüber als ein "formales" Verhalten, d. h. ein Verhalten zu einer Gegenständlichkeit, die als abtrennbarer Sachgehalt, als "Form", für sich besteht und nicht in einer schöpferischen Existenz ausgebildet und einbegriffen wird.

Im Religiösen würde ein derart der schöpferischen Existenz enthobener und entfernter Gegenstand in seiner selbständigen ideellen Existenz ein Zeichen der Unterbrechung der wesentlichen Beziehung und Einbeziehung des Wesens bedeuten, die das Spezifische des Religiösen ausmacht, als "religiöses Leben". Denn das religiöse Leben bringt seinen Gehalt, das Göttliche, stetig aus sich hervor und nimmt ihn in sich zurück oder durchdringt ihn, sodaß eigentlich nur die Aktualität dieses Verhaltens bedeutsam wird. Das göttliche Wesen ist ein Leben, das sich im Geschehen durch das Menschliche erfüllt. Die Beziehung im religiösen Leben ist eine Beziehung der Existenz auf und in sich selber und ihren Gehalt (2). Im Religiösen bleibt der Gehalt, das Göttliche, im Bezug zur schöpferischen Existenz, nicht nur, daß er seinen Ursprung beibehält und doch für sich bleibt in einer gesonderten ideellen Existenz, wie es im Theoretisch-Religiösen erscheint und im Historisch-Religiösen theologisch festgestellt wird, so daß nur noch der Inhalt aus dem Religiösen stammt, sondern auch insofern, daß er stetig aus der Existenz entspringt und damit erst seine volle Wirklichkeit und Gültigkeit immer wieder erhält, so daß der Gehalt im Geschehen des Wesens als göttliches Leben allein bedeutsam wird. Indem eine wechselseitige Einwirkung von Gehalt und Existenz bestehen bleibt, erfährt der Gehalt im religiösen Leben immer wieder die Vergegenständlichung. Darum ist dieses existenziale Verhalten in seiner Begründung und Bestimmung nicht nur inhaltlich, sondern auch funktionell verschieden, sobald der Gehalt geändert wird, weil dieser Gehalt nicht als Gegenstand selbständig und sachlich besteht und vorbesteht; so daß "der Glaube eines anderen Gottes ein anderer Glaube ist". (3)

Es kommt für das Religiöse als religiöses Leben aus dem Wesensgrund und zur Wesensvollendung nicht auch ein "gegenständliches" Verhalten an, vielmehr auf die gegenständliche und metaphysische Art der Seele, des Wesens selber, das im religiösen Leben den Gehalt als sein metaphysisches Gegenbild und Gebilde schafft. Indem das Religiöse in der Vergegenständlichung zugleich eine Einwirkung und Beziehung auf dieses eigene gegenständliche und metaphysische Gebilde hat, das seine "Hypostase" [Vergegenständlichung - wp] und Projektion, seinen jeweils verselbständigten und herausgestellten Wesensgehalt, seinen Gott darstellt, kommt ihm in dieser Beziehung eine Bestimmung wiederum zu, die sich in der Richtung des religiösen Lebens, in der "Umkehr", ausprägt, so daß gleichsam durch eine Art Rückwirkung oder Einbeziehung die religiöse Zuständlichkeit sich wieder von der Gegenständlichkeit in sich selber zurückfindet und abschließt.
    "Das Religiöse ist ein Zustand der Seele, der zwar auf ein Außer-ihr bezüglich ist, diese Bezüglichkeit aber als ein Merkmal seiner selbst besitzt." (4)
Dieses Merkmal des Religiösen ist die Richtung auf oder von der eigenen Gegenständlichkeit, in Bezug und Einbeziehung, in Schöpfung und Umkehr, indem die Richtung die Verwirklichung und Entwirklichung des Wesensgehaltes angibt, der im Erleben seiner selbst das Verhalten besondert.

Wenn darum das religiöse Gebilde den Charakter eines Gegenstandes im theoretischen Sinn annimmt, und von der Existenz isoliert festgestellt bleibt, so muß das Religiöse sein Leben an diesem Gegenstand, (an dieser Form) gewinnen, den es nicht mehr in sich hineinnehmen und aus sich hervorbringen kann, und muß also durch das Gebilde hindurch, gleichsam auf einem Umweg bestimmt werden. Ist der Gehalt nicht mehr das unmittelbare Gebilde des Wesens, so wird die religiöse Beziehung und Einbeziehung in ihrer Wechselseitigkeit und Geschlossenheit aufgehoben. Das Religiöse hat eine Hemmung und kann seinen Gehalt nicht aus sich hervorbringen, sondern nur aneignen, indem es sich ihm in seiner vorbestehenden Form anformt, und die Richtung ihm allein von einem uneigenen, fremden Gegenstand zukommt.

Im Folgenden ist der Versuch gemacht, im Überblick diesen beiden religiösen Verhaltensweise am Mystischen und am Glauben darzustellen, und dabei ist um der Beschränkung willen die mystische Lehre am Beispiele ECKEHARTs und die Glaubenslehre vornehmlich in der philosophischen Ausdeutung des DUNS SCOTUS festgestellt, um am Verhältnis dieser beiden zueinander die Problematik von Glaube und Mystik im Hinblick auf den Traktat "der Frankfurter" zu kennzeichnen.


I. Über die Mystik

1. Das mystische Erleben

Das Mystische ist als das religiöse Grundverhalten anzusehen, als das Radikalreligiöse, weil es das unmittelbare und gegenwärtige Gotterleben aus dem Wesensgrund heraus in einem ursprünglichen Leben darstellt, in dem Wesen und Gehalt verbunden sind und aufeinander beruhen. Es is das Erleben (und Bekennen) der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, des unendlichen und endlichen Lebens, in einem schöpferischen Geschehen als dem Ausdruck der wesentlichen Beziehung und Einbeziehung und gibt damit unmittelbar das "Gottesgut", d. h. die Einheit des Göttlichen und Menschlichen in einem gegenwärtigen Leben. Das Mystische bildet damit die Grundlage alles Religiösen und ergibt nicht nur "eine Konstituante des Seelenlebens (HÜGEL), sondern die Einheit des Seelenlebens im Grunde überhaupt, aus deren Differenzierung erst die anderen Konstitutive und deren Gefüge stammen. Da "die Grundbehauptung aller Religion die Gegenwart eines absoluten Lebens ist" (5), so ist jedenfalls diese Behauptung des Ewigen im Gegenwärtigen, des Unendlichen im Endlichen, des Vollendeten im Vorläufigen grundlegend für alles Religiöse.
    "Ob wir Religion von der menschlichen oder göttlichen Seite betrachten, als Hingabe der Seele an Gott oder als das Wohnen Gottes in der Seele, beidemal ist das Wesentliche, daß das Unendliche nicht eine ferne Erscheinung, sondern eine gegenwärtige Wirklichkeit ist. Einheit an Geist und Willen mit dem Göttlichen ist keine Zukunftshoffnung, kein Ziel der Religion, sondern ihr Anfang, ihr erstes Werden in der Seele." (6)
Diese Einheit des göttlichen Lebens durch das Menschliche ist der Grund und auch das Ziel des Religiösen, eine Einheit im Geschehen, die im Leben aus dem Grund und in der Vollendung besteht. Es ist eigentlich kein Verhalten des Menschlichen und Göttlichen, das sozusagen eine parteihafte und mehr als interimistische Trennung zuließe, sondern dieses Verhalten ist wie eine geschlossene Beziehung und Einbeziehung in einem zentralen Leben, ein Verhalten des Göttlichen in und zu sich selber durch das Menschliche hindurch zu einem religiösen Leben, einem absoluten Leben, das in Einheit und Geeintheit in sich vollendet wird. Darum ist das Mystische nicht nur die Grundlegung in der unmittelbaren Einheit und die völlige Vereinigung mit dem göttlichen Gehalt, sondern ergibt auch in der Bestimmung dieses Gehaltes eine letzte Einheit, ein Einssein und Einsgewordensein, in welchem alle Getrenntheit, wie sie in jedem Verhalten bestehen, aufgehoben ist. Das Mystische ist dann als das religiöse Endverhalten anzusehen, als das Definitivreligiöse, das ebenso wie das Grundverhalten allem Religiösen als höchste Besonderheit eignet, indem sich in der Wesensvollendung das Erleben des Göttlichen in einem göttlichen Leben durchsetzt und endet, wie es sich aus dem Wesensgrund heraushebt. Ursprung und Vollendung, Wesensgrund und Wesensbestimmung werden gleicherweise im mystischen Erleben erfahren, um dann in der Mystik gleichsam nur einen metaphysischen Überbau der seelischen Erfahrung zu bilden, womit das Denken das Erleben als ein übertragenes Erleben wiederholt und erklärt, wie und daß ein zentrales Leben ein göttliches Leben im Menschlichen bildet. Das Mystische ist das Erleben der Einheit im Geschehen des Wesens, in dem das Göttliche hervorgeht und wieder innewird. Weil das Geschehen in sich geschlossen ist und kein Außer-sich hat, ist die Einheit nur der Ausdruck der innigen Verschlungenheit von Wesen und Form, Existenz und Gehalt, Gebilde und Beziehung (7).

Das mystische Erleben verbürgt eine "objektive Realität", eine Wirklichkeit, die, innegehalten oder hervorgebracht, jedenfalls nur das Gegenbild der wesentlichen Einheit ist. In "Ekstasis" und "Enthusiasmus", in Schöpfung und Umkehr, den Verwirklichungen, wird diese Einheit erfahren; das Aus-sich-heraus-gehen und In-sich-hinein-nehmen aber wird als ein Eingehen und Erfülltsein in und mit Gott im übertragenen Sinn gedeutet. Damit soll die "Subjektivität" abgestritten werden, die darum nicht besteht, weil die Einheit nicht die von Subjekt oder Objekt, sondern die des Lebens überhaupt ist, wobei das Subjekt nur als der Täter oder Träger im Geschehen dieses Lebens erscheint. Das Mystische ist zwar eine vom "Subjekt" her aus sich herausgerichtete Zuständlichkeit, die sich von aller Gegenständlichkeit löst und auch das Subjekt als eine Gegenständlichkeit verläßt, indem sie, ihr "Objekt" aus sich allein erschaffend und über sich steigernd, eigentlich aus der "Objektivität" bestimmt ist. Das Mystische ist sozusagen der Ausdruck der objektiven, göttlichen Zuständlichkeit im Subjekt, weshalb die indische Mystik am entschiedensten Subjekt und Objekt als ein Wesen (Atman) bezeichnet hat. Jedenfalls kann das Mystische als das Erleben des Göttlichen in der Zuständlichkeit (als göttliches Leben), nicht, wie es dem Nachdenken erscheint und durch das Wort und den Begriff herausgestellt und verunstaltet wird, als für sich seiende, jenseits festgehaltene Gegenständlichkeit bestehen. Im Wort und Begriff entsteht erst jene logische Trennung und Unvereinbarkeit von Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit, die das Mystische immer wieder gleichsam entzweit, und von einem verschiedenen Gesichtspunkt her das Erleben in Subjektivität und Objektivität differenziert.

Das Mystische ist das "undifferenzierte Erleben" der Einheit im Geschehen, (8) der Einheit und Geeintheit des ungeschiedenen und wieder entschiedenen Göttlichen. Das Mystische kann sich aus dieser unmittelbaren Einheit heraus "differenzieren im Denken, als ein Denken des Göttlichen nach dem Erleben, besser, als ein In-sich-denken. Das Göttliche als die dem Wesen eigentümliche Form (wie ECKEHART sagt: "der Seele Form") wird im Überschwang veräußert als das Wesens Überwesentlichkeit und wird in der Versenkung wieder verinnerlicht als des Wesens Unförmigkeit. ("Das Alles und das Nicht in Einem.") Das Göttliche ist im Geschehen die "formlose Form", die Form, die ungeschieden von einem Wesen, nicht selbständig besteht. Das Heraus- und Hineinbilden der Form, die nicht Form ist durch das Denken, ist eine Wesensselbsterfassung, ein Ausbilden und Einbegreifen des Wesens in sich selber, das im Geschehen mit sich eins wird. Das Herausgetriebene und Innegewordene als ein und derselbe Wesensgehalt ist das göttliche Erleben des Selbstes durch das Denken hindurch. Denn das Wesen ist im Grunde "gottförmig"; eingewirkt und eingesammelt ist die Form als sein Werk in ihm, ("die sele gebirt ûzer got ûr got in got" sagt ECKEHART). Das Geschehen des Wesens, das sein Werk wirkt, hat eine selbstgenugsame "Innerlichkeit", eine In-sich-Geschlossenheit des Geschehens, keine Innerlichkeit im Träger des Geschehens selbst; darum kann diese "Innerlichkeit des Geschehens" nur eine überfließende und eindringliche Schöpferischkeit sein, in der sich das Wesen, das in die Welt des Gegenständlichen im Denken überschwingt, dieser Gegenständlichkeit entledigt und den Kräften, dem Verstand und dem Willen, womit die Gegenständlichkeit erfaßt und behalten wird, "Urlaub und Entlassung" gibt. Die Gegenständlichkeit ist des "Wesens Gegenwurf", wie es bei FRANCK und WEIGEL heißt, ein Äußeres nicht in einem ästhetischen oder theoretischen Sinn eines Selbständigen, sondern ein Veräußertes und Abhängiges. Darum heißt es bei PLOTIN, der damit dem griechischen, auf die Gegenständlichkeit gerichteten Denken entgegentrat, vom Mystiker:
    "Begehrt er ein Äußeres zu schauen, so setzt er sich selbst als ein Äußeres. Aber er muß sich ganz in das Innere versenken, statt zu schauen, selbst Anschauung eines Anderen werden. Bezieht sich das Schauen auf einen äußeren Gegenstand, so findet kein Schauen statt, oder doch nur ein solches, das mit dem geschauten Gegenstand eins ist, dies ist gleichsam ein Innewerden und Empfinden seiner selbst." (9)
In der "Abgeschiedenheit" als der vollendeten Umkehr gelangt das Wesen wieder zu seiner innewohnenden Form, die es in der Ekstase veräußert hat und im Enthusiasmus wieder hineinnimmt. Die Abgeschiedenheit ist das absolute Erlebnis des Göttlichen, "des abgeschiedenen Herzens Gegenwurf ist weder dies noch das". (10) Das reine, abgeschiedene Wesen, das die Form zurückgenommen hat, kommt zu sich selber in der absoluten Gegenstandslosigkeit, die als eine "Armut des Geistes" bezeichnet wird.


2. Das mystische Denken

Das mystische Erleben ist stumm und namenlos, es kann nicht recht ausgesagt werden. Darum ist das Wort und der Begriff, dieser Wiederholungsversuch des Erlebens im Sprechen und Denken, die Leidenschaft des Mystikers, wie überhaupt die Ausdrucksmöglichkeit des inneren Gehaltes in äußeren Gestaltungen, des einzelnen Innewerdens in gemeinschaftlichen Mitteilungen die Leidenschaft des Religiösen ausmacht. Allein im Rhythmus dieses Sprechens und Denkens, im Pathos, als dem Ethisch-Ekstatischen, lebt noch das Erlebnis nach, und wird der Übergang des Einsamen zur Gemeinschaft gebildet, in der Predigt.

Im Mystischen und seinen Lehren ist das Göttliche vorerst nicht Gegenstand des Wissens und Erkennens, da es in der Wesenheit erlebt und gestaltet und erst danach in das Denken übertragen wird, sodaß das Erkennen gleichsam nur ein Erinnern, ein sinnbildliches Nachschaffen bedeutet. Die Verwirklichung des Wesns durch das Denken bietet also auch eine Form der Verwirklichung des metaphysischen Lebens dar. Die nachträgliche Gottesvorstellung, als der verselbständigte und getrennte Wesensgehalt indessen wird negiert. Obgleich das Erleben keine Negation des Erkennens ist, oder nur eine Negation um einer höheren Position willen, so ist doch im aktuellen seelischen Geschehen das Göttliche inne geworden und erfaßt in überbegrifflicher Weise, sodaß die Kategorien des Verstandes keine Geltung beanspruchen dürfen. Das meint ECKEHART, wenn er sagt:
    "Hätte ich einen Gott, den ich erkennen könnte, ich wollte ihn nicht länger für einen Gott halten", (11)
in demselben Sinn sagt später JAKOBI: "Der Gott, der gewußt werden kann, ist kein Gott." Wer das Göttliche begreift, begreift es nicht, wie es in ihm selber, sondern außer ihm ist, nicht in der ihm eigentümlichen Form, einer "Beziehungsform", sondern in einer herangebrachten Form, als "Begriffsform". "Wer Gott unter keinerlei Form sucht, der ergreift ihn, wie er in sich selber ist." (12)

Im mystischen Erleben leitet sich die Berechtigung der Form, des Gegenstandes, der nur eine schöpferische Übertragung ist, her aus dem formgebenden Geschehen selber, das sich derart mit sich selber erfaßt, sodaß das Göttliche mit dem Göttlichen in der Offenbarung erfaßt wird (nach dem erkenntnistheoretischen Prinzip, daß Gleiches nur von Gleichem erfaßt wird). Dieses Erkennen trägt in einem "Beruhen auf sich selbst" (der inneren Evidenz und Intention) den Charakter des reinen, absoluten Erkennens (13), der Offenbarung. Im Erleben wird die Grundform, das Bild, geschaffen und als ein Gegenbild herausgestaltet. Die Form ist als lebendige Gestalt im Werden und nicht im toten Begriff zu Ende, weil die Gestaltung ein unmittelbares Erkennen ergibt, in dem das Erzeugnis zugleich Zeugnis des Erlebens bleibt und darauf angewiesen ist. Die Form erhält ihren Charakter der reinen Gegenständlichkeit erst im Wissen, das die Form in einen andersartigen Zusammenhang einreiht und vom wesentlichen Geschehen unterscheidet, sodaß das Erkennen und das Erkannte nicht mehr irgendwie eins sind.

Das Göttliche ist als Gegenstand im Mystizismus vernichtet, weil es dem Wesen "eingeformt" ist, in dem sich das göttliche Erkennen vollzieht. Diese innewohnende "Gottförmigkeit" des Wesens, das "Fünklein", (das mehr bedeutet wie die "Synteresis" [das Gewissen als Bewahrung des göttlichen Funkens im Menschen - wp] der Scholastik), ist der im Mystischen erfahrene Quell- und Sammelpunkt des Geschehens. "Gottes Grund und der Seele Grund sind eins". (14) Im unerschaffenen Wesensgrund ist "ein Etwas, das nur sich selber lebt - wie Gott" (15).
    "Da war ich mir selber, da wollte ich mich selber und schaute mich selber als den, der diesen Menschen gemacht hat; so bin ich Ursache meiner selbst nach meinem zeitlichen und nach meinem ewigen Wesen. Nur was ich als zeitliches Wesen bin, wird zunichte werden." (16)
Wenn das ursprüngliche und letzte Wesen also aus seiner eigenen Göttlichkeit heraus lebt und sich der Existenz bemächtigt, dann ist die Einheit vollbracht und aller Gegenstand vernichtet.
    "Solange die Seele einen Gott hat oder erkennt, ist sie getrennt vom göttlichen Wesen, das ihr eigen ist." (17) "Daß Gott Gott heißt, hat er von der Kreatur; da die Seele kreatur war, da erst hatte sie einen Gott." (18)
Erst wenn die Seele aus der Kreatürlichkeit ausgeht, das äußere Sein abtut, wird sie dazu eingesetzt, "keinen Gott mehr zu haben" (19) und nur im Geschehen des Göttlichen zu sein, das ihr innewohnt. Sie findet, daß "sie selber der Grund ist, den sie außer sich gesucht hatte".
    "Was wir von der ersten (Ur)sache verstehen, das sind wir mehr selber, als daß es die erste (Ur)sache wäre." (20) "Da stand ich in meiner ersten Ursache, da hatte ich keinen Gott: ich gehörte mir selber. Ich war ein bestimmungsloses Sein und ein Erkenner meiner selbst in göttlicher Wahrheit. Da wollte ich mich selber und wollte kein Anderes." (21) "Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht." (22)
Gott, bloß wie er GOtt ist, ist nicht das Endziel und nicht die Wesensfülle, wie sie das gesamte Menschliche in Gott hat (23). Die Einheit des Wesens, in der das Menschliche und das Göttliche eins sind und ohne "Gott" in einem gemeinsamen Leben, dem Geschehen der Einheit in einem göttlichen Leben, diese Einheit, aus der Gott und die Seele hervorgeht, ist keine begriffliche Eins, sondern das Eine wird durch das gesamte Wesen vollbracht, in einem Einheitwerden, dem ewigen Leben der Einheit.


3. Über das Erkenntnisproblem im
deutschen Mystizismus (Eckeharts).

Meister ECKEHART hat in seiner ersten Periode die passivistische Erkenntnistheorie der Scholastik völlig übernommen, um damit das Problem der Einheit von Seele und Gott durch das Erkennen zu lösen. (Dabei konnte der leidenschaftliche Realismus eine Intensivierung der Gottvereinigung bieten, wie sie im Kult als Mysterium bestand.)

Die Spezieslehre, die sich ihm zeitgemäß darbot, ist die scholastische Theorie, daß in der erkennenden Seele eine "species" (gleich Ähnlichkeit) des Gegenstandes entsteht, weil die Seele als reine Empfänglichkeit, als Spiegel, die Einwirkung der äußeren Gegenstände erfährt und sich unter dieser Einwirkung in die Form der Gegenstände umwandelt. In der Anwendung des aristotelischen Satzes, daß alles wird, was sie erkennt, auf die Gotteserkenntnis trat der passivistische Charakter dieser Theorie hervor, in dem das formgebene Erkennen in ein formempfangendes Erkennen völlig überführt wurde. Das Göttlich war kein Gegenbild der Seele, indem das Göttliche mit dem Göttlichen gebildet wird, sondern die Seele war das Gegenbild des Göttlichen, nach dem sie geformt wurde. Das Göttliche (in dessen Ebenbild die Seele erschaffen ist) kann als die der Seele allein eigentümliche Form sie restlos nach sich formen; denn wie die Dinge sich im Erkennen in meine Spezies verwandeln, so verwandelt sich die Seele in Gottes Spezies. Die Seele ist der Spiegel, in dem sich Gott erkennt und ist in der Gotteserkenntnis Gottes ein Erkennen von sich selber, da die gotterkennende Seele gottförmig geworden ist. Weil die Seele im Erkennen in Gottes Sein übergeht, entspricht sie dem Sohn, in dem sich Gott erkennt. In dieser Vereinigung von Erkennendem und Erkanntem, in dieser Verwandlung des Erkennens in das Sein ist theoretisch eine Lösung gefunden, durch die die Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem, wie sie im mystischen Erleben erfahren wird, erklärt werden kann. In der Erkenntnistheorie blieb also der Mystizismus in scholastischen Bahnen, ohne seine wesentlich verschiedenen Konsequenzen zu beachten; denn nur einer Glaubenslehre konnte eine passivistische Theorie genügen, da das Göttliche sich zum Menschlichen verhielt, während im Mystizismus doch das Verhalten des Menschlichen zu begründen war, das durchaus aktivistisch anzusehen ist, wie ich es im vorigen Kapitel darzustellen versucht habe.


4. Zur Kritik des deutschen Mystizismus
(Eckeharts)

Meister ECKEHART hat die Lehre vom Fünklein und dem Einheitwerden in einer zweiten Periode ausgebildet, in der das Bestreben, durch das Denken gleichsam das Erleben wieder haben zu können, deutlich hervorbricht und seine anfänglich rein scholastischen Spekulationen verdrängt, wenn auch sein System durchaus scholastischen Charakter trägt, wie es die Anlehnung an die zeitgenössische theoretische Philosophie bedingt.

Ich habe die Darstellung der Lehre des Mystischen, des Mystizismus oder der Mystik, vorweggenommen, weil sie eigentlich, als Erlebnislehre, untrennbar mit dem Erleben verbunden ist, und knüpfe nun die kritische Überlegung an, um die Unterscheidung der Mystik von der Theologie und späterhin vom Glauben vorläufig festlegen zu können.

Wenn das Mystische in das Theoretische übertragen wird, so entsteht als Kompromiß eine "mystische Philosophie und Theologie", die notwendig zu einer unangemessenen und verfehlten Rationalisierung des irrationalen Erlebens in Begriffen wird, (24) weil es kein "System" der Mystik im Christentum geben kann; denn die deutsche Mystik erscheint nur, als Ergänzung der christlichen Theologie, Kommentar und Allegorie der christlichen Lehre zu bieten, indem sie sich an die ihr wesensfremde Theologie anlehnt. Gegenüber der indischen Mystik, in der allein die Verwirklichung eines rein mystischen Systems aus sich heraus gegeben ist, erscheint die deutsche Mystik als eine "sekundäre Mystik", als ein Derivat der christlichen Theologie, in der ein übernommenes Begriffssystem der Erlebnislehre aufgepropft ist. Die Systematisierung des religiösen Erlebens wird "dogmatisch" (und wie eine häretische Analogie zur kirchlichen Lehre), wenn als die Grundform der "Dogmatik", wie SCHLEIERMACHER sagt, "die Beschreibung menschlicher Zustände", ihre Erklärung und Übertragung angesehen wird.

Solange die Erlebnislehre ausschließlich eine Darstellung und Anleitung des Erlebens bleibt, in der unverhüllt von geschichtlichen Symbolen und Dogmen, nur eine nachträgliche Übersetzung der Ekstase (oder Konfession) vorliegt, sind die Begriffe gleichsam nur zur Verdeutlichung und Anordnung gedacht, wie auch Visionen und Prophetien nur Beglaubigungen einfügen. Eine strenge Scheidung von Lehre und Methode oder Theorie und Technik wie bei der Theologie ist bei der Beschränkung und Bedingtheit der bloß angedeuteten und bildhaften Begriffe unstatthaft. Wenn diese sozusagen "phänomenologische" (und "axiologische") Lehre (REISCHLE) aber zu einem philosophischen System entwickelt werden soll, so übernimmt sie eklektisch Methoden der Begriffsdistinktionen von einer Spekulation, die ihr wesensfremd ist, und gerät in eine bedrohliche Nähe zur rationalistischen Metaphysik. Denn im Mystizismus lebt das Wesensgeschehen im Subjekt in der fortgesetzten Reflexion dieser "Wirklichkeit" im Subjekt fort, während der Rationalismus nur im Absehen vom Wesensgeschehen ein fingiertes objektives Subjekt in der Urwirklichkeit (d. h. Losgetrenntheit) betrifft.

Das Erleben wird in das Erkennen überführt, und das Erkennen soll von sich aus auch bis zur Einheit gebracht werden, die das Erleben unmittelbar besitzt. Diese Art Spekulation ist antizipierend, darum ist sie eigentlich ohne die logische Fortentwicklung und dialektische Vermittlung einer Scholastik, die die Einheit schließlich erst am Ziel besitzt, da sie von vornherein am Ziel ist und den Weg sozusagen nur nachholt. Das Erleben der Einheit soll im Erkennen bis zur Einheit wiederholt oder ersetzt werden. Das theologische System der intellektuellen Reflexion hat einen vorletzten Charakter, da die unendliche Reflexion eben nur in der Lostrennung vom Erleben zum Ziel kommt, während das mystizistische System der intuitiven und emotionalen Reflexion von Anbeginn am Ziel ist. Das mystische Erleben kann jedoch zu einer vorläufigen Methode oder Technik, als der "Basis für ein theologisches System", (25) werden. Die Meinung KARL MÜLLERs aber: "Mystik ist die Frömmigkeit aller Scholastik, und die Theologie der Mystik ist immer Scholastik" (26), erscheint nur als eine Verallgemeinerung der Tatsache, daß der deutsche Mystizismus sich in gewissen Teilen nicht von der Scholastik, deren Begriffsapparat er benutzt, trennen läßt (27). BACH behauptet, daß die Gegenüberstellung von Scholastik und Mystik eine leere Fiktion ist, da wohl die Methode von beiden verschieden, der Inhalt aber derselbe ist. (?) (28) Indem die substantielle Gottvereinigung im mystischen Denken als eine Vergedanklichung des Kultes erscheint, konnte ERNST TROELTSCH sagen, "die Mystik setzt die Objektivierungen des "religiösen Lebens" in Kulten, Riten, Mythen oder Dogmen voraus", (29) (wobei er unter "religiösem Leben" die religiösen Leistungen sozialer Art und als deren Objektivierung die sogenannte "religiöse Kultur" versteht); "sie sei nur eine Reaktion, die die Vergegenständlichung im Erleben zurücknehmen oder ergänzen will". Der deutsche Mystizismus ist allerdings in seiner Breite des Systems etwas "Sekundäres", nur eine Umdeutung und Ergänzung von Mythos und Dogma, und bedeutet im Rahmen der eigentlichen "Religion" kein selbständiges Prinzip, keine Revolutionierung von Grund auf, sondern im Großen und Ganzen einen Reformversuch. Prinzipiell aber ist der Mystizismus nicht an eine bestimmte Theologie gebunden; er vermag sich mit beliebigen zu konglomerieren, indem das Mystische in der begrifflichen Übersetzung die traditionelle Theologie benutzt und doch zugleich in einer "negativen Theologie" zersetzt, (im Christlichen unter dem Einfluß plotinischer und "aeropagitischer" Schriften gegenüber den aristotelischen) (30). Der Mystizismus steht in einem gewissen Gegensatz zur Kirche als eine individuale gegenüber der universalen "Religion", und tritt der kirchlichen Theologie gegenüber mit dem Anspruch auf, die Religionsphilosophie zu geben, da doch das Mystische als das Gemeingut aller Religion, als deren Begründung und Auflösung betrachtet werden kann. (Durch die negative Theologie ist jedoch eine religiöse Grundlage bewahrt, indem durch eine "materiale Negation" die Allgemeingültigkeit der "formalen Voraussetzung" der Religion und Theologie erschlossen wird.) (31) Die Gleichförmigkeit des mystischen Erlebens gestattet eine weite Verwendbarkeit und Einordnung als Erleben und Verfahren, denn das Mystische ist als Grundtrieb aller Religion geschichtlich indifferent, nicht aber seine Lehren (32). Es handelt sich nicht um eine praktische "Frömmigkeit" (mit ethischem Charakter), sondern um das grundlegend religiöse Erleben, während die Frömmigkeit nur in einem bereits bestehenden religiösen Kult oder Lebensritus möglich ist. Darum ist die Mystik auch keine "prononcierte Stufe katholischer Frömmigkeit" (33), diese Verwechslung beruhte auf der Gleichsetzung: asketisch und katholisch, denn sie ist "vor allem nicht konfessionell oder national geschieden; die Differenzen betreffen nur das Maß, die Art oder die Energie ihrer Anwendung, oder das Vorwalten der Einstellung auf den Intellekt oder auf den Willen; die Mystik ist immer dasselbe." (34)


5. Mystik und Pantheismus

Die Theologie des THOMAS hatte in der Logoslehre den Streit der antiken kosmologischen Philosophie und der christlichen Seelenheilslehre geschlichtet. Denn die Gleichsetzung des Sohnes und des Logos ergab die Möglichkeit, den göttlichen Selbsterkenntnisprozeß in der Seele und dem intelligiblen Kosmos zugleich darzustellen, in einer metaphysischen Übersetzung und Nachahmung des seelischen Erlebens. Die Transzendenz des Göttlichen aber blieb gewahrt, indem das göttliche Geschehen, begriffen als das göttliche Selbsterkennen in den Personen oder Potenzen, im Göttlichen verblieb und in der Schöpfung der Zusammenhang von Seele und Welt mit Gott gegeben war. Die Theologie erkannte das immanente Geschehen in der göttlichen Transzendenz an, da Gottvater und Gottsohn nicht nur als zwei logische Momente, sondern als zwei reale Peronen in der Gottheit bestanden; das Sich-selbst-denken und Gegenüber-stellen des Göttlichen bedeutete ein Schaffen, das ein In-sich-Schaffen war, indem die Einheit die Vielheit umgriff und einbegriff. Denn durch das Dogma der göttlichen Welterhaltung nahm THOMAS eine Gegenwart und Einwirkung der göttlichen Substanz in den Dingen an.

Indem der Mystizismus die Immanenz des Erkennens auf das seelische Geschehen als ein göttliches Geschehen übertrug und den Schöpfungsbegriff umzuwandeln versuchte, behauptete er die absolute Immanenz, in der die Transzendenz der Seele ein Moment der Immanenz der Seele in sich selber war. Wenn SCOTUS ERIGUENA den Satz aufstellte, daß Gott sowohl schafft, wie geschaffen wird, indem er sich selbst erschafft, so heißt dies auf das Wesen oder die Seele übertragen, daß die Seele (dargestellt als die Potenz der göttlichen "Natur") gotterschaffend und gottgeschaffen ist, weil sie sich nur in sich selbst enthalten und entfalten kann. Die göttliche "Natur", das "Urbild der Seele" (35), ist die absolute Seele, in der das "Werden" Gottes in Gott, des Wesens in der Wesenheit, der Einheit in die Geeintheit geschieht. Sie bildet die durchgehende Einheit als eine Einheit im Geschehen, als ob sich im Schoß des Einen in der Seele ein vielheitliches Leben und Erkennen entfaltet und in es zurückkehrt, so daß doch das Eine nicht aus sich heraustritt, vielmehr die Seele in dem vielen Leben, in dem sie sich entfaltet und gegenüberstellt, in einem Geschehen sich zu einem göttlichen Leben vollendet. Die Seele oder das Wesen stellt sich in einem schöpferischen Geschehen sich selbst gegenüber als ein Geschaffenes, Gegenständliches, ohne daß eine Trennung in der Einheit der absoluten Seele bestände, die als die Einheit im Grund und Anbeginn in der Geeintheit der Vollendung ein in sich geschlossenes Geschehen darstellt. Indem die Ganzheit in einem absoluten Leben gewonnen ist, hat die Seele das selbstschaffend veräußerte und selbsterschaffen wieder Hineingenommene umgriffen und einbegriffen in einem Geschehen, das dem göttlichen Geschehen analog ist.

Der Mystizismus ist eigentlich ein Akosmismus, er stellt die Einheit des Lebens und nicht der Welt dar, darum konnte nur durch eine Angliederung der emanatistischen Stufenlehre (der Gnosis) das göttliche Geschehen in der Welt erklärt werden. Emanation [Ausfließen - wp] und Regressus [Rückkehr - wp] bedeuten dann als reale und "rationale" Vorgänge des Göttlichen den Hervorgang in die Welt und den Rückgang aus der Welt. Damit sollte die Vereinigung von Welt und Gott in einer gegliederten Einheit der abgestuften Seinsreihe dargestellt werden, in der die verselbständigten und gleichsam zum Stillstand gekommenen Dinge als Ausstrahlungen sich wieder zu dem "Urlicht" zurückwenden und darin vernichten. Diese Erklärung des Geschieden- und Enthaltenseins in Gott, das Denken der verbleibenden Identität gilt wieder als religiöses "Erlebnis". In der Angleichung also an die religiös orientierte Darstellung des seelischen Geschehens als des "Werdens Gottes in Gott", behauptete dieser Panentheismus [alles in Gott; immanent und transzendent - wp] ein weltliches Geschehen, indem die Wesenheit der Dinge (nicht die Dinge selbst) in Gott enthalten sind und sich aus ihm entfalten. In der Entwicklung dieser Lehre von ERIGUENA bis zu BRUNO kam der Unterschied zum Mystizismus mehr und mehr zum Vorschein, da der Mystizismus wesentlich die Rückkehr der Seele in Gott (analog der Dinge) verlangte, der Pantheismus [Identität von Gott und Natur - wp] aber nur die Erklärung der Entfaltung darbot, die an die Stelle des Schöpfungsgedankens trat. Darum, weil in der Entfaltung Gott sozusagen in den Dingen entschwand, und in der unmittelbaren Einheit von Dingwelt und Gott ein zurückgezogenes Sein Gottes unmöglich war, zeigt sich bei BRUNO jene schwankende Haltung zum Mystizismus, der rudimentär beibehalten oder herangezogen wurde, indem er doch wieder eine Einheit, die Alles ist, annahm, die nicht entfaltet ist, und namentlich die Rückkehr der Dinge betonte (in jedem Wesen ist ein Funke aus dem Urlicht und sehnt sich nach der Wiedervereinigung mit ihm.) (36)

Somit hat der Mystizismus den Panentheismus aufgenommen, um späterhin in den Pantheismus einzuwirken, doch ist die kosmologische Lehre eine Angliederung, die ergänzend, aber nicht wesensbestimmend und -verändernd ist. Die ganze Frage läßt sich auf den Konflikt von religiösem und philosophischem Denken zurückführen und wird in dem Maße verworren, in dem "Wesen" zugleich für esse [Sein - wp] und essentia gebraucht wird und eine Gleichsetzung von Ding und Seele angenommen ist. (37) Dabei entspricht das philosophische "Sein" dem religiösen "Wesen" und kann also gleicherweise von einem Sein und Wesen des Göttlichen gesprochen werden; die Verwechslung Dasein und Sein, d. h. faktisches und ideelles Sein, spielt im ganzen Pantheismus (bis auf SPINOZA) daneben noch hinein, wie es am Begriff des "vollendeten Seins", der göttlichen Wesenheit deutlich wird.

LITERATUR Gottfried Salomon, Beitrag zur Problematik von Mystik und Glaube, Straßburg/Leipzig 1916
    Anmerkungen
    1) vgl. WINDELBAND, Das Heilige, Präludien, Seite 305
    2) "Beziehung" meint kein Verhalten zu einem gegenüberstehenden, für sich seienden Gegenstand und Gegenpart, sondern die Beziehung bleibt in der Innerexistenz und ist eigentlich ohne Gegenpart im Wesen, während die Beziehung im Theoretischen gerade die zu einer Außenexistenz ist. Die Gegenständlichkeit ist aber keine Fiktion, sondern gleichsam nur die Projektion der Zuständlichkeit, eine Phase der Zuständlichkeit, für die die Bezeichnung innen und außen, gegenüber und entgegen eigentlich nicht zutrifft.
    3) Nach SIMMEL: Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 1901).
    4) Nach SIMMEL: Religion, Seite 44.
    5) RUDOLF EUCKEN, Wahrheitsgehalt der Religion
    6) JOHN CAIRD, Einleitung in die Religionsphilosophie, Seite 291-99.
    7) Wobei unter "Geschehen" der Schöpfungsprozeß des Göttlichen und kein Werden, dem ein Nicht-Sein vorangeht, verstanden ist.
    8) Vgl. zu dieser Darstellung BUBERs Gesammelte Schriften: "Vom Geist des Judentums", Einleitung zu Ekstatische Konfessionen.
    9) PLOTIN V Enneaden B. 8
    10) siehe SPAMER, Texte aus der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, 1912, Seite 114.
    11) ECKEHART: B I 165, II 113
    12) ECKEHART: B I 100.
    13) Nach FICHTE: Anweisung zu einem seligen Leben
    14) B I 100, vgl. I 136.
    15) B I 173.
    16) B I 176.
    17) B II 203.
    18) B I 172.
    19) B I 198.
    20) SPAMER, a. a. O., Seite 96.
    21) B I 171.
    22) B I 176.
    23) B I 172.
    24) SERGIUS HESSEN, Mystik und Metaphysik, Logos II, 1.
    25) Nach DELACROIX: Sur le mysticisme spéculatif en Allemagne au XIVe siécle.
    26) KARL MÜLLER, Kultur und Gegenwart, Bd. IV, Seite 278, ähnlich W. HERRMANN: Verkehr der Christen mit Gott, Seite 100.
    27) Vgl. DENIFLE, Meister Eckharts lateinische Schriften im "Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mittelalters, Bd. II, Seite 526 und HARNACK: Dogmengeschichte, Bd. III, Seite 314.
    28) siehe BACH: Meister Eckehart, Einleitung.
    29) siehe ERNST TROELTSCH: Soziallehren, Seite 850.
    30) Über den Einfluß des HIEROTHEOS (Stefan bar Sudalli), des "Aeropagiten", auf die christliche Mystik vgl. besonders ADALBERT MERX
    31) Nach HESSEN, a. a. O.
    32) vgl. JAMES-WOBBERMIN, Einleitung, Seite XVII und Seite 396.
    33) RITSCHL, Geschichte des Pietismus
    34) HARNACK, Dogmengeschichte, Bd. III, Seite 373.
    35) B II 196
    36) GIORDANO BRUNO, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Seite 77
    37) vgl. DENIFLE, a. a. O., PREGER, Geschichte der deutschen Mystik, Bd. I und II, BACH, besonders Seite 65 und 171.