ra-2R. EuckenKierkegaardAugustinus    
 
JULIUS BAUMANN
Die klassische Moral
des Katholizismus


"Habsucht, infolge deren der Mensch mehr, als er soll, äußere Güter erwirbt oder behält, ist direkt Sünde gegen den Nächsten, weil bei den äußeren Gütern ein Mensch nicht Überfluß haben kann, ohne daß ein anderer Mangel hat, da zeitliche Güter nicht gleichzeitig von vielen besessen werden können."

"Von einem Wert der Arbeit als solcher, etwa als Entwicklung der eigenen künstlerischen oder technischen Begabung des Menschen oder als schlechthin gemeinnützig, ist nicht die Rede, nur um der eigenen Notdurft willen oder in besonderen Fällen um fremder Notdurft abzuhelfen, braucht der Mensch zu arbeiten."

Die klassische Moral des Katholizismus ist keineswegs die jesuitische. Die Jesuiten haben die katholische Moral bereits vorgefunden und sich bloß durch eine laxe Anwendung derselben einen Namen gemacht. Wissenschaftlich festgestellt war die katholische Moral durch denselben Mann, der überhaupt der katholischen Weltansicht ihr geschlossenste Gestalt gegeben hat, durch THOMAS von AQUIN, den großen Theologen und Philosophen des 13. Jahrhunderts, welcher, weil er eben der klassische Ausdruck der katholischen Doktrin ist, 1567 vom Papst zum 5. Kirchenlehrer erklärt wurde, und dessen Hauptwerk, die  Summa theologica,  in der Marienkirche zu Trient in den Tagen des großen Konzils neben der heiligen Schrift und den Dekreten der Päpste und Konzilien auf dem Altar aufgestellt war. Da das Eigentümliche der katholischen Moral noch nicht überall genügend erkannt ist, so lohnt es sich wohl der Mühe, die Grundzüge derselben nach dem Hauptwerk des Aquinaten, der  Summa theologica,  möglichst mit den Worten des Schriftstellers selbst darzustellen. Das Eigentümliche dieser Moral wird umso deutlicher hervortreten, wenn wir am Schluß kurz die Hauptgedanken der protestantischen Moral und etwa nach die der Moral KANTs und SCHLEIERMACHERs neben sie stellen, weil die beiden letzteren mit ihren ethischen Ansichten in der Neuzeit verhältnismäßig den größten Eindruck gemacht haben.

Nach THOMAS streben alle Menschen nach einem vollkommenen Gut oder danach, daß ihre eigentümliche Vollkommenheit ganz erreicht wird, aber was dieses höchste Gut, ihr letzter Endzweck sein soll, darüber ist eine Verschiedenheit der Ansichten obwaltend. Es lassen sich jedoch einige Merkmale als im Begriff des höchsten Gutes liegend aufstellen:
    1. das höchste Gut kann nicht irgendein Übel in sich haben;

    2. wer es erreicht hat, dem darf kein notwendiges Gut mehr fehlen;

    3. aus ihm darf sich nicht irgendein Übel als Folge ergeben;

    4. da der Mensch von Innen aus nach dem höchsten Gut strebt, so kann die Erreichung desselben nicht von äußeren und zufälligen Ursachen abhängen.
An diese Merkmale gehalten, ergibt sich, daß das höchste Gut nicht in Reichtum, Ehre, Ruhm und Macht bestehen kann, was auch noch durch besondere Gründe bei den einzelnen dieser vier gezeigt wird. Auch in den leiblichen Gütern kann das höchste Gut, die Seligkeit nicht bestehen; denn nicht der Mensch ist das höchste Gut; der menschliche Körper ist ja ein Mittel für die Seele, welche nicht abhängt vom Körper. Auch in der Lust kann das Gut des Menschen nicht bestehen; denn alle Freude (delectatio) ist ein eigentümlicher Nebenumstand (quoddam proprium accidens), welcher sich als Folge erst anschließt an die Seligkeit oder einen Teil von ihr, daher ist auch die Freude, welche mit dem vollkommenen Gut verbunden ist, nicht eigentliche Wesen der Seligkeit, sondern eine Folge von ihr. Die körperliche Lust insbesondere aber kann nicht das vollkommene menschliche Gut sein, denn sie wird durch die Sinne genossen, welche stets auf Endliches gehen, dagegen hat die vernünftige Seele, welche an kein Körperorgan gebunden ist, eine gewisse Unendlichkeit an sich im Verhältnis zum Körper und den an den Körper gebundenen Seelenteilen; der Verstand erkennt daher allein das Allgemeine, welches getrennt von Materie ist und unendlich viel Einzelnes unter sich befaßt. Das Gut des Menschen kann schließlich nicht die Seele selbst oder etwas von ihr sein. Denn
    1. ist die Seele selbst zunächst entwicklungsbedürftig, das höchste Gut aber muß in sich vollendet sein,

    2. geht der Wille auf ein allgemeines, universales Gut, in der Seele aber ist alles ein Einzelnes.
Das höchste Gut muß also etwas außerhalb der Seele sein, aber sehr wohl kann der Mensch  durch seine Seele  das höchste Gut erreichen. Das höchste Gut außer dem Menschen, was er aber durch seine Seele erreichen kann, kann aber auch nichts Geschaffenes sein. Denn wie der Verstand des Menschen auf die universale Wahrheit geht, so geht sein Wille auf das universale Gut. Das universale Gut, was allein den Willen des Menschen befriedigen (quietare) kann, ist somit Gott allein. Die höchste Vollkommenheit des Menschen ist daher diejenige Betätigung, durch welche er mit Gott verbunden wird. Diese Betätigung kann nicht eigentlich in einem Akt des Willens bestehen. Denn die Seligkeit ist die Erreichung des Endzwecks, die Erreichung eines Endzwecks aber besteht nicht im bloßen Akt des Willens. Der Wille Geld zu haben gibt noch nicht den Besitz des Geldes, so ist auch das Wille das höchste Gut zu haben, noch nicht der Besitz desselben, sondern es muß uns dasselbe erst präsent werden durch einen Akt des Intellekts, gerade wie das Geld uns präsent werden muß dadurch, daß man es mit der Hand oder etwas der Art erfaßt. Das Wesen der Seligkeit besteht somit in einer Tätigkeit des Verstandes. Der Wille selbst ist nicht die Erreichung des Ziels, sondern die Bewegung zum Ziel hin, und ihm gehört dann wieder die Freude an, welche sich an die erreichte Seligkeit anschließt. Ferner besteht die Seligkeit mehr in der Tätigkeit des spekulativen, auf Wissen abzielenden Verstandes, als in der des praktischen Verstandes.
    1. Die Seligkeit als das Höchste muß sich anschließen an das Höchste im Menschen, seine beste Anlage aber ist der Verstand, dessen bestes Objekt Gott (bonum divinum) ist.

    2. Die Betrachtung (contemplatio) ist hauptsächlich Selbstzweck, die Betätigungen des praktischen Verstandes haben ihren Zweck außerhalb ihrer selbst.

    3. Im betrachtenden Leben hat der Mensch Gemeinschaft mit den Wesen über ihm, nämlich Gott mit den Engeln, welchen er durch die Seligkeit verähnlicht wird, aber in dem, was zum aktiven Leben gehört, haben auch die Tiere gewissermaßen mit dem Menschen Gemeinschaft, wenngleich in unvollkommener Weise.
Daher ist die Seligkeit im Himmel ganz Kontemplation, die unvollkommene irdische besteht zwar primär und prinzipiell in der Kontemplation, sekundär aber in der Tätigkeit des praktischen Verstandes, welcher die menschlichen Handlungen, Affekte und Leidenschaften zu regeln hat. Die vollkommene Seligkeit kann jedoch nicht eigentlich in der Betrachtung der theoretischen Wissenschaften bestehen; denn die Prinzipien der theoretischen Wissenschaften werden durch die Sinne gewonnen, diese Prinzipien können somit auch nur zu einer Erkenntnis des Sinnlichen führen. Das Sinnliche liegt aber unterhalb des Menschen, kann ihn also nicht vervollkommnen, d. h. höher bringen. Die Vollkommenheit des Menschen muß somit in einer Erkenntnis bestehen, welche über dem menschlichen Verstand liegt. Jedoch gewährt die Erkenntnis der theoretischen Wissenschaften eine gewisse Teilnahme an der wahren Seligkeit, sofern in den sinnlichen Kräften eine Ähnlichkeit mit höheren Wesen liegt. Selbst die Betrachtung der reinen Geister (gemeint sind die Engel, welche nach mittelalterlich-aristotelischer Anschauung die Weltkörper in ihren regelmäßigen Bahnen herumführen), auch sie ist nicht die vollkommene Seligkeit des Menschen; denn diese reinen Geister haben ihr Sein bloß durch die Teilnahme an einem Andern. Es bleibt somit bloß Gott als die Wahrheit schlechthin und ansich; Gott schauen macht vollkommen selig. Nur die Erkenntnis der ersten Ursache nach ihrem eigentlichen Wesen kann den Erkenntnistrieb befriedigen. Daher besteht die Seligkeit des Menschen in der Einigung mit Gott als dem Gegenstand seiner Seligkeit. Diese Seligkeit kann nicht sein ohne richtigen Willen:
    1. ist der richtige Wille ein erforderliches Mittel zum Zweck,

    2. sofern Gott das schlechthinnige Gut ist, muß der Wille dessen, der Gott schaut, notwendig alles, was er liebt, in Bezug auf Gott lieben.
Was dieses weltliche Wissen betriff, so ist es verkehrt, wenn der Mensch strebt, die Wahrheit über die Geschöpfe zu erkennen, ohne dieselbe auf die Erkenntnis Gottes zu beziehen. Durch die Wirkungen Gottes werden wir zur Betrachtung Gottes geführt; daher gehört auch die Erkenntnis der Wirkungen  sekundär  zum kontemplativen Leben, nämlich sofern der Mensch dadurch zur Erkenntnis Gottes geleitet wird.

Das Resultat ist somit: des Menschen Aufgabe und Vollkommenheit besteht in der Erkenntnis Gottes, aber nicht eigentlich in der wissenschaftlichen, sondern in einer, welche noch über diese hinausliegt. Diese Erkenntnis Gottes und damit die Seligkeit kann im gegenwärtigen Leben nur teilweise erreicht werden. Die Vollkommenheit in beiden kann der Mensch auch nicht durch seine natürlichen Kräfte erlangen; denn Gott nach seinem Wesen schauen geht über die Natur nicht bloß des Menschen, sondern jeglichen Geschöpfes; jene Vollkommenheit kann daher nur durch übernatürliche Kräfte und Mittel - gemeint ist die Gnade in den Sakramenten - erworben werden. Aus diesem Resultat ergibt sich als zweiter Hauptpunkt der Satz, daß das beschauliche oder kontemplative Leben, die Sach ansich betrachtet, besser ist als das aktive, d. h. in Geschäften und äußeren Tätigkeiten verlaufende. Die Beweise werden genommen aus ARISTOTELES 10  Ethic.  7 und 8 und aus allegorischen Auslegungen von Bibelstellen, die Hauptstelle ist immer  Martha  und  Maria Luc. 10, 43.  Unter gewissen Umständen ist jedoch das aktive Leben vorzuziehen, wegen der Notdurft des gegenwärtigen Lebens.

Wenn also die Aufgabe des Menschen ist, durch übernatürliche Mittel sich zu einer übernatürlichen Erkenntnis Gottes vorzubereiten, und das kontemplative Leben darum besser ist als das aktive, welche weitere Folgerungen ergeben sich daraus für THOMAS und zwar so, daß er sie auch selber in seinen Schriften gezogen hat? Da alles auf die Erkenntnis Gottes bezogen ist, so beziehen sich auch hierauf die drei theologischen Tugenden, durch welche der Mensch zur übernatürlichen Seligkeit geführt wird. Der  Glaube  gibt dem Intellekt gewisse übernatürliche Prinzipien, die im göttlichen Licht gefaßt werden; die  Hoffnung  gibt dem Willen die Kraft des Strebens und die Überzeugung von der Erreichbarkeit des Ziels; die  Liebe  bezieht sich auf eine gewisse geistliche Einigung, durch welche er (der Wille) gleichsam in jenes Ziel transformiert wird. Die Liebe ist eine Art von Freundschaft zu Gott. Gott ist zugleich der Grund der Nächstenliebe: denn das müssen wir am Nächsten lieben, daß er in Gott ist (ut in deo sit). Gottes wegen ist der Nächste zu lieben, jede andere Liebe wäre tadelnswert. Die Nächstenliebe gründet sich auf die Gemeinschaft der ewigen Seligkeit; da die unvernünftige Kreatur dieser nicht fähig ist, so erstreckt sich auf diese die Liebe nicht. Es gibt eine Abstufung der Liebe. Hauptsächlich und zumeist in Gott zu lieben, denn ihn liebt man als die Ursache der Seligkeit. Der Mensch muß (debet) sodann sich selbst nächst Gott mehr lieben als jeden anderen; denn er liebt sich kraft der Liebe zu Gott als teilhaftig des höchsten Gutes, welches Gott ist, der Nächste aber wird geliebt als Genosse in jenem Gut. Somit liebt die Liebe Gott unmittelbar, etwas anderes aber durch die Vermittlung Gottes. Wir sollen den Nächsten lieben wie (sicut) uns selbst, d. h. nicht gleich (aequaliter) uns, sondern ähnlich (similiter) wie uns.
    1. Uns selbst müssen wir in Beziehung auf Gott (propter deum) lieben, so also auch den Nächsten.

    2. Uns selber dürfen wir nur den Willen erfüllen im sittlich Guten, so also auch dem Nächsten.

    3. Wir sollen dem Nächsten Gutes wollen, wie wir es uns selbst wollen, also ihn nicht bloß lieben als Mittel für unseren Nutzen oder unsere Ergötzlichkeit.
Die Liebe besteht somit principaliter in der Liebe zu Gott, sekundär in der Liebe zum Nächsten, zu welcher Nächstenliebe erfordert wird dem Nächsten Gutes zu wollen und zu tun. Ansich und wesentlich besteht die Vollkommenheit christlichen Lebens in der Liebe, und zwar principaliter in der Liebe zu Gott, sekundär in der Liebe zum Nächsten. Demgemäß sind die theologischen Tugenden, durch welche man Gott an sich anhängt, vorzüglicher als die moralischen Tugenden, durch welche man etwas Irdisches verachtet, um Gott anzuhängen. Wer ungehorsam ist dem Gebot der Liebe Gottes, sündigt schwerer, als wer ungehorsam ist dem Gebot der Nächstenliebe. Die zehn Gebote beziehen sich alle auf die Gerechtigkeit. Die drei ersten handeln von der religiösen Betätigung, welche der vorzüglichste Teil der Gerechtigkeit ist; das vierte Gebot geht auf die Betätigung der Pietät [Rücksicht auf religiöse Werte - wp], welche der zweite Teil der Gerechtigkeit ist; die anderen sechs beziehen sich auf die Gerechtigkeit im gewöhnlichen Sinn als ein Verhältnis unter Gleichen. Gott ansich lieben ist verdienstlicher als den Nächsten lieben; da sich das kontemplative Leben nun direkt und unmittelbar auf die Liebe Gottes bezieht, das aktive Leben aber mehr direkt auf die Liebe des Nächsten geht, darum ist das kontemplative Leben von größerer Verdienstlichkeit als das aktive. Für den, welcher jemanden über sich hat, ist es das Größere und Bessere, sich dem Oberen zu verbinden, als den Mangel des Unteren zu ergänzen. Darum ist die Liebe, durch welche der Mnsch mit Gott vereint wird, vorzüglicher als das Mitleid, durch welches er den Mangel des Nächsten ergänzt. Jedoch ist unter allen Tugenden, welche sich auf den Nächsten beziehen, das Mitleid die vorzüglichste. Die Summe der christlichen Religion besteht im Mitleid, was die äußeren Werke angeht; gleichwohl geht die Affektion der Liebe, durch welche wir mit Gott verbunden werden, vor (praeponderat) sowohl der Liebe zum Nächsten als auch dem Mitleid gegen ihn.

Das Höchste ist so in jeder Weise das kontemplative Leben und das unmittelbare Versenken in Gott. Wer das Höchste erreichen will, muß somit auch auf das verzichten, was zwar ansich sittlich erlaubt ist, durch welches aber doch der Mensch daran gehindert werden könnte, daß sein Affekt gänzlich nach Gott strebt, in welchem die Vollkommenheit der Liebe besteht. Es gibt solcher möglichen Hindernisse drei:
    1. die Begierde nach äußeren Gütern,

    2. die Begehrlichkeit nach sinnlichen Freuden,

    3. die Unordnung menschlichen Willens.
Gerade durch diese drei wird die Unruhe weltlicher Sorge besonders dem Menschen zugeführt, nämlich die unruhige Sorge betreffs der Verwaltung äußerer Güter, die Regierung von Frau und Kindern und die Dispositon der eigenen Handlungen. Daß Reichtum durch die mit ihm verbundene Sorge die Ruhe des Geistes hindert, welche für die Kontemplation höchst notwendig ist, dafür wird ARISTOTELES angerufen (10 Ethic. c. 8 ante med.) und geltend gemacht, daß darum auch einige Philosophen des Altertums ihre Reichtümer aufgegeben hätten. Daß der Akt des Geschlechtsgenusses nicht gleichzeitig stattfinden kann mit einem Akt des Denkens, behauptet THOMAS und beruft sich dafür gleichfalls auf eine Stelle der aristotelischen Ethik. Er folgert daraus, daß die Tugend der Keuschheit den Menschen am fähigsten macht zur Kontemplation. Das Größte aber, was der Mensch Gott geben kann, ist der Gehorsam unter einen fremden Willen, weil der eigene Wille noch höher steht als der eigene Leib und die äußeren Güter. Damit ist nach THOMAS erwiesen, daß zur Vollkommenheit christlichen Lebens Armut, Keuschheit und Gehorsam gehört, d. h. das Mönchsleben. Die Ordensglieder werden darum Religiöse par excellence genannt, denn sie widmen sich ganz dem göttlichen Dienst, sie bringen Gott gleichsam ein Ganzopfer, ein  holocaustum  dar. Damit soll nicht gesagt sein, daß Ehe, sich Abgeben mit weltlichen Geschäften und anderes der Art  gegen  die Liebe sei,  gegen  die Liebe sind sie nicht (charitati non contrariantur), aber es sind Hindernisse der Effektivität der Liebe (impedimenta actus charitatis), doch sagt er unumwunden: die, welche in der Welt leben, behalten etwas für sich und geben etwas Gott, die, welche in einem Orden leben, geben sich und das Ihre ganz Gott. Was speziell die Ehe betrifft, so ist der Geschlechtsverkehr in ihr ohne Sünde, sofern er auf die Zeugung abzielt; der Geschlechtsumgang mit der Frau wirft den Geist nicht von der Tugend herab, sondern nur vom Höhepunkt (ab arce), d. h. nach ihm von der Vollkommenheit der Tugend. Um den Bestand der Menschheit zu erhalten, wird auf eine Teilung der sittlichen Arbeit von THOMAS gerechnet; einige werden sich mit der fleischlichen Zeugung abgeben, einige sich dieser enthalten und der Betrachtung des Göttlichen widmen zur Schönheit und zum Heil des ganzen Menschengeschlechts. - Das sind die Folgerungen für Ehe und Ehelosigkeit aus dem Prinzip, des Menschen Aufgabe ist die Betrachtung der göttlichen Dinge, und darum ist das kontemplative Leben vorzüglicher als das aktive. Welches sind die Folgerungen aus demselben Prinzip für die irdischen Güter? Daß es das Höhere ist, auf diese zu verzichten, wurde bereits ausgeführt; man kann aber auch tugendhaft sein nach THOMAS, ohne auf sie zu verzichten, nur nicht so vollkommen. Die näheren Vorschriften für die, welche sich mit Eigentum und Erwerb desselben abgeben, sind folgende. Auch für sie gilt der Satz: principaliter muß unsere Sorge auf die geistlichen Güter gehen, wobei wir hoffen müssen, daß die zeitlichen uns zuteil werden, soweit sie zur Notdurft erforderlich sind, wenn wir getan haben, was wir sollen; also die zeitlichen Güter dürfen nicht als Selbstzweck erstrebt werden. Zweitens wird die Sorge für dieselben unerlaubt durch überflüssigen Eifer, welcher auf ihre Beschaffung gewendet wird, und infolgedessen der Mensch vom Geistlichen, dem er principaliter dienen soll, abgezogen wird. Drittens wird sie unerlaubt durch überflüssige Furcht; wenn also jemand besorgt, auch wenn er tut, was er soll, möchte ihm doch das Notwendige fehlen: dies wäre gegen den Glauben an die göttliche Vorsehung, welche die Heiden nicht kannten und sich darum hauptsächlich um die Erwerbung zeitlicher Güter bemühten. Diese zeitlichen Güter, welche dem Menschen von Gott zukommen, sind in seinem individuellen Eigentum; was aber ihren Gebrauch betrifft, so sollen (debent) sie nicht ihm allein gehören, sondern auch den Anderen, welche mit ihnen aus dem Teil, welcher für den Besitzer überflüssig ist, unterstützt werden können. Für diese Lehre beruft sich THOMAS auf die Kirchenväter BASILIUS und AMBROSIUS. Habsucht, infolge deren der Mensch mehr, als er soll, äußere Güter erwirbt oder behält, ist direkt Sünde gegen den Nächsten, weil bei den äußeren Gütern ein Mensch nicht Überfluß haben kann, ohne daß ein anderer Mangel hat, da zeitliche Güter nicht gleichzeitig von vielen besessen werden können. Der Überfluß, woraus der Mensch verpflichtet ist, den Armen mitzuteilen, ist so gemeint, daß er erst sorgt für sich und die Seinen und zwar nach Lage und Stand seiner eigenen Person und anderer Personen, für welche zu sorgen ihm obliegt. Doch ist in diesem letzten Punkt eine gewisse Latitude [Ermessensspielraum - wp]; bei allgemeiner Not z. B. ist es löblich zur Abhilfe derselben auch das zu geben, was sonst über die Lebensnotdurft hinaus zum standesgemäßen Leben (ad decentiam status) zu gehören scheinen würde. Aber auch bei der Mitteilung aus unserem Überfluß gilt der Satz: mehr wird der Nutzen des Nächsten beschafft durch das, was sich auf Abhilfe seiner leiblichen Not bezieht, sofern ja das Geistliche vorzüglicher ist als das Leibliche. Es gibt nämlich auch geistliche Almosen, sie werden zusammengefaßt in dem Vers:  consule, castiga, solare, remitte, fer, ora - d. h. Belehrung, Zurechtweisung, Trostsprechen, Sünden gegen uns vergeben, Geduld haben, Beten für Andere; während die leiblichen Almosen sind:  vestio, poto, cibo, redimo, tego, colligo, condo - d. h. Nackte bekleiden, Durstige tränken, Hungernde sättigen, Kranke besuchen, Tote bestatten. Beim Almosengeben ist aber der Mensch nicht gehalten, in der Welt herum nach Dürftigen zu suchen; es ist genug, wenn er an denen, die ihm aufstoßen, das Werk des Erbarmens erfüllt; ferner ist der Mensch nicht verpflichtet, gegen die künftige Not eines Anderen im Voraus zu sorgen, es ist genug, daß er der gegenwärtigen abhilft. Betteln dürfen Alle, Religiöse und Weltliche,
    1. aus persönlicher Not,

    2. zum allgemeinen Besten, z. B. zum Bau einer Brücke oder einer Kirche.
Hierher zieht THOMAS auch das Betteln der Schüler und Studenten (scholares) damit sie sich dem Studium der Weisheit widmen können.

Über die Arbeit, welche ja mit dem Eigentumserwerb in so enger Beziehung steht und zugleich eine Verflechtung in weltliche Angelegenheiten ist, sind die Hauptlehren von THOMAS diese: Unter Handarbeit begreift er alle menschlichen Verrichtungen, durch welche sich Menschen erlaubterweise einen Lebensunterhalt gewinnen, mögen sie mit Hand oder Fuß oder mit der Zunge betrieben werden. Diese Handarbeit ist verordnet in viererlei Absicht:
    1. und hauptsächlich um Lebensunterhalt zu erwerben,

    2. um die Muße wegzuschaffen, aus welcher viele Übel entstehen,

    3. zur Zügelung der sinnlichen Begierden, insofern dadurch der Leib kasteit wird,

    4. um Almosen geben zu können.
Nach dem ersten Gesichtspunkt fällt die Arbeit unter den Begriff einer unerläßlichen Pflicht, soweit sie notwendig ist zu jenem Zweck. Wer daher nichts anderes hat, wovon er leben kann, ist verpflichtet mit den Händen zu arbeiten, welchen Standes er auch sei. Demnach würde, sagt THOMAS ausdrücklich, wer, ohne zu essen, sein Leben weiterführen könnte, nicht verpflichtet sein mit den Händen zu arbeiten. Unter dem zweiten und dritten Gesichtspunkt ist die Handarbeit keine unerläßliche Pflicht, weil auf viele Weisen das Fleisch kasteit und auch die Muße weggeschafft werden kann, z. B. durch Fasten und Vigilien [Stundengebete - wp] und durch Meditationen über die heiligen Schriften und Lobpreisungen Gottes. Und deshalb sind aus diesen Ursachen die Ordensmitglieder nicht verbunden zu Handarbeiten, wie auch die in der Welt Lebenden nicht. Auch unter dem vierten Gesichtspunkt ist die Arbeit keine unerläßliche Pflicht, außer in dem besonderen Fall, daß jemand unerläßlich verpflichtet wäre Almosen zu geben und nicht anderswoher die Mittel bekommen könnte, den Armen zu Hilfe zu kommen; in diesem Fall würden Ordensleute und Weltliche gleichermaßen zu Handarbeiten verpflichtet sein.

Das Ergebnis meiner Darstellung ist: die katholische setzt als die Aufgabe des Menschen schon auf Erden die Kontemplation Gottes und der göttlichen Dinge aufgrund und mit den Mitteln der Kirche. Sie läßt darum das aktive Leben nur als Notbehelf gelten und als das geringere neben dem beschaulichen Leben. Eine volle und ganze Hingabe derer, welche sich dem aktiven Leben widmen, an dieses will sie daher nicht, besonders Eigentum, Erwerb und Arbeit sucht sie gleichsam zu dämpfen und auf das zum Leben Notwendigste herabzudrücken, damit alle freien Kräfte sich der Kontemplation und was dieser dient, direkt zuwenden. Ein emsiges und eifriges Bemühen um Eigentum muß ihr stets als zu große Verflechtung in weltliche Dinge erscheinen und selbst als Mangel an Zutrauen zur göttlichen Vorsehung. Von einem Wert der Arbeit als solcher, etwa als Entwicklung der eigenen künstlerischen oder technischen Begabung des Menschen oder als schlechthin gemeinnützig, ist nicht die Rede, nur um der eigenen Notdurft willen oder in besonderen Fällen um fremder Notdurft abzuhelfen, braucht der Mensch zu arbeiten. In der Ehe endlich ist der Umgang mit der Frau zwar sittlich, aber immer zugleich ein Herabsteigen von der  Höhe  der Sittlichkeit. Mit einem Wort, die katholische Moral ist das Mönchsideal, verquickt mit den Lehren des ARISTOTELES, die außerdem unter den Händen der kirchlichen Theologie von ihrem ursprünglichen Sinn weit abgebogen ist. Denn die Theorie, welche ARISTOTELES als das Höchste preist, ist die wissenschaftliche und philosophische Forschung aufgrund der natürlichen Geisteskräfte des Menschen, und das aktive oder vielmehr praktisch-politische Leben, welches er als das Zweite nach dem theoretischen Leben hinstellt, dämpft er durchaus nicht so herab, wie die katholische Moral es mit dem aktiven Leben tut.

Die Eigentümlichkeit der katholischen Moral wird noch deutlicher, wenn wir das Verhältnis der protestantischen Moral (in LUTHER und MELANCHTON) zur katholischen betrachten. Es ist in der Kürze dieses: Die Höherschätzung des beschaulichen Lebens gegenüber dem aktiven wird durchaus verworfen. Die Apologie der  Augsburgischen Konfession  spricht sich darüber so aus:
    "Dieser ganze Punkt vom Unterschied des Reiches  Christi  und des bürgerlichen Reiches ist durch die Schriften der Unseren mit Nutzen dahin geläutert worden, daß das Reich  Christi  geistlich ist, d. h. im Herzen die Erkenntnis Gottes, die Furcht Gottes und den Glauben, die ewige Gerechtigkeit und das ewige Leben beginnen macht, inzwischen läßt es uns draußen uns der gesetzlichen staatlichen Ordnungen der Völker bedienen, unter denen wir leben, gerade wie es der Arzneikunst, der Baukunst oder der Speise, des Trankes und der Lust uns bedienen läßt. . . . Dieser ganze Punkt der staatlichen Dinge ist von den Unseren so klar gestellt, daß viele treffliche Männer, welche den Staat verwalten oder Geschäfte betreiben, rühmend erklärt haben, sie seien dadurch sehr gefördert worden, während sie vorher, durch die Meinungen der Mönche verwirrt, zweifelten, ob das Evangelium jene bürgerlichen Ämter und Geschäfte erlaube. . . . Das Große am bürgerlichen Leben war durch jene törichten Mönchsmeinungen überaus verdunkelt worden, welche den Schein der Armut und Demut der Teilnahme am staatlichen und wirtschaftlichen Leben weit vorzogen, während doch diese letzteren den Befehl Gottes für sich haben, jene platonische Gemeinschaft keinen Befehl Gottes für sich hat. Das Mönchsleben ist um nichts mehr ein Stand der Vollkommenheit als das Leben des Ackerbauers oder Handwerkers. Denn auch dies sind Stände zur Erwerbung der Vollkommenheit, denn alle Menschen in jeglichem Beruf sollen Vollkommenheit erstreben, d. h. wachsen in der Furcht Gottes, im Glauben, in der Liebe zum Nächsten und in ähnlichen geistigen Tugenden. - (Durch die herkömmliche Auffassung) werden die Gebote Gottes verdunkelt. Diese Werke (Fasten etc.) maßen sich den Titel eines vollkommenen und geistlichen Lebens an, und werden weit vorgezogen den Werken, welche Gott wirklich geboten hat, als da sind Betätigungen eines Jeden in seinem Beruf, Verwaltung des Staates und der Hauswirtschaft, Ehe, Erziehung der Kinder. Diese werden gegen jene Zeremonien als profan erachtet, so daß sie mit Gewissenszweifel von Vielen geübt werden. Es ist eine Tatsache, daß Viele die Verwaltung des Staates und der Ehe aufgegeben und jene Übungen ergriffen haben in der Meinung, sie seien besser und heiliger."
Im große Katechismus bei der Beschließung des Abschnitts über die 10 Gebote heißt es ausdrücklich: außer den 10 Geboten gibt es kein gutes und gottwohlgefälliges Werk; ... die sogenannten geistlichen Werke der Heiligen seien selbsterdachte und willkürliche Werke, um derentwillen sie die von Gott gebotenen hätten fahren lassen als zu leicht und zu gering oder schon längst geleistet.

So sehr aber die Unterscheidung eines höheren und niederen christlichen Lebens von den Reformatoren verworfen wird, so scheint doch ein Bewußtsein vom tieferen Zusammenhang des katholischen Mönchsideals und der Geringschätzung des aktiven Lebens mit einer ganz eigentümlichen sittlichen Grundansicht nicht da zu sein; bloß in der Apologie ist die Anspielung auf PLATO, welche insofern unzutreffend ist, als die Theorie des Mittelalters bei ihrer Höherschätzung des kontemplativen Lebens auf ARISTOTELES zurückgegangen ist, insofern aber auch wieder zutrifft, als die Wendung, welche dem aristotelischen Gedanken gegeben wurde, wesentlich mit dem Neuplatonismus stimmt, der auf mehr als einem Weg so stark in die Kirche eingedrungen war; eine strengere Unterscheidung zwischen PLATO und dem Neuplatonismus hat man aber im Reformationszeitalter noch nicht gemacht.

Wir haben bis jetzt einen Punkt der katholischen Moral noch nicht hervorgehoben. Es sind das die Ausführungen über die Nächstenliebe, die darin gipfeln, daß das Gebot "den Nächsten zu lieben als (sicut) uns selbst" nicht heißt  gleich  uns, sondern  ähnlich wie  uns, und daß die Gottesliebe und die Nächstenliebe nicht in einen notwendigen Zusammenhang gesetzt werden, sondern beide sich wie kontemplatives und aktives Leben verhalten, also die Nächstenliebe hinter der Gottesliebe zurücktritt. (1) LUTHER hat wohl empfunden, daß in der katholischen Fassung der Nächstenliebe eine Alterierung des Evangeliums vorliegt, und sich dagegen erklärt. So sagt er in der Predigt über das Evangelium am Tag der heiligen drei Könige  Matth. 2:  "Item, das Evangelium lehrt, die Liebe suche nicht ihr Eigenes, sondern diene nur dem Anderen. Nun halten sie das Wörtlein  Liebe  wohl und scheiden von ihm alle seine Art, da sie lehren, ordentliche Liebe hebe an sich selbst an und liebe sich am ersten und am meisten." Predigt über die Epistel am 2. Sonntag nach  Trinitatis 1 Joh. 3  heißt es:
    "Da zeiget er (der Text), was die rechte christliche Liebe sein soll, und setzt das hohe Exempel und Vorbild der Liebe Gottes oder Christi (der sein Leben für uns gelassen hat). Solches empfängt und faßt das Herz durch den Glauben, und daher auch so gesinnt und geneigt wird gegen seinen Nächsten, daß er ihm helfe, wie ihm geholfen ist, ob er auch sein Leben darüber lassen soll; denn er weiß, daß er nun vom Tode errettet ist, und der leibliche Tod ihm nichts an seinem Leben schaden noch nehmen kann. Wo aber ein solches Herz nicht da ist, da ist auch kein Glaube noch Fühlen der Liebe Gottes, noch des Lebens."
Auch in der Predigt über das Evangelium 1. Sonntag des Advents  Matth. 21  bestimmt er den Begriff der Nächstenliebe:
    "Also ist nicht das ein gutes Werk, daß du ein Almosen gibst oder betest, sondern wenn du deinem Nächsten dich ergibst und ihm dienst, wo er deiner bedarf und du vermagst, es sei mit Almosen, Beten, Arbeiten, Fasten, Raten, Trösten, Lehren, Vermahnen, Strafen, Entschuldigen, Kleiden, Speisen, zuletzt auch Leiden und Sterben für ihn. Sage mir, wo sind jetzt solche Werke in der Christenheit!"
Ferner hat LUTHER in der Schrift von der Freiheit des Christenmenschen, also von vornherein, die Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe gelehrt in den Worten:
    "ein Christenmensch lebt nicht ihm selbst, sondern in  Christo  und seinem Nächsten, in  Christo  durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe, und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe."
Die Untrennbarkeit von Gottes- und Menschenliebe soll auch die Formel ausdrücken: "wir sagen außerdem, daß, wo keine guten Werke folgen, da der Glaube falsch, und nicht wahr sei." Die Reformation lehrt also den notwendigen Zusammenhang, das stete Ineinander von Gottesliebe und Nächstenliebe, und die christliche Nächstenliebe ist ihr soviel wie: den Nächsten lieben nach dem Vorbild  Christi,  also mit aufopfernder Liebe. Die neutestamentlichen Stellen, wo das Gebot vorkommt "du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst", hat LUTHER nicht besonders behandelt weder in den Erklärungen der Evangelien noch in den Predigten, aber verstanden hat er das  os  des Urtextes als  "gleich dir";  daß er unter dieses "gleich dir" die aufopfernde Liebe mit aufgenommen hat (in seinen Ausführungen der 10 Gebote erscheint sie immer mit), erklärt sich schon aus den Worten  Christi:  "alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch", den Opfer bringen, wo sie nötig sind, erscheint und von Anderen gegen uns als wünschenswert.

Auch durch einen Vergleich mit den hervorragendsten modernen Moralsystemen kann die Eigentümlichkeit der katholischen Moral noch mehr hervortreten. Nach THOMAS von AQUIN ist die theoretische Vernunft das Höchste im Menschen, nach KANT ist dies die praktische. Nach KANT gibt die spekulative Vernunft bloß sichere Prinzipien der Erfahrungserkenntnis und höchstens einen Impuls darüber hinaus, der aber zu keiner Gewißheit führt, des Übersinnlichen gewiß wird der Mensch bloß durch Moral. Von einer Höherschätzung des kontemplativen Lebens gegenüber dem aktiven kann daher gar keine Rede sein, umgekehrt hat nur die moralische Religion Wert, d. h. die Religion, welche sich stützt auf Moral und sich in deren praktischen Betätigungen bewährt. Gott lieben heißt, seine Gebote (d. h. das Sittengesetz) gern erfüllen, den Nächsten lieben heißt alle Pflichten gegen ihn gern erfüllen. Diese Pflichten gegen den Nächsten ergeben sich aus demselben Sittengesetz (handle so, daß die Maxime deines Willens jeder Zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann), aus welchem sich auch die Pflichten gegen uns selbst ergeben, es findet also eine  Gleichheit  der Selbstliebe und der Nächstenliebe statt. Die Haupttugenden sind die Beförderung der eigenen Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit, denn für das äußere Wohl des Nächsten können wir direkt etwas tun, sein Inneres aber muß er selbst ausbilden, da können wir bloß anregende auf ihn wirken durch unser eigenes Beispiel. Erst aufgrund einer solchen Moral entsteht dann die praktische Gewißheit Gottes und der Unsterblichkeit.

Nach SCHLEIERMACHER, dem zweiten großen Moralisten der Neuzeit, stellt sich neben die Erkenntnisseite des Menschen die Seite seiner gestaltenden Betätigung; beide Seiten sind gleichwertig und wirkens sich aus in der Wissenschaft, dem Gefühl, worin die Frömmigkeit wurzelt, in der technischen Beherrschung der Natur, in der künstlerischen Ausgestaltung der Einzelperson und ihrer Umgebung. All diese Seiten soll jeder Mensch mehr oder weniger in sich ausgebildet haben, keine hat einen sittlichen Vorrang vor der anderen. Nächstenliebe und Selbstliebe beruhen auf demselben sittlichen Prinzip, denn der Mensch liebt sich sittlicherweise nur, sofern er sich nach einem Maßstab liebt, in welchem alle anderen Menschen gleich sehr eingeschlossen sind. "Selbstliebe ist der Liebe zu Anderen völlig gleich als Interesse der Gattung am Einzelwesen", aber "Selbstliebe ist nur insofern sittlich, als sie alle andere Liebe in sich schließt."

LITERATUR Julius Baumann, Die klassische Moral des Katholizismus, Philosophische Monatshefte, Bd. 15, Leipzig 1879
    Anmerkungen
    1) Die Moral der Jesuiten hat sich diese Gedanken des THOMAS reichlich zunutze gemacht bei ihren kasuistischen Detailentscheidungen; sie bekennt sich außerdem ausdrücklich zu ihm. Auf die Frage: Wie ist der nächste zu lieben? wird geantwortet: wie wir selbst, und hinzugesetzt: der Partikel  wie  bedeutet nicht Gleichheit, sondern Ähnlichkeit; wie jemand sich selbst liebt Gottes wegen, so soll auch der Nächste von mir Gottes wegen geliebt werden, wie ich mir Gutes, nicht Schlimmes wünsche, so soll ich es auch dem Nächsten wünschen, aber nicht in Gleichheit (sed non ad aequalitatem).