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Gemäßigter Konstruktivismus [ 1/2 ]
Die nachfolgenden Überlegungen sind eigentlich nicht neu. Sie werden ähnlich seit Jahrhunderten unter verschiedenen Bezeichnungen vorgebracht, neuerdings unter der des Radikalen Konstruktivismus, der sich bei konsequenter Anwendung positivistischen Zweifels zwingend ergibt. Ebenso lange werden diese Überlegungen nach Kräften ignoriert. Daher möge eine leicht provokante Neuformulierung den einen oder anderen Leser zu einem veränderten Welt- und Selbstverständnis anregen, das bemerkenswert ist und womöglich lebensbedeutsam. ![]() Alle verwendeten Begriffe sowie berichtete oder behauptete Tatsachen sind leicht in elementaren elektronischen oder konventionellen Enzyklopädien nachzulesen, z. B. in Wörterbüchern der Philosophie, Psychologie und Religion. Das gilt nicht für Vermutungen und Feststellungen, die der Autor aus eigenem Erleben berichtet. PHILOSOPHIE. ![]() Für andere Sinnesorgane gilt dasselbe: Niemand hat je Zucker gespürt, weder auf der Zunge noch zwischen den Fingern. Was wir erleben, ist die Geschmacksempfindung "süß" und eine körnige Tastempfindung auf der Zunge oder zwischen den Fingern. Nicht einmal die Zunge oder die Finger erleben wir, sondern mancherlei Empfindungen im Mund, vor allem Druck-, Bewegungs-, und gelegentlich Geschmacksempfindungen - von unseren Fingern auch visuelle Bilder. Schon gar nicht haben wir jemals neuronale Prozesse erlebt, die angeblich zwischen Außenwelt und Bewußtsein vermitteln. Erlebt haben wir bestenfalls Bilder, d. h. visuelle Wahrnehmungsgegenstände, die wir als gemittelte, von neuronalen Prozessen ausgelöste EEG-Kurven oder farbliche Anzeigen lokal verstärkter Gehirndurchblutung interpretieren. ![]() Wen wir davon sprechen, einen Gegenstand der Außenwelt wahrzunehmen, etwa die Sonne oder die eigene Zunge, dann ist das eine schlampige Ausdrucksweise. Richtig müßten wir sagen, daß wir einen Wahrnehmungsgegenstand (Perzept) als Bewußtseinsinhalt erleben und als Gegenstand der Außenwelt (Objekt) interpretieren. Beispiele sind ein gelb-roter Kreis in entsprechendem Kontext (tagsüber am Himme), der als Sonne interpretiert wird und eine charakteristische Kombination von Bewegungs- und Berührungsempfindungen (im Mund), die als Zunge interpretiert wird. ![]() Zugegeben, wir erleben Perzepte als Objekte sobald sie bewußt werden, denn der Wahrnehmungspsychologie zufolge findet ihre Interpretation schon in der sogenannten prä-attentionalen Phase des Wahrnehmungsprozesses statt - beim Abgleich von (botton-up) sensorischer und (top-down) Gedächtninsinformation. Dieser bewußte Vorgang ist seit frühester Kindheit weit überlernt, daher voll automatisiert und kaum vermeidbar. Würde er bewußt ablaufen, ließe er sich als Interpretation beschreiben, d. h. als Zuordnung eine Kombination von Empfindungen. ![]() Die Interpretion von Wahrnehmungsgegenständen, d. h. Bewußtseinsinhalten, als Gegenstände einer Außenwelt begründen oder rationalisieren wir mit Hilfe der Annahme, daß Perzepte immer nur als subjektive Repräsentanten von Objekten im Bewußtsein auftreten. Fantasievorstellungen, Traumbilder, Halluzinationen, Hologramme, etc. gelten nicht als Wahrnehmungsgegenstände oder als Ausnahmen. Die Vermutung, daß Perzepte immer Objekte repräsentieren, wird von beinahe jedermann für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Erstaunlicherweise gilt das auch für die meisten Psychologen. Dabei handelt es sich um eine Vermutung, deren Richtigkeit durch eigenes Erleben niemals nachgeprüft wurde und nicht einmal nachgeprüft werden kann. ![]() ![]() Wenn das Bewußtsein unsere empirische Wirklichkeit ist, dann ist die physikalische Außenwelt eine theoretische Wirklichkeit, d. h. lediglich vermutet. Als solche ist sie ausgedacht, d. h. eine Gedankenkonstruktion oder Fiktion. Wir leben zweifellos mit einem Weltbild. Ob wir in einer Welt leben, wissen wir nicht. Das Weltbild als Gedankenkonstruktion beschreibt eine theoretische Wirklichkeit, die es so oder ähnliche oder anders oder gar nicht geben mag, die aber jedenfalls nicht erlebt wird. ![]() ![]() Die Theorie einer beständigen Welt ist seit frühester Kindheit konstruiert worden, so wie implizite Theorien konstruiert werden und explizite Theorien zu konstruieren sind. (Professor FRITZ WILKENING, Zürich, hat dazu Untersuchungen angestellt): Zunächst scheinen schon Babys regelhafte Gemeinsamkeiten im Auftreten von Erlebnissen zu beobachten. Später scheinen sie, vor allem im Spiel, aufgrund von mehr oder weniger ziellosen Erkundungsexperimenten einfache Hypothesen zu entwickeln. Schließliche prüfen offensichtlich schon kleine Kinder implizit, ebenso wie Wissenschaftler explizit, ihre Hypothesen durch Vergleich von Erwartung und Erfahrung und modifizieren sie aufgrund von Versuch und Irrtum in tausenden von Entscheidungsexperimenten, wiederum ganz überwiegend im Spiel. Fast immer geht es dabei um die Feststellung des, gleichzeitigen oder zeitlich versetzten, gemeinsamen Auftretens von Bewußtseinsinhalten und mit der Zeit um die übersichtliche Einordnung dieser Befunde in ein erinnerbares System von Hypothesen, d. h. eine Theorie. Die Theorie einer beständigen Welt jenseits des Bewußtseins ist dafür offensichtlich gut geeignet. Besonders wichtig ist für uns die Feststellung und systematische Speicherung der erlebten Folgen eigener Entscheidungen und Handlungen. Von einem gewissen früher Alter an erweist sich offenbar auch der Rückgriff auf miterlebte oder sprachlich vermittelte Erfahrungen anderer wahrgenommener Personen als zweckmäßig und ökonomischer als eigenes Erfahrungslernen. Die Theorie einer beständigen Welt wird Kindern von Erwachsenen in aller Regel bestätigt. Unbestritten, die Theorie oder theoretische Fiktion einer beständigen Welt hinter den flüchtigen Bewußtseinsinhalten hat sich als höchst nützlich erwiesen. Grund sind die zahllosen aus ihr implizit oder explizit hergeleiteten erfolgreichen Vorhersagen vergangener, gegenwärtiger und daher vermutlich auch künftiger Erlebnisse. Unserem vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weltbild verdanken wir zumindest, daß wir nicht ständig überraschend mit der Nase gegen eine Wand stoßen - im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinn. Theoretische Fiktionen rechtfertigen sich durch ihre Vorhersagekraft. Damit unterscheiden sie sich von freien Fiktionen, die möglicherweise literarischen, ästhetischen oder anderen Kriterien genügen, nicht jedoch dem wissenschaftlichen Kriterium der erfolgreichen Vorhersage empirischer Daten, d. h. erlebter Bewußtseinsinhalte. Unser weitgehend gemeinsames wissenschaftliches Weltbild mit seinen physikalischen, biologischen, psychologisch-sozialen etc. Gesetzmäßigkeiten dürfte trotz seiner laufend bearbeiteten Lücken und Fehler als Vorhersageinstrument die umfangreichste weitgehend erfolgreiche Theorie sein, über die wir verfügen. (Sie kann daher mit einigem Recht als Referenztheorie verwendet werden, an der neue Theorien geprüft werden. Irrtümlich werden solche Prüfungen empirische Prüfung genannt, obwohl es sich lediglich um Prüfungen an einer nützlichen weil vorhersagekräftigen theoretischen Fiktion handelt.) Auch unser vorwissenschaftliches Weltbild genügt verhältnismäßig weitgehend, den Anforderungen, die wir an seine im Alltag benötigten Vorhersagen stellen, vor allem was die Konsequenzen unseres Verhaltens anbetrifft. All unser Wissen ist in dem Format unseres vorwissenschaftlichen oder wissenschaftlichen Weltbildes gespeichert. Daher wäre es ebenso unmöglich wie unsinnig, diese nützliche Fiktion nicht für die Planung unserer Entscheidungen und Aktivitäten zu nutzen. Das gilt z. B. in diesem Augenblick für den Autor bei der Formulierung eines Textes, den Leser verstehen sollen, die er sich vorstellt und vielleicht einmal wahrnehmen wird, wenn er ihnen bei Gelegenheit als Diskussionspartner begegnet. Schon zum Wiedererkennen und zur Vorhersage der erwartbaren Verhaltens von Wahrnehmungsgegenständen benötigen wir die Informationen unseres Weltbildes. ![]() Kaum jemand, auch wenn er "mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Wirklichkeit" steht, wird sich für einen naiven Realisten halten. Das gilt besonders für Naturwissenschaftler und somit Psychologen. Die meisten würden sich wohl, auf Befragen und nach kurzem Nachdenken, als kritische Realisten bezeichnen. Kritische Realisten geben zu, daß die physikalische Außenwelt nicht erlebt, sondern nur vermutet wird. Sie halten es jedoch aus pragmatischen Gründen für notwendig, an die Richtigkeit dieser Vermutung zu glauben. Ihnen zufolge ist es nicht anders möglich, als das nicht nachprüfbare Vorurteil zu übernehmen, daß die erlebten Empfindungen durch Reize, die erlebten Perzepte durch Objekte und deren Veränderungen durch Ereignisse in einer Welt jenseits des Bewußtseins verursacht sind. ![]() ![]() Wenn Naturwissenschaftler als kritische Realisten klug wären, würden sie die vermutete Welt nur als Bild, Beschreibung oder in mathematischer Terminologie als Modelle des Weltbildes auffassen, auf dessen Vorhersagekraft sie zu recht weitgehend vertrauen und das eigentlich ein geordnetes System von Wahrnehmungsgegenständen samt Regeln ihres Auftreten ist. Aus diesem Grund verhalten sich auch radikale Konstruktivisten im Alltag so, als ob es die Welt gäbe, die sie für erfunden halten. Dieser Klugheitsvermutung widerspricht jedoch, daß Naturwissenschaftler in aller Regel Objekte und Ereignisse der Welt jenseits des Bewußtseins nicht als fiktive theoretische Konstrukte, sondern als Gegenstände der Erfahrung oder empirische Daten auffassen. Sie rechtfertigen das mit der pragmatischen Notwendigkeit des Glaubens an die Welt. Mit diesem Glauben machen sie sich jedoch zu Fundamentalisten und ihr Zugeständnis, die Welt sei eine lediglich hypothetische Wirklichkeit, zu einem Lippenbekenntnis. Ihr für notwendig befundener Glaube an eine nie erlebte und nicht erlebbare empirische Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse jenseits des Bewußtseins läßt sich mangels Erfahrung nicht widerlegen und daher auch nicht (vorläufig) bestätigen. Er ist daher ebenso fundamentalistische wie der unbezweifelte Glaube an religiöse Verkündigungen von Personen, Gruppen oder Jedermann, die sich nicht durch eigenes Erleben widerlegen oder bestätigen lassen. Wenn man den Begriff des Fundamentalismus unter Vermeidung von Mehrdeutigkeit auf beliebige Verkündigungen bzw. Glaubenssysteme anwenden will, dann bietet sich als Kriterium der Mangel an empirischer Prüfbarkeit der Glaubensinhalte an. Zumindest fällt dem Autor kein Kriterium ein, auf das man sich leichter einigen könnte. An diesem Kriterium gemessen ist auch der Glaube an eine permanente Welt jenseits des Bewußtseins fundamentalistisch, sobald sie für mehr als eine vorhersagekräftige nützliche Fiktion oder gar für die empirische Realität selbst gehalten wird. ![]() Täglich bekräftigt die Erfahrung der zahllosen erfolgreichen Vorhersagen unseres Weltbildes den fundamentalistischen Glauben an die Wirklichkeit der vorgestellten beständigen Welt jenseits des Bewußtseins. Das ermöglicht, die Verunsicherung abzuwehren, die mit der Einsicht in die Fiktivität jeder Theorie oder jedes Weltbildes verbunden zu sein scheint. Mechanismen zur Abwehr solcher Verunsicherungen, sogenannte Vorurteilsabwehrmechanismen, haben wir reichlich entwickelt. Sie reichen von der Vermeidung oder Abwehr von Informationen, die den Glauben an das Vorurteil bedrohen, bis zur Entwicklung sozialer (Denk-)Normen, die subtil oder gewaltsam sanktioniert werden. Wer die Welt als empirische Wirklichkeit in Frage stellt, riskiert heutzutage nicht das Schafott, doch immerhin noch soziale Ausgrenzung oder das Irrenhaus. ![]() Wir scheinen daher vor einem Dilemma zu stehen: Entweder versinken wir in unverbindlicher Subjektivität, die nicht einmal solipsistisch ist, weil auch das Ich nur als Selbstbild samt Ichgefühl erlebt wird, oder wir übernehmen ein nicht überprüfbares Vorurteil und damit einen fundamentalistischen Glauben als Grundlage jeder Erkenntnis. ![]() ![]()
![]() ![]() ![]() ![]() Bis hierher folgen zumindest die Kernaussagen des Textes unvermeidbar aus der vornehmsten positivistischen Tugend eines Naturwissenschaftlers. Er ist gehalten, sich nicht auf Plausibilität zu verlassen und alle Meinungen und Feststellungen zu bezweifeln, die sich nicht zumindest im Prinzip durch eigenes Erleben widerlegen oder bestätigen lassen oder die aus Theorien folgen, welche genügend strengen empirischen Prüfungen unterzogen wurden. Feststellungen, die nur der zweiten Bedingung genügen, sind nur vorläufig und unter Verdacht des Irrtums in dem Maße glaubhaft, als die Theorien anhand vorhergesagter Erlebnisse mehr oder weniger streng mit Erfolg geprüft worden sind. ![]() ![]() ![]() ![]() Die bei weitem überlernte dominante Version des Vexierbildes "erlebte Welt" ![]() ![]() ![]() ![]() Zusammengefaßt: Der naive Realist hält die Welt jenseits des Bewußtseins für eine Tatsache, der radikale Konstruktivist für eine Einbildung. Dazwischen stehen der kritische Realist, der die Welt für eine notwendige Einbildung hält, die es rechtfertigt, sie als Tatsache zu betrachten und der gemäßigte Konstruktivist, der die Welt für eine Einbildung hält, welche praktischen Zwecken dienlich, jedoch Erkenntniszwecken abträglich ist und daher je nach Zielsetzung als Tatsache oder Einbildung betrachtet werden sollte. ![]() ![]() |