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HORST SCHWINN
Sprachkritiken

"In der Beurteilung der philosophischen Sprachkritik besteht unter den Wissenschaftlern relative Einigkeit."

Sprachkritik ist nicht gleich Sprachkritik. Wie HERINGER mit Recht feststellt, wurde die Geschichte der Sprachkritik noch nicht geschrieben. Darüber hinaus ist nicht nur die Geschichte der Sprachkritik noch nicht geschrieben, ebenso ist eine Systematisierung der momentanen Auffassungen über das, was man unter Sprachkritik verstehen kann und mag noch nicht geschrieben. Geschichte und Theorie(n) der Sprachkritik sind bisher nur in Ansätzen vorhanden.

Es gibt Versuche, Daten und Fakten über die verschiedenen Formen der Sprachkritik zu systematisieren. Die Ergebnisse berechtigen jedoch nicht dazu, von einer Darstellung der Geschichte der Sprachkritik zu sprechen. Einer dieser Versuch der Systematisierung ist derjenige HERINGERs, in welchem er die Geschichte einer Kritik an politischer Sprache anhand verschiedener Stränge innerhalb der Sprachkritik nachzeichnen will. HERINGER unterscheidet zwischen

  1. philosophischer Sprachkritik
  2. Kritik an einer Einzelsprache und
  3. Kritik an individuellen Äußerungen einzelner Sprecher.
Die Darstellung HERINGERs wirkt zunächst etwas verwirrend, da er verschiedene sprachkritische Auffassungen und Vorgehensweisen unterschiedlicher "Sprachkritiker" beschreibt. Darüber hinaus weben sich in der Darstellung HERINGERs zwei unterschiedliche Bedeutungsweisen in die einzelnen Stränge hinein, sodaß jeder Strang getrennt wiederum unter diesen zwei Aspekten betrachtet werden muß. Die Auffassung von  Sprachkritik  wandelt sich nämlich mit den unterschiedlichen Bedeutungstheorien. Denn: Es ist nicht unerheblich, welche Bedeutungstheorie der sprachlichen Betrachtung zugrundegelegt wird.

Die sprachliche Vorgehensweise ist, wenn sie keine Kritik am Sprachsystem ist, eine Kritik der Sprachverwendung. Bei einer sprachkritischen Betrachtung der Sprachverwendung müssen wir zu unterschiedlichen Ergebnissen einerseits bei einer abbildungstheoretischen, andererseits bei einer gebrauchstheoretischen Vorstellung über die Bedeutung der Sprachprodukte kommen.

Damit nicht genug. Den einzelnen dargestellten Strängen der Sprachkritik kann man unterschiedliche Sprachbeschreibungsebenen zuordnen: der philosophischen Sprachkritik die Metaebene der erkenntnistheoretischen Sprachbetrachtung, der Kritik an der Einzelsprache die Ebene der Sprachsystembeschreibung und der Kritik an individuellen Äußerungen einzelner Sprecher die Ebene der Beschreibung der Sprachverwendung.

Die Aufteilung in die drei erwähnten Stränge erscheint sinnvoll, wenn auch eine Grenzziehung zwischen den einzelnen Strängen nicht so einfach zu leisten ist, sie lassen sich nicht klar voneinander trennen. Letztendlich ist aber die Selektion, d.h. die Auswahl bzw. die Benennung der einzelnen Stränge und die Zuordnung der zu untersuchenden Objekte, nur individuell, nämlich durch das jeweilige Analyseobjekt, teilweise aber auch nur intuitiv, nämlich durch das analysierende Subjekt begründbar.

Die Einteilung des Phänomens Sprachkritik in seine beschreibbaren Unterklassen: philosophische Sprachkritik, Kritik an einer Einzelsprache und Kritik an der individuellen Sprechtätigkeit entbehrt einer Stringenz in der Methodik, es sei denn, man akzeptiert die Dichotomie "langue" vs. "parole" und fügt dieser als eine dritte Beschreibungsebene eine philosophische Metaebene hinzu.

Die Klassifizierung HERINGERs dient nicht nur dem Interesse an der Geschichte der Sprachkritik, sie dient natürlich auch der Abgrenzung seiner eigenen Vorstellungen über eine wissenschaftliche / linguistische Sprachkritik gegenüber anderen Formen der Sprachkritik.

So auch WIMMER:
"Die linguistisch begründete Sprachkritik möchte ich gegen drei andere sprachkritiksche Richtungen abgrenzen, die in aktuellen Diskussionen immer wieder eine Rolle spielen:
  1. die erkenntniskritisch-philosophische Sprachkritik
  2. die logisch-normative Sprachkritik und
  3. die journalistisch-unterhaltende Sprachkritik.
Unter a) versteht WIMMER die Auseinandersetzung über das "Verhältnis von menschlichem Erkenntnisvermögen, Sprache und Welt. Inwieweit Sprache als Mittler zwischen der menschlichen Erkenntnis und den außersprachlichen Gegenständen und Sachverhalten fungiert bzw. fungieren kann, ist ein grundlegendes Problem, welches seit der Antike die Philosophen aller Schulen beschäftigte. Nicht nur die Philosophie, auch die Psychologie zeigt Interesse an der Frage, welches das vermittelnde Medium zwischen Welt und Geist / Psyche ist.

Die Erkenntnis, daß Denken, Sprache und außersprachliche Welt in einem engen Bedingungsverhältnis stehen, haben viele Philosophen annehmen lassen, daß nur die richtige Verwendung der Wörter zum richtigen Denken führen kann. Die richtige Verwendung der Wörter aber bedeutet dann, daß die vermittelnden geistigen Komplexe bzw. die Bedeutungen der einzelnen Wörter untrennbar mit diesen verbunden sind. Folgerichtig verbunden mit dieser Auffassung ist, daß jegliche Veränderung des Sprachgebrauchs zu einer Veränderung der Erkenntnisfähigkeit des Sprachbenutzers führen muß.

Philosophische Sprachkritik besitzt hier ihren Ansatzpunkt: sie will dann wirksam werden, wenn die Wörter ihre richtige Bedeutung verloren haben, um zu zeigen, daß sie bei falscher Verwendung das Bewußtsein bzw. die Erkenntnisfähigkeit des einzelnen in die Irre leiten.

Eine extreme Position innerhalb dieser Richtung der philosophischen Sprachkritik nimmt FRITZ MAUTHNER ein. Für ihn besteht unsere Sprache nur noch aus Metaphern, welche uns den wahren Zugang zu den Gegenständen und Sachverhalten in der Welt versperren, da diese Bilder der Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. Für die Lösung dieses grundlegenden Problems sieht MAUTHNER nur eine einzige Möglichkeit einer radikalen Therapie, nämlich die systematische Zerstörung unserer Sprache. Sprachkritik muß für MAUTHNER zum - paradoxerweise verwendet er hier nun selbst die allerdings sehr kreative Metapher - "Holzfeuer im hölzernen Ofen" werden.

MAUTHNER war nicht der einzige Sprachskeptiker seiner Zeit. HOFMANNSTHALs berühmt gewordener "Chandos-Brief" zeugt ebenfalls von der - in der Zeit um die Jahrhundertwende in intellektuellen Kreisen verbreiteten - Skepsis darüber, inwiefern Sprache überhaupt ein Mittel der Vermittlung von Gedanken sein kann. Hinter dieser Art von philosophischer Sprachkritik als Reflexion über den Wert der Sprache als Erkenntnisvermittlung steckt eine besondere Bedeutungsauffassung, welche allerdings nicht nur der philosophischen Sprachkritik eigen ist. Doch hierzu später.

In der Beurteilung der philosophischen Sprachkritik besteht unter den Wissenschaftlern relative Einigkeit. Die Vorstellungen unterscheiden sich jedoch bei der Kritik an einer Einzelsprache bzw. der logisch-normativen Sprachkritik als zweite Kategorisierungspunkte innerhalb der Sprachkritik. Was zunächst wie ein grundlegender Unterschied innerhalb einer Systematisierung aussieht, zeigt bei näherer Betrachtung grundlegende Gemeinsamkeiten. Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen diesen Kategorisierungspunkten. Betrachtet man die Kritik an einer Einzelsprache als eine der allgemeinen Sprachkritik direkt untergeordneten Kategorie, dann kann man die logisch-normative Sprachkritik als eine der Einzelsprache untergeordnete Form der Sprachkritik betrachten. Demnach wäre die logisch-normative Sprachkritik eine Teilmenge der Kritik an einer Einzelsprache.

Versteht sich die philosophische Sprachkritik als eine Kritik am Zusammenhang zwischen Sprache und Erkenntnis, so kann man die Kritik an einer Einzelsprache als eine sprachimmanente Kritik verstehen. Es geht in diesem Bereich der Sprachkritik nicht mehr um das Verhältnis Sprache-Welt-Geist, es geht bei der Kritik an einer Einzelsprache um die sprachliche Kommentierung der Struktur der Sprache.

Kritik an einer Einzelsprache befaßt sich in der Regel mit Veränderungen im Sprachsystem und mit Veränderungen im Sprachgebrauch. Sprachkritiker, welche sich dieser Form der Sprachkritik annehmen, haben meist eine ganz bestimmte Vorstellung, wie Sprache und deren Gebrauch aussehen sollten. Sie haben darüber gewisse Normvorstellungen. Diese Normvorstellungen sind Grundlage ihrer Art einer Kritik an der Sprache. Dabei ist es nun auch unerheblich, ob sie sich mit ihren Normvorstellungen auf bestehende Normen oder sprachliche Regeln, wie sie z.B. in Grammatiker oder Lexika niedergeschrieben sind, berufen zu können, oder ob sie versuchen, neue Normen durchzusetzen. Sind diese Sprachkritiker dazu noch in der Lage, logische Beziehungen im Regelwerk der Grammatiken für die Legitimation ihrer Kritik heranzuziehen, dann darf man durchaus von einer logisch-normativen Kritik an einer Einzelsprache als zweiter Form der wissenschaftlichen Sprachkritik sprechen.

Eine besondere Form der logisch-normativen Sprachkritik knüpft an die idealistische Form der Sprachauffassung des Positivismus aus der Zeit des Anfangs dieses Jahrhunderts an. Logik sollte als Grundlage für die Entwicklung einer idealen Sprache dienen. In einer logisch aufgebauten Sprache sollten solche Charakteristika unserer Gegenwartssprache wie Mehrdeutigkeiten, Vagheiten und unkorrekte Bezüge nicht mehr vorkommen. Sie sollte logisch aufgebaut sein und in Form einer Kalkülsprache würde sie - wenn sie zur damaligen Zeit Erfolg gehabt hätte - heute diejenigen erfreuen, welche glauben, Computer könnten in jener Art und Weise Sprache produzieren und rezipieren, wie es der Mensch vermag.

Sprachzweifel, in der Art, wie MAUTHNER und HOFMANNSTHAL plagten, kennen die logisch-normativen Sprachkritiker nicht. Sie wissen, wie das Ideal ihrer Sprache (sei es eine auf Sprachnormen oder eine auf der logisch-idealistischen Vorstellung beruhende) aussehen muß. Probleme können nur bei der Realisierung einer solchen Sprache auftreten, aber daran arbeiten sie. Eine Verbindung zwischen der philosophischen Sprachkritik und der logisch-normativen Sprachkritik kann man in WITTGENSTEINs "Tractatus" sehen.

Obwohl nur locker verbunden mit den Mitgliedern des Wiener Kreises, wird LUDWIG WITTGENSTEIN oft als ein (wenn nicht sogar als der wichtigste) Vertreter dieser Gruppe von Philosophen betrachtet. Philosophische Grundlage aller Überlegungen dieser Gruppe ist der Logische Positivismus. Alles Metaphysische muß aus der philosophischen Sprache eliminiert werden. Die philosophische Sprache muß von allen unsinnigen Wörtern gereinigt werden, damit sie dem physikalischen Weltbild des Logischen Positivismus entspricht. Wenn in der Welt kein Platz für das Metaphysische ist, darf dafür auch kein Platz in der Sprache sein. Denn die Sprache bildet die Welt, die Wirklichkeit, ab.

WITTGENSTEIN war in seinem Frühwerk ein Verfechter dieser Abbildungstheorie der Sprache und war auf Grundlage dieser bestrebt, die logischen Bezüge innerhalb unserer Sprache und mithin der logischen Beziehungen innerhalb der Welt herauszustellen. Er verstand seine Form der Sprachphilosophie als Sprachkritik, grenzte sich aber gegenüber einer radikalen (philosophischen) Sprachkritik seines Zeitgenossen MAUTHNER ab. So heißt es unter § 4.0031 des "Tractatus":

"Alle Philosophie ist "Sprachkritik". (Allerdings nicht im Sinne Mauthners."
Der sich anschließende § 4.01 beginnt mit dem Satz
"Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit."
WITTGENSTEIN war offensichtlich mit MAUTHNER der Überzeugung, daß zwischen Sprache und Wirklichkeit ein Verhältnis der Abbildung besteht; er war aber mit MAUTHNER nicht der Meinung, daß diese Abbildungsrelation eine falsche ist, daß die Wörter nicht mehr das Ursprüngliche abbilden, was sie zu Beginn ihrer Geschichte abbildeten.

Während MAUTHNERs Kritik an der Sprache aus diesen Gründen zur Zerstörung der Sprache und einem eventuellen Neuaufbau einer adäquateren führen soll, führt die Sprachkritik im Sinne WITTGENSTEINs nicht zu einer Zerstörung der Sprache, allenfalls zu einer reflektierten Betrachtung der Sprache, vielleicht auch zu ihrer Umstrukturierung:

Der Sprache wird die Funktion des Abbildens der real existierenden Sachverhalte zugeschrieben. Es müssen - im Gegensatz zu den Vorstellungen MAUTHNERs - keine Zweifel an dieser Funktion auftreten, da Sprache nur ein Bild der Realität ist. Ob sich die Bilder, d.h. die sprachliche Realisierung der Wirklichkeit, in ihrer Form ändern, ist unerheblich; dies ist eine Frage der konventionellen Festlegung. Ausgeschlossen werden müssen die "Irrtümer" unserer "Zeichensprache". Dies sind z.B. lexikalische und syntaktische Mehrdeutigkeiten, Metaphern und Verkürzungen.

"Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der  logischen  Grammatik - der logischen Syntax - gehorcht." (Tractatus 3.325)
Problematisch wird es dann, wenn in der Sprache Metaphysisches ausgedrückt wird, denn dann erfüllt die Sprache nicht mehr die Funktion des Abbildens. Sie  kann  nicht abbilden, was in der Welt existiert. Reden in Sprache können wir folglich - so WITTGENSTEIN - nicht über etwas, was in der Welt als Tatsache nicht existiert. Da die Welt aber das ist, "was der Fall ist" (§1) und was der Fall ist (nämlich die Tatsache), "das Bestehen von Sachverhalten" ist (§2) und "das logische Bild der Tatsachen" der "Gedanke" (§3), "der Gedanke" aber "der sinnvolle Satz" ist (§4), kann Sprache nicht das abbilden, was in der Wirklichkeit nicht existiert. Folgerichtig können wir nicht über das sprechen, was nicht der Fall ist - über alles Metaphysische nämlich (§7).

Der Leser wird festgestellt haben, daß die letzten Sätze die wesentlichen Hauptsätze des "Tractatus" teilweise zitieren, teilweise paraphrasiert darstellen. Sie sind sozusagen der "Schnelldurchlauf" durch den "Tractatus". Meine Darstellung erhebt natürlich nicht den Anspruch, in dieser Form dem Leser das Frühwerk WITTGENSTEINs näher zu bringen, diese verkürzte Darstellung soll lediglich zeigen, welche grundsätzliche Sprachauffassung den Überlegungen der Theoretiker des Logischen Positivismus zugrunde lag.

Wenn wir philosophische oftmals nicht von logisch-normativer Sprachkritik unterscheiden können, weil sie in ihrem Ansatzpunkt durchaus verknüpft sein können, so werden wir auch Mühe haben, die logisch-normative Sprachkritik von einer journalistischen Sprachkritik abzugrenzen. Und damit kommen wir zu Punkt c): der journalistisch-unterhaltenden Sprachkritik, dem dritten Unterscheidungspunkt WIMMERs.

Einige journalistische Sprachkritiker fühlen sich geradezu zu Normierern der deutschen Sprache berufen, besonders dann, wenn in den Zeitungen und Magazinen wieder einmal von Sprachverderb und von Sprachverfall zu lesen ist. Blüten treibt die journalistische Sprachkritik dann, wenn ein neuer Vorschlag zur Orthografiereform vorgelegt wird. Dann treten die sogenannten Puristen auf den Plan, deren Tradition noch viel älter ist, als es die Reformvorschläge zur deutschen Ortografie sind.

Der Ursprung der puristischen Sprachkritik, welche man als einen Versuch der normierenden Sprachkritik betrachten kann, liegt im 17. Jahrhundert. Im Zusammenhang mit einem phasenweise aufkommenden Nationalismus und damit verbundenem Nationalgefühl fühlten sich verschiedene Gelehrte berufen, dieser Bewegung auch innerhalb der deutschen Sprache Rechnung zu tragen. Stand zunächst für die Grammatikschreibung das lateinische Vorbild und das Bemühen um eine vermeintliche Sprachrichtigkeit im Vordergrund ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen, so mischte sich bald - besonders mit dem Aufkommen des Französisch-Sprechens der höheren Gesellschaftsschichten - die Kritik an der Fremdwortverwendung in die Überlegungen der Grammatiker und Stillehrer.

Im Anschluß an die Gründung des "Palmenorden" entstanden die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Der "Palmenorden" war der ersten Zusammenschluß von "Sprachwissenschaftlern" - mit für die Entwicklung der deutschen Sprache so bedeutenden Namen wie SCHOTTEL und OPITZ - welche sich die Pflege der deutschen Muttersprache zur Aufgabe gemacht hatten. Zunächst war eine Verbesserung und Vereinheitlichung der deutschen Sprache das Hauptinteresse der Sprachgesellschaften (GOTTSCHED), im Laufe der Zeit jedoch traten sprachpuristische und sprachreinigende Interessen in den Vordergrund. Der erste Höhepunkt des normiererischen Sprachpurismus war mit den Schriften CAMPEs erreicht. Mit seinem 1801 erschienen "Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke" wurde zum ersten Mal ein "größeres" Publikum erreicht.

Sprachpurismus und/oder Sprachpflege wurden institutionalisiert mit der Gründung des "Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" im Jahre 1885. Ausgangspunkt war eine Sprachunsicherheit, hervorgerufen durch sozioökonomische Veränderungen, welche das Entstehen von Fach- und Gruppensprachen zur Folge hatte. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß die Sprache der Klassiker in der alltagssprachlichen öffentlichen Kommunikation an Bedeutung verlor, da andere gesellschaftliche Gruppierungen als das Bürgertum begannen, ihre Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten, mußten konservative Sprachkritiker feststellen, daß eine "Entartung" der Sprache und ein "Verderb" derselben stattfand.

Es besteht also eine lange Tradition der puristischen Sprachkritik. Am Ende des letzten und am Anfang dieses Jahrhundert widmete sich diese Form der Sprachkritik erneut den Fremdwörtern, wie sie in großer Anzahl aus dem englischen und französischem Sprachraum in die deutsche Sprache eingeflossen sind. Manche Kritik hatte Erfolg, so wurde aus dem französischen "perron" der deutsche "Bahnsteig". Manche Eindeutschungsversuche muteten allerdings sowohl damals als auch heute noch stark zum Lachen an und wurden nicht in den Sprachgebrauch übernommen ("Gesichtserker" für Nase, oder "Rauchrolle" für Zigarre).

Ging es also in jener Zeit darum, was man als gutes bzw. richtiges Deutsch bezeichnen sollte und gegenüber schlechtem bzw. falschem Deutsch durchsetzen sollte, so ging es einer Form der Sprachkritik nach 1945 um die Unterscheidung zwischen gutem und bösem Deutsch. Böses Deutsch verwendete jener, welcher bestimmte Wörter verwendete, welche die Nationalsozialisten verwendeten. Die Kritik an der Sprachverwendung der Nationalsozialisten gipfelte in einer Wörtersammlung, welche als "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" erschien. Seine Herausgeber STERNBERGER, STORZ und SÜSKIND meinten, damit eine Art roter Liste der Wörter erstellt zu haben, welche aus dem öffentlichen Sprachgebrauch getilgt werden sollten.

Das "Wörterbuch des Unmenschen" war Anlaß für das Aufbrechen des Kampfes um die Sprachkritik. Die Gegner in diesem Kampf waren auf der einen Seite die Herausgeber des Wörterbuchs der Unmenschen, welche sich als Sprachkritiker bezeichneten und glaubten, als Journalisten und Gesellschaftswissenschaftler für eine moralisierende Sprachkritik berufen zu sein. Sie glaubten, ihre Auffassung von Sprachkritik durchsetzen zu müssen gegenüber der rein sprachwissenschaftlichen Auffassung der anderen Seite, die davon ausging, daß nicht die Sprache die Menschen verdirbt und daß diese nicht falsche Wörter verwenden, sondern höchstens vom umgekehrten Fall, nämlich daß die Menschen die Sprache verderben.

Die Fronten im Streit um die Sprachkritik waren insofern klar, als die Sprachwissenschaftler den Sprachkritikern vorwarfen, unzulässig zu moralisieren bzw. moralisierende Stilkritik zu leisten; auf der anderen Seite mahnten die Sprachkritiker die Sprachwissenschaftler, bei ihrer strukturellen Sprachbeschreibung zu bleiben und sich aus Bewertungen des Sprachgebrauchs herauszuhalten. Aufgabe der Sprachwissenschaft sei es, die Beschreibung des Sprachsystems zu leisten. Als einzig mögliche sprachkritische Tätigkeit verbliebe damit dann den Sprachwissenschaftlern die Aufgabe, die Sätze auf ihre grammatikalische und ortografische Korrektheit hin zu analysieren.

Der Streit um die Sprachkritik, welcher von keiner der beiden Seiten gewonnen wurde, war insofern für die Seite der Sprachwissenschaftler fruchtbar, als er ihnen ermöglichte, darüber nachzudenken, welche Formen der Sprachkritik innerhalb der sprachwisschenschaftlichen Forschung überhaupt möglich sind. Diese Überlegungen, gerade in der Zeit, in der sich die Pragmalinguistik konstituierte, führten jedoch erst einige Jahre später zu Formen einer linguistisch begründeten Sprachkritik. Was hier als eine geradlinige Entwicklung der Sprachkritik dargestellt wurde, ist tatsächlich nicht in diesem Maße homogen. Die Sprachkritik hat nicht irgendwo in grauer Vorzeit ihre Wurzel und entwickelte sich nicht stetig bis hin zu einer linguistisch begründeten Sprachkritik.

Unterschiedlichste Formen der Sprachkritik existieren zeitlich parallel zueinander. Sprachpuristische Sprachkritik, z.B. endet zeitlich nicht mit dem Erscheinen des "Wörterbuchs des Unmenschen", wie man vielleicht durch diese Darstellung vermuten könnte. Sprachpuristische sprachkritische Aktivitäten existieren auch heute noch. Gerade diese Form der Sprachkritik ist die beständigste überhaupt. Die sprachpolitischen Aktivitäten der  Academie Francaise  in Frankreich sind mit ihrer Fremdwortjagd in allerjüngster Zeit ein Paradebeispiel für Sprachpurismus von höchster öffentlicher Seite. Aber auch weniger gefährliche Unternehmungen, die wir fast täglich Zeitungen und Zeitschriften entnehmen können, müssen größtenteils dem Sprachpurismus zugeordnet werden: Sprachglossen, die mit erhobenem Zeigefinger gegen den Verderb unserer Muttersprache wettern.
LITERATUR - Horst Schwinn, Linguistische Sprachkritik, Heidelberg 1997