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FRANZ DEUBZER
Moralisierende Sprachkritik

Ideologische Sprachkritik
Sprachkritik als Sprachskepsis
Die hermeneutische Methode
Die Fiktion des Faktischen
"Sternberger definiert seine Sprachkritik, dahingehend, daß sie "nicht mit Vorschrift, Weisung oder Lenkung zu verwechseln ist ... Kritik ist Unterscheidung, Scheidung ... Der Kritiker gibt vielleicht Ratschläge, aber er erläßt nicht Gebote und Verbote."

Auch die moralisierende Sprachkritik gibt ein Beispiel für die Abwegigkeit einer sprachisolierenden Sichtweise. Sie ist zudem ein Beispiel dafür, daß Inhumanität nicht nur nicht beseitigt, sondern in einem weiteren Sinne möglich wird, wenn man sie mit den falschen Mitteln angreift. Die moralisierende Sprachkritik steht in enger Beziehung zur sogenannten inhalts- oder wirkungsbezogenen Sprachwissenschaft, die sich ihrerseits auf bedeutende sprachtheoretische Erkenntnisse JOHANN GOTTFRIED HERDERs und WILHELM von HUMBOLDTs beruft. Um zu einer klareren Beurteilung zu kommen, soll zunächst der Zusammenhang kurz hergestellt werden.

HUMBOLDTs These, "daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken", bedeutete für die Sprachforschung seiner Zeit, was nicht lange vorher KANTs  kopernikanische Wende  für die Philosophie gewesen war;  Verstand  und  Natur  bei KANT entsprechen  Sprache  und  Wahrheit  bei HUMBOLDT.

Ähnlich der These KANTs besagt diejenige HUMBOLDTs, daß die Welt oder die Wirklichkeit eine spezifisch menschliche sei in dem Sinn, daß sie erst durch den menschlichen Geist zu Anschauung und Ver-Wirklichung komme. Für HUMBOLDT, wie vor ihm für HERDER, spielt die Muttersprache dabei nicht nur eine beschreibende, passive, sondern eine schöpferische, aktive Rolle: sie präge wesentlich das Denken und Erkennen des Individuums wie auch einer (Sprach-)Nation und vermittle so dem Sprecher eine bestimmte Weltansicht.

Die besonders im Hinblick auf die normative Sprachkritik entscheidende Frage ist nun, welche Bedeutung man dieser energetischen Qualität der Sprache beimißt, anders ausgedrückt: inwieweit der Einzelne zu seiner Weltansicht gezwungen wird. Dazu zunächst HUMBOLDT:
" Die Sprache geht gewiß mit innerer Notwendigkeit aus dem Menschen hervor, es ist nichts zufällig und willkürlich in ihr: ein Volk spricht, wie es denkt, denkt so, weil es so spricht, und daß es so denkt und spricht, ist wesentlich in seinen körperlichen und geistigen Anlagen begründet, und wieder in diese übergegangen."

"...der Mensch spricht nicht, weil er so sprechen will, sondern weil er so sprechen muß; die Redeform in ihm ist ein Zwang seiner intellektuellen Natur; sie ist zwar frei, weil diese Natur seine eigne, ursprüngliche ist, aber keine Brücke führt ihn in verknüpfendem Bewußtsein von der Erscheinung im jedesmaligen Augenblick zu diesem unbekannten Grundwesen hin."
Die Begriffe  Notwendigkeit  und  Zwang  und besonders der erste Teilsatz des zweiten Zitats können leicht mißverstanden werden. Wenn H. GIPPER, ein Schüler LEO WEISGERBERs, schreibt: "...für gewöhnlich, und darin ist dem Dichter HUGO von HOFFMANNSTHAL recht zu geben,  stehen nicht die Worte in der Gewalt des Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte ", dann könnte sich diese Auffassung, oberflächlich betrachtet, auf jene Einsichten HUMBOLDTs stützen. Sie kann es aber nur dann, wenn die "innere Notwendigkeit" und der "Zwang" der "intellektuellen Natur" als Einschränkungen und nicht als unerläßliche Bedingungen der menschlichen Existenz verstanden und damit mißverstanden werden.

WEISGERBERs These vom "sprachlichen Weltbild", abgeleitet aus HUMBOLDTs "sprachlicher Weltansicht", ist vielfach angegriffen worden. Sie wird von GIPPER verteidigt, wobei er zunächst auf die "sprachliche Weltansicht" HUMBOLDTs eingeht:
"Mit diesem Begriff soll ... auf den rational nachprürbaren Tatbestand hingewiesen werden, daß in jeder Sprache die von den Angehörigen der Sprachgemeinschaft erfahrbare und denkbare Welt - in weitestem Sinne - in den semantischen Gliederungen des Wortschatzes und der grammatischen Strukturen in einer bestimmten Weise in Sprache überführt worden ist."
Abgesehen davon, daß die behauptete Sukzession  erfahrbare und denkbare Welt/Sprache  eine Abweichung darstellt zu HUMBOLDTs These, daß es sich bei Denken, Sprechen und den körperlichen und geistigen Anlagen um Korrelate handle, abgesehen davon ist diese Feststellung trivial und dürfte kaum ernsthaft bestritten werden. Aufschlußreich ist aber, wie GIPPER im unmittelbaren Anschluß einen Gedanken HUMBOLDTs regelrecht umbiegt. Er zitiert zunächst HUMBOLDT:
"Wenn in der Seele wahrhaft das Gefühl erwacht, daß die Sprache nicht ein bloßes Austauschmittel zu gegenseitigem Verständnis, sondern eine wahre Welt ist, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muß, dann ist sie auf dem wahren Wege, immer mehr in ihr zu finden und in sie zu legen."
- und interpretiert diesen Gedanken folgendermaßen:
"Sprache ist also Vermittlung; sie schiebt sich, vom Sprecher unbemerkt, zwischen ihn und die Gegenstände und führt ihm dabei die Wirklichkeit in spracheigentümlicher Verwandlung und Gliederung vor. LEO WEISGERBER sucht diesen Gedanken mit seinem Begriff der sprachelichen Zwischenwelt zu fassen, aber dieser Begriff ist ebenfalls gründlich mißverstanden worden."
Damit ist HUMBOLDTs vorsichtiges Abstraktum  Geist  nicht nur durch ein den gesamten Gedanken verdinglichenden, verfälschendes  Sprecher  ersetzt worden: HUMBOLDTs schöpferisches  Subjekt , welches  selbst  die Sprache "durch die innere Arbeit seiner Kraft" erzeugt, wird bei GIPPER zum manipulierbaren  Objekt , welches nicht merkt, wie  die Sprache sich  zwischen es und die Wirklichkeit hineinschiebt. Wieder ist HUMBOLDTs Auffassung von der korrelativen Beziehung zwischen Geist, Sprache und Wirklichkeit durch deren trichotomische Definition (auch eine Folge der vereinfachenden Konkretisierung) aufgehoben.

Ginge der Weg der Welterkenntnis immer nur über eine sprachliche Verwandlung der Wirklichkeit oder die von HUMBOLDT genannten körperlichen Anlagen oder andere außersprachliche Faktoren ihrerseits die Sprache und das Denken gar nicht beeinflussen, ein Gedanke, der jeglicher Erfahrung und Vernunft widerspricht. HERDER wie HUMBOLDT haben niemals das Primat der Sprache über die Wirklichkeit behauptet.

Die Vorgehensweise der moralisierenden Sprachkritik, die sich aus der wirkungsbezogenen Sprachtheorie ableitet, soll an zwei Beispielen illustriert werden: am "Wörterbuch des Unmenschen" und an einem Aufsatz von G.STEINER, der Anlaß war zu einer Kontroverse über das Thema "Deutsch - gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land?"

In der Vorbemerkung zur ersten Ausgabe des "Wörterbuchs des Unmenschen" (1945) schrieb D.STERNBERGER:
"...der Begriff des Menschen schließt die Möglichkeit (und Wirklichkeit) des Unmenschen in sich ... So hat der Mensch auch als Unmensch seinen Wortschatz, seine eigentümliche Grammatik und seinen eigentümlichen Satzbau."
Das ist zwar pointiert formuliert, aber vertretbar, wenn man zu den Unmenschen bzw. zu den "Ungeheuerchen" nicht allein den "Anti-Menschen", sondern auch "Organisatoren, Werber und Verkäufer, Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art" zählt, wie es Sternberger tut. Diese alle sprechen aber in ihrem Amt, wie es zu seiner Erfüllung angebracht ist. Ein "gelenkigeres, einfacheres, lebensvolleres, umgänglicheres und menschlich-natürlicheres Deutsch" wird von starren, komplexen, nüchternen, sachlich-distanzierten und auf Organisation und Umsatz ausgerichteten Mechanismen kaum erzeugt werden können, und würde es erzeugt, verschleierte es etwas, und fordert man es, fordert man Euphemismen: "Verkäufer, Vermittler und Käufer wollen ja gerade kein  persönliches , sondern ein sachlich-geschäftliches Verhandlungsklima, sie wollen keine pseudohumane Sprache - die es ja auch gibt".

Allenfalls kann - über das Kritische der Sprache - das Kritische der Sache, daß es nämlich im Geschäftsleben kühl und hart hergeht, entdeckt und artikuliert werden. STERNBERGERs Forderung besagt im Kern aber: über Euphemismen (STERNBERGER würde sie  moralische  oder  humane  Wörter nennen) könnten die Verhältnisse geändert, könne "die Zeit sprachgemäß werden. Die Prämisse dieser optimistischen Konklusion ist von der wirkungsbezogenen Sprachtheorie angeliehen: "Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen".

Aber dieses Diktum stimmt nur, wenn in ihm nicht die Ursache der Folge, sondern das Indiz den von ihm indizierten Faktum vorausgeht, wenn also der Verderb der Sprache der Verderb des Menschen insofern  ist , als er diesen anzeigt. STERNBERGER, im Gegensatz etwa auch zu KARL KRAUS, kehrt Ursache und Folge um, was auch seine Interpretation eines OSSIETZKY-Wortes bestätigt (wobei es hier nicht darauf ankommt, ob es authentisch ist):
"Die Strafe, die sich Ossietzky (wie die Anekdote will) für die Naziführer ausgedacht hatte -  Deutsch  sollen sie lernen!" -, gewinnt ja gerade dadurch ihre Pointe, daß sie, die Nazis, lernten sie wirklich Deutsch, nämlich korrektes, gutes Deutsch, in demselben Augenblick aufhörten, das zu sein, was sie waren. Es wäre das Ende des Nationalsozialismus und das Ende der Diktatur."
Mit der Entdeckung einer Pointe, die nicht da ist, ignoriert STERNBERGER die Dialektik zwischen der Sprache und den Verhältnissen, die der eigentliche Kern dieses Zitats ist. Wenn die Nazis Deutsch lernten, meint es, wären sie keine Nazis mehr; Deutsch lernen (zur Strafe) werden sie aber erst, wenn sie keine Nazis mehr sind. Zwar spricht STERNBERGER selbst von der Dialektik zwischen der Sprache und den Verhältnissen, er sieht die Lösung aber nicht im gegenseitigen Austausch, sondern in der Umkehr der Hierarchisierung: nicht die Verhältnisse prägten die Sprache, die Sprache präge die Verhältnisse. Durch diese Umpolung ist man aber keinen Schritt weiter.

Die moralisierende Sprachkritik kann den dialektischen Vorgang nicht auflösen, weil sie ihn, ausgehend von einer linearen Aufeinanderentwicklung, gar nicht begreift. Die Frage nach dem Vorrang von Sprache oder Sache, also danach, welches von welchem kommt, kann aber nicht beantwortet, sondern nur end- und fruchtlos diskutiert und schließlich hyphothetisch pro oder kontra entschieden werden.

STERNBERGER definiert seine Sprachkritik, die nach den der Sprache "ganz und gar angemessen(en) und eingewachsen(en) ... Maßstäben des Guten und Bösen" messe, "zuallerletzt" dahingehend, daß sie "nicht mit Vorschrift, Weisung oder Lenkung zu verwechseln ist ... Kritik ist Unterscheidung, Scheidung ... Der Kritiker gibt vielleicht Ratschläge, aber er erläßt nicht Gebote und Verbote". Diese Versicherung stützt sich aber nur auf einen etymologischen Einfall und widerspricht der gesamten Anlage und Absicht des Wörterbuchs wie auch seinen Urteilen, die nach Maßgabe so absoluter und unkontrollierbarer Kriterien wie  gut  und  böse  zustandekommen.

Beim zweiten Beispiel, dem Aufsatz von G. STEINER, soll nur auf einen einzigen Aspekt eingegangen werden, da zehn Autoren zu den Aufsätzen Stelung genommen haben und ihrer Kritik nichts mehr hinzuzufügen ist:
"Zugegeben, das Deutschland der Nachkriegszeit ist ein Wunder. Aber es ist ein recht eigenartiges Wunder. An der Oberfläche flutet ein gleißendes, hektisches Leben, im Innern aber ist eine sonderbare Stille ... Was hier zugrundegegangen ist, das ist die deutsche Sprache. Wir brauchen nur die Tageszeitungen aufzuschlagen, die Magazine, die Flut der allgemein gelesenen und der wissenschaftlichen Bücher, die sich aus den neuen Druckerpressen ergießen, wir brauchen nur ein modernes deutsches Theaterstück anzusehen oder der Sprache zuzuhören, wie sie über den Rundfunk oder im Bundestag gesprochen wird ... Irgend etwas unermeßlich Zerstörendes ist ihr widerfahren. Sie mach Lärm. Sie teilt sogar mit, aber sie erzeugt kein Bewußtsein für Verbindung."
Diese Wahrnehmungen und Eindrücke STEINERs sind sicherlich bedenkenswert, seine Schlüsse auf die Sprache aber grundsätzlich verkehrt. Er verfährt wie STERNBERGER, indem er, was er an sprachlichem Defizit feststellt, nicht als Indiz, nicht als notwendigen Ausdruck einer bestimmten historischen Situation (der deutschen Nachkriegszeit und ihrer Trümmer- und Aufbauliteratur) erkennt, sondern die Sprache von den Verhältnissen abstrahiert; indem er ihren "Tod" behauptet, oder daß sie "an den Schrecken des Nazismus ... nicht ohne Schuld" gewesen sei, oder daß sich, weil eine Hölle mit ihr beschrieben wurde, "die Gewohnheiten der Hölle ... auf ihre Syntax" übertragen hätten.

Das Ansinnen, unmittelbar nach den "Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen" war, den Abstand der eigenen Sprache zur Sprache GOETHEs, HEINEs, NIETZSCHEs oder THOMAS MANNs verringern zu wollen, entspringt nicht nur einer vollkommen unhistorischen Denkweise, es bedeutet vor allem, sich über die Wirklichkeit hinweg- und aus seiner Zeit hinauszulügen. Wenn es den Sprechern nicht gelingt, ein "Bewußtsein für Verbindung" zu schaffen (was immer man sich darunter vorzustellen hat), kann ihnen die Sprache auch nicht weiterhelfen, weil sie immer die ihre ist, nicht mehr und nicht weniger.

Der Mythos von der sprachimmanenten Moral ist auch an gemäßigten Linguisten nicht spurlos vorübergegangen. HARALD WEINRICH schrieb z.B.:
"Es besteht kein Zweifel, daß Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, selber verlogen werden. Man versuche nur, solche Wörter wie  Weltanschauung, Lebensraum, Endlösung  in den Mund zu nehmen: die Zunge sträubt sich und spuckt sie aus. Wer sie dennoch gebraucht, ist ein Lügner oder Opfer einer Lüge. Lügen verderben mehr als den Stil, sie verderben die Sprache. Und es gibt keine Therapie für die verdorbenen Wörter; man muß sie aus der Sprache ausstoßen. Je schneller und vollständiger das geschieht, um so besser für die Sprache."
Es ist natürlich keinesfalls so, daß lügt, wer die Wörter gebraucht, sondern nur, wer mit ihnen das Unrecht, das sie bedeutet haben und bedeuten, kaschiert. Die Zeit heilt auch diese Wunden: wenn die Generation, die  Lager  oder  Weltanschauung  zu Verbrechen in Beziehung setzen muß, von anderen Generationen abgelöst wird, verlieren auch die Wörter diese Bedeutung. Aber die Mystifizierung von Wörtern, ihre Sonderung in moralische und unmoralsiche, läßt daran denken, daß ebenso, wie das Schlimme durch den Exorzismus der  moralischen  Wörter vermeintlich eingeführt werden könnte. Da damit die Sprache die Klärung von Recht und Unrecht übernähme, sähe sich der Sprecher von der Verantwortlichkeit für sein Sprechen (und Handeln) entbunden und auf einen unwillkürlich funktionierenden Sender/Empfänger- Homunkulus reduziert.

Diese Aussicht erhellt BETZs lapidarer Kommentar, der die Bemühungen STEINERs als Exkulpation derer entdeckt, gegen die es eigentlich gehen sollte: "Da werden die rechten Nazis jubeln" - wenn man ihnen nämlich bescheinigt, daß sie, weil ihrer Sprache hörig, für nichts konnten und können. Am Ende solchen Sprachfetischismus stünde dann eine Rabulistik, die Macht und Unrecht per definitionem legitimiert und eine Kontrolle durch unmittelbare Erfahrung und Einsicht in die wirklichen Verhältnisse nicht zuläßt. Zwar darf man die Effizienz und Ausdauer solcher definitorischer Sprachregelungen nicht überbewerten, doch sollte man zu ihrer Ermöglichung nicht unfreiwilig einen Beitrag leisten.

Solange die Wirklichkeit der Welt noch zu einem erheblichen Teil aus Unrecht und Ungerechtigkeit zusammengesetzt ist, solang fordert der, der die  Sprache  der Inhumanität bezichtigt und ihr Moral verordnet, nicht eine Sprache ohne Unmoral, sondern eine Welt ohne Inhalt.
LITERATUR - Franz Deubzer, Methoden der Sprachkritik, Münchner Germanistische Beiträge,
München 1980