tb-1Briefe über die Kantische PhilosophieKants Theorie der Erfahrung    
 

AXEL HÄGERSTRÖM
Kants Ethik
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"Raum und Zeit haben ihren Ursprung nicht in der Erfahrung oder in gegebenen Sinneseindrücken, sondern ursprünglichen Gesetzen des Bewußtseins, um dann durch eine ursprüngliche Synthese des Bewußtseins, die anläßlich der Sinneseindrücke realisiert wird, zu entstehen. Die Kategorie  entsteht  aus der logischen Funktion. Die logische Funktion selbst geht hervor aus der allgemeinen Synthese des Bewußtseins. Nach Wundt sind die Einheitsbegriffe der Substanz und Kausalität psychologischen Ursprungs, hervorgegangen aus ursprünglichen schöpferischen Synthesen des Bewußtseins. Dasselbe lehrt Kant, wenn er diese Begriffe für ursprünglich erworben erklärt. Den Anlaß der Entwicklung geben die Empfindungen, das Gesetz der Entwicklung ist das Einheitsgesetz des Bewußtseins."

"Nun nennen wir die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auch nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht ... Einige Seiten weiter wird sie so bestimmt, daß sie eine  notwendige Einheit  in der Synthese alles Mannigfaltigen zustande zu bringen habe, oder, wie der Ausdruck auch lautet, eine Affinität der Phänomene und damit deren Assoziabilität. Dieses Vermögen, bei dessen Ausübung vom  Unterschied  der Anschauungen gänzlich abgesehen wird, indem sie nur überhaupt verbunden werden, so daß sie sich assoziieren können - dieses Vermögen sollte nun mit der psychologischen Einbildungskraft etwas zu schaffen haben?"

"Wenn die psychologische Auffassung von Kant richtig ist, muß, falls man ihn nicht in die Klasse der Mittelmäßigen einreihen will, das  Unbewußte, Dunkle, Instinktive  ein Grundbegriff seiner Erkenntnistheorie sein. Sind sie aber doch nicht als solche dargestellt, so muß dieses nach den gewöhnlichen Methoden historischer Forschung als ein den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit beanspruchendes Indizium dafür erachtet werden, daß eine solche Auffassung der genannten Begriffe bei ihm nicht vorhanden gewesen ist."

3. Nachdem wir die wirkliche Stellung COHENs zur psychologischen Kantauffassung untersucht haben, tun wir das Gleiche mit Bezug auf den zweiten Hauptvertreter einer angeblich nicht psychologischen Auffassung, RIEHL. Dieser Verfasser bekämpft kräftig, was er "das psychologische Vorurteil" in der Kantauffassung nennt. (35) Er sagt: "Der Hergang der Vorstellungsbildung und der Entstehung von Erfahrung ist ohne Zweifel eine überaus wichtige Aufgabe. Aber  daß dies nicht der Aufgabe der Vernunftkritik Kants ist,  geht schlagend schon aus der einzigen Stelle hervor etc." (36) "Der Begriff der Erfahrung ist der feste Grund,  die  einzige Voraussetzung der Kantischen Erkenntnistheorie". "Die beiden Fragen: wie entstehen Vorstellungen und sind Vorstellungen gültig, mit dem Objekt übereinstimmend, d. h. enthalten sie gegenständliches Wissen, sind ganz verschiedene Fragen.  Die letztere  läßt sich durch keine Psychologie jemals entscheiden." (37) "Seine Frage ist nicht die psychologische: wie  erwerben  wir die Vorstellung von Gegenständen überhaupt? ... Es ist die erkenntniskritische: ist unsere Vorstellung von Gegenständen wahr? ist sie begründet? wie und unter welchen Einschränkungen kann sie bewiesen werden? Diesen Beweis führt die Vernunftkritik, und zwar nicht indem sie sich auf subjektive Notwendigkeiten und Einrichtungsstücke des Bewußtseins beruft, sondern indem sie sich auf den Begriff der Erfahrung stützt." (38)

Sehen wir nun zu, was RIEHL denn eigentlich unter der apriorischen Vorstellung bei KANT versteht. Der Begriff hiervon ist ja der Grundbegriff bei KANT, und seine Stellung zum "psychologischen Vorurteil" wird wohl nach seiner Auffassung dieses Kantischen Begriffs zu beurteilen sein. RIEHL bekämpft entschieden die HERBARTsche Auffassung des Raumes und der Zeit als - nach KANT - "fertiger Behälter", ja überhaupt alles Reden von der Apriorität im Sinne von angeborenen Vorstellungen. Alle apriorischen Vorstellungen sind  entstanden,  erworben. Diesen Erwerb nennt KANT einen  ursprünglichen Erwerb,  womit er bezeichnen will, daß sie ihren Ursprung nicht in der Erfahrung oder in gegebenen Sinneseindrücken haben, sondern ursprünglichen Gesetzen des Bewußtseins, um dann durch eine ursprüngliche Synthese des Bewußtseins, die anläßlich der Sinneseindrücke realisiert wird, zu entstehen. "Die Kategorie  entsteht  aus der logischen Funktion. Die logische Funktion selbst geht hervor aus der allgemeinen Synthese des Bewußtseins" (39) "Nach WUNDT (sind) die Einheitsbegriffe der Substanz und Kausalität psychologischen Ursprungs, hervorgegangen aus ursprünglichen schöpferischen Synthesen des Bewußtseins. Dasselbe lehrt KANT, wenn er diese Begriffe für ursprünglich erworben erklärt ..." "Den Anlaß der Entwicklung geben die Empfindungen, das Gesetz der Entwicklung ist das Einheitsgesetz des Bewußtseins" (40). KANT lehrt ebenfalls in Übereinstimmung mit WUNDT, daß Raum und Zeit Produkte einer psychischen Synthese sind. Den Anstoß zur Entwicklung geben die Sensationen. Der  Ursprung  ihrer Entwicklung liegt aber "in der Art und Weise, wie die Sinne gegebene Eindrücke vereinigen" (41). Daß hiermit die apriorischen Vorstellungen von psychischen Prozessen abhängig gemacht werden, liegt auf der Hand.

Nun ist es aber von entscheidender Bedeutung, ob der ursprüngliche Erwerb in diesem Sinne nach der Meinung RIEHLs ein  wesentliches  Kennzeichen der Apriorität ist oder möglicher weise nur ein zufälliger Ausdruck der Art und Weise, in welcher solche Vorstellungen im psychologischen Bewußtsein zum Vorschein kommen. Es ist zu untersuchen, ob nach der Meinung RIEHLs die Aprioriät  erkenntnistheoretisch  nichts mit dem "ursprünglichen Erwerb" zu schaffen hat, diese Lehre also nur andeutungsweise, ohne jedwede Bedeutung für die eigentliche Untersuchung in der Kritik vorkommt. Ist die der Fall, so kann RIEHL dennoch keine psychologische Auffassung der Kantischen Methode zugeschrieben werden. Und es scheint in der Tat so zu sein, denn in der Einleitung zu seiner Darstellung sagt er: Die Frage nach der Entstehung der Begriffe,  obschon außer seiner Aufgabe liegend,  (42) hat er gleichwohl, zum Teil in polemischer Absicht, hinlänglich erörtert ..." (43). Das Gleiche scheint sich daraus zu ergeben, daß er den Ausdruck "gelegentliche psychologische Andeutungen" (44) von der betreffenden Lehre in den kritischen Werken KANTs gebraucht. Diese  Äußerungen  sind jedoch  irreführend.  Schon der Umstand, daß dieselbe Lehre während des Verlaufs der Darstellung immer und immer wiederholt wird, läßt vermuten, daß sie für RIEHL nicht von unwesentlicher Bedeutung ist. Dazu kommt, daß sie ohne die geringste Andeutung ihrer Unwesentlichkeit für die Kantische Erkenntnistheorie wiederholt wird. (45) Noch deutlicher wird die Sachlage aber, wenn wir beachten, daß nach der ausdrücklichen Lehre RIEHLs eben der  Grund  der Apriorität der Erkenntnis "die unabhängige Entstehung" ist. Sie ist der Grund der von der Erfahrung unabhängigen Einsicht in die Gültigkeit der Erkenntnis. (46) Hier übereinstimmend  erklärt sich  nach RIEHL die Apriorität des Raums und der Zeit dadurch, daß sie ihren Ursprung in der Form der Sinnlichkeit haben (47). Entsprechend heißt es von den Kategorien: "Die Kategorien entspringen aus der Form des Verstandes oder des Denkens, dadurch wird ihre Apriorität möglich, d. h. begreiflich" (48). So finden wir auch, daß RIEHL die Kategorien durch und durch psychologisch behandelt. Die Kategorie entsteht und besteht nach ihm nur in einem reflektierten Bewußtsein. Ihr Anwendung wird durch die gegebenen Verhältnisse der Erscheinungen hervorgerufen (49). Noch mehr psychologisch ist die Ausdrucksweise, wenn RIEHL gegen die Kategorienlehre KANTs den Einwand erhebt: "Das entwickelte Bewußtsein ist ohne Zweifel im Besitz mehrerer formaler Einheitsbegriffe - aber auch das ursprüngliche?" (50)

Betrachten wir sodann die Auffassung RIEHLs vom Bewußtsein, das nach KANT der Erfahrung ihre Form verleiht, so finden wir unsere Vermutung über seine wirkliche Stellung zum psychologischen Vorurteil auf das Entschiedenste bestätigt. Es heißt bereits in der einleitenden Darstellung: "Wenn KANT die  allgemeine Form  der Erfahrung an das Bewußtsein (eine Tatsache) ... knüpfte, so knüpfte er sie damit nicht an ein  eingerichtetes,  sondern an ein alle seine Vorstellungen, seien es Anschauungen oder Begriffe,  erwerbendes  Bewußtsein" (51). Von diesem Bewußtsein heißt es später: "Die Erfahrung wirkt und entwickelt das Bewußtsein, aber das Bewußtsein wirkt und wächst nach seiner eigenen Gesetzlichkeit" (52). Daß dies auf nichts anderes Bezug haben kann als auf das psychologische, empirische Bewußtsein, liegt auf der Hand. Dies wird dann auch noch ausdrücklich hervorgehoben. "Die Entwicklung (gilt) nur vom empirischen, psychologischen Bewußtsein, nicht vom Grundgesetze derselben, das vielmehr von uns als äußerste, nicht ferner ableitbare Tatsache hingenommen werden muß." (53) Man beachte, daß im Bewußtsein nur das allgemeine Gesetz seiner Tätigkeit der empirisch psychologischen Entwicklung entzogen ist (54).

Betrachten wir dieses Gesetz genauer. Es ist, wie öfters betont, die Einheit des Bewußtseins in der Synthese, mit anderen Worten: das Selbstbewußtsein. Wie ist dieses Gesetz zu verstehen, aus dem alle apriorischen Vorstellungen - Raum und Zeit durch deren Verbindung mit der Auffassungsweise der Sinnlichkeit - hervorgehen? (55) Es herrscht kein Zweifel darüber, daß es von RIEHL als eine latente Fähigkeit des Bewußtseins zu einer einheitlichen Synthese verstanden wird, die durch die Einwirkung des Gegenstandes auf das Bewußtsein zur Aktion gelangt. "Der Gegenstand macht die formale Einheit des Bewußtseins notwendig." "Die formal mögliche Einheit des Bewußtseins wird zu wirklichene Einheit durch den Gegenstand selbst." (56) "Es könnten wohl Erscheinungen, erklärt er (KANT), so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände - und in diesem Fall würde der Verstand ein totes, unentwickeltes, uns selbst unbekanntes Vermögen sein" (57). Hier ist an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wir haben hier offenbar im Grundgesetz des Denkens eine ursprüngliche Einrichtung" oder "ursprüngliche Anlage", wie sehr sich auch RIEHL dagegen sträuben mag. (58)

Schließlich ist zu behandeln, wie RIEHL die Bedeutung der transzendentalen Deduktion auffaßt! Diese liegt nach ihm im Nachweis der Kategorien als der Prinzipien einer möglichen Erfahrung. Dies wiederum geschieht durch den Nachweis, daß die formalen Anschauungen von Raum und Zeit aus der Einheit des Bewußtseins, deren Begriffe die Kategorien sind, hervorgehen. Da alle Anschauungen unter den formalen stehen müssen, müssen sie auch unter den Kategorien stehen und damit auch der Gegenstand der Anschauung. (59) Bei der RIEHLschen Auffassung der apriorischen Anschauung und der Einheit des Bewußtseins ist es aber klar, daß der ganze Beweis auf eine Darstellung der  Entstehung  der Erfahrung, obgleich mit besonderer Bezugnahme auf deren formale Seite, gestützt wird. Die Erfahrung entsteht so, daß der Gegenstand der Anschauungen in einer bestimmten Ordnung und von bestimmter Beschaffenheit hervorruft. Dadurch gelangt die Einheit des Bewußtseins zur Aktion und schafft - bei der Auffassungsweise der Sinnlichkeit - die Anschauungen Raum und Zeit, die höchsten objektiven Einheiten. Erst hiermit wird die  Vorstellung  vom Objekt (nicht das Objekt selbst) möglich. Die Einheit des Bewußtseins ist mithin die Bedingung der  Vorstellung  vom Objekt, deshalb müssen alle Objekte, soweit sie in unserem Bewußtsein vorkommen, unter derselben stehen. RIEHL hebt dan auch in der Tat ausdrücklich hervor, daß die Einheit des Bewußtseins nur  subjektive  Bedeutung hat. Sie sei nur die ideelle Form des Begriffs von einem Objekt (60). Die Kategorien, die Einheitsbegriffe, haben ansich keine Objektivität; nur weil sie die  Elemente der Erfahrung  sind, sind sie für die Objekte gültig (61). Die Erfahrung selbst hat ihre Objektivität von den Dingen-ansich. Also: das Bewußtsein hat eine bestimmte, ursprüngliche, subjektive (psychische) Beschaffenheit, Anlagen zu einer bestimmten Art und Weise der Tätigkeit. Wenn ihm die Gelegenheit abgeht, diese Anlagen zu entwickeln, kann es nicht zur Erfahrung, zur Erkenntnis der Objekte kommen. Deshalb müssen die objektiven Eindrücke, um zur Erfahrung ausgebildet zu werden, mit dieser Beschaffenheit übereinstimmen.

Fragt man nun, aus welchem Grund RIEHL seine Methode als nicht-psychologische hinstellt, so findet man den Grund in dem Umstand, daß er KANT seine Erfahrungspsychologie nicht auf psychologische Untersuchungen, sondern auf eine objektive Analyse des Erfahrungsbegriffs bauen läßt. So führt RIEHL aus, KANT  beweise  die Apriorität der Vorstellung von Raum und Zeit durch eine objektive Analyse dessen, was im  Begriff  Raum und Zeit liegt, obwohl er eben diese Apriorität durch eine psychologische Theorie von der  Entstehung  der Raum- und Zeitvorstellung  erklärt.  (62) Indessen hat dieses Verhältnis keine Bedeutung für die Entscheidung der eigentlichen Hauptfrage: ob die Kantauffassung RIEHLs psychologischer Natur ist oder nicht. (63)

4. Wir haben nun gesehen, daß die beiden hervorragendsten Kantforscher, welche von sich behaupten, sie hätten keine psychologische Auffassung, keineswegs ihrer Behauptung gemäß verfahren. Es kann daher als ausgemacht betrachtet werden, daß die psychologische Auffassung von KANT ein durchgängiger Zug bei den heutigen Kantforschern ist. Wir wollen nunmehr ihre Haltbarkeit prüfen. Wir fassen zunächst  die Konsequenzen einer solchen Auffassung  ins Auge und zeigen einige der Widersprüche oder Schwächen, die man infolgedessen KANT zur Last zu legen genötigt ist.

a. Wenn KANT dem Phänomen das Psychologische Bewußtsein zugrunde legt, so bezeichnet der Begriff des ersteren, daß die uns gegebene Wirklichkeit aus den empirischen Wahrnehmungen empirischer Subjekte besteht. Dann müssen aber auch, damit dies nicht widersinnig ist, die empirischen Subjekte mit ihren Empfindungen  an und für sich wirklich  sein und nicht nur ihrerseits wiederum für ein sie auffassendes Bewußtsein existieren. Oder, aus einem anderen Gesichtspunkt gesehen: liegt die Phänomenalität der Wirklichkeit darin, daß Raum und Zeit beim empirischen Subjekt im voraus existieren, sei es als ursprüngliche Anlagen oder fertige Formen, und späterhin auf die sich darbietenden Sensationen angewandt werden, so bedeutet ja dies eo ipso, daß das in der Zeit wirksame Bewußtsein selbst eine für sich bestehende Realität ist. Wie steht es aber um diese Sache bei KANT? Niemand wird wohl bestreiten können, daß nach KANT die Zeit selbst eine Form des inneren Sinns ist, und daß das empirische Subjekt mit seinen in der Zeit gegebenen Zuständen ein Phänomen ist. "Wenn die Erscheinungen Gründe haben müssen, die nicht Erscheinungen sind, so leuchtet ein, daß die Erklärung der Erscheinungen als Modifikationen dessen, was selber eine Erscheinung ist, ein offenbarer Widerspruch ist", sagt ganz richtig GEORGE DAWES HICKS (64) und - schiebt KANT diesen Widerspruch in die Schuhe (65).

b. KANT macht oft, wie es scheint in offenbarem Widerspruch mit dem Subjektivismus, einen Unterschied zwischen der Vorstellung und dem vorgestellten Gegenstand; so rede er oft von einem Realen, das der Sensation korrespondiert (66). Und mehr noch, in demselben Augenblick, wo er behauptet, die Dinge hätten phänomenalen Charakter, seien mit anderen Worten nur Vorstellungen, sagt er, daß die Farben z. B. nur Modifikationen des Gesichtssinns sind, der  auf  gewisse Weise vom Licht affiziert wird. (67) Also: das Ding ist nach oft wiederholten Behauptungen nur die Wahrnehmung (68), die durch die Raumform objektiviert wird.  Dieselbe  Wahrnehmung wird dann aber vom Ding getrennt, ja als durch das Ding bewirkt dargestellt. In der Tat ein flagranter Widerspruch,  wenn  KANT psychologisch aufzufassen ist. Man lese übrigens nur z. B. VAIHINGERs Kommentar zu KANTs Kr. d. r. V. und seinen Exkurs über "Die affizierenden Gegenstände" (69) und man wird finden, daß das Verhältnis als ein wirklicher Widerspruch bei KANT festgestellt wird: eine Folge der ganzen psychologischen Auffassung, die jener Verfasser von der Erkenntniskritik KANTs hat. Oder man lese GEORGE DAWES HICKS: "Die Begriffe Phänomenon und Noumenon etc." und seine Darstellung der beiden nach seinem Dafürhalten einander absolut entgegengesetzten Bestimmungen des Erscheinungsbegriffs, die bei KANT vorkommen. (70)

Hiermit hängt ein besonders schwieriger Punkt für die psychologische Auffassung von KANT zusammen: seine Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage (71). KANT sucht hier ja zu beweisen, daß die äußere Erfahrung ebenso unmittelbar sei wie die innere. Das Ding im Raum existiert als ein von allen meinen Vorstellungen getrenntes perdurierendes [dauerndes - wp] Ding mit ebenso ursprünglicher Realität, wie ich selbst als ein bestimmtes Dasein der Zeit existiere. VOLKELT (72) und BENNO ERDMANN (73) fassen hier jenes perdurierende Ding außer mir als das Ding-ansich auf. Nun lautet die Überschrift des Beweises: "Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im  Raum  außer mir." Und überdies wird ja eben hier noch ausdrücklicher gesagt, daß das Beständige, was wir auf den Begriff  Substanz  beziehen können, nur die  Materie  ist. (74) Hieraus, wie übrigens aus jedem Moment der Darstellung, erhellt sich, daß auf das Ding im Raum Bezug genommen wird. Demnach würde KANT sich hier damit beschäftigen, zu  beweisen,  daß die Dinge im Raum "Dinge-ansich" sind (75). Übrigens kann man ja vom Raum absehen und nur das ins Auge fassen, daß KANT hier also die Existenz  perdurierender  Dinge-ansich würde  beweisen  wollen. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß seine Kritik durch und durch, wie überhaupt die ganze Philosophie KANTs, sich auf die Lehre von der transzendentalen Idealität sowohl des Raumes wie auch der Zeit stützt. Diese Auffassung, die dazu führt, KANT eines so absoluten Widerspruchs gegen sich selber zu zeihen, vor dem ein Adept der Philosophie zurückbeben würde, beruth indessen nicht auf Zufall. Sie ist in der Tat notwendig, wenn man von Anfang an einerseits an der  Tatsache  festhält, daß KANT unter der Phänomenalität des Dings eben die Wahrnehmung selbst versteht, und andererseits diese Wahrnehmung als zu meinem zeitlichen Dasein gehörend, mithin psychologisch, auffaßt. Wenn nun KANT von Dingen redet, welche außerhalb der zu meinem zeitlichen Dasein gehörenden Vorstellungen existieren: was kann er wohl meinen, wenn nicht das Ding-ansich! Diese Auffassung ist von ihrem Gesichtspunkt aus ebenso notwendig, wie die von VAIHINGER (76) und HICKS (77) vertretene, nach welcher KANT hier tatsächlich das Phänomen meint, mit der Phänomenalität der körperlichen Dinge aber etwas ganz anderes meint, als wenn er die Dinge als bloße Vorstellungen bestimmt. Geht man von der  Tatsache  aus, daß KANT hier den Beweis der gleich ursprünglichen Realität der äußeren  Phänomene  wie der inneren erbringen will, und faßt man andererseits diejenigen Stellen psychologisch auf, wo das Phänomen als die Vorstellung selbst bestimmt wird, so  muß  man sagen, daß KANT hier in den Begriff  Phänomen  zwei gänzlich entgegengesetzte Bedeutungen gelegt hat. Welcher Deutung man nun auch beitritt, d. h. von welchem authentischen  Faktum  man ausgehen mag - ein gleich schwerwiegender Widerspruch bei KANT ist das Ergebnis. Es scheint, als müsse hier entweder ein Grundfehler in der Kantauffassung vorliegen - oder es hat die Altersschwäche KANT allzu stark beeinflußt, als er sein berühmtes Werk niederschrieb. Man beachte, daß hier von keinem verborgenen Widerspruch die Rede ist, der etwa schwer aufzudecken sei, sondern von einem solchen, der für jedermann, der auch nur die allergeringsten Voraussetzungen für philosophische Untersuchungen hat, sozusagen mit Händen  greifbar  ist.

c. Es ist zu beachten, daß aus der Art und Weise, in der wir zu irgendeiner bestimmten Wahrnehmung gelangen, nichts in Bezug auf  den Inhalt  der Wahrnehmung zu folgern ist. Wenn man beweisen kann, daß wir, um eine gewisse Erscheinung wahrnehmen u können, eine ursprüngliche Veranlangung, sie wahrzunehmen, in uns haben oder geradezu die Vorstellung in uns fertig haben müssen, so ist daraus keineswegs zu folgern, daß die Vorstellung selbst etwas  lediglich  Subjektives sei. Wenn dem so wäre, wo müßte auch aus dem Umstand, daß richtige Beobachtungen über diese Naturdinge eine angeborene Beobachtungsfähigkeit erfordern, gefolgert werden, daß die beobachteten Gegenstände nicht wirklich existieren. Es ist deshalb ziemlich einfach, die Inkonsequenz zu begreifen, deren KANT, wenn seine Erkenntniskritik psychologisch gemeint ist, sich schuldig macht in seinem Schluß von der Apriorität des Raums und der Zeit auf deren  bloße  Subjektivität. Weil die Auffassung von Raum und Zeit ursprüngliche Anlagen im menschlichen Bewußtsein oder gar fertige Formen darin voraussetzen, sollten Raum und Zeit nur subjektiv sein! Versteht es sich von selbst, daß die  Wirklichkeit  diese Formen gar nicht hat, eben weil  ich,  um sie wahrzunehmen, gewisse ursprüngliche Anlagen dazu besitzen muß? Oder um mit TRENDELENBURG zu reden: "Wenn nun z. B. durch die innere Bewegung der Imagination die Vorstellung des Raums entsteht (subjektiv), so ist dadurch der Raum nicht gehindert objektiv zu sein." (78) Es ist dies eine so überaus leicht anzustellende Reflexion, daß es einen nur wundern kann, wie sie zum Gegenstand so vieler Auslegungen gemacht werden können. Man findet dann aucm im Kommentar VAIHINGERs (79), daß schon zu KANTs Lebzeiten allerlei  Dii minores  [Götter zweiter Ordnung - wp] ihn auf das Ungereimte seiner Schlußfolgerungen hinwiesen - obschon offenbar diese Hinweisungen erfolglos geblieben sind.

d. Von einem Dii minorespsychologischen Gesichtspunkt aus gesehen, muß es als äußerst merkwürdig und von wissenschaftlicher Oberflächlickeit zeugend angesehen werden, daß KANT ohne jedewede Motivierung den Begriff  des inneren Sinns  einführt. Er stellt sich den inneren Sinn offenbar parallel dem äußeren Sinn vor als eine Art Organ, mittels dessen wir unsere eigenen Zustände auffassen. "Unsere eigenen, inneren Zustände müssen nach KANT erst noch durch einen besonderen Sinne erfaßt werden, den sie affizieren." (80) Daß es einer solchen besonderen Art "Affektion" bedarf, um die Selbstauffassung  psychologisch  zu ermöglichen, ist eine Behauptung, die man, wenn man den geringsten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit haben will, dann doch zu  beweisen  als nötig erachten müßte.

Wir können uns damit begnügen, diese Schwächen als Folgen einer psychologischen Kantauffassung aufzuzeigen. Im übrigen sei auf VAIHINGER verwiesen, der ganze Netze von Widersprüchen bei KANT entdeckt. Er sagt dann auch selbst, nachdem er zu zeigen versuchte, daß KANT die reine und die angewandte Mathematik durcheinander geworfen hat: "Wir haben hier also wieder eine jener zahllosen Ungenauigkeiten, bzw. Widersprüche, wie sie uns bei KANT auch bisher auf Schritt und Tritt begegnet sind." An diese Worte knüpft VAIHINGER folgende Reflexion: "An der Genialität des Manes brauchen wir deshalb nicht zu zweifeln: es gehört eben zur  psychologie des grands hommes,  daß geniale Geistesbegabung im Großen eine solche auffallende Verwirrung in Einzelfragen nicht ausschließt, ja, vielleicht fördert." (81) Können wir aber die "auffallende Verwirrung" KANTs beim Bestimmen des Begriffs des Phänomens oder in Bezug auf die affizierenden Gegenstände als "Einzelfragen" ansehen und demnach immer noch die "Genialität des Mannes" in Schutz nehmen? Es sollte dann doch scheinen, als sei es hier vonnöten, sich selbst Halt zu gebieten und sich zu fragen, ob man sich  selbst  im rechten Geleis bewegt?

5. Wir wollen jetzt, bevor wir durch eine direkte Behandlung der Prinzipienfragen der Erkenntniskritik die Stellung derselben zur Psychologie darzulegen suchen,  einige Einzeltatsachen  besprechen, die für ein Verständnis dieser Frage von Wichtigkeit sind.

a. Wie KANT selbst  die Stellung seiner Erkenntniskritik zur Psychologie  beurteilt haben will, darüber waltet ja kein Zweifel. Von besonderer Bedeutung hierfür ist eine wenig beachtete Stelle in der Kr. d. r. V. Es heißt in der Einleitung zur transzendentalen Deduktion, der Kategorien von der empirischen Ableitung reiner Begriffe, die zu zeigen hat, wie die Erkenntniskraft aus Anlaß der Eindrücke in Aktion versetzt und von der Wahrnehmung zu allgemeinen Begriffen entwickelt und somit die Erfahrung geschaffen wird: "Allein eine  Deduktion  der reinen Begriffe a priori kommt dadurch niemals zustande, denn sie liegt ganz und gar nicht auf diesem Weg ... Diese versuchte physiologische Ableitung, die eigentlich gar nicht Deduktion heißen kann, weil sie eine  quaestionem facti  betrifft, will ich daher die Erklärung des  Besitzes  einer reinen Erkenntnis nennen." (82) Hieraus scheint ja deutlich hervorzugehen, daß KANT mit der transzendentalen Deduktion keineswegs darzustellen bezweckt, wie die Erfahrung entsteht und die Anwendung der Kategorien dabei notwendig gemacht wird. - Hierzu findet man eine offenbare Parallelstelle in den Prolegomena § 21a: "Um alles bisherige in einen Begriff zusammenzufassen, ist zuvörderst nötig, die Leser zu erinnern: Daß hier nicht vom Enstehen der Erfahrung die Rede ist, sondern von dem, was in ihr liegt. Das erstere gehört zur empirischen Psychologie, und würde selbst auch da, ohne das zweite, welches zur Kritik der Erkenntnis und besonders des Verstandes gehört, niemals gehörig entwickelt werden können." Man sieht hier, daß KANT zwar die empirische Psychologie und die Erkenntniskritik in ein gewisses Verhältnis zueinander setzt, aber in ein dem allgemein gebräuchlichen entgegengesetztes. Die Psychologie ist in Bezug auf die Erklärung der Entstehung der Erkenntnis von der Erkenntniskritik  abhängig.  So findet man dann auch an jener entsprechenden Stelle in der Kr. d. r. V., daß hinsichtlich der physiologischen Ableitung der Begriffe auf das  kritische  Ergebnis der Untersuchung der Erfahrung verwiesen wird: "Indessen kann man von diesen Begriffe die Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Erfahrung aufsuchen, wo dann die Eindrücke der Sinne den ersten Anlaß geben, die ganze Erkenntniskraft in Anbetracht ihrer zu eröffnen, und Erfahrung zustande zu bringen, die zwei sehr ungleichartige Elemente enthält, nämlich, eine  Materie  zur Erkenntnis aus den Sinnen, und eine gewisse  Form,  sie zu ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens, die, bei Gelegenheit der ersteren, zuerst in Ausübung gebracht werden und Begriffe hervorbringen." KANT knüpft hier offenbar an das Resultat der kritischen Untersuchung an und zeigt, wie es bei einer psychologischen Erklärung der Entstehung der Erfahrung zu verwenden ist. - Wie ist es möglich, die transzendentale Deduktion so zu verstehen, als stelle sie dar, wie die Erfahrung durch eine Entwicklung der latenten Erkenntniskraft entsteht, da dies nach KANT zu einer auf die Erkenntniskritik gegründeten Psychologie gehört?

Außerdem sind bestimmte Aussagen KANTs betreffs der Bedeutung der Psychologie von Gewicht. Es heißt, diese Wissenschaft habe im Vergleich mit der Physik eine erhebliche Inferiorität [Minderwertigkeit - wp]. In der Physik könne vieles a priori erkannt werden durch Bestimmungen der Raumform; dies könne aber nicht in der Psychologie geschehen, wo alle Erkenntnis nur empirisch ist, wofür der Grund angegeben wird. (83) Bei der Darstellung der Architektonik der reinen Vernunft heißt es: "Zweitens: wo bleibt denn die  empirische Psychologie,  welche von jeher ihren Platz in der Metaphysik behauptet hat, und von welcher man in unseren Zeiten sogar große Dinge zur Aufklärung derselben erwartet hat, nachdem man die Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszurichten? Ich antworte, sie kommt dahin, wo die eigentliche (empirische) Naturlehre hingestellt werden muß, nämlich auf die Seite der  angewandten  Philosophie ... Also muß empirische Psychologie aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein" (84)

Dieser von KANT selbst bewerkstelligten Ausscheidung der Psychologie aus der Erkenntnistheorie dürfte dann doch wohl ein wenig Beweiskraft zuerkannt werden müssen, wenn es gilt zu entscheiden, was KANT selbst bei seinen kritischen Untersuchungen gemeint hat. - Hören wir aber, wie ein hervorragender Kantforscher, HEGLER, diesbezüglich räsonniert. Er findet es eigentümlich, daß KANT den Gegenstand der rationalen Psychologie auf das einfache: "Ich denke" beschränkt haben soll. "Er hat in seiner Kritik der reinen Vernunft die Werkstätte des menschlichen Bewußtseins viel genauer durchforscht." Weshalb hat er nicht in die rationale Psychologie den ganzen Mechanismus unseres Bewußtseins nebst der Synthese der Einbildungskraft, den Kategorien des Verstandes einschließlich der transzendentalen Apperzeption aufgenommen? Frelich nicht die Entdeckung und das Rechtfertigen dieser Elemente, denn dann wäre ja die Erkenntnistheorie ganz und gar in die Psychologie aufgegangen. Weshalb aber nicht die Zusammenstellung? "Daß nun KANT diesen Erkenntnissen, obwohl sie zweifellos rational sind und zu einer - nach KANTs Anschauung - von der Erfahrung unabhängigen Bestimmung des menschlichen Geistes dienen, trotzdem den Titel einer rationalen Psychologie verweigert, ist höchst charakteristisch." Es bezeugt teils die Abhängigkeit KANTs "vom Fachwerk der Überlieferung", teils seinen Eifer, die Psychologie von der Entdeckung und der Rechtfertigung der apriorischen Formen fern zu halten. Außerdem wäre dann die Wissenschaft vom menschlichen Geist der Naturwissenschaft übergeordnet. KANT liegt aber daran, daß beide als koordiniert gleiches Interesse in einer über ihnen stehenden Erkenntnistheorie haben. (85) - Wir erwähnen hier nur beiläufig die offenbar irrige Angabe, daß das "Ich denke" ein  Gegenstand  der rationalen Psychologie ist. Es ist nicht der  Gegenstand,  sondern nur der einzig mögliche  Erkenntnisgrund  einer rationalen Psychologie. Gegenstand ist "Ich als denkendes Wesen", was man durch die reine Ich-Vorstellung "Ich denke" zu bestimmen sucht. (86) Und KANT meint, das wirkliche Wesen der Seele kann nur durch das  reine  Selbstbewußtsein - im Gegensatz zum  empirischen  - erkannt werden. Die Verwirrung bei HEGLER zog jedoch die Frage nach sich, weshalb KANT nicht auch die Kategorien, die Einbildungskraft usw. als  Gegenstände  der rationalen Psychologie mitgenommen hat. Wenn HEGLER streng daran festgehalten hätte, daß das "Ich denke" nach KANT nur als der einzig mögliche  Erkenntnisgrund  einer  rationaen  Psychologie Bedeutung hat, so wäre der Anlaß, diese Frage aufzuwerfen, weggefallen. - Nach der Darstellung HEGLERs hätten wir nun folgende Position: Nach KANT  ist  die Kritik eine Lehre von den apriorischen Formen und Grundkräften  des menschlichen Geistes.  Nichtsdestoweniger darf sie nicht eine Lehre vom menschlichen Geist (= Psychologie)  genannt  werden. Nicht einmal die  Zusammenstellung  der apriorischen Formen dieses Geistes darf eine Lehre von demselben genannt werden. Und das hat seinen Grund einesteils im Einfluß der Überlieferung auf KANT, andererseits in seinem Wunsch, die Erkenntnistheorie (durch ein Vermeiden dieser Nomenklatur!) der Psychologie und der Naturwissenschaft in gleich hohem Maße übergeordnet erscheinen zu lassen. Wahrhaftig ein - sit venia verbo [Man vergebe mir das Wort! - wp] kindischer Eigensinn, den man einer Person in dem Alter, in dem sich KANT zur Zeit der endgültigen Redaktion der Kritik befand, kaum zutrauen sollte. Erörterungen wie die HEGLERs beweisen jedoch etwas ganz andres als das Bezweckte, nämlich daß die Kritik KANTs gar nicht die apriorischen Formen oder die Grundkräfte  "des menschlichen Geistes"  behandelt (87).

b. Wer KANT psychologisch auffaßt, muß ihn natürlich so verstehen, als würden  die apriorischen Vorstellungen  beim Bilden der Erfahrung von uns in einer  unbewußten,  dunkel  instinktmäßigen  Weise angewandt. Ist es aber nicht merkwürdig, daß KANT selbst nichts darüber direkt mitteilt? Wir nehmen ein Beispiel. In seinem Beweise des Kausalitätsgrundsatzes versucht KANT den Nachweis, daß die Wahrnehmung einer objektiven Zeitfolge die Anwendung des Kausalitätsbegriffs voraussetzt. Diese Behauptung erscheint ja psychologisch höchst merkwürdig. Wenigstens erscheint ja psychologisch höchst merkwürdig. Wenigsten erscheint es offenbar, daß ich nicht bei jeder objektiven Zeitfolge die bewußte Vorstellung einer Kausalität habe. Wäre es nicht deshalb vonnöten gewesen, daß KANT, wenn er die Sache psychologisch meinte,  aufs schärste  betont hätte, daß hier nur von einer mehr oder weniger  dunklen  Vorstellung die Rede sei?  Ohne  daß dies ausdrücklich betont wird, erscheint ja die ganze Sache vom psychologischen Gesichtspunkt aus selbst mindestens dunkel.  Es findet sich aber hierüber kein Wort.  (88) - Man muß dann doch wohl, wenn man KANT vorurteilsfrei studiert hat, mit Verwunderung Folgendes z. B., das einen angesehenen Kantdarsteller, HÖLDER (89), zum Verfasser hat, lesen: "Die Welt von Erscheinungen, welche als kontinuierlichen, räumlich-zeitlichen Bilderkomplex jeder einzelne sich vorfindet, sobald er wissenschaftlich über sich nachdenkt, sie hat - wie KANT es auffaßt - jedenfalls erst sich gebildet Hand in Hand mit der Entwicklung seines denkenden, urteilenden (zunächst freilich noch nicht wissenschaftlichen) Bewußtseins. Dieses denkende Bewußtsein bedient sich natürlich der Kategorien, zunächst allerdings nur instinktiv, ohne vom eigenen Tun und seinen Gesetzen sich Rechenschaft zu geben."  Wo  in der Kritik KANTs oder überhaupt in seinen erkenntnistheoretischen Schriften aus der kritischen Perionde findet man die geringste Andeutung einer  Entwicklung  aus einem mehr instinktiv wirkenden Bewußtsein zu einem wissenschaftlichen? Ich habe zumindest keine solchen angetroffen. Übrigens gilt hinsichtlich dieses Punktes, daß ein Nachweis bezüglicher Äußerungen in  anderen  Schriften als den rein erkenntnistheoretischen, z. B. in der Logik oder der Anthropologie, nicht genügt. Auch nicht der Nachweis vereinzelter darauf bezüglicher Äußerungen in der Kritik oder ihr zur Seite stehenden Schriften würde hinreichen. Wenn die psychologische Auffassung von KANT richtig ist, muß, falls man ihn nicht in die Klasse der Mittelmäßigen einreihen will, das "Unbewußte", "Dunkle", "Instinktive" ein Grundbegriff seiner Erkenntnistheorie sein. Sind sie aber doch nicht als solche dargestellt, so muß dieses nach den gewöhnlichen Methoden historischer Forschung als ein den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit beanspruchendes Indizium dafür erachtet werden, daß eine solche Auffassung der genannten Begriffe bei ihm nicht vorhanden gewesen ist.

c. Schließlich will ich, bevor ich zur positiven Darstellung der Prinzipfragen schreite und dadurch die Stellung der Kantischen Erkenntnistheorie zur Psychologie beleuchte, einen bei unserem Philosophen öfters wiederkehrenden Begriff erörtern:  die Einbildungskraft in transzendentaler Bedeutung.  die ja zwischen dem Verstand und der Sinnlichkeit vermitteln soll. Wäre hiermit die psychologische Einbildungskraft gemeint, so wären deren Produkt schlechterdings  Bilder  und eben nichts anderes. Ist es aber irgendwie möglich, bei KANT eine Stelle nachzuweisen, welche besagt, daß das Werk der transzendentalen Einbildungskraft "in der Konstruktion von Anschauungsbildern" liegt? (90) Zwar heißt es: "Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein  Bild  bringen" (91). Zu beachten ist aber, daß hier, wie der Zusammenhang zeigt, von der empirischen Einbildungskraft die Rede ist. Von der transzendentalen heißt es unmittelbar vorher: "Nun nennen wir die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auch nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht ..." (92) Einige Seiten weiter wird sie so bestimmt, daß sie eine  notwendige Einheit  in der Synthese alles Mannigfaltigen zustande zu bringen habe, oder, wie der Ausdruck auch lautet, eine Affinität der Phänomene und damit deren Assoziabilität (93). Dieses Vermögen, bei dessen Ausübung vom  Unterschied  der Anschauungen gänzlich abgesehen wird, indem sie nur überhaupt verbunden werden, so daß sie sich assoziieren können - dieses Vermögen sollte nun mit der psychologischen Einbildungskraft etwas zu schaffen haben? - Wir haben aber noch anderes Beweismaterial. Es heißt bei der Darstellung des Schemas: "Das Schema ist ansich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bild zu unterscheiden ..." (94) und weiter: "So viel können wir nur sagen: das  Bild  ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das  Schema  sinnlicher Begriffe ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden." (95) - Was auch die reine Einbildungskraft bei KANT bedeuten mag, keinesfalls ist es eine psychologische Einbildungskraft, wenngleich sie durch ihre Tätigkeit die Vorstellung assoziabel macht und den Regeln,  nach  denen die  empirische  Einbildungskraft Bilder produzieren kann, zugrunde liegt.
LITERATUR - Axel Hägerström, Kants Ethik, Uppsala / Leipzig 1902
    Anmerkungen
    35) ALOIS RIEHL, Der Philosophische Kritizismus I, Seite 294f
    36) RIEHL, a. a. O. Seite 302
    37) RIEHL, a. a. O. Seite 303
    38) RIEHL, a. a. O. Seite 310-311; vgl. 396
    39) RIEHL, a. a. O. Seite 303
    40) RIEHL, a. a. O. Seite 306
    41) RIEHL, a. a. O. Seite 305
    42) Kursiv von mir A. H.
    43) RIEHL, a. a. O. Seite 303
    44) RIEHL, a. a. O. Seite 307
    45) Siehe z. B. 324 - 325
    46) Siehe besonders die kursivierten Worte.
    47) RIEHL, a. a. O. Seite 352
    48) RIEHL, a. a. O. Seite 377
    49) RIEHL, a. a. O. Seite 365; vgl. Seite 371 den Vergleich mit dem Bewußtsein der Tiere, und Seite 416: "Sie (die Ordnung der Wahrnehmungen) erweckt den Gedanken der Ursächlichkeit."
    50) RIEHL, a. a. O. Seite 387. RIEHL ist hiermit in der Tat wieder in die WUNDT'sche Karikatur-Auffassung von KANT verfallen.
    51) RIEHL, a. a. O. Seite 302
    52) RIEHL, a. a. O. Seite 323
    53) RIEHL, a. a. O. Seite 307
    54) RIEHL, a. a. O. vgl. Seite 373, wo das Bewußtsein als wesentlich Synthese seiend dargestellt wird, wobei diese Synthesenur in der wirklichen Ausübung existiert. Nur die Form dieser Synthese ist ursprünglich.
    55) RIEHL, a. a. O. Seite 377-378
    56) RIEHL, a. a. O. Seite 383
    57) RIEHL, a. a. O. Seite 389
    58) Vgl. VAIHINGER, Kommentar zur Kants "Kritik der reinen Vernunft" II, Seite 97
    59) RIEHL, a. a. O. Seite 375
    60) RIEHL, a. a. O. Seite 382
    61) RIEHL, a. a. O. Seite 405
    62) RIEHL, a. a. O. Seite 348-349
    63) Einen dem RIEHLschen im ganzen gleichartigen Standpunkt nimmt GOLDSCHMIDT ein in seiner Schrift: "Für Immanuel Kant, Kantkritik und Kantstudium". Zwar betont er wie RIEHL, daß die Erkenntniskritik wesentlich von der Psychologie zu trennen ist (siehe z. B. Seite 129) und bezeichnet es als ein widersinniges Unternehmen, auf historisch-genetischem Weg die letzten Bedingungen der Erkenntnis herleiten zu wollen.  Wenn  aber die reine Vernunft als Erkenntnisvermögen auf den Menschen bezogen wird, der damit "begabt" sein soll (Seite 32),  wenn  es vom Menschen heißt, er "bediene sich" derselben zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten (Seite 44, 110, 129: "Eben das verlangt KANT von den Philosophen, daß sie in abstracto einzusehen vermögen, was sie und die gesamte Menschheit in concreto immer gebrauchen" und Seite 193),  wenn  vom Verstand gesagt wird, er besitze die Begriffe vorbereitet und entwickle sie aus Anlaß der Erfahrung (Seite 152 verglichen mit 136),  wenn  KANTs Stellung zur Frage der  angeborenen  Ideen als "von der LEIBNIZs nicht weit entfernt" bezeichnet wird (Seite 132),  wenn  schließlich die Bedingungen der Erkenntnis als Faktoren betrachtet werden, "in denen alle  erkennenden  Wesen unserer Art  notwendig  übereinstimmen müssen" (Seite 62), dann ist es unmöglich, als Subjekt der Erkenntnis nicht das  empirische  Bewußtsein, die "Seele", aufzufassen. Sicher ist wenigstens, daß ein anderes Subjekt nicht nachgewiesen wird!
    64) GEORGE DAWES HICKS, "Die Begriffe Phänomenon und Noumenon in ihrem Verhältnis zueinander bei Kant", Seite 140
    65) KUNO FISCHER stellt diesen Widerspruch so dar, als werde bei KANT der Mensch, der selbst nur ein Moment  in  der Welt ist, Träger der ganzen Welt, und zwar dadurch, daß deren Formen Raum und Zeit nur bei ihm existieren. Die Lösung soll nun in der Weise stattfinden, daß der Mensch als Träger von Raum und Zeit nicht ein unter den Naturerscheinungen - nicht ein Erkenntnis objekt-  sondern  Subjekt  der Erkenntnis ist. Dieses Subjekt "ist nicht in der Zeit, sondern diese ist in ihm ..." (Geschichte der neueren Philosophie, 2. Auflage, Bd. V, Seite 12-13). Hier muß man natürlich fragen: was ist das für ein Erkenntnissubjekt, das nicht in der Zeit wirkt? Was für ein Erkenntnissubjekt ist es, von dem wir Erkenntnis besitzen, das aber selbst keines der Erkenntnisobjekte ist? Wenn man überdies noch weiß, daß die Kritik nach KUNO FISCHER eine Erörterung der Art und Weise enthalten soll, wie die Erkenntnis bei diesem Subjekt  entsteht,  wundert man sich noch mehr. Offenbar hat K. FISCHER hier bei KANT eine Absurdität vorgefunden, von der er ihn befreien  will,  aber nicht befreien  kann. 
    66) Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe KEHRBACH, Seite 49, 146, 317.
    67) Kr. d. r. V. a. a. O. Seite 56
    68) Siehe z. B. die Darstellung des vierten Paralogismus in der ersten Auflage Seite 317.
    69) VAIHINGER, Kommentar zu Kants Kr. d. r. V., Bd. II, Seite 52 und 53
    70) GEORGE DAWES HICKS, "Die Begriffe Phänomenon und Noumenon etc.", Seite 123-129
    71) COHEN, a. a. O. Seite 300
    72) KANT, Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 208f und Vorrede, Seite 31-32
    73) BENNO ERDMANN, Kants Kritizismus, Seite 202
    74) Kr. d. r. V. Seite 210
    75) So KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. V, 2. Auflage, Seite 59 - 60
    76) Zu Kants Widerlegung des Idealismus, Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, Seite 85-164
    77) HICKS, a. a. O. Seite 158
    78) TRENDELENBURG, Historische Beiträge zur Philosophie 1867, Bd. III, Seite 222
    79) TRENDENLENBURG, a. a. O., Bd. II, Seite 311f
    80) VAIHINGER, Kommentar a. a. O., Bd. II, Seite 125
    81) VAIHINGER, Kommentar a. a. O., Bd. II, Seite 283
    82) KANT, Kr. d. r. V., Seite 104-105
    83) Kr. d. r. V., Seite 321; vgl. Ausgabe ROSENKRANZ, Bd. V, Seite 310, Bd. I, Seite 521 und 606-607
    84) Kr. d. r. V., Seite 639f (zur Metaphysik wird hier die Erkenntniskritik gerechnet). Eine ähnliche Ausscheidung psychologischer Fragen aus transzendentalphilosophischen haben wir Seite 673.
    85) ALFRED HEGLER, Die Psychologie in Kants Ethik, Seite 9-10
    86) Siehe z. B. Kr. d. r. V., Seite 293
    87) Eine größere Berechtigung hätte man zu der Frage, weshalb denn KANT nicht die von der Erkenntniskritik abhängige, von ihm erwähnte, aus der Kritik aber ausgeschiedene Erkenntnispsychologie als rational bezeichnete. Hier ist aber der Grund offenbar der, daß KANT ihr als gänzlich außerhalb der Sphäre seiner Interessenten liegend keine weitere Aufmerksamkeit widmete. Vielleicht würde er, dazu gedrängt, geantwortet haben, daß sie, obschon von den Ergebnissen der Kritik ausgehend, von der Erfahrung eigens verifiziert werden muß.
    88) Falls man nicht mit VAIHINGER eine solche Äußerung in den folgenden Worten erblicken will: "Es geht aber hiermit (mit dem Kausalitätsbegriff) so, wie mit anderen reinen Vorstellungen a priori (z. B. Raum und Zeit), die wir darum allein aus der Erfahrung als klare Begriffe herausziehen können, weil wir sie in die Erfahrung gelegt hatten, und diese daher durch jene allererst zustande brachten. Freilich ist die logische Klarheit dieser Vorstellung einer, die Reihe der Begebenheiten bestimmenden Regel, als eines Begriffs von Ursache, nur alsdann möglich, wenn wir davon in der Erfahrung Gebrauch gemacht haben, aber eine Rücksicht auf dieselbe, als Bedingung ... war doch der Grund der Erfahrung selbst ..." VAIHINGER (Kommentar II, Seite 93) findet es hier deutlich ausgedrückt, daß wir uns der apriorischen Vorstellungen unbewußt bedienen. Unbewußtheit ist ja der Gegensatz von Klarheit. Weshalb  sagt  denn aber KANT dies nicht? Gerade hhier wäre die Gelegenheit ja trefflich gewesen. Beweist nicht im Gegenteil der Umstand, daß er den Ausdruck "dunkel" oder Ähnliches der Art und Weise, in der wir in der Erfahrung auf den Kausalitätsbegriff Bezug nehmen, nicht verwendet, daß es sih hier um ein Gebiet handelt, wo die Gegensätze "klar" und "dunkel" jeglicher Bedeutung entbehren, wenn auch die Bezugnahme die psychologische Entwicklung zu einer klaren Auffassung des Inhalts des Begriffs ermöglicht? - Noch willkürlicher legt VAIHINGER anderswo (Kommentar II, Seite 225 und 243) in Äußerungen von KANT, in denen das Wort "dunkel" oder etwas damit Gleichbedeutendes überhaupt gar nicht vorkommt, eine diesem Wort entsprechende Bedeutung hinein.
    89) ALFRED HÖLDER, Darstellung der Kantischen Erkenntnistheorie, Seite 33
    90) HÖLDER, a. a. O. Seite 48
    91) Kr. d. r. V. Seite 130
    92) Kr. d. r. V. Seite 129
    93) Kr. d. r. V. Seite 132; vgl. Seite 673
    94) Kr. d. r. V. Seite 144
    95) Kr. d. r. V. Seite 145