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MORITZ WILHELM DROBISCH
Neue Darstellung der Logik
[nach ihren einfachen Verhältnissen mit Rücksicht
auf Mathematik und Naturwissenschaft]

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"Der Nutzen der Logik als Wissenschaft ist bezweifelt und bespöttelt worden. Zwar läßt eine gewisse praktische Logik jedermann gelten, denn die Richtigkeit des Denkens ist unentbehrlich. Aber man meint häufig, diese sei nur Sache des gesunden natürlichen Verstandes und vervollkommne sich durch die Denkübungen, welche Sprachwissenschaft, Mathematik und Naturwissenschaft gewähren, von selbst."

Einleitung
Bestimmung des Begriffs
und der Hauptteile der Logik


§ 1.

Alle menschliche  Erkenntnis  ist teils  unmittelbare,  teils  mittelbare.  Jene beruth auf  gegebenen Tatsachen  entweder der sinnlichen Wahrnehmung oder des Bewußtseins, diese auf dem, was sich durch  Denken  aus diesen Tatsachen  ableiten  läßt.

Eine wissenschaftliche Erklärung des Denkens läßt sich hier zwar noch nicht geben, wohl aber das Verhältnis erläutern, in dem dasselbe zum Erkennen steht und dadurch verhüten, daß beide Worte in einem allzu unbestimmten Sinn aufgefaßt werden.

Alle Erfahrungswissenschaften beruhen auf Beobachtungen, also auf Tatsachen der Wahrnehmung; aber diese sind nur die Grundlagen und Anfänge der Erkenntnis, die erst durch Schlüsse, also durch ein Denken, aus jenen Tatsachen sich reicher und fruchtbarer entwickelt. Dasselbe gilt von der Mathematik, die keine bloße Erfahrungswissenschaft ist. Sie beruth auf anschaulichen Vorstellungen, die ihr als Tatsachen des Bewußtseins zugrunde liegen; aber sie bildet aus ihnen in ihren Definitionen Begriffe, stellt in den Axiomen Grundurteil auf und wendet schon damit das Denken auf jene Anschauungen an, um dann weiter aus diesen einfachen Elementen der Erkenntnis die ganze Fülle ihrer Lehrsätze durch Schlüsse abzuleiten. Streng genommen gibt es keine Erkenntnis, die nicht sofort in Form eines Urteils aufträte und dadurch verriete, daß selbst am Bewußtwerden der Tatsachen der Wahrnehmung das Denken bereits seinen Anteil hat. Empfindungen, räumliche Anschauungen, Lust- und Schmerzgefühle, Erinnerungen, Wünsche usw. sind zwar Tatsachen, aber vereinzelt noch nicht Erkenntnisse. Erst wenn sie in Urteilen miteinander verknüpft werden, wie etwa: diese Kugel ist heiß, diese Erinnerung schmerzlich, dieser Wunsch heiter; oder wenn wir sie auf uns selbst als das wahrnehmende Subjekt beziehen und z. B. sagen: ich empfinde, er will, sie leidet; gestalten sich aus ihnen Erkenntnisse. Hieraus ergibt sich zunächst, daß das Denken eine Geistestätigkeit ist, welche die einzelnen Tatsachen der äußeren und inneren Wahrnehmung teils unmittelbar (wie in den Urteilen), teils mittelbar (wie in den Schlüssen) nach gewissen Gesetzen verknüpft und dadurch aus ihnen unmittelbare oder mittelbare Erkenntnisse bildet. Bei dieser Verknüpfung von Tatsachen mit Tatsachen bleibt jedoch das Denken nicht stehen, sondern leitet daraus weitere Erkenntnisse ab, die sich, zufolge der menschlichen Beschränktheit, der Wahrnehmung entziehen. So folgern wir z. B. aus der Abweichungen der fallenden Körper von der Lotlinie, daß die Erde von Abend nach Morgen um ihre Achse rotiert und daraus, in Verbindung mit der durch die Gradmessungen erschlossenen abgeplatteten Gestalt des Erdkörpers, daß sich derselbe ursprünglich in einem flüssigen Zustand befunden haben müsse. Wir gelangen also hiermit zu Erkenntnissen, die wir durch Wahrnehmung zu bestätigen außerstande sind. Wir würden jedoch, wenn wir uns auf den Mond versetzen könnten, die Rotation der Erde unmittelbar wahrnehmen und dasselbe gilt vom Flüssigkeitszustand der Erde, wenn damals schon ein menschliches Auge hätte beobachten können. Das Denken folgert aber aus den Tatsachen auch noch anderes, was schlechthin nicht Gegenstand einer Wahrnehmung werden kann. Hierher gehören schon die als materielle Punkte gedachten Atome und deren anziehende und abstoßende Kräfte, aus denen sich die Physik die Körper zusammensetzt. Wenn aber allgemeiner das prüfende Denken findet, daß alles sinnlichen Wahrnehmungen uns nur Eigenschaften der Dinge offenbaren, die diese in Beziehung auf unsere Sinnesorgane haben, daß wiederum die Erregungen unserer Sinne und Sinnesnerven für uns nur da sind, sofern sie uns als Empfindungen zu Bewußtsein kommen, also  innerlich  wahrgenommen werden, daß endlich alles was wir innerlich wahrnehmen wiederum nur Eigenschaften unseres Selbst sind, dieses Selbst aber ebensowenig in die Wahrnehmung tritt wie die Dinge ansich selbst, gleichwohl aber doch diese, wie jenes Selbst, notwendig vorausgesetzt werden müssen, - so zeigt sich hier die tief eingreifende Abhängigkeit des Erkennens vom Denken und bildet sich ein idealerer Begriff von der Erkenntnis aus, als der anfängliche war Denn es genügt uns nun nicht mehr, daß unsere Wahrnehmung übereinstimmen, sondern wir fordern jetzt auch Begriffe und Sätze, die uns das offenbaren sollen, was jenen Wahrnehmungen als wahrhaft Seiendes zugrunde liegt und von dem dieselben nur noch als Äußerungen seines Daseins betrachtet werden können. So bildet sich wenigstens die  Idee  einer spekulativen, metaphysischen, über die gegebenen Tatsachen der Wahrnehmung hinausführenden Erkenntnis, die, wenn sie überhaupt erreichbar ist, einzig und allein durch ein von jenen Tatsachen zwar auslaufende, aber sie weit überschreitendes Denken möglich sein kann. - Hieraus erhellt sich nun genugsam, daß es ohne Denken weder eine empirische noch eine mathematische, noch eine spekulative Erkenntnis gibt. Ähnliches läßt sich von der ästhetischen und sittlichen Erkenntnis behaupten. Denn auch da kann nur das  Denken  dasjenige schärfer bestimmen, was als Schönes oder Gutes Anspruch auf unbedingte Anerkennung seines Wertes hat.



§ 2.

Das Denken kann in doppelter Beziehung Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden: einmal nämlich, sofern es eine Tätigkeit des Geistes ist, nach deren Bedingungen und Gesetzen geforscht werden kann; sodann aber, sofern es das Werkzeug zur Erwerbung mittelbarer Erkenntnis, das nicht nur einen richtigen, sondern auch einen fehlerhaften Gebrauch zuläßt, im ersteren Fall zu  wahren,  im andern zu  falschen  Ergebnissen führt. Es gibt daher sowohl  Naturgesetze  des Denkens als  Normalgesetze  für dasselbe,  Vorschriften  (Normen), nach denen es sich zu  richten  hat, um zu  wahren  Ergebnissen zu führen. Die Erforschung der Naturgesetze des Denkens ist eine Aufgabe der Psychologie, die Feststellung seiner Normalgesetze aber die Aufgabe der  Logik. 

Unter Normalgesetzen sind nicht die Gesetze eines gewissen Normalzustandes zu verstehen, denen abnorme Zustände als Ausnahmen von der Regel gegenübergestellt werden, wie etwa leibliche und geistige Krankheit. Denn wenn auch das natürliche Denken in der Regel richtig und nur ausnahmsweise falsch sein sollte, so wären solche Gesetze doch immer nur wieder Naturgesetze; nur daß der Begriff derselben zu eng gefaßt wäre, da ja auch die abnormen Bildungen und Tätigkeiten nach natürlichen Gesetzen vor sich gehen. Vielmehr gleichwie bürgerliche Gesetze Gebote und Verbote über Tun und Lassen, Sittengesetze Vorschriften für das Wollen und in diesem Sinne Normen sind, die dem Wollen und Handeln zum Regulativ dienen sollen, so sind die logischen Normalgesetze als Vorschriften für das Denken anzusehen, die dieseszu befolgen hat, um richtig zu sein und zu wahren Erkenntnissen zu führen. Worauf diese Richtigkeit beruth, wird die Folge zeigen. Normalgesetze regulieren eine Tätigkeit immer einem gewissen Zweck gemäß, mag dieser nun ein an sich löblicher sein, absoluten Wert haben, wie das Gute oder wie das Nützliche oder Angenehme, nur einen relativen. Der Zweck der logischen Normalgesetze ist die  Wahrheit  des dadurch zu Erkennenden, die absoluten Wert hat.


§ 3.

Die logischen Normalgesetze des Denken können nicht durch bloße Beobachtung desselben aufgefunden weden, denn daraus würde sich nicht entscheiden lassen, ob die Art und Weise, wie wir zu denken pflegen, auch die richtige ist, sondern sie müssen selbst wieder  durch Denken begründet  und hierdurch als  solche  nachgewiesen werden, die nicht anders sein können als sie sind, als  notwendige.  In der durchgängigen Übereinstimmung dieses begründenden Denkens mit den durch dasselbe begründeten Gesetzen liegt die Bürgschaft für die  Wahrheit  des ersteren sowohl als des letzteren. Hiernach ist nun die Logik keine bloße Beschreibung und Zergliederung des Denkens, keine bloß  deskriptive,  sondern eine  demonstrative  Wissenschaft. Sie kann und will zwar das Denken nicht erst erzeugen, sondern muß voraussetzen, daß es bereits tatsächlich vorhanden ist, aber ihre Hauptaufgabe ist, das  richtige  Denken vom  falschen  zu unterscheiden.

1. Hieraus erhellt sich, daß die Logik sich weder bloß damit beschäftigt, die Gesetze, nach denen wir durchschnittlich zu denken pflegen, zum Bewußtsein zu bringen, noch daß sie dem Denken willkürliche, aus der Luft gegriffene Vorschriften erteilt. Sie muß allerdings von der Betrachtung des Denkens, wie es ist, ausgehen, aber dieses zugleich hinsichtlich seiner Gültigkeit der Kritik unterwerfen und das Gültige als ein Notwendiges nachzuweisen suchen. Es ist daher unvermeidlich, daß die Logik zur Begründung der Normalgesetze des Denkens sich des Denkens selbst bedient und damit Gefahr läuft, wenn dieses Denken falsch ist, auch falsche Gesetze zu erhalten. Dagegen gibt es nun kein anderes Verwahrungsmittel als das, dieses begründende Denken selbst (also die Erklärungen, Einteilungen, Grundsätze, Beweise usw., deren sich die Logik zur Begründung ihrer Vorschriften bedient) mit den dadurch erhaltenen Denkregeln zu vergleichen, und zu prüfen, ob eins mit dem andern in Übereinstimmung ist oder nicht. Ist diese Übereinstimmung eine  durchgängige,  so läßt sich an der Wahrheit der erhaltenen Resultat nicht zweifeln; denn es gibt überhaupt kein anderes Kennzeichen der logischen Wahrheit als diese durchgängige Übereinstimmung. Daß, wie im Rechnen, so auch im Denken sich  manche  Fehler kompensieren können, muß allerdings zugestanden werden. Hieraus folgt jedoch nur, daß durch unrichtiges Denken zuweilen auch richtige Resultate erhalten werden können. Dann wird aber die Vergleichung jenes Denkens mit den gefundenen (richtigen) Denkregeln, denen es (als unrichtiges) nicht entsprechen kann, den Widerstreit nachweisen und zur Verbesserung führen. Daß durch richtiges Denken unrichtige Resultate gewonnen werden könnten, ist ein ungereimter Gedanke. Aber auch der, daß durch unrichtiges Denken unrichtige Resultate könnten erhalten werden, mit welchen das sie begründende Denken in  durchgängiger  Übereinstimmung sich befände, ist ein leerer Gedanke. Denn eine solche Übereinstimmung gäbe ben den Beweis der Richtigkeit.

2. Wenn die Logik eine demonstrative Wissenschaft ist, so werden in ihr, wie in der Mathematik,  Grundsätze  und  Folgesätze  zu unterscheiden sein, von denen jene unmittelbare Evidenz haben, diese durch jene erst gewiß werden daher teils  ursprüngliche,  teils  abgeleitete  sein. Ein rein synthetischer Aufbau der Logik nach dem Vorbild der Mathematik wäre jedoch nicht angemessen, ja kaum ausführbar. Denn das Denken ist keine so durchsichtige und wohlbekannte Tatsache, wie das die mathematischen Grundanschauungen sind. Eine vorläufige Zergliederung des Denkens, wenn auch nur nach seinen Hauptformen, ist daher für die Logik ein unabweisliches Bedürfnis.



§ 4.

Jedes Denken ist im Allgemeinen ein  Zusammenfassen  eines  Vielen  und  Mannigfaltigen  in eine  Einheit.  Das was zusammengefaßt wird sind aber nicht wirkliche Gegenstände, sondern  Vorstellungen  und auch diese nicht, sofern sie (subjektiv)  unsere  Vorstellungen, Produkte unserer Geistestätigkeit sind, sondern (objektiv) hinsichtlich dessen,  was  in ihnen vorgestellt wird, das  Gedachte.  Aber auch nicht jede Zusammenfassung eines mannigfaltigen Gedachten ist ein Denken, sondern nur eine solche, welche sich als eine der  Beschaffenheit  und den gegebenen  Verhältnissen  des Gedachten  angemessene  nachweisen läßt. Diese Nachweisung ist nun zwar selbst wieder nur durch Denken möglich und daher durch die logischen Denkgesetze bedingt, aber es stellt sich doch dabei heraus, daß diese Gesetze nur von der Beschaffenheit und den Verhältnissen des Gedachten, Vorgestellten, nicht von solches des denkenden, vorstellenden Subjekts abhängen können.

Daß das Denken es nur mit Vorstellungen zu tun hat, unterscheidet es vom Erkennen im engeren und eigentlichen Sinne, das auf  Dinge,  auf reale Objekte geht und Vorstellungen zu erwerben strebt, die den Beschaffenheiten und Verhältnissen dieser Objekte entsprechen. Im weiteren Sinne pflegt man indessen allerdings unter Erkenntnis auch solches Wissen zu verstehen, das bloß ein Resultat des Denkens ist und zu seinem Inhalt einen bloßen Gedankenzusammenhang hat, wie man dies von der rein mathematischen Erkenntnis sagen kann. - Daß ferner in unseren Begriffen Merkmale, in den Urteilen Begriffe, in den Schlüssen Urteile zusammengefaßt werden, läßt sich, obgleich es im Folgenden genauer erörtert werden wird, doch als vorläufig bekannt voraussetzen und dadurch die obige Erklärung des Denkens erläutern. Weder aber die unwillkürlichen Assoziationen, welche gleichzeitig oder in unmittelbarer Aufeinanderfolge im Bewußtsein zusammentreffende Vorstellungen eingehe, noch die willkürlichen Vorstellungskombinationen eines ungebundenen Phantasiespiels sind Denkverbindungen; denn weder diese noch jene nehmen Rücksicht darauf, ob das mannigfache Vorgestellte zusammenpaß oder nicht, ob die Verbindung einen "vernünftigen Sinn" hat oder ungereimt ist. - Unter "Zusammenfassung" ist übrigens hier nicht bloß an Verknüpfung, sondern auch an Trennung des Vorgestellten zu denken. Denn auch bei dieser, z. B. der Unterscheidung des Ähnlichen, kommt das, dessen Einerleiheit mit einem andern verneint wird, doch in Vergleichung mit ihm, wird in ein Verhältnis zu ihm gestellt, also mit ihm  zusammen  gedacht.


§ 5.

Das Viele und Mannigfaltige, welches das Denken in eine Einheit zusammenfaßt, heißt die  Materie  des Denkens, die Art und Weise der Zusammenfassung desselben seine Form. Die Form des Denkens kann zwar nicht unabhängig von der Materie überhaupt, wohl aber unabhängig von irgendeiner  bestimmten  Materie betrachtet werden. Sie ist dann das allem in materieller Hinsicht verschiedenartigen Denken  Gemeinsame.  Die Bestimmung der von der  Besonderheit  des materiellen Inhaltes  unabhängigen Formen  des richtigen Denkens ist nun die Aufgabe der Logik, die deshalb  allgemeine  und  formale  Wissenschaft ist.

Materie und Form sind zusammengehörige oder Beziehungsbegriffe, von denen keiner ohne den andern gedacht werden kann. Weder eine formlose Materie (sei es des Denkens oder der Körper) noch eine inhaltsleere Form ist streng genommen denkbar. Das Chaos mag man sich als Masse oder Dunst ohne alle regelmäßige Gestaltung vorstellen, aber irgendeine Form muß man ihm doch leihen, wenn auch nur eine zufällige und vorübergehende. Andererseits sind aber auch sogenannte  reine  Formen, nicht einmal als anschauliche, vorstellbar. Selbst die geometrischen Figuren, wie sie in ihrer Idealität gedacht werden sollen, verlangen einen von ihren Konturen oder Flächeninhalt materiell (durch Färbung) unterscheidbaren Untergrund. Die Sonderung von Materie und Form läßt sich nicht weiter treiben, als daß man eines von beiden von der Besonderheit, Bestimmtheit des andern unabhängig denkt. Man denkt sich z. B. den Kreis als  reine Form,  wenn man an das denkt, was dem weißen Kreis auf schwarzem Grund mit dem schwarzen, gelben, roten Kreis usw. auf weißem, grünem, blauem Grund usw. gemeinsam ist. Man denkt sich eine Farbe, z. B. Rot, als  reine Materie,  wenn man an das denkt, was das rote Dreieck mit dem roten Viereck, Fünfeck, Vieleck, dem roten Kreis, der roten Ellipse oder irgendeiner regelmäßigen oder unregelmäßigen Figur gemein hat. So nun können auch die reinen Formen des Denkens nicht anders gedacht werden, als indem man den Inhalt derselben, der nie ganz fehlen kann, unbestimmt läßt und nur auf das achtet, was sich bei aller Verschiedenheit des Inhalts gleichbleibt, dem materiell verschiedenen Inhalt also gemeinsam ist.


§ 6.

Hieraus folgt, daß das richtige oder logische Denken die Erwerbung wahrer Erkenntnisse nur in  formaler  Hinsicht zu fördern vermag. Die Anwendung richtiger Formen des Denkens auf irgendwelche gegebene Materie gibt immer  formal wahre  Resultate, die aber deshalb doch in materieller Hinsicht falsch sein können. Die Beurteilung der  materialen  Wahrheit des dem Denken Gegebenen liegt außerhalb des Bereichs der Logik, die nur dafür einstehen kann, daß,  wenn  das Gegebene materiell wahr ist, auch das nach ihren Gesetzen daraus Abgeleitete es sein muß. Indessen kann doch das richtige Denken wesentlich dazu beitragen, materiell Falsches zu enthüllen. Denn wenn aus einer für wahr gehaltenen Voraussetzung durch richtiges Denken Folgen abgeleitet werden, die mit unumstößlichen Tatsachen in Widerspruch stehen, so kann die Voraussetzung nicht wahr sein.

1. Zur Erläuterung des Unterschieds zwischen formaler und materialer Wahrheit mag folgendes Beispiel dienen. Aus den beiden Sätzen: alle  A  sind  B;  alle  B  sind  C;  folgt mit absoluter Gewißheit der Satz: alle  A  sind  C.  Daher folgt auch aus den beiden Sätzen: alle Sternschnuppen sind Lufterscheinungen; alle Lufterscheinungen sind atmosphärischen Ursprungs; der Satz: alle Sternschnuppen sind atmosphärischen Ursprungs; mit völliger formaler Gewißheit. Er ist aber materiell falsch, weil es die Sätze sind, aus denen hier gefolgert wird.

2. Ein Beispiel, an dem sich der letzte Satz des Paragraphs bewährt, gibt unter andern die Geschichte der Chemie. STAHL lehrte, daß aus dem verbrennenden Körper ein feiner Stoff, das Phlogiston entweiche. Hieraus folgte, daß, selbst wenn dieser Stoff imponderabel wäre, das Verbrennungsprodukt nicht schwerer sein könne als der Körper, aus dem es durch die Verbrennung entstanden, daß es aber, wenn das Phlogiston ponderabel wäre, leichter sein müßte. Nun fand aber LAVOISIER, daß bei der Verbrennung (Verkalkung) der Metalle die zurückbleibenden Metallkalke schwerer sind als die Metalle vor der Verkalkung. Der richtig gefolgerte Satz erwies sich also als materiell falsch und mit ihm fiel seine Voraussetzung.

3. Bei der Anwendung unseres Denkens auf die Erforschung der Gesetze, unter denen die veränderlichen Phänomene der Natur und unseres eigenen Geistes stehen, liegt noch stillschweigend die Voraussetzung zugrunde, daß die formalen Gesetze unseres Denkens nicht bloß subjektive, sondern auch objektive Gültigkeit haben, daß jede logisch notwendige Folge einer Tatsache nicht bloß für unser Denken, sondern auch für die Natur der Dinge Bedeutung hat, daß das ihr Entsprechende auch in der Wirklichkeit sein oder geschehen muß. Diesen Satz nach seiner ganzen Allgemeinheit aus dem Verhältnis zwischen Denken und Sein zu deduzieren, ist eine Hauptaufgabe der Metaphysik. Die exakte Forschung begnügt sich damit, ihn hypothetisch anzunehmen und findet in der Entdeckung jedes neuen Naturgesetzes eine Bestätigung dieser Voraussetzung. In der Tat zeigt jedes durch die Erfahrung bestätigte Resultat unseres Denkens, daß unsere Naturgesetze auch für die Wirklichkeit der Dinge Gültigkeit haben, daß unser logischer Gedankenzusammenhang auch mit dem wirklichen Zusammenhang der Dinge in einer einstimmigen Beziehung steht. Was wir den  inneren  Zusammenhang der Dinge nennen, ist zwar nicht bloß ein solcher, den wir ihnen andichten, sondern ein  wirklicher,  den wir aber nur durch unser Denken zu erkennen vermögen.

4. Wenn schon aus § 3 hervorgeht, daß die logische oder formale Wahrheit, kurz gefaßt, nur in der Einstimmung unseres Denkens mit sich selbst besteht, so weisen andererseits die in der Anmerkung zu § 1 gegebenen Andeutungen darauf hin, daß die materiale Wahrheit unserer Erkenntnis nach einem doppelten Maßstab gemessen werden kann. Man kann hier nämlich noch  phänomenologische  und  reale  Wahrheit unterscheiden: die erstere findet statt, wenn unsere Erkenntnis von Voraussetzungen ausgeht, die, wie sie auch immer gefunden sein mögen, in ihren Folgen mit tatsächlich gegebenen Erscheinungen zusammentreffen, ohne daß jene Voraussetzungen beanspruchen, für den Ausdruck eines wirklichen Seins oder Geschehens gelten zu wollen. In diesem Sinne nennt NEWTON sogar die von ihm entdeckte Gravitation der Himmelskörper ein bloßes  phaenomenon  und in demselben Sinn wird man heutzutage den zur Erklärung der Licht- und Farbenerscheinungen angenommenen Äther ebenfalls als ein bloßes  phaenomenon  bezeichnen dürfen. Dagegen wollen die Ideen ARISTOTELES, die Substanz SPINOZAs, die Monaden des LEIBNIZ allerdings für mehr als bloße Annahmen, für begriffliche Ausdrücke dessen gelten, was wahrhaft ist, des Realen. Reale Wahrheit wird daher unserer Erkenntnis nur dann zukommen, wenn wir versichert sein dürfen, daß der Inhalt derselben dem, was unabhängig von unserem Denken wirklich ist und geschieht, vollkommen entspricht.



§ 7.

Die Logik ist daher zunächst nur ein  Kanon  für das Denken, dem dieses in seinen Formen entsprechen muß, um in sich wahr zu sein; sie gibt durch diesen Kanon das Mittel zur  Kritik  des Denkens und hat die Bestimmung, dasselbe einer  Disziplin  zu unterwerfen. Zugleich wird sie zum  Organon  der  mittelbaren Erkenntnis. 

Die Logik ist kein Organon des  Denkens,  sondern nur ein Regulativ für dasselbe, wohl aber ein Werkzeug des mittelbaren  Erkennens.  Was die Mathematik speziell für die Naturerkenntnis, das ist die Logik, ohne die selbst die Mathematik nicht möglich wäre, für jede Art der Erkenntnis.

Der Nutzen der Logik als Wissenschaft ist bezweifelt und bespöttelt worden. Zwar läßt eine gewisse praktische Logik jedermann gelten, denn die Richtigkeit des Denkens ist unentbehrlich. Aber man meint häufig, diese sei nur Sache des gesunden natürlichen Verstandes und vervollkommne sich durch die Denkübungen, welche Sprachwissenschaft, Mathematik und Naturwissenschaft gewähren, von selbst. Gewiß sind diese Beschäftigungen für die Ausbildung des Denkens vom größten, durch nichts zu ersetzenden Nutzen und ebenso gewiß erwerben unzählig viele die Fertigkeit richtig zu denken nur auf diesem Weg, wie man ja auch Sprachen nur durch den Umgang ohne Studium der Grammatik erlernen kann. Aber wie nur  der  einer Sprache vollkommen mächtig ist, der sich ihre  allgemeinen Gesetze  zum Bewußtsein gebracht hat, ebenso verhält es sich auch mit dem Denken. Dieses tritt umso stärker hervor, je abhängiger die Erkenntnis vom Denken ist. In den empirischen Wissenschaften machen häufig die Tatsachen die Fehler des Denkens bemerklich, in der Mathematik leistet die Anschauung etwas Ähnliches. In der Philosophie dagegen und den mit ihr in engerem Zusammenhang stehenden Wissenschaften liegt bei weitem die größte Bürgschaft für die Wahrheit der Erkenntnis in der Richtigkeit des Denkens. Darum sind hier Denkfehler von unermeßlichen Folgen; eine Vernachlässigung der Logik führ dann zu einer Liederlichkeit, welche die ganze Wissenschaft aufhebt. Daß auch die tiefsten philosophischen Denker durch logische Fehler zu großen Irrtümern verleitet worden sind, dafür gibt die Geschichte der Philosophie unzählige Belege. Die wahren Meister in der Philosophie haben jedoch die Logik stets in hohen Ehren gehalten; durch ihre Verachtung charakterisiert sich nur der philosophische Dilettantismus, der geistreich zu sein meint, wenn es ihm gelingt, alltägliche Gedanken oder unklare Begriffe in blumige Redensarten zu hüllen oder durch rhetorisch-poetische Emphase die Schwäche der Begründung seiner Ansichten zu verdecken. Als Beleg aber, daß nicht bloß Philosophen der Schule, sondern auch solche, die zugleich als Welt- und Staatsmänner mit unbefangenem Blick das Verhältnis der Wissenschaft zum Leben zu überschauen vermochten, auf ein gründliches Studium der Logik das größte Gewicht legten, mag es genügen auf BACO und LEIBNIZ zu verweisen. LEIBNIZ versäumt keine Gelegenheit, die Wichtigkeit der Logik hervozuheben und ihr Studium zu empfehlen. Am ausführlichsten verbreitet er sich hierüber im Schreiben an G. WAGNER "vom Nutzen der Vernunftkust oder Logik" (opera philos. ed. Erdmann, Seite 418).

Freilich macht das bloße Studium der Gesetze der Logik allein niemanden zum scharfen und gewandten Denker, sondern erst die Übung und Anwendung der logischen Vorschriften. Wie aber der, welcher über den Umfang seiner Pflichten klare Begriffe besitzt, die größere Befähigung hat, sie gewissenhaft und streng zu erfüllen als ein anderer, der nur dunklen Gefühlen über sie nachgeht, so wird auch der, dem die Vorschriften und Warnungen der Logik stets vor Augen schweben, vor Denkfehlern gesicherter sein als der bloße Naturalist im Denken.



§ 8.

Sofern das Denken an den Vorstellungen nur das betrachtet,    Vorgestellte,  und von allen subjektiven Bedingungen des Vorstellens (§ 4) absieht, bildet es  Begriffe.  Begriffe lassen sich demnach nur durch die Beschaffenheit des in ihnen Gedachten unterscheiden und eine und dieselbe Beschaffenheit, wiederholt vorgestellt, kann nur für  einen und denselben Begriff  gelten. Es gibt also nicht mehr als  einen  Begriff von derselben Qualität.  Formen  kommen den Begriffen insofern zu, als die in ihnen vorgestellten Beschaffenheiten ein  vereinigtes Mannigfaltiges  sind, an dem sich, ohn auf die Besonderheit des Einzelnen einzugehen, gewisse  allgemeine Verhältnisse  unterscheiden lassen.

Die sprachliche Bezeichnung des Begriffs ist der  Name  (nomen). Man pflegt zwar diesen als die Bezeichnung der  Sache,  des realen Objekts der Vorstellung  (wenn  diese ein solches hat!) anzusehen; aber das im Begriff Vorgestellte ist eben nichts anderes, als die  bekannt gewordene Sache  (res nota) und Sachliches und Sachverhältnisse lassen sich nur durch Begriffe darstellen, weil dieses alles bloß Subjektive ausschließen. Der Name ist bei der Begriffsbestimmung maßgebend, wenn ihm eine durch den allgemeinen Sprachgebrauch festgestellte Bedeutung zukommt. Denn er bezeichnet dann die Aufgabe, welche die Begriffsbestimmung zu lösen hat. Wird dagegen der Begriff erst durch Denken gebildet, ist er ein  erdachter,  nicht ein durch seine Benennung  gegebener,  so ist der Name gleichgültig und kann willkürlich gewählt werden.


§ 9.

Sowohl das in den Begriffen vereinigte Mannigfaltige und seine Verhältnisse, als auch die Verhältnisse der Begriffe  zueinander  zu Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe der  Urteile.  Sie sagen teils aus, welche  Teilbegriffe  (Ur-Teile) ein Begriff enthält, wodurch sich also der eine vom andern  unterscheidet,  teils lehren sie den  Zusammenhang  der Begriffe erkennen, indem sie darlegen, daß mit dem Denken eines Begriffs das Mitdenken gewisser anderer notwendig verbunden, wieder anderer nicht verbunden is. Urteile sind daher  Formen der Verknüpfung oder Trennung der Begriffe,  durch welche uns die Verhältnisse derselben zu ihren Teilen und zueinander zu Bewußtsein kommen.

Daß alle Erkenntnis, selbst die unmittelbare, sich in Urteilen ausspricht, ist schon zuvor (Anmerk. zu § 1) bemerkt worden. Darauf aber die Definition des Urteils zu gründen und zu sagen: "das Urteil ist die Erkenntnis eines Gegenstandes durch Begriffe", ist unstatthaft. Denn das Urteil ist eine  Denk form, ohne welche zwar Erkenntnis von Gegenständen nicht möglich ist, die aber, unabhängig von realen Objekten, innerhalb des bloß Vorgestellten ihre ursprüngliche Bedeutung hat. Alles Denkens als solches und somit auch das Urteilen, geht über das bloß Vorgestellte nicht hinaus.


§ 10.

Die Verknüpfung oder Trennung der Begriffe im Urteil ist eine  unmittelbare, unvermittelte.  Sie ist  richtig  oder  gültig,  wenn die Form derselben den Verhältnissen der verknüpften oder getrennten Begriffe zueinander entspricht, sich nach ihnen  richtet.  Ob das stattfindet oder nicht, läßt sich aber entweder unmittelbar oder  nur mittelbar  erkennen. Im letzteren Fall bedarf es einer  Ableitung  des Urteils aus einem oder mehreren anderen Urteilen, deren Gültigkeit sich unmittelbar erkennen läßt. Durch diese wird es dann  begründet  und als eine  Folge  derselben nachgewiesen. Ein Urteil aus  einem  andern ableiten heißt  folgern,  es aus  mehreren  ableiten  schließen.  Aus  einem  Urteil kann nur ein anderes solches folgen, das  dieselben  Begriffe in  anderer Form  verknüpft oder trennt. Dagegen läßt sich vorläufig wenigstens im allgemeinen die Möglichkeit übersehen, daß, wenn in zwei Urteilen das Verhältnis zweier Begriffe zu  einem und demselben dritten  Begriff ausgedrückt ist, mittels dieses beiden Urteilen  gemeinsamen  Begriffs das Verhältnis der beiden anderen Begriffe zueinander und damit ein drittes Urteil gegeben sein kann, welches jene Begriffe verknüpft oder trennt. Dieses Zusammenfassen (Zusammenschließen) der in gesonderten Urteilen enthaltenen Begriffe in ein neues Urteil heißt  Schließen,  die daraus entstehende Denkform der  Schluß.  Die Schlüsse können daher ebensowohl als die  Formen der mittelbaren Verknüpfung und Trennung von Begriffen,  wie als  die Formen der mittelbaren Begründung von Urteilen  erklärt werden.


§ 11.

Begriffe, Urteile, Folgerungen und Schlüsse sind die  Elementarformen,  in die sich jedes Denken auflösen läßt. Das Denken kann aber von ihnen einen doppelten Gebrauch machen, einen  vereinzelten  (rhapsodischen) und einen  zusammenhängenden  (methodischen). Das Letztere muß geschehen in der  Wissenschaft,  welche die Mannigfaltigkeit der über einen gegebenen Gegenstand gewonnenen unmittelbaren oder mittelbaren Erkenntnisse in einer  höheren Einheit  zu einem in allen seinen Teilen einstimmigen, vollständigen und geordneten  Ganzen  zu verknüpfen strebt. Eine solche höhere Einheit von Erkenntnissen heißt ein System und die sie vermittelnden Formen des methodischen Denkens heißen  systematische Formen.  Ein jedes System setzt aber die dazu erforderlichen Erkenntnisse als bereits erworbene voraus, die systematischen Formen können daher nur dazu dienen, sie in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. Da jedoch mittelbare Erkenntnisse nur durch Denken gewonnen weren, so kann dieses als methodisches auch darauf ausgehen, die zu einem System erforderlichen Erkenntnisse zu erwerben und aus dem Gegebenen ein Gesuchtes zu finden.  Die  auf diese  Erweiterung  des Wissens sich beziehenden Formen des methodischen Denkens können  heuristische  genannt werden.

Hiernach handelt also die Logik in zwei Hauptteilen von den elementaren und den methodischen Formen des Denkens. Der erste entwickelt der Reihe nach die Formen der Begriffe, Urteile, Folgerungen und Schlüsse, der zweite die systematischen und die heuristischen Formen des methodischen Denkens.
LITERATUR - Moritz Wilhelm Drobisch, Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachen Verhältnissen mit Rücksicht auf Mathematik und Naturwissenschaft, Leipzig 1863