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FRIEDRICH EDUARD BENEKE
Kant und die
philosophische Aufgabe unserer Zeit

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"In Hinsicht der  Analysis  also bildet die kantische Kritik den  Schluß  der früheren Zeit: trotz ihrer anfangs außerordentlichen Wirkung, wirkt dieselbe doch nicht weiter fort; so wenig, daß sehr bald das Hauptergebnis dieser Analysis wieder gänzlich vergessen und demselben durch die Praxis aller späteren philosophischen Systeme auf das augenscheinlichste Hohn gesprochen wird. Mit seiner  Synthesis  dagegen wird das kantische System der Anfang einer neuen Epoche."

"Es ist ein verkehrter Gang, der nur zu Irrtümern führen kann, wenn die Philosophie mit dem Allgemeinen anfängt, in dem Wahn, aus ihm das Besondere zu erraten und abzuleiten und sich bei ihrem Beginnen in die Einheit versetzt, um die Mannigfaltigkeit zu erzeugen, dieselbe nach Belieben zu erschaffen oder sogar zu entbehren und zu ersetzen. Alle Ableitung des  Vollen  aus dem  Leeren,  des  Besonderen  aus dem gegen das Besondere indifferenten  Abstrakten  ist Einbildung, Erschleichung durch Einschwärzung des von früheren Erfahrungen Reproduzierten."

"Und so zeigt sich denn auch hier wieder der allgemeine Charakter unserer neuesten deutschen Systeme: daß sie nämlich alles wieder blind durcheinander geworfen haben, was man seit Jahrtausenden mühsam auseinander gelegt hat."

II. Darlegung des Charakter der späteren deutschen Philosophie
und der Ursachen, welche denselben bestimmt haben.

[Forsetzung]

Aber KANT war viel zu besonnen und das Höhere im Menschen viel zu tief in ihm gewurzelt, als daß er beim bloßen Einreißen hätte stehen bleiben sollen. Von Begeisterung erfüllt für die erhabenen Forderungen des sittlichen Gesetzes, konnte er sich unmöglich an die egoistisch-beschränkten Auslegungen desselben anschließen, welche, in der einen oder in der anderen Form, zu seiner ziemlich allgemein angenommen waren. In der praktischen Philosophie also verließ er den Weg der Analysis, den er in der Kritik der spekulativen Vernunft so entschieden verfolgt hatte und kehrte von den falschen Zergliederungen zu dem im unmittelbaren Bewußtsein Gegebenen zurück, welches er (mit einer Überspannung, die, wie wir früher bemerkt haben, sehr leicht eintritt bei dieser rückgängigen Bewegung) für keiner Zergliederung fähig, für unbegreiflich erklärte. (1) Aber auch den positiven Gegensatz der Analysis, die Synthesis, sehen wir in KANTs System mehrfach ausgebildet. Zuerst in der Ableitung des Glaubens an Gott und die Unsterblichkeit aus dem moralischen Bewußtsein. Das dem frommen Gemüt Heilige war auch ihm zu heilig, als daß er, nachdem er die damals gewöhnlichen spekulativen Beweise für das Übersinnliche ihrer Schwäche überwiesen, hierbei, wie viele andere philosophische Denker des achtzehnten Jahrhunderts, hätte stehen bleiben und eine Freude daran finden sollen, sich mit diesem Sieg zu brüsten. Auf dem nun frei gewordenen Boden errichtete er ein neues Gebäude religiöser Überzeugungen und zwar auf derjenigen Grundlage, welche ihm als die unerschütterlichste von allen erschien: auf der Grundlage des sittlichen Gesetzes. Außerdem aber war KANT, seiner ganzen Geistesrichtung nach,  so systematisch,  daß auch durch die ganze Kritik der reinen Vernunft, neben der Analysis, die  Synthesis  einen ebenso ausgedehnten Raum einnimmt. Die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit, die reinen Verstandesbegriffe, die diese beiden vermittelnden Schemata der Einbildungskraft, die sich den Kategorien streng anschließenen Ideen sollen die Grundvermögen der theoretischen Vernunft für alle Zeiten  vollständig  und  architektonisch  oder in ihrer durch die innerste Natur des menschlichen Geistes bestimmten Gliederung darstellen; die Ergebnisse der Analysis also in einer erschöpfenden Synthesis wieder verbunden werden. Die Formen dieser Synthesis werden überdies auch für die praktische Vernunft und für die Urteilskraft wieder geltend gemacht, so daß im ganzen kantischen Unternehmen nicht außer diesem systematischen Verband, ja sich nichts vorfindet, welchem nicht genau seine Stelle und seine Form durch die Grundgesetze desselben bestimmt wäre.

So vereinigte das kantische System jene drei Richtungen der philosophierenden Geistestätigkeit und zwar nicht etwa in einem untergeordneten, sondern in einem sehr vollkommenen und, dem äußeren Ansehen nach, die höchsten Anforderungen befriedigenden Verhältnisse. Wenn aber bei ihm selber die Analysis als die Grundtendenz hervortritt, die Synthesis nur gleichsam um jener willen da zu sein scheint, teils um derselben, durch Nachweisung ihrer Vollständigkeit, mehr Gewicht zu verleihen, teils um dasjenige wieder gut zu machen, was sie übel gemacht (dasjenige zu stützen, was sie seiner Stütze beraubt) hatte, wenn die Rückkehr zum unmittelbaren Bewußtsein endlich nur in Hinsicht des moralischen Gesetzes von KANT angewandt ist: so sehen wir diese drei Elemente in der weiteren Fortwirkung der kantischen Lehren ein hiervon sehr verschiedenes Mischungsverhältnis annehmen. Die Analysis war, wie oben bemerkt worden ist, durch die frühere Zeit zu einer besorgniserregenden Überspannung getrieben worden: auch das Heiligste hatte man nicht geschont, vielfach falsche Elemente untergeschoben und über die Beschäftigung mit dem Einzelnen das Ganze aus den Augen verloren. Allerdings wurde nun auch in dieser Beziehung die kantische Kritik mit ausgedehnter Beistimmung aufgenommen, weil sie in der Richtung der Zeit lag und weil sich doch nicht halten ließ, was einmal von Grund aus erschüttert war. Aber man war des Erschütterns und Einreißens eigentlich herzlich müde: das Bedürfnis, endlich einmal wieder aufzubauen, im Stillen zu einer Höhe angewachsen, welche dringend Befriedigung forderte. In Hinsicht der  Analysis  also bildet die kantische Kritik den  Schluß  der früheren Zeit: trotz ihrer anfangs außerordentlichen Wirkung, wirkt dieselbe doch nicht weiter fort; so wenig, daß sehr bald das Hauptergebnis dieser Analysis wieder gänzlich vergessen und demselben durch die Praxis aller späteren philosophischen Systeme auf das augenscheinlichste Hohn gesprochen wird. Mit seiner  Synthesis  dagegen wird das kantische System der Anfang einer neuen Epoche. So leidenschaftlich gesteigert ist durch die lange Entbehrung das Streben danach, daß man, ohne alle Prüfung, die in diesem System dargebotenen höchst unvollkommenen Elemente, zuerst nach der von KANT selber vorgeschriebenen Formel, dann nach anderen Formeln immer wieder von Neuem mischt und immer wieder von Neuem, nicht nur die süße Hoffnung nährt, sondern mit dieser festesten Zuversicht verkündigt, man habe nun endlich die Panacee [Allheilmittel - wp] entdeckt, welche die Philosophie gänzlich und für alle Zukunft von den krampfhaften Bewegungen befreien werde, denen sie, zum innigsten Bedauern aller Freunde der Wahrheit, seit ihrer Geburt fortwährend unterlegen habe. Wie nur noch so eben "Klarheit, Kritik, Zweifel", so werden jetzt "System, erschöpfende Ableitung aus  einem  Prinzip, die heilige Zwölfzahl der Kategorien, die heilige Dreizahl der theoretischen, der praktischen Vernunft und der diese vermittelnden Urteilskraft" die allgemeinen Losungsworte, welche, von REINHOLD zuerst angegeben, mit verschiedenartigen Geltungen freilich, von FICHTE, von SCHELLING und vom großen Heer der Nachfolger dieses Letzteren weiter fortgepflanzt werden. Unter diesem, beinahe alles, was bisher die Geschichte der Philosophie gezeigt hatte, übersteigenden Enthusiasmus - wer hätte da Besinnung genug erübrigen können, um zu untersuchen, ob die Einheit unter  einem  Prinzip, ob ein System der Philosophie mit demjenigen Ausgangspunkt und der Ableitung, die man allgemein forderte,  auch wohl möglich sei!  Und wenn außenstehende, selbständig forschende Männer, wie AENESIDEMUS SCHULZE, JACOBI und andere, diese Besinnung wirklich fanden und jenes Unternehmen als unmöglich darlegten: so mußte wohl ihre Stimme übertäubt werden vom allgemeinen Freudengeschrei, welches die Anhänger jedes neu aufgehenden Systems und vom allgemeinen Klagegeschrei, welches die des untergehenden anstimmten, bis denn endlich einer den anderen übertäubte und das anfänglich in tiefer Ehrfurcht horchende Publikum, getäuscht und bis zum Überdruß ermattet, nach allen Seiten hin sich zerstreute. So steht es jetzt: die gedrängte Menge hat sich verloren und im immer lichter und lichter werdenden Kreis leihen nur noch wenige Auserwählte den geheimnisvollen Offenbarungen ihr gläubiges Ohr.



Aber ist es denn diese ganze Zeit ohne allen Gewinn für die  wahre  philosophische Erkenntnis vorübergegangen? Haben so viele ausgezeichnete Geister alle ihre Kräfte aufgewandt, um Begriffe und Sätze zu bilden, welche gar keine Frucht gebracht haben und bringen werden für die spätere Philosophie? - Dies wollen wir keineswegs behaupten. Allerdings als dasjenige, wofür sie sich selber geben: als  wahrhaft wissenschaftliche Erkenntnisse,  welche in der  allgemeingültigen  und  einst allgemein geltenden  Philosophie einen Platz verdienten und erhalten würden, können wir jene Systeme auf keine Weise gelten lassen. Aber teils waren dieselben in mehreren Beziehungen  notwendig zur Ergänzung und Neutralisierung früherer falscher Entwicklungen,  teils enthalten sie mancherlei schätzbare  Vorbildungen,  welche künftig einmal von einem gewandten und klaren Kopf zu wahrhaft wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgebildet werden können. Wir machen dies noch etwas mehr im Besonderen anschaulich.

Zuerst, im Verhältnis zum früheren, einseitig überspannten Vorherrschen der  Analysis,  ist es schon überhaupt als ein bedeutender Gewinn zu betrachten, daß für eine Zeit lang ein, wenn auch in eben diesem Maße einseitig überspanntes, Vorherrschen der  Synthesis  eingetreten ist. Die philosophische und überhaupt die wissenschaftliche Forschung war (wie wir gezeigt haben) bis zu den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts hin zu sehr zersplittert und vereinzelt, die Idee der wissenschaftlichen Einheit zu sehr verloren gegangen, als daß nicht eine Hervorhebung derselben und eine mit so ausgezeichneter Energie unternommen und durchgeführt, als ein schätzbarer Fortschrittt angesehen werden sollte im Gegensatz mit jenem früheren Zurückbleiben. Allerdings ist eine Einheit der Art, wie man sie in den letzten Jahrzehnten für die Philosophie erstrebt hat, unmöglich.
    "Der richtige Weg (bermerkt sehr wahr ein ausgezeichneter philosophischer Denker unserer Zeit) ist vom Besonderen ausgehend zum Allgemeinen zu gelangen und diese Verallgemeinerung, womöglich bis dahin zu treiben, wo sie sich in die Einheit verliert. Aber bei dieser nie zu vollendenden Arbeit müssen alle Einzelheiten und Individualitäten gewissenhaft verfolgt, aufgefaßt, berücksichtigt werden; und man muß nicht glauben, daß der höchste Zweck erreicht sei, weil man ihn willkürlich zum Standpunkt nimmt, statt ihn nur immer vor Augen zu haben.  Es ist ein verkehrter Gang, der nur zu Irrtümern führen kann, wenn die Philosophie mit dem Allgemeinen anfängt, in dem Wahn, aus ihm das Besondere zu erraten und abzuleiten  und sich bei ihrem Beginnen in die Einheit versetzt, um die Mannigfaltigkeit zu erzeugen, dieselbe nach Belieben zu erschaffen oder sogar zu entbehren und zu ersetzen." (2)
Alle Ableitung des  Vollen  aus dem  Leeren,  des  Besonderen  aus dem gegen das Besondere indifferenten  Abstrakten  ist Einbildung, Erschleichung durch Einschwärzung des von früheren Erfahrungen Reproduzierten. Alles menschliche Denken kann nur  aufklären,  für eine deutlicher Auffassung hervorheben, was in den ihm anderswoher zur Verarbeitung gegebenen Materialien als Teil schon enthalten ist, aber keinen Vorstellungs inhalt  aus sich selber schaffen. Nur vom Mannigfaltigen aus also kann die Einheit gefunden werden: nur das  letzte,  nicht das erste sein. Ungeachtet dieser falschen Auffassung aber ist es immer ein Gewinn, daß man die Einheit überhaupt wieder ins Auge gefaßt hat: die notwendige Bedingung wenigstens und der Anknüpfungspunkt dafür, daß man dieselbe auf die rechte Weise auffassen lerne.

Noch in einer anderen Beziehung aber ist dieses einseitige Vorherrschen der Synthesis als ein Gewinn zu betrachten: daß nämlich dadurch viele bisher gesondert behandelte Wissenschaften miteinander in Verbindung gesetzt, daß Kanäle zwischen denselben gezogen worden sind zum Nutzen ihres gegenseitigen Verkehrs. Wenn gleich im Anfang der menschlichen Natur Eins und noch lange nachher von denselben Männern bearbeitet, waren Geschichte und Philosophie, Philosophie und Naturwissenschaften, nachdem sie eine größere Ausdehnung gewonnen, einander ganz fremd geworden; ja, schon singen selbst die einzelnen Naturwissenschaften an, sich enge Grenzen zu ziehen, welche derjenige kaum überschritt, der sich eine derselben zu seinem ausschließlichen Studium gewählt hatte. Sollte nun aus dieser Isolation nicht eine für Alle auf gleiche Weise gefährliche Beschränktheit hervorgehen, so mußten (ähnlich, wie der Krieg die Völker durcheinander rüttelt, welche sich zu sehr isoliert haben) auch die Wissenschaften einmal wieder durcheinander gerüttelt werden. Und dies ist denn in den letzten Jahrzehnten allerdings zur Genüge geschehen. Was hat man nicht alles zusammengeworfen? Anorganisches und Organisches, ewig Gleiches und flüchtig Vorübergehendes, das höchste Geistige und das niedrigste Materielle und alles dieses wieder in wilder Anordnung durcheinander, hat sich gefallen lassen müssen, eines für das andere als Gleichnis gebraucht zu werden und zwar mit beinahe lächerlichem Ernst, ja mit den ausdrücklichsten Versicherungen, daß man die tiefste und strengste Wissenschaft vortrage! (3) Analogien, Bilder gelten überall als wissenschaftliche Prädikate; die witzige Kombination des Entferntesten, Unähnlichsten hat das strenge Urteil verdrängt und es fehlt wenig, daß jene nicht zur einzigen Grundform für alle Wissenschaften sanktioniert worden ist!

Man täusche sich nicht über den Wert dieser Kombinationen. Es kann aus manchen von ihnen  vielleicht künftig einmal  eine Erkenntnis werden (wie denn alle Wissenschaften mit witzigen Einfällen und Gleichnissen  angefangen  haben); bis jetzt aber sind sie nichts mehr als ein  Spiel mit Begriffen.  Sie greifen viel  zu  weit und viel  zu  unsicher, als daß sie irgendetwas fest fassen könnten: es muß erst Stetigkeit hineingebracht werden und Begrenzung in ihre nach allen Seiten hin schwankenden und überfließenden Bestimmungen. Die Kanäle haben ihren Wert allein darin, daß sie einen Verkehr möglich machen, welchem Wohlstand und der Kultur der durch sie verbundenen Landstriche förderlich wird.  An sich  haben sie keinen Wert; ja, sie können schädlich werden, wenn sie dem Feind Gelegenheit geben, die auf das Verderben des Landes berechneten Mittel leichter fortzuschaffen. Leider haben die durch die neueste Philosophie zwischen den verschiedenartigen Wissenschaft gezogenen Kanäle bis jetzt dem größeren Teil nach nur den zuletzt bezeichneten Einfluß ausgeübt. Aber dies ist ein vorübergehendes Verhältnis; und die einmal gestiftete Verbindung kann und wird in Zukunft gewiß für die menschliche Erkenntnis förderlich werden.

Betrachten wir unsere neueren deutschen Systeme ferner im Verhältnis zu KANT, so zeigen sie sich demselben, wie schon oben bemerkt worden ist, entschieden überlegen in Hinsicht der Konsequenz, mit welcher sie ihre Grundideen durchgeführt haben. KANT schwankt hin und her zwischen Erfahrung und Spekulation, zwischen Idealismus und Realismus. Die philosophischen Prinzipien sollen rein  a priori  gefunden werden und doch stützt sich die Deduktion der Kategorien auf die in der  Erfahrung  gegebenen Urteilsformen und der kategorische Imperativ, die Grundlage der gesamten praktischen Philosophie und Religionslehre, wird von KANT selber in vielen Stellen als ein  Faktum  bezeichnet. (4) Bald weiß KANT nicht, ob unseren Wahrnehmungen überhaupt Dinge außer uns entsprechen; bald redet er mit der größten Bestimmtheit von ihren Wirkungen auf uns und erklärt es für einen Skandal der Philosophie, wenn sie den Idealismus nicht sollte gründlich widerlegen können. FICHTE und SCHELLING dagegen sind in der Ausführung ihrer Systeme weit einstimmiger mit den von ihnen an die Spitze gestellten Grundsätzen und dadurch wird wenigstens der Vorteil gewonnen, daß - das Fehlerhafte dieser Grundsätze, welches bei KANT verdeckt war, in ihren Systemen in das hellste Licht tritt. Konnte man früher noch daran zweifeln, so ist durch die Geschichte der deutschen Philosophie in den letzten Jahrzehnten für den vorurteilsfreien Beobachter über allen Zweifel erhaben der Beweis geführt worden, daß eine Philosophie a priori, mit subjektiver wie mit objektiver Grundlage, in der Form von Begriffen wie in der Form von Anschauungen, ein  leeres Phantom  ist, welches auf keine Weise zu einer allgemeingültigen Wissenschaft und überhaupt zu nichts führen kann, als zu willkürlichen und in die Luft gebauten Bestimmungen: ein Rückschritt in das  Kindesalter  der Wissenschaft; für dieses notwendig und unvermeidlich, weil es demselben noch an genügenden Erfahrungen mangelt und also, wenn man überhaupt eine echt zusammenhängende Wissenschaft haben will, die Lücken derselben zuerst aufs Geradewohl durch Vermutungen oder Dichtungen ausgefüllt werden müssen, aber jetzt gänzlich unnötig, bei der in unserer Zeit vorliegenden großen Masse wohlbegründeter und genau beobachteter Tatsachen. Die allerdings in unserem Geiste a priori gegebenen Formen sind, wenn überhaupt, doch nicht wieder a priori, sondern  nur durch Erfahrung  zu erkennen: dies bemerkt KANT selber sehr richtig gleich in den ersten Worten seiner Kritik der reinen Vernunft.
    "Daß also unsere Erkenntnis mit der Erfahrung  anfange,  daran ist gar kein Zweifel ... der  Zeit  nach geht keine Erkennenis vor der Erfahrung vorher ... Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle  aus  der Erfahrung."
Also auch die nicht aus der Erfahrung stammende Erkenntnis kann, nach der ausdrücklichen Erklärung dieses entschiedenen Verfechters des A priori, selbst auf keine andere Weise von uns erkannt werden, als indem wir uns auf Erfahrungen stützen.

Nur infolge eines Zusammenflusses besonderer und für die Klarheit des Denkens eben nicht günstiger Umstände konnte es geschehen, daß das Wort "Empirismus", welches ursprünglich doch nichts weiter bedeutet, als auf Erfahrung begründete Wissenschaft und Kunst, seit geraumer Zeit schon bei uns mit schwerer Verdammung gebrandmarkt ist. Der auf Erfahrungen sich gründenden Wissenschaft kann nur dann ein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Erfahrungen bloß äußerlich, ungenau oder falsch erklärend und ohne Urteil kombiniert; sonst aber weiß man in der Tat nicht, worauf anders eine Wissenschaft des  Wirklichen  (und eine solche soll und will doch jede wahre Wissenschaft sein) gegründet werden könne. Und überdies finden sich jene Fehler der falschen Empirie nirgends in höherem Maße, als gerade bei der Spekulation, welche ja, weil  aus nichts auch nichts werden  kann,  zuletzt ebenfalls aus der Erfahrung schöpfen  muß, dies aber, weil sie sich dessen nicht bewußt werden will, schielend und mit flüchtigem Blick, mithin eben äußerlich, ungenau und mit Unterschiebung falscher Erklärungen tut.

Es ist demnach zu erwarten, daß die Menschheit, welche, in ihrer Totalität betrachtet, auch durch die wildesten Ausschweifungen nicht erschöpft wird, sondern von jeder Niederlage mit neuer Jugendkraft ersteht, nachdem sie die in fast allen übrigen Wissenschaften längst antiquierte Spekulation in der Philosophie noch einmal bis zur höchsten Überspannung in allen Formen durchgemacht hat, um so dauernder und fester, wenn sie erst zur Besinnung gekommen ist, sich anschließen wird an die  besonnene Erfahrung,  und ein untrennbares Wurzeln in derselben ist selbst durch die philosophischen Systeme der nächst vergangenen Jahrzehnte nicht zu teuer erkauft.

Noch in einer anderen Beziehung aber haben das FICHTEsche und das SCHELLINGsche System dazu gedient, einen höchst wichtigen Fortschritt der Philosophie zu vermitteln, wenngleich das Vermittelnde in ihnen selber in einer höchst fehlerhaften Ausbildung gegeben ist. Die von KANT aufgestellten Grundkräfte oder Grundformen: die reinen Anschauungen der Zeit und des Raumes, die reinen Verstandesbegriffe, die schematisierende Urteilskraft, der kategorische Imperativ, werden gleich von Anfang an  fertig  und für ein steifes Zusammenwirken miteinander in die Wissenschaft eingeführt. KANT hatte sich hierbei, wunderlich genug, dem alten wolffischen System in die Arme geworfen, dessen Bekämpfung doch vorzüglich durch seine Erkenntnistheorie bezweckt wurde. Wir erhalten nicht bloß ein System des menschlichen Geistes, sondern  der menschliche Geist selber wird zu einem System  in KANTs Darstellung zu einem toten Begriffsschematismus; seine Wirksamkeit in der Erzeugung unserer Erkenntnisse erscheint in der der Form eines Syllogismus, eines Rechenexempels. Ein Mißverhältnis unstreitig, indem uns die innere Erfahrung, ebenso wie die äußere, in jedem Augenblick in stets reges Leben zeigt. Infolge der hierdurch bedingten Reaktion also sind das fichtesche und das schellingsche, so wie die aus dem letzteren hervorgegangenen Systeme, durch und durch Leben, Bewegung, Umwandlung. Das einzig Schlimme ist nur, daß diese nicht das  wirkliche  Leben, die  wirkliche  Bewegung, die  wirkliche  Umwandlung des menschlichen Geistes entweder ganz fremdartigen oder, wenn aus ihm genommenen, doch unangemessen verallgemeinerten Formen. Es ist eine  erträumte  geistige Welt, deren allmähliche Ausbildung wir hier konstruiert sehen. Indessen war doch hierdurch die Wissenschaft auf die rechte Bahn gewiesen, auf der sie auch schon angefangen hat, bedeutende Fortschritte zu machen. Denn schon erklärt man sich von allen Seiten laut gegen den steifen Roman der alten  abstrakten  Vermögenlehre; (5) Man ist zu der Einsicht gelangt, daß, wie den übrigen Naturwissenschaften, so auch der Psychologie vor allem die Aufgabe gestellt sei, das stets wechselnde, stets sich umwandelnde  Leben  der Seele treu und genau darzustellen; und schon ist hierfür unter älteren und jüngeren Forschern ein sehr lebenswerter Eifer angeregt.

Vergleichen wir nun zuletzt noch das schellingsche System mit dem ihm zunächst vorangegangenen, so zeigt sich gewissermaßen auch die durch dasselbe eingetretene  realistische  Reaktion als ein Gewinn. Durch die fichtesche Wissenschaftslehre war der Idealismus zu einer wahrhaft widersinnigen Spitze getrieben worden, die uns wohl eine Art von Bewunderung ablockt, weil uns schwindelt, indem wir zu ihr hinaufblicken, welche aber den Anforderungen für eine  gesunde  philosophische Erkenntnis doch gar zu wenig entspricht. Den gemeinsten Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes wird dadurch auf eine beinahe kächerliche Weise Hohn gesprochen und die Natur ganz unserem Blick entrückt, für deren Erkenntnis die Philosophie doch ebenfalls die tiefste geistige Grundlage geben soll. Es war also ein Gewinn, daß durch SCHELLING die Realität der Außenwelt und die Natur energischer und in einer für den Zeitgeist entsprechenden Art, in Schutz genommen wurden als dies früher durch JACOBI und andere geschehen war.

Nur läßt sich freilich der schellingsche Realismus selber nicht als ein wahrhaft wissenschaftlicher rechtfertigen: ist vielmehr ebenso überschweifend nach dieser Seite hin, wie die fichtesche Ansicht nach der entgegengesetzten. Die  volle  Übereinstimmung des Subjektiven und des Objektiven, der  durchgehende  Parallelismus unserer Erkenntnisse mit dem Sein ist bis jetzt in SCHELLINGs Schule durch nichts erwiesen oder auch nur einmal von Weitem wahrscheinlich gemacht, sondern steht an der Spitze des Systems als ein völlig unbegründeter Machtspruch, den, bei den ersten rohen Versuchen in der Philosophie erklärlich und verzeihlich, nach so viele tiefdringenden Untersuchungen über die Natur unserer Erkenntnis beinahe unerklärlich und unverzeihlich ist. Man beruft sich darauf, daß doch unser Wissen, dem innersten Bewußtsein gemäß, eben darauf Ansprüche mache,  Wissen  zu sein und demgemäß die Objekte in ihrer vollen Wahrheit zu erkennen. Dieses Bewußtsein aber hatten CARTESIUS, LOCKE, BERKELEY, HUME und KANT unstreitig auch; nur zeigte ihnen eine genauere Betrachtung sehr bedeutende Verschiedenheiten dieses Bewußtsein sei verschiedenen Erkenntnissen, welche demnach eine Aufklärung, eine tiefer gehende Zerlegung und Unterscheidung nötig machten. Diese nun fehlt bei der schellingschen Schule so gänzlich, daß selbst JACOBI und die schottische Schule, welche man so oft mit Recht getadelt hat wegen ihrer  summarischen  Berufung auf das Zeugnis der gesunden Menschenvernunft, hierin noch weit klarer sind, als jene; und so zeigt sich denn auch hier wieder der allgemeine Charakter unserer neuesten deutschen Systeme: daß sie nämlich alles wieder blind durcheinander geworfen haben, was man seit Jahrtausenden mühsam auseinander gelegt hat.

Ein eben nicht viel günstigeres Resultat ergibt sich in Hinsicht des Einflusses dieser Systeme auf die Naturwissenschaften. Allerdings ist es, wie wir früher bemerkt haben, ein Verdienst, daß sie dieselben der ihr ganz fremd gewordenen Philosophie, so wie daß sie die verschiedenen Naturwissenschaften einander wieder näher gebracht haben. Aber bis jetzt sehen wir noch in den von dieser Schule ausgegangenen sogenannten wissenschaftlichen Darstellungen, trotz des  Scheins  von Ordnung, welcher durch den immer wiederkehrenden regelmäßigen Schematismus erzeugt wird, alles bunt durcheinander geworfen und der Folgezeit vorbehalten, in diesem Chaos aufzuräumen, das viele ganz Verfehlte auszuscheiden und die glücklichen Würfe zu einem wahrhaft wissenschaftlich Ganzen zu vereinigen.
    "Hätte ich vor zwanzig Jahren erraten (schreibt schon 1810 ein Arzt, welcher die ganze kantische Epoche mit Begeisterung durchgemacht und eine sehr schätzenswerte philosophische Bildung erworben hatte), daß die deutsche Literatur so sinken könnte, daß die Medizin eine Tollhaussprache reden würde, so hätte ich mich ganz zu entnationalisieren gesucht. Wenn ich eine der neueren Schriften eines MARCUS, WILLBRAND, GÖRRES, SCHELLING, OKEN, usw. aufblättere, so wird mir wehe und ich verzweifle, daß wir nicht bloß die Besiegten, sondern auch die Belachten der Franzosen werden"; und an einer anderen Stelle gesteht er, daß er "ein Blatt aus LOCKE und KANT für reicher an Kenntnissen halte, als den ganzen Wust, der seit fünfzehn Jahren aus dieser Schule gedruckt worden sei." (6)
Man hat die Leistungen bewundert, welche  durch  diese Philosophie von den ihr anhangenden ausgezeichneten Männern ausgegangen seien; aber man möchte sich vielmehr darüber wundern, daß  trotz  ihrer von diesen ausgezeichneten Männeren so viel habe geleistet werden können. Denn, wenn man damit anfängt, der Natur  fremde, willkürlich ersonnene  Formen und eine  fremde, willkürlich ersonnene  Ordnung aufzudringen, so ist es in der Tat bewunderungswürdig, daß die  natürlichen Formen  und die  natürliche  Ordnung noch in dem Maße, wie es bisher geschehen ist, durch diese Verhüllung haben  hindurchscheinen  können und daß wir nicht infolgedessen aller wahren Naturerkenntnis verlustig gegangen sind.

Fassen wir nun dies alles zusammen: die Hervorhebung der Synthesis, nachdem man dieselbe schon lange aus den Augen verloren, die konsequentere Durchführung der durch die vorgeschrittene intellektuelle Kultur antiquierten philosophischen Methode, die lebendigere Auffassung des menschlichen Geistes, endlich die Reaktion gegen den überspannten Idealismus und die erneuerte Beschäftigung mit der Natur: so zeigen sich die Systeme, welche dem kantischen gefolgt sind, als allerdings sehr wertvoll, aber  nur  als Durchgangspunkte, als  Krisen,  die freilich nicht zu entbehren waren bei dem einmal aufgesammelten Krankheitsstoff und der durchgreifenden dynamischen Verstimmung, die aber selber Krankheiten sind und vorübergehen müssen, wenn die Gesundheit wieder gewonnen werden soll. Aber wie: dürfen wir auch wohl wirklich hoffen, daß diese Krisen zur  Gesundheit  führen werden? Haben wir nicht vielmehr den Tod oder doch ein unheilbares Kränkeln zu befürchten? - Dies führt uns zum dritten Abschnitt unserer Betrachtungen.
LITERATUR - Friedrich Eduard Beneke, Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit, eine Jubeldenkschrift auf die Kritik der reinen Vernunft, Berlin/Posen/Bromberg 1832
    Anmerkungen
    1) Kritik der praktischen Vernunft, Seite 80f und 138; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Seite 122 und 125
    2) FR. ANCILLON, Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, 2. Teil, Seite 275
    3) Eines der merkwürdigsten Zeugnisse hierfür (wenngleich nur eines unter vielen, die wir anführen könnten!) liefert das Buch: "Natur, Mensch, Vernunft, in ihrem Wesen dargestellt", Berlin 1828. Hier wird unter anderem von einem der beiden Herausgeber, W. A. KEIPER, das ganze Tierreich bis ins Einzelnste mit den "Lebenszuständen, Lebensrichtungen und Trieben" der Menschen parallelisiert. Die Fische z. B. stellen die  Bücherwelt  dar. "Hoch im Norden (heißt es, um nur eine Probe wörtlich anzuführen, Seite 490), bei Spitzbergen und Grönland, wohnt der  Walfisch  unmittelbar im Gehirn der Erde. Er stellt unter den Fische das  Philosophische  des Menschen dar.  Darum  ist sein Aufenthalt nur da, wo im unzugänglichen Wasserbereich das Haupt der Erdgestalt begraben liegt. Als der aus sich das Bewußtsein Zeugende, gebiert er lebendige Junge und stellt so unmittelbar in diesem wieder das Bild der Geburt dar, was der Philosoph als höheres Menschenbild in das Bewußtsein des Daseins gebiert. Auf seinen Fang zieht ganz Europa aus; nur Deutschland nicht,  weil  dieses selbst philosophische Kräfte und deren Entwicklung empfing. Man gebraucht seine Barden als elastisches Haltungsmittel unter dem Namen des Fischbeins, besonders dürften hierher die Schnürleiber des weiblichen Geschlechts gehören: die Forschungen des Philosopehn sind  das Gleiche  in den Wissenschaften und im Leben. Das Wasserspritzen der Walfische aus ihren breiten Luftröhren  ist ohne Zweifel  die geniale und kühne Erzeugung der Gedanken und weist durch das Eindringen der Luft nicht undeutlich auf den Flug der Vögel hin. Überall wird der Tran des Walfisches zum Brennen gebraucht und verbreitet so in unzähligen Hütten und Gegenden Licht,  wie  der Philosoph durch seine Forschungen. Überhaupt findet hier die ungeheure Fetterzeugung des Walfisches  ihre  Deutung" usw. - Eben so sind, nach dem Folgenden, die Haifische skeptische und kritische Richtungen der Wissenschaften, die Lachse die Literaturzeitungen, die Hechte die gegen die Religion beißen und dieselbe verfolgenden Schriften, die Heringe die politischen Zeitungen etc. und für alles weiß der Verfasser die triftigsten Gründe. - Was würde KANT zu einem solchen Buch gesagt haben! Nach wieder 50 Jahren wird man kaum begreifen, wie es habe erscheinen können.
    4) Vgl. z. B. Kritik der praktischen Vernunft, Seite 55 und 73
    5) Man vergleiche hierüber meine "Psychologischen Skizzen", Göttingen 1825, Band II, Seite 3f
    6) JOHANN BENJAMIN ERHARD, Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes, Seite 503 und 506