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ERICH ADICKES
Kant und das Ding ansich
[4/4]

"Wenn wir also ... der oben festgesetzten Regel treu bleiben, unsere Fragen nicht weiter zu treiben, als nur so weit mögliche Erfahrung uns das Objekt derselben an die Hand geben kann: so werden wir es uns nicht einmal einfallen lassen, über die Gegenstände unserer Sinne nach demjenigen, was sie ansich, d. h. ohne alle Beziehung auf die Sinne sein mögen, Erkundigung anzustellen."


Vierter Abschnitt
Dinge ansich und
Kategorien

[Fortsetzung]

15. Man muß sich bei diesen Darlegungen die wichtige, aber bisher nicht genügend beachtete Tatsache vor Augen halten, daß das Wort Kategorie bei KANT eine doppelte Bedeutung hat.

Einmal stellt es den begrifflichen Ausdruck für die synthetischen Funktionen unserer transzendentalen Apperzeptionseinheit dar, vermöge deren wir das Wahrnehmungsmaterial verknüpfen, vereinheitlichen und zu Gegenständen formen; andererseits geht es auf die Resultate dieser Tätigkeit: die durch sie geschaffenen oder gesetzten allgemeinsten Eigenschaften, Verbindungen und Verhältnisse in den Dingen, wie die Einheit, Vielheit, Größe der Gegenstände, ihre Kausalbeziehungen, die Wechselwirkung zwischen ihnen usw. Dort, wo es sich nur um Funktionen und Tätigkeiten handelt, kann von einer Verwendung der Kategorien naturgemäß nur dann die Rede sein, wenn ein sinnliches Anschauungsmaterial vorliegt, an dem beide ausgeübt werden können. Anders im zweiten Fall: da steht der Annahme nichts Entscheidendes im Weg, daß jene allgemeinsten Eigenschaften, Verbindungen und Verhältnisse, in denen wir die Gegenstände der Erscheinungswelt allein denken und begreifen können, wenn sie nur von allen sinnlichen Zutaten (allem auf Raum und Zeit Bezüglichen) gereinigt werden, auch zugleich die Seinsweisen und Beschaffenheiten der Dinge, wie sie ansich sind, bezeichnen. Bei dieser 2. Bedeutung braucht man sogar nicht einmal auf die synthetischen Funktionen zurückgreifen. KANT selbst betrachtet ja, wo er sich zu ihr bekennt, die Kategorien als reine a priori gegebene Begriffe, die
    "im reinen Verstand unabhängig und vor aller Anschauung, lediglich als dem Vermögen zu denken, ihren Sitz und Ursprung haben",
die deshalb nicht auf Phänomene eingeschränkt sind, sondern auf Objekte überhaupt gehen (angewandt werden können), auf welche Art diese uns auch immer gegeben werden mögen (Werke V, 50, 55, 136).

Wir selbst können uns zwar, der Organisation unseres Erkenntnisvermögens entsprechend, eines Zusammengesetzten nur aufgrund einer Zusammensetzung, einer vereinheitlichenden Synthesis bewußt werden, also aufgrund einer Tätigkeit, die gemäß den synthetischen Funktionen unseres Bewußtseins erfolgt. Nichts hindert aber, daß die reinen Begriffe, auf die wir die Resultate dieser Tätigkeiten bringen, zugleich die Beschaffenheiten des ansich Seienden darstellen und also für jede Art begrifflicher Erkenntnis und auch für jede Art des Seins gültig sind. Bei den sinnlichen Anschauungsformen Raum und Zeit wird eine solche Gültigkeit für das ansich Seiende durch die Antinomien ausgeschlossen. Bei den reinen Verstandesbegriffen fehlt ein entsprechender Widerstreit; es fällt damit bei ihnen auch jedes Motiv fort, ihr Beschränktsein auf die Erscheinungen anzunehmen, da sie ja "gänzlich vom reinen Verstand entsprungen" und also ihrem "Ursprung nach von allen sinnlichen Bedingungen unabhängig sind (Werke V, 55). Und bei der Art, wie KANT zahlreichen Aussprüchen zufolge in den Erscheinungen das Transzendente unmittelbar erlebte, mußte er die Übertragung der reinen Verstandesbegriffe auch auf die Dinge-ansich als erlaubt, ja als eine Selbstverständlichkeit betrachten, immer freilich mit dem Zusatz, daß dadurch mangels jeglicher Anschauung keinerlei theoretische Erkenntnis erzielt wird. Das hat dann seinen Standpunkt auch immer noch zur Genüge von dem des alten transzendenten Rationalismus unterschieden, wie auch vom eigenen der Inauguraldissertation vom Jahr 1770.

Auf die Frage, wie denn die Übereinstimmung zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den Dingen-ansich zu erklären ist, würde er vermutlich geantwortet haben: man dürfe sich die letzteren (auch die den materiellen Gegenständen der unbelebten Natur entsprechenden) geistig, nach Art von Monaden (wenn auch vielleicht nicht gerade nach denen des LEIBNIZ!) vorstellen, unser Geist muß also als dem ansich Seienden innig verwandt gedacht werden, und da ist es nicht so über alle Maßen wunderbar, wenn seine Organisation ihn in den Stand setzt, in seinen Gedanken die allgemeine Organisation des Reiches der Dinge-ansich begrifflich richtig wiederzugeben, wenn sein Denken, zumindet so weit die allgemeinsten Begriffe in Betracht kommen, und das Sein jener sich in Übereinstimmung befinden. Und schließtlich, als letztes Erklärungsprinzip, würde er wahrscheinlich die gemeinsame Abhängigkeit beider Faktoren (des Vorstellenden und des Vorgestellten) von einem ens realissimum [allerrealstes Sein - wp] geltend gemacht werden.

Da nicht ein konkretes Erkennen, sondern nur ein ganz unbestimmtes Denken der allgemeinsten Verhältnisse des ansich Seienden in Frage kommt, mochte seine starke realistische Tendenz ihm die entgegenstehenden Bedenken gering erscheinen lassen. Der in Kr. d. r. V. B 167f gegen ein solches "Präformationssystem der reinen Vernunft" als entscheidend geltend gemachte Einwand: daß dann von Notwendigkeit der Erkenntnisse (des Kausalgesetzes usw.) keine Rede sein kann, fällt hier, wo es sich nicht um die wissenschaftliche Erkenntnis von Erscheinungen, ja überhaupt nicht um wirkliche Erkenntnisse handelt, auf jeden Fall weg.

Auf der anderen Seite hat KANT nie bezweifelt, daß der Satz des Widerspruchs unbeschränkte Gültigkeit, auch für die Dinge-ansich hat (Kr. d. r. V. B 348, Werke VIII 193); da mochte und mußte sich ihm die Frage aufdrängen, ob nicht, was vom obersten formalen Grundsatz allen Denkens gilt, auch von seinen allgemeinsten reinen materiellen Begriffen, den Kategorien, behauptet werden darf: daß nämlich ohne sie nicht nur kein Denken, sondern auch überhaupt kein Sein, auch nicht das der Dinge-ansich, möglich ist. War die Frage einmal aufgeworfen, so mußte die ganze Art, wie er die Erscheinungen und in ihnen das Transzendente erlebt, ihn gebieterisch drängen, sie zu bejahen. Denn die transsubjektive Existenz von Dingen-ansich war ihm ja über allen Zweifel erhaben, war ihm persönlich gerade so gewiß, wie das Dasein der Erscheinungen; wie sollte man sich aber die Dinge-ansich auch nur denken und, sei es auch noch so unbestimmt, vorstellen, wenn nicht mittels der Kategorien?! Stellung und Beantwortung der Frage konnten also für KANT nur die Bedeutung haben, daß sich ihm halb instinktives Tun in die Sphäre des vollbewußten erhoben hat.

Die Betrachtungen dieses § 15 sollten nicht etwa eine neue Interpretationsweise KANTs einführen, sondern nur das Faktum zum Bewußtsein bringen, daß KANT tatsächlich das Wort Kategorie in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht und die Kategorien im zweiten Sinn nach Ausweis zahlreicher Stellen ohne jeden Gewissensskrupel auch auf die Dinge-ansich anwendet.

Und diese Übertragung der Kategorien auch auf das ansich Seiende, um es (zwar nicht um es zu erkennen, aber doch) zumindest denken zu können, darf nicht etwa als ein bloß nachträglicher Zusatz, um die Moraltheologie zu ermöglichen, oder gar als eine mit den Grundlinien des Systems in Widerspruch stehende Inkonsequenz betrachtet werden, sondern ist vielmehr nichts als der natürliche Ausfluß der starken realistischen Tendenz KANTs und die notwendige Konsequenz seiner festen Überzeugung von der zweifellosen Existenz wirklicher Dinge-ansich.

Es stehen sich bei ihm eben von vornherein zwei Tendenzen gegenüber und miteinander in Streit. Die eine zieht ihre Kraft vor allem aus dem starken Gegensatz gegen die alte transzendente Metaphysik und drängt dahin, der Wissenschaft (theoretischen Erkenntnis) eine feste Grenze zu setzen. Die andere schöpft unversiegliche Kraft aus KANTs realistischem Erleben und durchbricht jene Grenze, um die als unbezweifelbar gewiß vorausgesetzten Dinge-ansich wenigstens denken zu können. Diese zwei gleich ursprünglichen Tendenzen sind beide wesentliche Grundlagen für KANTs System. Keine von ihnen darf zugunsten der anderen ausgeschaltet werden, ohne die historische Treue zu verletzen und den Charakter des Systems von Grund auf zu verändern.

16. Diese Auffassung wird durch die Tatsache gestützt, daß auch schon Kr. d. r. V. A und die Prolegomena jene Anwendung der Kategorien auf Dinge-ansich vornehmen und als vollkommen berechtigt anerkennen. Auch schon in Kr. d. r. V. A spielt der Gegensatz zwischen Denken und Erkennen eine Rolle, nur daß er noch nicht so offiziell zur Grundlage der Moraltheologie und ihres Anspruchs auf Benutzung der Kategorien im Reich des Übersinnlichen gemacht wird.

Zum Beweis stellt ich zunächst einige Äußerungen KANTs zusammen, die sich schon oder nur in Kr. d. r. V. A finden.

Nach Kr. d. r. V. B 194f muß,
    "wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. h. sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt."
Kr. d. r. V. A 356 stellt KANT fest, daß ich mir durch das Ich zwar jederzeit eine absolute, wenngleich nur logische Einheit des Subjekts (Einfachheit) gedenke, nicht aber dadurch die wirkliche Einfachheit meines Subjekts erkenne. Nach Kr. d. r. V. B 568 kann der intelligible Charakter zwar niemals unmittelbar erkannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als sofern es erscheint, aber er muß doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden, so wie wir überhaupt einen transzendentalen Gegenstand den Erscheinungen in Gedanken zugrunde legen [d. h. denken] müssen, obgleich wir von ihm, was er ansich ist, nichts wissen [= erkennen]. Kr. d. r. V. B 569 wird ergänzend hinzugefügt, daß wir vom intelligiblen Charakter "nichts als bloß den allgemeinen Begriff desselben haben können", d. h. auch: ihn wohl denken, aber nicht erkennen können. Nach Kr. d. r. V. B 629 können wir beim Denken der Existenz durch die reine Kategorie allein kein Merkmal angeben, sie von der bloßen Möglichkeit zu unterscheiden, und für Objekte des reinen Denkens gibt es demgemäß ganz und gar kein Mittel, ihr Dasein zu erkennen, weil es gänzlich a priori erkannt werden müßte. Kr. d. r. V. B 44 behauptet KANT
    "die Idealität des Raumes in Anbetracht der Dinge, wenn sie durch die Vernunft ansich erwogen werden, d. h. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen";
daß eine solche "Erwägung" nicht ohne Kategorien vor sich gehen kann, braucht kaum gesagt zu werden, und nichts weist darauf hin, daß die Worte "wenn - werden" nur als eine Eierschale, eine archaische Wendung, paläontologischer Rest zu betrachten sind, wie VAIHINGER (Kommentar II 354) behauptet; im Gegenteil: die ganze Lehre von der transzendentalen Idealität des Raums und der Zeit hat doch nur dann Sinn, wenn die Dinge ansich zumindest "durch die Vernunft erwogen", d. h. eben gedacht, unbestimmt vorgestellt (nicht dagegen bestimmt erkannt!) werden können; um Raum und Zeit von ihnen zu verneinen, muß ich sie doch zumindest denken, und dieses Denken ist, weil dabei keine Erfahrung und keine empirischen Momente mitspielen, nichts Anderes als ein "Erwägen durch Vernunft". In demselben Sinn ist Kr. d. r. V. B 55 davon die Rede, daß die Erscheinung jederzeit zwei Seiten hat:
    "die eine, da das Objekt ansich betrachtet wird, unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber eben darum jederzeit problematisch bleibt";
das Letztere ist unvermeidlich, weil jede Anschauung und damit jede bestimmte Erkenntnis fehlt, das "Betrachten" kann also nichts als ein bloßes Denken, und zwar vor allem mittels der Kategorien sein. Ähnlich spricht Kr. d. r. V. B 57) von einem Urteil über "Gegenstände nicht als Erscheinungen, sondern bloß im Verhältnis auf den Verstand".

Auch in dem vielberufenen Abschnitt über die Phaenomena und Noumena (21) wird schon in Kr. d. r. V. A der Unterschied zwischen Denken und Erkennen wiederholt nutzbar gemacht. So Kr. d. r. V. A 245: Reine Kategorien (ohne Schemata) sind
    "keine Begriffe, wodurch ein Gegenstand erkannt und von anderen unterschieden würde, sondern nur so viel Arten, einen Gegenstand zu möglichen Anschauungen zu denken."

    Kr. d. r. V. A 252: "Hieraus entspringt nun der Begriff von einem Noumenon, der aber gar nicht positiv ist und eine bestimmte Erkenntnis von irgendeinem Ding, sondern nur das Denken von Etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere."

    Kr. d. r. V. A 253f; B 309: "Lasse ich [aus einer empirischen Erkenntnis] alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. h. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen. Daher erstrecken sich die Kategorien sofern weiter als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekt überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen. Sie bestimmen aber dadurch nicht eine größere Sphäre von Gegenständen [für die Erkenntnis], weil, daß solche [als Noumena im positiven Sinn] gegeben [nicht nur gedacht!] werden können, man nicht annehmen kann, ohne daß man eine andere als sinnliche Art der Anschauung als möglich voraussetzt, wozu wir aber keineswegs berechtigt sind."
Kr. d. r. V. A 256; B 312: Unser Verstand schränkt die Sinnlichkeit ein, dadurch daß er die Dinge ansich Noumena nennt;
    "aber er setzt sich auch sofort selbst Grenzen, sie durch keine Kategorien zu erkennen, folglich sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken."
In dem betreffenden Abschnitt der Prolegomena wird die Vorstellung wirklich existierender Dinge ansich, die den Erscheinungen zugrunde liegen, nicht nur für zulässig, sondern sogar für unvermeidlich erklärt (§ 32, Werke IV 314f). Nur wird sofort die Einschränkung hinzugefügt,
    "daß wir von diesen reinen Verstandeswesen ganz und gar nichts Bestimmtes wissen, noch wissen können, weil unsere reinen Verstandesbegriffe sowohl als reine Anschauungen auch nichts als Gegenstände möglicher Erfahrung, folglich auf bloße Sinnenwesen gehen, und, sobald man von diesen abgeht, jenen Begriffen nicht die mindeste Bedeutung mehr übrig bleibt."
Ein dem letzteren sehr ähnlicher Ausdruck (daß es ihnen "ganz und gar an Bedeutung fehlt") kehrt § 34 wieder und wird näher dahin erläutert, daß die Kategorien außerhalb des Feldes der Sinnlichkeit aus Mangel an Anschauung "durch kein Mittel in concreto dargestellt werden können" (22) und weiterhin faßt § 45 den Ertrag von § 34 dahin zusammen, daß die Kategorien, da sie jenseits der Erfahrung
    "keine Anschauung finden, welche ihnen Bedeutung und Sinn in concreto verschaffen könnte, als bloß logische Funktionen zwar ein Ding überhaupt vorstellen, aber für sich allein keinen bestimmten Begriff von irgendeinem Ding geben können."
Unter dem Terminus "überhaupt vorstellen" verbirgt sich hier, was KANT sonst "denken" nennt, im Unterschied vom "Erkennen", das einen "bestimmten Begriff" vom Ding an die Hand geben müßte und nur dann vorliegen würde, wenn die Kategorien sich "in concreto darstellen" ließe.

Auf diesen Gegensatz zwischen dem Erkennen durch bestimmte Begriffe und dem bloßen Denken in Kategorien lenkt KANT in den §§ 57-60 ("Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft" immer wieder die Aufmerksamkeit als auf den entscheidenden Punkt. § 57 erklärt es gleich zu Anfang für ungereimt, wenn wir mit Bezug auf irgendein Ding außerhalb des Umkreises möglicher Erfahrung
    "nur auf die mindeste Erkenntnis Anspruch machen, es nach seiner Beschaffenheit, wie es ansich ist, zu bestimmen",
da die Kategorien ohne Beziehung auf die Möglichkeit der Erfahrung ganz und gar kein Objekt bestimmen und überall keine Bedeutung haben. Noch ungereimter aber würde es sein, wenn wir gar keine Dinge-ansich einräumen würden und die Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung für allgemeine Bedingungen der Dinge-ansich gehalten wissen wollten. Damit stellt KANT die wirkliche Existenz transsubjektiver Dinge-ansich als eine Selbstverständlichkeit hin; nicht weniger selbstverständlich ist aber, daß, um auch nur von Dingen-ansich sprechen zu können, wir sie denken und dazu uns der Kategorien bedienen müssen, freilich ohne dadurch zu irgeneiner Erkenntnis zu gelangen. Dementsprechend heißt es Werke IV 352:
    "Unsere Vernunft sieht gleichsam um sich einen Raum für die Erkenntnis der Dinge ansich, obgleich sie von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann und [in ihrer Erkenntnis] nur auf Erscheinungen eingeschränkt ist." (23)
Dieser Raum ist im Gegensatz zum vollen Raum der Erfahrung (für uns) leer, da wir von den Noumenis nichts wissen, d. h. offenbar: nichts erkennen können; aber die Grenze zwischen beiden Räumen stellt, wie jede Grenze, doch auch etwas Positives dar, da feststeht, daß tatsächlich noch etwas über die Erfahrungsschranken hinausliegt, "obgleich wir es, was es ansich ist, niemals erkennen werden" (Werke IV 354). (24) Annehmen und also auch denken (unbestimmt vorstellen) müssen wir Noumena, da "Erscheinung doch jederzeit eine Sache ansich voraussetzen und also darauf Anzeige tun"; aber niemals können wir sie "nach dem, was sie ansich sein mögen, d. h. bestimmt, erkennen";
    "denn denken wir das Verstandeswesen durch nichts als reine Verstandesbegriffe, so denken wir uns dadurch wirklich nichts Bestimmtes, folglich ist unser Begriff [für Zwecke wirklicher Erkenntnis] ohne Bedeutung." (Werke IV 355 und Erdmanns "Nachträge zu Kants Kr. d. r. V., Seite 39, Nr CXIII)
Um seinen Standpunkt noch näher zu bestimmen, bedient KANT sich des Gottesbegriffs als Beispiels und spricht sich im Lauf dieser Erörterung (Werke IV 358) in prinzipieller Weise über die Möglichkeit eines transzendentalen Gebrauchs der Kategorien aus:
    "Wenn man uns nur anfangs als eine notwendige Hypothese den deistischen Begriff des Urwesens einräumt, in welchem man sich das Urwesen durch lauter ontologische Prädikate der Substanz, Ursache usw. denkt (welches man tun muß, weil die Vernunft, in der Sinnenwelt durch lauter Bedingungen, die immer wiederum bedingt sind, getrieben, ohne das gar keine Befriedigung haben kann; und welches man auch füglich tun kann, ohne in den Anthropomorphismus zu geraten, der Prädikate aus der Sinnenwelt auf ein von der Welt ganz unterschiedenes Wesen überträgt, indem jene Prädikate bloße Kategorien sind, die zwar keinen bestimmten, aber auch eben dadurch keinen auf Bedingungen der Sinnlichkeit eingeschränkten Begriff desselben geben): so kann uns nichts hindern von diesem Wesen eine Kausalität durch Vernunft in Anbetracht der Welt zu prädizieren und so zum Theismus überzuschreiten, ohne eben genötigt zu sein, ihm diese Vernunft an ihm selbst als eine ihm anklebende Eigenschaft beizulegen."
Auch den Erörterungen von Kr. d. r. V. A 384f über die Gemeinschaft der Seele mit der Materie (am Schluß des Abschnittes von den Paralogismen) liegt die Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen zugrunde. Sie wird zwar nicht mit ausdrücklichen Worten ausgesprochen, bildet aber die stillschweigende Voraussetzung, ohne welche die ganzen Ausführungen keinen Sinn haben würden. Die Erklärung jener Gemeinschaft durch physischen Einfluß ist nach Kr. d. r. V. A 390 die Vorstelluhng des gemeinen Verstandes; gegen sie richten dann die Systeme der vorher bestimmten Harmonie und der übernatürlichen Assistenz ihre dogmatischen Einwürfe, daß nämlich die Materie durch ihren unmittelbaren Einfluß unmöglich Ursache von Vorstellungen, als einer ganz heterogenen Art von Wirkungen, sein kann. KANT weist den Einwurf durch den Hinweis auf den Erscheinungscharakter der Materie zurück, die nichts als eine bloße Vorstellung ist, "die durch irgendwelche äußere Gegenstände (25) gewirkt wurde." Die Gegner müßten also ihren Einwand vielmehr darauf richten, daß das, was der wahre (transzendentale) Gegenstand unserer äußeren Sinne ist [d. h. das Ding-ansich] nicht die Ursache derjenigen Vorstellungen (Erscheinungen) sein kann, die wir unter dem Namen Materie verstehen; da aber niemand mit Grund vorgeben kann, etwas von der transzendentalen Ursache unserer Vorstellungen äußerer Sinne zu kennen, so ist ihre Behauptung ganz grundlos (Kr. d. r. V. A 390f). Gleich darauf faßt KANT die Erörterung noch einmal kurz zusammen: der Gegner kann nur eine Schwierigkeit vorbringen, nämlich die, daß der unbekannte Gegenstand unserer Sinnlichkeit [= Ding-ansich] nicht die Ursache der Vorstellungen in uns sein kann; zu diesem Einwurf aber berechtigte ihn nicht das Mindeste, "weil niemand von einem unbekannten Gegenstand ausmachen kann, was er tun oder nicht tun kann." (Kr. d. r. V. A 392)

Um diese Ausführungen ganz zu verstehen, muß man sie zu der "Disziplin der reinen Vernunft in Anbetracht der Hypothesen" (Kr. d. r. V. B 797) in eine enge Beziehung setzen. Nach diesem Abschnitt sind im spekulativen (dogmatischen) Gebrauch der Vernunft Hypothesen auf das Strengste auszuschließen, vor allem dürfen auch nicht Vernunftideen in Form transzendentaler Hypothesen zur Erklärung gegebener Erscheinungen herangezogen werden. Anders im polemischen Gebrauch der Vernunft, wenn es nur gilt, die Scheineinsichten des Gegners zu vereiteln, die einem von uns behaupteten Satz Abbruch tun sollen. Da kann er nur mit dogmatischen Einwänden und Verneinungen kommen, die sich auf kein Besserwissen stützen können, da er hinsichtlich des Transzendenten ebensowenig über irgendein theoretisches Wissen verfügt als wir selbst. Vor allem dann, wenn praktisch notwendige, aber theoretisch nicht beweisbare Voraussetzungen mit Bezug auf das Übersinnliche gemacht werden müssen, ist der Behauptende und (vom praktischen Standpunkt aus) Besitzende dem verneinenden Gegner gegenüber stets im Vorteil und darf sich gegen des letzteren transzendente Angriff auch transzendentaler (= transzendenter) Hypothesen zur Verteidigung bedienen. Aber auch darüber hinaus haben, wie die Zusammenfassung am Schluß des Abschnitts (Kr. d. r. V. B 809f) versichert, transzendentale Hypothese ganz allgemein Gültigkeit "relativ auf entgegengesetzte transzendente Anmaßungen"; sie sind dann
    "nur problematische Urteils, die wenigstens nicht widerlegt, obgleich freilich durch nichts bewiesen werden können, und sind also reine Privatmeinungen, können aber doch nicht füglich (selbst zur inneren Beruhigung) gegen sich regende Skrupel entbehrt werden."
Betrachtet man von hier aus das Problem der Gemeinschaft, so ergibt sich folgendes Bild: KANT selbst vertritt die "Vorstellung des gemeinen Verstandes", die Theorie des physischen Einflusses, nur von Schlacken gereinigt durch das Läuterungsfeuer des transzendentalen Idealismus, nach dem nicht die Materie als selbständige, ansich seiende Substanz, sondern nur das ihr zugrunde liegende unbekannte Ding ansich auf unseren Geist einwirken und Ursache unserer Vorstellungen sein kann. Daß die Ding-ansich uns affizieren, ist für KANT, wie wir oben in Absatz 9 gesehen haben, eine Selbstverständlichkeit, die ihm aufgrund der eigentümlichen, realistisch gefärbten Art, wie er die äußeren Erscheinungen erlebt hat, ganz unzweifelhaft gewiß war. Gegen diesen von ihm behaupteten Satz richten nun die beiden Gegner ihre dogmatischen Einwürfe. KANT antwortet einerseits mit dem kritischen Hinweis darauf, daß sie über das (als selbstverständlich seiend vorausgesetzte) seinem Wesen nach völlig unbekannte Ding-ansich unmöglich ausmachen können, was es tun oder nicht tun kann, andererseits aber auch (Kr. d. r. V. A 358f; B 427f, 808) mit der transzendentalen Hypothese, daß die den äußeren Erscheinungen zugrunde liegenden Etwasse als Noumena betrachtet einfache, denkende und wollende Subjekte (Substanzen) sind, daß wir uns also, wenn wir die äußeren Dinge und uns selbst anschauen, wie sie ansich sind,
    "in einer Welt geistiger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen hat, noch durch den Leibestod (als bloße Erscheinungen) aufhören wird."
In solchen Äußerungen haben wir KANTs metaphysische "Privatmeinungen" (Kr. d. r. V. B 810) über das Transzendente vor uns, die sich in seinen offiziellen Schriften nur hie und da schüchtern hervorwagen.

Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß, um solche zur Verteidigung erlaubte Hypothesen auch nur aufstellen und erörtern zu können, es möglich und gestattet sein muß, die Dinge-ansich zumindest zu denken, und zwar auch durch Kategorien zu denken (26). Jede bestimmte Erkenntnis aber bleibt ausgeschlossen; wäre sie irgendwie erreichbar, dann müßte ja zwischen den dogmatischen Behauptungen der angreifenden Gegner und den verteidigenden Hypothesen eine endgültige theoretische Entscheidung getroffen werden können, denn "die von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori und als notwendig oder gar nicht erkennen (Kr. d. r. V. B, 803, ähnlich 809). Alles angebliche "Wissen" und "Kennen" von transzendentalen Dingen, alle "Einsicht" in sie weist KANT deshalb auch in diesen Zusammenhängen sehr energisch zurück, so Kr. d. r. V B 804, 805, 808; A 360, 388, 389 , 391, 393-395). Andererseits will er, wenn er einschärft, daß Materie nur Erscheinung, d. h. bloße Vorstellung des Gemüts ist, der ein unbekannter Gegenstand entspricht (Kr. d. r. V. A 391), daß vom unbekannten Gegenstand ansich unserer Sinnlichkeit niemand ausmachen kann, was er tun oder nicht tun kann (Kr. d. r. V. A 392), daß die Körper nicht Gegenstände ansich sind, sondern eine bloße Erscheinung, wer weiß, welches unbekannten Gegenstandes (Kr. d. r. V. A 387), daß
    "das transzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der inneren Anschauung zugrunde liegt, weder Materie ist, noch ein denkend Wesen ansich, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff sowohl von der ersten als auch zweiten Art an die Hand geben" (Kr. d. r. V. A 379f) -
in diesen und ähnlichen Wendungen, z. B. auf Kr. d. r. V. A 385, will KANT durchaus keinen Zweifel am Dasein der Dinge-ansich aufkommen lassen. Im Gegenteil! ihre transsubjektive Existenz wird in allen jenen Stellen anerkannt und als eine Selbstverständlichkeit, der gegenüber keinerlei Bedenken laut werden, vorausgesetzt.

Auf die letztzitierte Stelle folgen die Worte:
    "Wenn wir also, wie uns denn die gegenwärtige Kritik augenscheinlich dazu nötigt, der oben festgesetzten Regel treu bleiben, unsere Fragen nicht weiter zu treiben, als nur so weit mögliche Erfahrung uns das Objekt derselben an die Hand geben kann: so werden wir es uns nicht einmal einfallen lassen, über die Gegenstände unserer Sinne nach demjenigen, was sie ansich, d. h. ohne alle Beziehung auf die Sinne sein mögen, Erkundigung anzustellen."
VOLKELT (Kants Erkenntnistheorie, 1879, Seite 19) führt diese Stelle neben anderen als Beweis dafür an, daß KANTs Denken das absolut skeptische Erkenntnisprinzip in seinem innersten Grund ergriffen hat. Aber von irgendeiner Skepsis gegenüber den Dingen-ansich ist in diesem Zitat nichts zu spüren. Gewiß klingt die 2. Hälfte scharf. Aber das erklärt sich aus dem Zusammenhang, in dem sie steht: sie beginnt nämlich den Schlußsatz der Kritik des 4. Paralogismus. Daß KANT da die Unmöglichkeit jeder Erkenntnis des Übersinnlichen (dann an sie ist beim "Erkundigung anstellen" ohne Zweifel zu denken!) entschieden ablehnt, ist nicht nur verständlich, sondern sogar selbstverständlich. Aber auch nur die Erkenntnis lehnt er ab, nicht das unbestimmte Denken; und nur auf die unerkennbare Beschaffenheit des Transzendenten bezieht sich das ungewisse "mögen", nicht auf sein Dasein. Denn dieses wird ja in den unmittelbar vorhergehenden Worten als ein zweifelloses einfach vorausgesetzt, wobei KANT zugleich im Ausdruck "ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen" die reine Kausalitätskategorie zum bloß unbestimmten Denken des Dings-ansich frei gibt. Das zuletzt Gesagte gilt auch für Kr. d. r. V. A 385, wo das "mag" in den Worten: "Es mag wohl etwas außerhalb von uns sein, dem diese Erscheinung, welche wir Materie nennen, korrespondiert", gleichfalls nicht etwa eine Unsicherheit hinsichtlich des Daseins der Dinge-ansich zum Ausdruck bringen soll, sondern nur wegen unserer absoluten Unkenntnis ihrer Beschaffenheit gewählt ist (vgl. Kr. d. r. V. A 387: "Erscheinungen, wer weiß, welches unbekannten Gegenstandes"). Das Dasein der Dinge ansich wird auch Kr. d. r. V. A 385 sowohl unmittelbar vor wie nach dem Zitat als selbstverständlich vorausgesetzt: dort in der Behauptung, daß die Materie
    "nichts anderes ist als eine gewisse Vorstellungsart eines unbekannten Gegenstandes [ansich] durch diejenige Anschauung, welche man den äußeren Sinn nennt",
hier wenn die materiellen Dinge als "Erscheinungen von Gegenständen, die uns ansich unbekannt sind", bezeichnet werden.

Durch § 16 ist erwiesen, daß auch schon Kr. d. r. V. A und die Prolegomena an vielen Stellen dieselbe Ansicht wie Kr. d. r. V. B und die Kritik der praktischen Vernunft vertreten: daß die Kategorien als reine Begriffe auf alle Objekte, einerlei ob Phaenomena oder Noumena, anwendbar sind, um sie unbestimmt zu denken, ohne daß sich dadurch aber auch nur die mindeste Aussicht auf eine bestimmte theoretische Erkenntnis eröffnet. Was die letztere ausschließt, ist nur der Mangel an Anschauung (27). Nicht also in den Kategorien selbst und ihrer positiven Eigenart liegt ein Hindernis, das sich der Erkennbarkeit der Dinge-ansich durch sie entgegenstellt - wie es der Fall sein müßte, wenn sie nur als Begriffe von synthetischen Funktionen in Betracht kommen würden. Der allein entscheidende Punkt ist vielmehr der, daß die Kategorien Begriffe sind und daß kein Begriff für sich allein, ohne Verbindung mit einer Anschauung, jemals zu Erkenntnissen, d. h. zu bestimmten, konkreten, auf wirkliche Objekte bezogenen Vorstellungen, führen kann.

17. Auf den Begriff des unbestimmten Denkens und Vorstellens auch über die Grenze der Erscheinungswelt hinaus kommt KANT immer wieder zurück. Mit Recht, denn er bedarf seiner dringend. Ohne ihn wäre die unbewiesene Prämisse von der Selbstverständlichkeit der Existenz wirkender Dinge-ansich, die seinem System zugrunde liegt, in sich unmöglich: die Dinge-ansich dürften nicht einmal durch die Kategorien Vielheit, Dasein, Kausalität usw. gedacht werden, geschweige denn daß sie als viele wirklich existieren und Kausalität besitzen könnten.

Ich gebe noch einige Nachweise. Nach Kr. d. r. V. B XXVIII kann ich mir die Freiheit zwar denken, aber nicht "als Eigenschaft eines Wesens, dem ich Wirkungen in der Sinnenwelt zuschreibe, erkennen, darum weil ich ein solches seiner Existenz nach, und doch nicht in der Zeit, bestimmt erkennen müßte (welches, weil ich meinem Begriff keine Anschauung unterlegen kann, unmöglich ist)". Kr. d. r. V. B 150 beginnt § 24 mit den Worten:
    "Die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgendeine andere, doch sinnliche, ist, sind aber eben darum bloße Gedankenformen, wodurch noch kein bestimmter Gegenstand erkannt wird."
Kr. d. r. V. B 166 wird im Gegensatz zum bloßen Denken das Erkennen mit dem "Bestimmen des Objekts" gleichgestellt. Nach Kr. d. r. V. B 186f bedeutet die reine Kategorie Substanz ohne ihr Schema (die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit) nichts weiter als ein etwas, das als Subjekt (ohne ein Prädikat von etwas anderem zu sein) gedacht werden kann; dadurch wird aber gar nicht angezeigt, welche Bestimmungen, d. h. welche unterscheidenden Prädikate das Ding hat, welches als ein solches erstes Subjekt gelten soll (vgl. Kr. d. r. V. B 300f). Kr. d. r. V. B 306f spricht von der Zweideutigkeit, die dadurch entsteht, daß der Verstand, indem er einen Gegenstand in einer Beziehung bloß Phänomen nennt, sich zugleich noch eine Vorstellung von einem Gegenstand ansich macht, der durch die reinen Verstandesbegriffe wenigstens müsse gedacht werden können,
    "dadurch aber verleitet wrid, den [zulässigen] ganz unbestimmten Begrif von einem Verstandeswesen (28) als eine Etwas überhaupt außerhalb unserer Sinnlichkeit für einen [unzulässigen] bestimmten Begriff von einem Wesen, welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen könnten, zu halten."
Ähnlich Kr. d. r. V. B 311: man kann den intellektuellen Begriffen keinen Gegenstand bestimmen und sie also auch nicht für objektiv gültig ausgehen, ferner Kr. d. r. V. B 314: Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen; trennen wir sie, so haben wir Vorstellungen (entweder Anschauungen ohne Begriffe oder Begriffe ohne Anschauungen), die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können. Nach "Fortschritte der Metaphysik", Seite 121
    "kann ich vom Übersinnlichen, z. B. von Gott, zwar eigentlich keine theoretische Erkenntnis, aber doch eine Erkenntnis nach der Analogie, und zwar die der Vernunft zu denken notwendig ist, haben; wobei die Kategorien zugrunde liegen, weil sie zur Form des Denkens notwendig gehören, dieses mag auf das Sinnliche oder Übersinnliche gerichtet sein, obgleich sie, und gerade eben darum, weil sie für sich noch keinen Gegenstand bestimmen, keine Erkenntnis ausmachen."
Vgl. auch aus der "Kritik der Urteilskraft" und die oben Anmerkung 20 angeführten Stelle aus der Vorrede zur "Kritik der praktischen Vernunft", in welcher der Ausdruck, daß den Kategorien in praktischer Beziehung "überall ein Objekt" zukommt, offenbar auch im Sinne von "unbestimmtem Objekt" gemeint ist.

18. In "Fortschritte der Metaphysik", Seite 111/112 geht KANT so weit, daß er die Kategorien als maßgebende "Denkformen für den Begriff von einem Gegenstand der Anschauung überhaupt" betrachtet,
    "welcher Art diese auch sei (29), wenn es auch eine übersinnliche Anschauung wäre, von der wir uns spezifisch keinen Begriff machen können." (30)
Die Kategorien sind dann nichts als reine Begriffe, welche die allgemeinsten Seinsweisen aller Dinge, ob Erscheinungen ob Dinge-ansich, in ihrer Weise, d. h. eben begrifflich, wiedergeben. Und das Zitat soll besagen, daß jene allgemeinsten Seinsweisen, auf welche die Kategorien gehen, auch für die intellektuelle Anschauung vorhanden sind und daß deshalb die Kategorien, soweit bei ihr überhaupt noch von abstraktem Denken die Rede sein kann, gleichfalls für sie Gültigkeit haben.

An anderen Stellen denkt KANT anders und beschränkt die Kategorien auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur nicht intellektuell ist (Kr. d. r. V. B 148, 150, 342). Für einen Verstand, der selbst anschaut (wie man sich etwa den göttlichen denkt, der sich nicht gegebene Gegenstände vorstellt, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht werden (31)), würden die Kategorien gar keine Bedeutung haben;
    "sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. h. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben wurde, zur Einheit der Apperzeption zu bringen (32), der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zur Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet." (Kr. d. r. V. B 145; vgl. 135, 138f) (33)
Jener uns versagte Verstand, von dem wir uns auch nicht einmal die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können, würde also seine Gegenstände "nicht diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nicht sinnlichen Anschauung" erkennen (Kr. d. r. V. B 311f; vgl. Werke VIII, Seite 216).

Damit will KANT sicher nicht sagen, daß den etwaigen Gegenständen einer solchen intellektuellen Anschauung Existenz, Einheit, Vielheit, wechselseitige Beziehung bzw. Abhängigkeit usw. gar nicht zukommt - dann wären sie ja überhaupt nicht, nicht einmal als mögliche, denkbar -; sondern er betont in den angeführten Stellen an den Kategorien vor allem ihren funktionalen Charakter (34): daß sie die unserem Geist eigentümlichen Arten synthetischer Vereinheitlichung sind, und dann ist es freilich nur selbstverständlich, daß ein anschauender Verstand sich ihrer schlechterdings nicht bedienen kann. Denn als Funktionen können die Kategoiren sich nur im Zusammensetzen des Anschauungsmaterials betätigen (vgl. den Brief an Tieftrunk vom 11. 12. 1779 in Werke XII, Seite 221-223); jener Verstand aber bedarf bei seinem intellektuellen Anschauen nicht erst der Zusammensetzung eines zunächst vereinzelt gegebenen Materials. Sondern was beim Menschen getrennt wirkt: Verstand und Sinnlichkeit, ist bei ihm auf höherer Stufe eins; er schaut also ohne weiteres das Zusammengesetzte und die Vielheit als fertige Einheit, ohne erst die letztere aus der Vereinzelung hervorwachsen zu lassen. Darin liegt, daß auch für ihn dieselben allgemeinsten Seinsweisen der Dinge (hier: der Dinge-ansich) vorhanden sein werden, ja vorhanden sein müssen, weil eben Dinge gar nicht anders sein können. Aber er bedarf nicht erst unserer Verstandesfunktionen der Synthesis, um zur Erkenntnis jener Seinsweisen zu kommen, er erkennt die letzteren vielmehr unmittelbar.

Auch noch ein weiterer Gedanke schwebte KANT vermutlich vor - und Kr. d. r. V. B 311f bringt er ihn auch zum Ausdruck -: daß bei intellektueller Anschauung von einem abstrakten Denken durch Begriffe und also auch von Kategorien überhaupt nicht die Rede sein kann, daß da vielmehr in für uns unvorstellbarer Weise alles nur angeschaut wird, also auch jene allgemeinsten Seinsweisen, die in den Kategorien als reinen Verstandesbegriffen gemeint sind. Vorhanden sein würden sie also auch für den anschauenden Verstand, nur würden sie nicht abstrakt-begrifflich in Form von Kategorien aufgefaßt werden, sondern konkret-anschaulich in einer für uns unbegreiflichen Weise.
LITERATUR - Erich Adickes, Kant und das Ding ansich, Berlin 1924
    Anmerkungen
    21) Vgl. auch Kants Nachtrag zu seinem Anfang: "Wir können Noumena nur denken, aber nicht erkennen" (Benno Erdmann, Nachträge zu Kants Kr. d. r. V., 1881, Seite 38).
    22) Einige Zeilen vorher (Werke IV 316) heißt es, daß durch die Kategorien außerhalb des Feldes der Erfahrung gar nichts gedacht werden kann. Nach "nichts" müßte dem Folgenden gemäß ergänzt werden: "Bestimmtes, konkret Darstellbares"; noch klarer wäre, wenn "gedacht" durch "erkannt" ersetzt würde. Daß Kant sich in § 34 wiederholt so starker Ausdrücke bedient, liegt daran, daß die Betrachtung der Kategorien im Sinne von bloßen synthetischen Funktionen sich einmischt. Daß er im Übrigen in den Prolegomena weit davon entfernt ist, das unbestimmte Denken der Noumena durch die reinen Kategorien für unmöglich erklären zu wollen, zeigen die Nachweise auf den folgenden Seiten zur Genüge.
    23) Vgl. Werke IV 351. - Die nicht einzusehende Möglichkeit, von der IV 352 redet, ist die reale Möglichkeit (vgl. Kr. d. r. V. B XXVI) und dasselbe, was IV 352 nicht darzutuende objektive Realität heißt. In beiden Fällen handelt es sich um den (nicht erbringbaren) wissenschaftlichen, theoretischen Nachweis, daß den betreffenden Vernunftbegriffen (Seele und Gott) korrespondierende Noumena wirklich existieren, und um die (unmögliche) konkrete Erkenntnis ihres Wesens durch bestimmte, anschauliche darstellbare Begriffe.
    24) Vgl. Werke IV 360f, wonach das Feld der reinen Verstandeswesen für uns ein leerer Raum ist, sofern es auf die Bestimmung ihrer Natur ankommt; darum gehören wir, wenn es auf "dogmatisch-bestimmte Begriffe" abgesehen ist, nicht über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen. Aber auch hier wird stark unterstrichen, daß die Grenze etwas Positives ist, das sowohl zu dem innerhalb als zu dem außerhalb gelegenen Raum gehört, und daß demgemäß auch das bloße Vordringen bis zu dieser Grenze eine wirklich positive Erkenntnis bedeutet, weil es der Vernunft ein jenseits der Grenze real Existierendes verbürgt, was ihr aber im Übrigen unbekannt bleibt. Wenn Kant ebendort (IV 361) behauptet, die Vernunft finde jenseits der Grenze einen leeren Raum vor sich, in welchem sie zwar Formen zu Dingen, aber keine Dinge selbst denken kann, so sind mit diesen Dingen konkrete, anschaulich gegebene gemeint, und es muß nach "selbst" aus dem vorhergehenden Satz "durch dogmatisch-bestimmte Begriffe" (IV 361) ergänzt werden; das unbestimmte Denken durch reine Kategorien will Kant auch hier nicht leugnen, es ist vielmehr in den Worten "Formen zu Dingen denken" enthalten.
    25) Gemeint sind gemäß Kr. d. r. V. A 373 "äußerliche Gegenstände im transzendentalen [= transzendenten] Sinn", d. h. Dinge-ansich.
    26) So spricht Kr. d. r. V. A 391 von der "transzendentalen Ursache unserer Vorstellungen äußerer Sinne". Ähnlich 392. Nach 393 kann man die Lücke unseres Wissens, die in der Unbeantwortbarkeit der Frage: wie in einem denkenden Subjekt überhaupt äußere Anschauung möglich ist, besteht, "niemals ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen einem transzendentalen Gegenstand zuschreibt, welcher die Ursache dieser Art Vorstellungen ist, den wir [also wohl denken können] aber gar nicht kennen, noch jemals einen [bestimmten, zur Erkenntnis zureichenden] Begriff von ihm bekommen werden."
    27) Das tritt auch Kr. d. r. V. B 288, 300-302, 333f klar hervor. Seite 300: Nimmt man bei den Kategorien die Bedingung der Sinnlichkeit weg, so fällt alle Bedeutung d. h. Beziehung aufs Objekt fort, und man kann sich selbst durch kein Beispiel faßlich machen, was unter dergleichen Begriffen denn eigentlich für ein Ding gemeint ist. Seite 302: Die Kategorien "lassen sich durch nichts belegen und dadurch ihre reale Möglichkeit dartun, wenn alle sinnliche Anschauung (die einzige, die wir haben) weggenommen wir, und es bleibt dann nur noch die logische Möglichkeit übrig, d. h. daß der Begriff (Gedanke) möglich ist, wovon aber nicht die Rede ist, sondern ob er sich auf ein Objekt bezieht und also irgendetwas bedeutet."
    28) Ähnlich ist die Kr. d. r. V. B 569 gebrauchte Wendung, daß wir vom intelligiblen Charakter "nichts als bloß den allgemeinen Begriff desselben haben können".
    29) Ebenso in der weiter oben Anmerkung 20 zitierten Stelle aus dem Brief an Beck.
    30) Im folgenden Satz nimmt Kant freilich das hier Gesagte halbwegs zurück und scheint zwar an andersartige Anschauungen, als die unsere, aber doch immerhin nur an sinnliche zu denken.
    31) Kr. d. r. V. B 138: "durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde."
    32) Nach Kr. d. r. V. B 139 würde ein intuitiver Verstand "einen besonderen Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zur Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen".
    33) Nach Kr. d. r. V. B 308 müßten wir dementsprechend, wenn wir die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, eine andere Anschauung als die sinnliche zugrunde legen.
    34) Kr. d. r. V. B 342 heißt es geradezu: für eine intellektuelle Anschauung würden unsere Funktionen zu denken von gar keiner Bedeutung sein.