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Kant und das Ding ansich [3/4]
Vierter Abschnitt Dinge ansich und Kategorien 11. Gemeinsam ist beiden Gruppen auch die unbedenkliche Anwendung der Kategorien Einheit, Vielheit, Realität (Dasein), Kausalität auf die Dinge ansich. Wiederholt wird in der letzten Zitatengruppe noch besonders betont, daß den Dingen-ansich Dasein oder Wirklichkeit zukommt, so IV 289, 314f. (1) Meistens ist von ihnen in der Mehrzahl, selten als von einem bloßen Etwas die Rede, wie Kr. d. r. V. B, 61, A 358, IV 314, doch wird an den beiden letzten Stellen der Ausdruck Etwas alsbald durch Objekte bzw. Dinge-ansich ersetzt. Jeder Erscheinung liegt ja nach KANT ein Ding-ansich zugrunde und offenbart sich in ihr, also ist nichts natürlicher, als daß er von ihnen in der Mehrzahl spricht. Andererseits muß auch jedes von ihnen, als von den anderen verschieden, eine Einheit für sich bilden. Nur in den Dingen-ansich ist nach der Schrift gegen Eberhard das Einfache zu finden; auch soweit sie zusammengesetzt sein sollten, müssen sie letztlich als aus einfachen Substanzen bestehend gedacht werden. Doch ist das nicht so aufzufassen, als ob man, um die Konstitution der den Körpern zugrunde liegenden Dinge-ansich zu bestimmen, nur anstelle der naturwissenschaftlichen Atome durchwegs einfache Monaden zu setzen hätte; mit Recht sagt KANT dagegen von seinem Standpunkt aus:
Das geht aus dem Abschnitt über die Paralogismen, Kr. d. r. V. A hervor, wo er bekanntlich den Schleier etwas lüftet, der sich sonst über seine metaphysischen Privatansichten hinsichtlich der Dinge-ansich breitet. Kr. d. r. V. A 358f hören wir, daß das der Materie zugrunde liegende Ding-ansich sehr wohl zugleich auch ein "Subjekt der Gedanken", d. h. ein Ich-ansich, sein kann. Wäre die Materie selbst das Ding ansich, so würde sie freilich als ein zusammengesetztes Wesen von der Seele als einem einfachen ganz und gar verschieden sein. Ihr als bloßer äußerer Erscheinung dagegen kann sehr wohl ein einfaches Substratum als Noumenon entsprechen, und es ist daher durchaus möglich, daß der Substanz, der in Anbetracht unseres äußeren Sinnes Ausdehnung zukommt, ansich Gedanken beiwohnen, die durch ihren eigenen inneren Sinn mit Bewußtsein vorgestellt werden. So würde, was als Erscheinung körperlich heißt, seinem Ansich nach zugleich ein denkendes Wesen sein, und, statt zu sagen, daß nur Seelen (als besondere Arten von Substanzen) denken, würde es vielmehr richtiger mit dem gewöhlichen Sprachgebrauch heißen, daß Menschen denken, d. h. daß
Vor allen Dingen aber kommt hier der Schluß von KANTs Bemerkungen zu Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden aus dem Jahr 1786 (VIII 154) in Betracht - eine äußerst wichtige und bezeichnende Stelle, an der, soweit ich sehe, die Gegner und Verwässerer der kantischen Ding-ansich-Lehre in ebenso bezeichnender Weise mit eisigem Schweigen vorüberzugehen pflegen. Gegen MENDELSSOHNs Devise selbstgenügsamer, dogmatischer Bequemlichkeit, die mit dem Nachweis dessen, was ein Ding wirkt oder leidet, die Frage nach seinem Sein schon völlig erledigt haben will, wenden KANT ein, daß die Erfahrungsbegriffe sowohl von den Körpern als von unserer Seele uns nur mit Erscheinungen bekannt machen, und fährt dann fort:
Hier ist nicht nur die Existenz der Dinge ansich eine Selbstverständlichkeit, es werden nicht nur die Kategorien Einheit, Vielheit, Realität, Dasein, Subsistenz-Inhärenz unbedenklich auf sie angewandt: sie gelten sogar als bis zu einem gewissen Grad, und zwar rein theoretisch, erkennbar, KANT stellt sie sich als geistige Wesen (also monadenartig) durch rein geistige Eigenschaften vor (3); nicht etwa nur durch Verstand, Wille, Seligkeit und Macht, die nur Beispiele sind, sondern durch alle im Gottesbegriff zusammengefaßten und nur dem Grad nach verminderten wahren Realitäten. Man wird mit voller Bestimmheit sagen können, daß eine solche Äußerung ganz unmöglich gewesen wäre, wenn KANT die Dinge-ansich im Grunde nur für ein bloßes Gedankending ohne wirkliche Realität gehalten oder hinsichtlich ihrer Existenz irgendwie geschwankt hätte oder wenn auch nur die leiseste Skepsis mit Bezug auf diesen Punkt in ihm vorhanden gewesen wäre. 12. Es ist angesichts des vorliegenden wahrhaft erdrückenden Tatsachenmaterials schwer begreiflich, wie nicht etwa nur im 18. Jahrhundert, wo die erste Hitze des Streits manches entschuldigt, sondern auch noch in unserer Zeit, deren Größe angeblich das historische Verständnis ist, immer wieder mit großer Selbstsicherheit und verächtlichem Seitenblick auf Andersdenkende behauptet werden konnte, es sei eine ganz platte Auffassung und sträftliche Mißdeutung, wenn man KANT die Kategorien auf die Dinge ansich anwenden läßt. Nach EMIL ARNOLDT (4) wurde KANT zwar durch die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes gezwungen, sich zur Bezeichnung des von ihm angenommenen, ganz unbestimmt gedachten Ansich, um es überhaupt denken und von ihm reden zu können, irgendwie, ob offen, ob versteckt, der Kategorien und Schemata zu bedienen. Aber solche Aussagen sollen nur für uns als der Erscheinungswelt angehörige Wesen gültig sein, und jeder von ihnen soll die kantische Vorschrift zur Seite gehen, sie nicht etwa als auch für das transsubjektive Ansich gültig zu erachten, worauf unsere Gedanken sich beziehen. Und was das Verhältnis der Erscheinungen zum Ansich als ihrem Grund betrifft, so können wir zwar "als Glieder der Erscheinungswelt, innerhalb derselben, aber auf deren Grenze", dieses Verhältnis gar nicht anders denken als wieder durch Kategorien und ihre Schemata, also analog den Verhältnissen, die wir unseren apriorischen Verstandesformen gemäß als objektiv gültige in die Erscheinungswelt hineingebildet haben. Aber auch hier muß die Einschränkung hinzutreten, daß Kategorien und Schemata für jenes Verhältnis "nicht wahrhaft gültig" sind. Es darf also
Wenn nur dieses Auslegen kein Hineinlegen und Vergewaltigen wäre, bei dem vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrig bleibt! Es geht doch nicht an, die verhältnismäßig sehr seltenen Stellen - wir werden sie weiter unten kennen lernen -, an denen KANT die Anwendbarkeit der Kategorien auf das ansich Seiende völlig ausschließt, allein zu berücksichtigen und zum alleinigen Auslegungskanon auch für all die vielen anderen zu machen, an denen von jener vorsichtigen Zurückhaltung nichts zu merken ist. Diese letztere ist die eine Tendenz, die bei KANT dann und wann hervorbricht, wenn es ihm darauf ankommt, aus gewissen Prämissen seiner Transzendentalphilosophie unbeirrt die letzten Konsequenzen zu ziehen. Aber ihr gegenüber steht eine zweite, entgegengesetzte Tendenz, die im Allgemeinen die herrschende ist, weil sie aus der realistischen Art, wie er die Erscheinungswelt erlebt, aus seinen metaphysischen Privatansichten über das Ansich, aus den Bedürfnissen seiner Moralphilosphie und -theologie immer neue Kraft zieht; sie drängt ihn, den Schleier, der die Dinge-ansich verhüllt, nach Möglichkeit zu heben, und gewinnt ihm so weitgehende Zugeständnisse an die dogmatischen Philosophen ab, wie seine Bemerkung gegen Mendelssohn (VIII 154) sie enthält. Nur wer beiden Tendenzen zu Wort kommen läßt, hat den ganzen, den wirklichen KANT. ARNOLDT und Genossen entstellen sein Bild, wei eine schlecht retuschierte Photographie, die anstelle der Runzeln und kleinen Unebenheiten des Gesichts gleichmäßige Flächen setzt, eben dadurch aber gerade das Charakteristische verwischt. Hätte ARNOLDT recht, dann müßte man doch erwarten, daß KANT wenigstens an einigen der vielen angeführten Stellen Einschränkungen angebracht hätt und Hinweise darauf, daß die Verwendung der Kategorien auf Dinge-ansich nur eine facon de parler [Sprachgewohnheit - wp] ist: eine eigentlich unerlaubte, aber unvermeidliche und, wenn man sich dieses Umstandes nur stets bewußt bleibt, auch ungefährliche Ausdrucksweise. Und das Zweckmäßigste und daher auch Nächstliegende wäre eine prinzipielle Erklärung im Sinne ARNOLDTs an leicht auffindbarer Stelle (etwa in der Vorrede zur Kr. d. r. V. oder im Abschnitt über die Phaenomena und Noumena) gewesen. Aber nichts von alle dem! Stattdessen immer wieder, über alle Schriften zerstreut, sorgloseste und unbedenklichste Anwendung der Kategorien auf das Ansich, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt wäre, ohne beschränkenden Zusatz, ohne jede Warnung vor Mißdeutungen, die sich doch, wenn jene Übertragung nicht ernsthaft gemeint war, geradezu aufdrängen mußten. ARNOLDT gibt wenigstens zu, daß wir der Dinge-ansich trotz ihrer Unerkennbarkeit und der Unanwendbarkeit der Kategorien auf sie "zuverlässig gewiß" sind, daß auch schon auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie
AUGUST STADLER glaubt in seinen Grundsätzen der reinen Erkenntnistheorie in der kantischen Philosophie (1876) mit dem Nachweis, warum und wie der Verstand den Begriff des Dings-ansich mit Notwendigkeit hervorbringt, das ganze Problem völlig erledigt zu haben; ein "Gegenstand" dieses Begriffs, als ein ihm korrespondierendes Ansich außerhalb unseres Bewußtseins, ist überhaupt nicht vorhanden und von KANT auch niemals behauptet worden; schon die Frage nach einem solchen Gegenstand muß als verfehlt bezeichnet werden, und die Annahme gar, KANT habe das Ding ansich als Ursache erschlossen, sei eine "ungeheuerliche Zumutung" (5). Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Und vorgefaßte Meinung muß einen schon sehr harthörig gemacht haben, wenn man nicht mehr imstande ist, sie zu vernehmen. Nicht nur den Begriff des Dings-ansich als bloßes Denkprodukt läßt KANT durch den Begriff der Erscheinung vorausgesetzt sein, wie STADLER es darstellt (Kants Teleologie, Seite 11, 13). KANTs echte, oft wiederholte Lehre (vgl. oben § 2) geht vielmehr dahin, daß, wenn man auf einen Erfahrungsgegenstand den Begriff "Erscheinung" anwendet, man eben damit ohne Weiteres ein ihm entsprechendes, außerhalb unseres Bewußtseins wirklich existierendes Ding ansich als eine Selbstverständlichkeit behauptet und voraussetzt. Und die vielen Stellen, die von einer Affektion unseres Ich seitens der Dinge-ansich, wodurch uns die äußeren Erscheinungen gegeben werden, reden, sind auch nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man über sie schweigt. COHEN erwähnt in seinem Kommentar zur Kr. d. r. V. (1907) von den fünf einschlägigen Stellen aus diesem Werk nur eine, nämlich Kr. d. r. V. A 358f. Er sagt von ihr: "Vom Ding-ansich wird also auch hier das anstößige Affizieren gebraucht" (Seite 127); wie aber der "Anstoß" zu beseitigen ist, erfahren wir nicht. Denn die Erklärung von Seite 23, nach der
Freilich bestreitet COHEN ja, daß das Ding-ansich für KANT je mehr gewesen ist als ein bloßes Gedankending. Die Behauptung,
Ich will nicht so unhöflich sein, COHEN den Vorwurf "oberflächlichen Geredes" zurückzugeben, obwohl er nicht unberechtigt wäre angesichts der so überaus zahlreichen Stellen, in denen KANT das transsubjektive Dasein von unerkennbaren Dingen-ansich implizit voraussetzt oder ausdrücklich behauptet und von denen die wichtigsten oben zusammengestellt wurden. COHEN geht an den meisten stillschweigend vorüber; wo er diese oder jene von seinem Standpunkt aus zu erklären sucht, vergewaltigt er sie (9). Es tut mir leid, dieses Urteil aussprechen zu müssen, umso mehr, als ich auf der anderen Seite keineswegs die großen Verdienste bestreiten will, die COHEN sich um die tiefere Erforschung KANTs überall da erworben hat, wo seine eigenen Ansichten sich mit denen KANTs decken und er deshalb nicht nötig hat, ihn umzudeuten (10). Aber der grundsätzliche Fehler von COHENs Kant-Arbeiten ist eben der, daß ihr Ziel nicht in erster Linie ist,m ein getreues Bild von KANTs wirklichen Gedanken und Lehren zu geben oder daß jedenfalls dieses Ziel an zahlreichen, entscheidenden Punkten ganz hinter dem Bedürfnis zurücktritt, KANT aktuell zu verwerten und ihn als Kronzeugen für die eigene Philosophie zu benutzen. Und doch leidet unter dieser Vermischung beides in hohem Maße: die Wirksamkeit der eigenen Gedanken wie die historische Forschung. Jene könnte bei COHENs Gestaltungskraft, seiner Fähigkeit zu großzügiger Linienführung, seiner ohne Zweifel starken systematischen Veranlagung, seinem bohrenden Scharfsinn bedeutend größer sein, gäbe er seine Philosophie als das, was sie ist (11): als eine selbständige Fortbildung der kantischen in einheitlicher, wenn auch sehr einseitiger Weise. Für den Leser fiele damit die höchst unerfreuliche Aufgabe weg, bei jeder Verweisung auf KANT sich die Frage vorlegen zu müssen, ob und wieweit die betreffende Lehre richtig wiedergegeben oder unter dem Bedürfnis nach aktueller Auswertung entstellt ist. Gegen diesen Vorwurf der Entstellung würde COHEN natürlich lebhaft protestieren. Er nennt das: den Geist KANTs zu Wort kommen zu lassen, auch dann, wenn ihm der Wortlaut der Lehre nur an einzelnen Stellen entspricht (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 339; vgl. 517); und wirklich vermag COHEN sich auch gerade an Hauptpunkten mehrfach nur auf ganz vereinzelte Äußerungen zu beziehen (z. B. Seite 517f, 521, 527). Aber dieser Berufung auf den angeblichen Geist im Gegensatz zum Buchstaben, der tötet, hat KANT selbst schon in seinen Erklärungen gegen SCHLETTWEIN und FICHTE (XII 393f, 397) ein für allemal das Urteil gesprochen: er sieht in ihr nur das Streben unzuverlässiger "Freunde" und Schüler nach einem Freibrief, der ihnen erlaubt, in seine Schriften hineinzutragen, was ihnen gefällt. Für die geschichtliche Auffassung bedeutet das Bedürfnis nach aktueller Verwertung geradezu einen Fluch. Ihr geht die Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie war und wie sie wurde, über alles. Ob die frühere Wirklichkeit für die heutige Lage noch Wert und Bedeutung hat, kann, ja muß der rein historischen Forschung ganz gleichgültig sein. Ihre Absicht geht nicht auf einen durch Unterdrückung wichtiger Tendenzen künstlich konsequenz gemachten, nicht auf einen ad usum [für den Gebrauch - wp], zugleich aber auch ad majorem gloriam scholae Marburgensis [zum Ruhm der Marburger Schule - wp] zurechtgestutzten und vergewaltigten KANT, sondern auf den KANT, wie er wirklich war als Mensch und Denker. Als große Persönlichkeit war er weit davon entfernt, eine einfache Natur zu sein. Es ist ein Vorrecht der Mittelmäßigkeit, auf einige, wenige Richtungslinien in Entwicklung und Betätigung beschränkt zu sein: so macht sie den Eindruch des Einheitlichen, Unkomplizierten, leicht Überschaubaren. Anders bei genialen Denkern: da ist immer eine Vielheit von Tendenzen, Bedürfnissen und Denkantrieben, und dem entspricht die Kompliziertheit ihres Systems, die häufigen Widersprüche und Unvereinbarkeiten in ihrem Denken. Diese letzteren weg zu interpretieren, ehrt nicht, wie Viele noch immer meinen, die großen Männer, sondern nimmt ihren Gedankenschöpfungen gerade das Individuellste und Bezeichnendste und setzt Schemen an die Stelle von lebensvollen Gestalten. Dementsprechend darf man auch in der Lehre vom Ding ansich nicht von gewissen erkenntnistheoretischen Sätzen als von der angeblichen Grundlage des ganzen kritischen Gebäudes ausgehen und dann sagen: weil KANT sich zu ihnen bekannte, kann er über die Dinge-ansich nur dies und das gelehrt haben. Höchstens: dürfte! Aber er hat sich nun einmal über das ansich Seiende in sehr verschiedenartiger Weise ausgesprochen. Und da ist doch für den wahren Historiker das einzig Richtige, daß er KANT nicht mit List und Gewalt (durch Umdeutung oder Unterschlagung einzelner Stellen) konsequent macht, sondern die verschiedenen Äußerungen zu ihrem Recht kommen läßt, so wie sie dem Zusammenhang nach allein gemeint sein können, also auch die Inkonsequenzen und Widersprüche als solche anerkennt, zugleich aber auch versucht, sie psychologisch zu erklären. In dieser psychologischen Erklärung versagt COHEN samt seiner Schule vollständig. Von der Annahme aus, KANT habe das Ding-ansich für ein bloßes notwendiges Denkprodukt gehalten, ihm also jede Wirklichkeit außerhalb des Bewußtseins abgesprochen, ist es ganz unmöglich, die großen Mehrzahl der Stellen, die vom Ding-ansich sprechen, begreiflich zu machen. Ganz anders, wenn man zum Ausgangspunkt nimmt, daß für KANT aufgrund seines realistischen Erlebens das Dasein von Dingen-ansich als transsubjektiven Wesen immer eine Selbstverständlichkeit war, daß er nie daran gezweifelt und unbedenklich auch Kategorien auf die Dinge-ansich angewandt hat: dann lassen sich die sämtlichen skeptisch klingenden Stellen leicht als augenblickliche Zugeständnisse erklären, die er, als scheinbar notwendige Konsequenzen aus gewissen Prämissen, sich als einseitig strenger Transzendentalphilosoph vorübergehend abringt, ohne daß er sich als Mensch, Metaphysiker und Moralphilosoph je zu ihnen bekannt hätte. 13. Was die Anwendung der Kategorien auf das ansich Seiende betrifft, so liegt darin, sobald man nur den Unterschied zwischen Denken und Erkennen zu seinem Recht kommen läßt, keine unüberwindliche Schwierigkeit, geschweige denn daß man berechtigt wäre, KANT, wie es seit JACOBI immer wieder geschehen ist, an diesem Punkt einen durchaus unvermeidlichen krassen Selbstwiderspruch vorzuwerfen (12). Zunächst einige Worte über BENNO ERDMANNs Versuch (13), diesen Selbstwiderspruch wenigstens mit Bezug auf die Kategorie der Kausalität durch die Behauptung aus der Welt zu schaffen, KANT habe, wenn er die Dinge-ansich als Ursachen der Empfindungen bezeichnet, nicht die Kategorie der Kausalität, sondern die Idee der Freiheit im Auge; diese letztere sei das "transzendentale Korrelat der Kausalität", sei im "Gegensatz gegen die empirische Kausalität" die "Kausalität der Dinge-ansich". Dem letzteren stimmt ich durchaus bei, wenn nur nach "Korrelat der" noch "empirischen" eingeschoben wird. Aber die beiden Kausalitäten: die empirische und die intelligible sind doch Arten der Kausalität überhaupt und fallen deshalb beide unter die Kategorie der Kausalität. Wie das auch ERDMANN selbst schließlich zugibt, wenn er (Kritizismus 73) sagt, die Idee der Freiheit sei "im Grunde nichts als die zeitlos gedachte Kategorie der Kausalität", wogegen nur zu bemerken ist, daß die reine Kategorie (ohne Schema der Sinnlichkeit) gar nicht anders als zeitlos gedacht werden kann. Nach Kr. d. r. V. B 288 besagt die reine Kategorie der Kausalität nur, daß, "weil etwas ist, etwas Anderes sein muß", nach Kr. d. r. V. B 301 finde ich, "wenn ich die Zeit weglasse", in der reinen Kategorie der Ursache nichts weiter, als daß sie "so etwas ist, woraus sich auf das Dasein eines Anderen schließen läßt" (ähnlich VIII 225). Die Zeitlosigkeit ist nun aber auch gerade das Charakteristikum der intelligiblen Kausalität. Freiheit im kosmologischen oder transzendentalen Verstand ist das Vermögen, einen Zustand, folglich auch eine Reihe von Folgen desselben, von selbst (schlechthin) anzufangen; sie setzt eine absolute Spontaneität voraus, die von selbst anhebt zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorausgeht, die sie wiederum nach dem Gesetz der Kausalverknüpfung zur Handlung bestimmen würde. Das frei handelnde Subjekt steht als Noumenon unter keinen Zeitbedingungen, ist also auch dem die Erscheinungswelt (Natur) beherrschenden Gesetz aller Zeitbestimmung, dem Kausalgesetz, nicht unterworfen; in ihm entsteht oder vergeht keine Handlung, findet keine Veränderung statt; auch die Kausalität der Vernunft im intelligiblen Charakter entsteht nicht oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen (Kr. d. r. V. B 473, 474, 561, 565-572, 579-584). Wird also die Kategorie der Kausalität rein, ohne sinnliches Schema (Zeitbestimmung) gedacht, so fällt sie ganz mit der intelligiblen Kausalität durch Freiheit zusammen. Und wirklich spricht KANT auch wiederholt, besonders in der Kritik der praktischen Vernunft von einer Anwendung gerade der Kategorie der Kausalität auf die Dinge ansich, so V 6, 49f, 54-56, 65, 103f, 136, 141 (vgl. 53-57), ferner § 58 der Prolegomena, Schluß der ersten Anmerkung; sowie Fortschritt der Metaphysik 121. Man hat gegen ERDMANN eingewandt (14), er dehne zu Unrecht die Freiheit als Kausalform auf alle Dinge ansich aus, während KANT sie doch Kr. d. r. V. B 574 ausdrücklich auf die vernünftigen Wesen beschränkt. Beide haben hier recht, sowohl ERDMANN, wie auch seine Gegner, da KANT den Begriff der transzendentalen Freiheit in doppeltem Sinn gebraucht: einmal als den Begriff der praktischen Freiheit in sich einschließend, bzw. als dessen Grundlage. Dann kann sie nur von vernünftigen Wesen ausgesagt werden, da die praktische Freiheit in der Kausalität der reinen Vernunft besteht, sich unabhängig von allen Antrieben der Sinnlichkeit zu entscheiden. An diese praktische Freiheit, die nach Kr. d. r. V. B 830f durch Erfahrung bewiesen werden kann, denkt KANT Kr. d. r. V. B 574, wenn er schreibt:
Der scheinbare Widerspruch zwischen dieser Anwendung und der oft geforderten Beschränkung aller Kategorien auf Erfahrung läßt sich also auf dem von ERDMANN eingeschlagenen Weg nicht heben. Es bedarf dazu vielmehr des Unterschieds zwischen Denken und Erkennen. 14. Zwar, geradezu grundlegende Bedeutung wird diesem Unterschied, soweit ich sehe, erst von Kr. d. r. V. B ab zugeschrieben. Hier wird er in der Vorrede (Seite XXVI) im Verlauf einer prinzipiellen Darlegung über Wesen, Aufgaben und zweifachen Nutzen des Werkes mit einer gewissen Emphase ("welches wohl gemerkt werden muß") zur Geltung gebracht und ein Ausblick auf die praktische Philosophie hinzugefügt, die vielleicht imstande sein wird, den logisch möglichen Begriffen, durch welche die theoretische Philosophie die Dinge-ansich zwar in widerspruchsfreier Weise denken, aber nicht erkennen kann, objektive Gültigkeit zu verschaffen. Als Beispiel für die Bedeutsamkeit des besprochenen Unterschiedes wird auf den folgenden Seiten dann der Begriff der Freiheit erörtert. In § 22 der transzendentalen Deduktion der Kategorien (Kr. d. r. V. B 146) führt KANT den Unterschied gleichsam offiziell in die systematische Erörterung ein (15) und weist dann in § 27, der die Überschrift "Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe" trägt und also ebenso wie die Stelle der Vorrede von einem Höhepunkt aus auf den zurückgelegten Weg zurückschaut, nochmals mit großem Nachdruck auf ihn und seine Bedeutung für die praktische Philosophie und damit für die Einheit des Systems hin. Zu dem Satz, daß uns keine Erkenntnis a priori möglich ist, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung, macht er nämlich (Kr. d. r. V. B 166) die Anmerkung:
Vor allem aber stellt er in der Kritik der praktischen Philosophie die Rechtsgrundlage her für die "Befugnis der reinen Vernunft im praktischen Gebrauch zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist" V 50f. Diese Erörterungen gruppieren sich um den Begriff der Freiheit, und schon V 42f wird als Ertrag der Kr. d. r. V. festgestellt, daß der spekulativen Vernunft zwar "alles Positive einer Erkenntnis von Dingen als Noumenen" mit völligem Recht abgesprochen ist, daß sie aber doch den Begriff der Noumenen, d. h. die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, dergleichen zu denken, in Sicherheit gesetzt und z. B. die Annahme der Freiheit (negativ betrachtet) als ganz verträglich mit den Grundsätzen und Einschränkungen der reinen theoretischen Vernunft gegen alle Einwürfe gerettet hat, ohne doch von solchen übersinnlichen Gegenständen irgendetwas Bestimmtes und Erweiterndes zu erkennen zu geben; der kategorische Imperativ dagegen gibt in der Freiheit ein aus der Sinnenwelt und dem theoretischen Vernunftgebrauch unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt nicht nur Anzeige tut, sondern sie sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt. (17) Ähnlich V 48-50: Die Kr. d. r. V. konnte nur den Gedanken der Freiheit als möglich verteidigen, aber ihn nicht realisieren, d. h. in die Erkenntnis eines frei handelnden Wesens verwandeln; diesen leeren Platz füllt die reine praktische Vernunft aus und verschafft dem Freiheitsbegriff objektive und, obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität, ohne doch zu verstehen, was der Begriff der Ursache zur Erkenntnis der Noumena (ihrem Wesen nach) für eine Bestimmung haben mag, und ohne den Begriff von ihrer eigenen noumenalen Kausalität theoretisch zum Zweck der Erkenntnis ihrer übersinnlichen Existenz bestimmen zu können; aber auch theoretisch betrachtet bleibt der Kausalitätsbegriff doch immer
Die Seiten V 50-57 werden noch durch einen Abschnitt der Dialektik ergänzt, der die Überschrift trägt: "Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihre Erkenntnis als spekulativ zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei?" (V 134-141). Hier treten an die Seite der Freiheit auch noch Unsterblichkeit und Gott. Alle drei Ideen sind für die theoretische Vernunft nur problematische (bloß denkbare) Begriffe, nur transzendente Gedanken, in denen nichts Unmögliches ist; durch die Verbindung mit dem kategorischen Imperativ wächst ihnen objektive Realität zu, und es findet so zwar keine Erweiterung der Erkenntnis von gegebenen übersinnlichen Gegenständen statt, aber doch eine Erweiterung der theoretischen Vernunft und ihrer Erkenntnis in Anbetracht des Übersinnlichen überhaupt, insofern sie genötigt wird, die Existenz solcher Gegenstände einzuräumen, ohne sie doch näher bestimmen zu können. Selbst diese beschränkte Erweiterung aber ist nicht möglich, ohne sich der Kategorien zu bedienen, weil ohne sie kein Gegenstand gedacht werden kann. Doch hat es damit auch keine Not. Denn Realität wird den betreffenden Objekten durch die praktische Vernunft verschafft, und
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1) Vgl. auch Kr. d. r. V. B XX, wo von der Vernunfterkenntnis a priori gesagt wird, "daß sie nur auf Erscheinungen gehe, die Sache ansich dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen lassen." 2) Vgl. auch Kr. d. r. V. B, 594f und Benno Erdmann: Nachträge zu Kants Kr. d. r. V. 1881, Seite 39: "Man (muß) sich Dinge ansich durch den Begriff von einem realesten Wesen denken, weil dieses alle Erfahrung ausschließt." 3) Vgl. Werke IV 507 in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften" sagt Kant dort von der Monadologie, sie sei ein von Leibniz ausgeführter, ansich richtiger platonischer Begriff von der Welt, sofern sie gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als Ding-ansich betrachtet, bloß ein Gegenstand des Verstandes, der aber doch den Erscheinungen der Sinne zugrunde liegt. 4) Emil Arnoldt, "Kants Prolegomena nicht doppelt redigiert", 1879, Seite 46f. 5) Stadler, a. a. O., Seite 37-39, 46-47, 95-96, 111; außerdem derselbe, Kants Teleologie, 1874, Seite 8-14. 6) Die Stelle (Kr. d. r. V. B 33f), an die Cohen diese Erklärung anschließt, ist zweideutig und kann auf beide Arten von Affektion bezogen werden, ebenso Kr. d. r. V. B 41, 51, 207, die Cohen Seite 31, 37f, 81 flüchtig erwähnt. - Das im Text Gesagte gilt auch von Seite 338f in Cohens Werk "Kants Theorie der Erfahrung" (zweite Auflage 1885): "Die Erscheinung bezeichnet ein affizierendes Etwas im inneren wie im äußeren Sinn, weist auf ein solches hin als ein gegebenes. Sie setzt es nicht sowohl voraus, als sie es vielmehr selbst gibt." Nach Cohen (Seite 207f) ist die Frage nach der Ursache der Empfindungen ("wie es komme, daß wir Empfindungen haben") unstatthaft: darin soll gerade der neue, erkenntniskritische Standpunkt Kants bestehen. In Wirklichkeit weicht Kant der Frage nach der Ursache der Empfindungen nirgends aus, hält sie für vollberechtigt und beantwortet sie durch seine Lehre von der doppelten Affektion. 7) Auch nach Kr. d. r. V. B 153f, von Cohen Seite 60f besprochen. 8) Diese letztere Behauptung begründet Cohen a. a. O., Seite 527 durch den Hinweis auf den Anhang zur zweiten Auflage der "Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre", 1798 (VI 371), wo Kant die Gleichheit von Ding-ansich und Idee selbst ausgesprochen hat: "Ein jedes Faktum (Tatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung (der Sinne); dagegen das, was nur durch reine Vernunft vorgestellt werden kann, was zu den Ideen gezählt werden muß, denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung unter Menschen ist, das ist das Ding-ansich." Diese Begründung ist geradezu eine Karikatur der wissenschaftlichen Methode: von einer späten, ganz für sich allein stehenden Stelle aus deutet, d. h. vergewaltigt Cohen viele hundert andere, statt zu versuchen, jener einen einen mit den letzteren verträglichen Sinn zu geben. Und das ist gar nicht einmal schwierig, wenn man nur die Stelle nicht aus ihrem Zusammenhang herausreißt oder gar, wie Cohen, die Worte "dergleichen - Menschen ist", die allein über ihre Absicht Aufschluß geben können, unterdrückt und durch Punkte ersetzt. Kants Ziel ist: seinen Satz, daß kein tätlicher Widerstand gegen eine bestehende Obrigkeit erlaubt ist, zu begründen. Zu diesem Zweck unterscheidet er Werke VI, Seite 372 zwischen der heiligen und unwiderstehlichen Idee einer Staatsverfassung überhaupt und der einzelnen, tatsächlich existierenden Verfassung dieses oder jenes Staates, die mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein kann; aber um jener Heiligkeit willen müssen die letzteren durch Reformen, die das Oberhaupt von selbst vornimmt, abgestellt werden, nicht aufgrund eines von den Untertanen ausgeübten Widerstandes und Zwangs. Auf den Gegensatz zwischen jener Idee (man könnte auch sagen: jenem Ideal) der vollkommenen Staatsverfassung und den wirklich existierenden wendet Kant nun zur Erläuterung, per analogiam, also bildlich, vergleichsweise die Unterscheidung zwischen Ding-ansich und Erscheinung an. Bei dem einzelnen durch Gesetze unter einer Obrigkeit, also durch rechtliche Verfassung vereinigten Volk handelt es sich nur um eine "Tatsache", ein bloßes "Faktum" (dieser Ausdruck weist auf den vorhergehenden Absatz zurück), das sich als einen Gegenstand in der (sinnlichen) Erfahrungswelt darstellt und also nur die Bedeutung einer Erscheinung hat. Das eigentlich Seiende, das in der Erscheinung sich nur manifestierende Ding-ansich dagegen ist die bloß durch reine Vernunft vorstellbare Idee der vollkommenen rechtlichen Verfassung. Das Vergleichsmoment, das Kant berechtigt, von dem gewählten Bild Gebrauch zu machen, besteht also darin, daß in beiden Fällen die Erfahrung nicht das ontos on [wirklich Seiende - wp], sondern nur dessen Erscheinung zeigt. Darüber dürfen aber nicht, wie es seitens Cohens geschieht, die weitgehenden Unterschiede vergessen werden, vor allem nicht der: daß das Ding-ansich - im Gegensatz zu der vollkommenen Verfassung - nach all den vielen hundert anderen Stellen gerade nicht durch reine Vernunft vorgestellt und erkannt werden kann. Und eben darum darf es auch nicht als Idee bezeichnet, geschweige denn mit ihr identifiziert, wohl aber unter besonderen Umständen mit einer besonderen Idee, wie der einer vollkommenen rechtlichen Verfassung, verglichen werden. VI 372 nennt Kant die Idee einer Staatsverfassung "einen Begriff der praktischen Vernunft, dem zwar adäquat kein Beispiel in der Erfahrung unterlegt werden kann, dem aber auch als Norm keine widersprechen muß." Daß Kant aber niemals das Ding-ansich (ganz allgemein gedacht) als einen Begriff der praktischen Vernunft oder gar als eine Norm bezeichnet haben würde, dürfte für jeden, der ihn unvoreingenommen liest, feststehen. Um seine eigentliche Absicht klar zum Ausdruck kommen zu lassen, brauchte man nur am Schluß der von Cohen zitierten Stelle zwischen "das ist" und "das Ding" einzuschieben: "hier gleichsam". 9) Cohen meint: "Der flüchtig, wenngleich wiederholentlich hingeworfene Ausdruck: Erscheinung müsse doch Erscheinung von Etwas sein, bestimmt so wenig das Etwas, wie die Erscheinung dadurch nach ihrem Gewicht bestimmt ist." (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 518) Der Ausdruck ist so weit davon entfernt, flüchtig hingeworfen zu sein, daß die Stelle in der Vorrede zur Kr. d. r. V. B (Seite XXVIf), welche die Leugnung des unerkennbaren Dings ansich (des "Etwas, was da erscheint") für eine Ungereimtheit erklärt, sogar programmatische Bedeutung besitzt, wie schon die kurz vorhergehenden Worte "welches wohl gemerkt werden muß" zeigen. Der Ausdruck "bestimmt" allerdings das Etwas nicht seinen Eigenschaften nach - es ist ja unerkennbar! -, aber er setzt das Etwas als unzweifelhaft außerhalb des Bewußtseins existierend voraus. Das Unternehmen, allen diesen Äußerungen zum Trotz die Dinge-ansich hinweg zu interpretieren, sie in ein bloßes Denkprodukt aufzulösen und mit der Erfahrung, als Ganzes und als Gegenstand gedacht, gleichzustellen, und die Art, wie es durchgeführt ist, würde von einem Talmudisten oder einem der alten Kirchenväter, deren Exegese darin gipfelt, in einen als sakrosankt geltenden Text eigene, auch stark abweichende Ansichten unter tausend Künsteleien und Gewaltsamkeiten hineinzudeuten, ohne Zweifel als große Leistung bewundert werden. Aber von einer historischen Auffassung kann dabei nicht mehr die Rede sein. 10) Vor allem gilt das von seinen Bemühungen, das Wesen der transzedentalen Methode und des Apriori ins rechte Licht zu stellen. Zwar kann ich ihm auch an diesen Punkten durchaus nicht in allem beipflichten, doch habe ich in steigendem Maße von ihm gelernt und stehe ihm jetzt jedenfalls wesentlich näher als manchen Einwänden, die ich 1889 als 22jähriger in meiner Ausgabe der Kr. d. r. V. gegen Kant vorgebracht habe. 11) § 12 wie überhaupt die ganze Schrift wurde noch zu Lebzeiten Cohens niedergeschrieben. 12) Über frühere Versuche, den im Text genannten Unterschied zur Beseitigung des angeblichen Selbstwiderspruchs auszunutzen, vgl. Ludwig Busse, Zu Kants Lehre vom Ding ansich, in "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 102, 1893, Seite 221f. Die Schwierigkeiten, die Busse Seite 223f vorbringt, sind ohne Bedeutung und zum Teil schon von Drexler (Die doppelte Affektion des erkennenden Subjekts im kantischen System, 1904, Seite 20) aus dem Weg geräumt. - Der meiner Ansicht nach entscheidende Gesichtspunkt bei Auflösung des angeblichen Widerspruchs ist, soweit ich sehe, bisher noch nicht geltend gemacht: nämlich die in Seite 57f entwickelte Doppelbedeutung des Terminus Kategorie. 13) Benno Erdmann, Kants Kritizismus, 1878, Seite 44-47, 67-73; derselbe hg. "Kants Prolegomena", Einleitung Seite LIIIf, LXIIIf. 14) Vgl. Ludwig Busse, a. a. O., Seite 216. 15) "Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen ist nicht einerlei. Zur Erkenntnis gehören nämlich zwei Stücke: erstens der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn, könnte dem Begriff eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Ding möglich." 16) Nach § 23 (Kr. d. r. V. B 149) kann man, wenn man ein Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung als gegeben annimmt, es zwar durch alle die Prädikate vorstellt, die schon in der Voraussetzung liegen, daß ihm nichts zur sinnlichen Anschauung Gehöriges zukommt, also sagen, es sei nicht ausgedehnt, raumlos, ohne Zeitdauer und Veränderung; aber das alles ist doch keine eigentliche Erkenntnis, weil ich mangels jeglicher Anschauung gar nicht die (reale) Möglichkeit eines Objekts zu meinem reinen Verstandesbegriff vorstellen kann. Überraschenderweise fügt Kant hinzu: "Aber das Vornehmste ist hier, daß auf ein solches Etwas auch nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte: z. B. der Begriff einer Substanz, d. h. von etwas, das als Subjekt, niemals aber als bloßes Prädikat existieren kann, wovon ich gar nicht weiß, ob es irgendein Ding geben kann, das dieser Gedankenbestimmung korrespondiert, wenn nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe." Dieser Satz scheint dem in § 22 und § 27 Gesagten direkt zu widersprechen. Aber scheint auch nur! Es liegt einer der vielen Fälle vor, wo Ungenauigkeit in der Terminologie eine sachliche Verschiedenheit vortäuscht. Und gerade dieser Fall ist von exemplarischer Bedeutung, deshalb weil die scheinbaren Unvereinbarkeiten auf einem so kleinen Raum zusammenstehen, daß man eine Meinungsänderung oder einen Wechsel in der herrschenden Gedankenrichtung während der Zeit ihrer Niederschrift als durchaus unwahrscheinlich mit gutem Gewissen ausschließen kann. Es bleibt also nur die Erklärung, daß der Ausdruck "angewandt" in § 23 bloß im Sinn von "Anwendung zu Zwecken der Erkenntnis und der objektiven Bestimmung" gemeint ist und in diesem Sinn dann mit Recht verneint wird, während Kant eine Anwendung der Kategorien zum bloß unbestimmten Denken übersinnlicher Dinge überhaupt auch im zitierten Satz (gerade so gut wie in § 22 und § 27 im 1. Absatz von § 23) zugestanden haben würde. Aber die Kategorien wären dann aus Mangel an Anschauung nur "leere Begriffe von Objekten", "bloße Gedankenformen ohne objektive Realität" (Kr. d. r. V. B 148), "Gedanken der Form nach, aber ohne Gegenstand" (Kr. d. r. V. B 146), und mit einer solchen Verwendung der Kategorien wären wir also von einer wirklichen Erkenntnis noch gerade so weit entfernt wie ohne sie. - Dieses Beispiel lehrt, wie vorsichtig man in ähnlichen Fällen mit der Konstatierung angeblicher Widersprüche sein muß, weil diese oft nicht in sachlichen Gegensätzen begründet sind, sondern nur in terminologischen Unbestimmtheiten: darin, daß Kant es unterlassen hat, Einschränkungen und näher bestimmende Zusätze zu einem Begriff hinzuzufügen, die ihm selbstverständlich waren und deshalb entbehrlich schienen, die aber vom Leser schmerzlich vermißt werden und aus dem Zusammenhang oder aus Parallelstellen nach Möglichkeit ergänzt werden müssen. 17) Schon die Vorrede (V 5f) weist auf die Kr. d. r. V. zurück, die zwar alle Erfahrungsgegenstände zu bloßen Erscheinungen erklärt, "ihnen aber gleichwohl Dinge-ansich zugrunde zu legen, als nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leer an Inhalt zu halten einschärfte"; praktische Vernunft verschafft nunmehr einem übersinnlichen Gegenstand der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität und bestätigt also das, was in der Kr. d. r. V. bloß gedacht werden konnte, durch ein Faktum. Mit Entschiedenheit weist er den Vorwurf zurück, daß es inkonsequent ist, wenn er dem übersinnlichen Gebrauch der Kategorien in der Spekulation objektive Realität abspricht und ihnen doch in Anbetracht der Objekte der reinen praktischen Vernunft diese Realität zugesteht; denn letztere geht auf gar keine theoretische Bestimmung der Kategorien und eine Erweiterung der Erkenntnis zum Übersinnlichen hinaus, sondern soll nur besagen, "daß ihnen in dieser Beziehung überall ein Objekt zukommt, weil sie entweder in der notwendigen Willensbestimmung a priori enthalten oder mit dem Gegenstand derselben unzertrennlich verbunden" sind. 18) Vgl. V 103: ohne Kategorie kann ich nichts denken; Kr. d. r. V. B 165: wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; ähnlich Kr. d. r. V. B 146. 19) Vgl. Kr.d. r. V. B 120 (A 88), wonach "die reinen Verstandesbegriffe sich auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit allgemein beziehen", ferner Kr. d. r. V. B 346 (A 290), wonach die Kategorien die einzigen Begriffe sind, die sich auf Gegenstände überhaupt (problematisch und unausgemacht, ob sie etwas sind oder nichts) beziehen, sowie Kr. d. r. V. B 406f, wo die modi des Selbstbewußtseins im Denken als bloße logische Funktionen bezeichnet werden, im Gegensatz zu den Kategorien als "Verstandesbegriffen von Objekten". 20) Anmerkungsweise sei noch auf folgende Stellen aus späterer Zeit hingewiesen. Nach § 88 von der "Kritik der Urteilskraft" (V 456) können wir die Eigenschaften des höchstens Wesens nur nach der Analogie denken, nicht dagegen es durch sie erkennen und sie ihm auch theoretisch beilegen. - In der "Schrift gegen Eberhard" (VIII 201) heißt es: hätte Eberhard aus bloßen Begriffen bewiesen, "daß die Urgründe des Zusammengesetzten notwendig im Einfachen gesucht werden müssen, so würde man ihm dies eingeräumt, aber zugleich hinzugesetzt haben: daß dieses zwar von unseren Ideen, wenn wir uns Dinge-ansich denken wollen, von denen wir aber nicht die mindeste Kenntnis bekommen können, keineswegs aber von Gegenständen der Sine (den Erscheinungen) gilt, welche allein die für uns erkennbaren Objekte sind." - Nach "Forschritte der Metaphysik" 113 ist die Vernunft als das Vermögen der Erkenntnis der Dinge a priori in ihrem theoretischen Gebrauch zwar wohl der Begriffe, aber nie einer theoretischen Erkenntnis desjenigen fähig, was kein Gegenstand der Sinne sein kann. - In einem Brief an Beck vom 20. 1. 1792 (XI 301f) bezeichnet Kant die Kategorien als "Begriffe, Objekte überhaupt zu denken, die Anschauung von einer Form sein, welche sie wolle", und spricht von ihrem "auch über die Sinnesgrenzen erweiterten Umfang, der aber keine Erkenntnis verschafft". Beziehungsweise auf die sinnliche Anschauung, schreibt er weiterhin, "werden mittels der Kategorien die Gegenstände bloß als Dinge in der Erscheinung nicht nach dem, was sie ansich sind, erkannt; ohne alle Anschauung werden sie gar nicht erkannt, aber doch gedacht." |