tb-1Leonhard NelsonEinleitung 1807    
 
JAKOB FRIEDRICH FRIES
Neue Kritik der Vernunft
Vorrede der 2. Ausgabe

"In unserem Geist lebt eine höhere Ansicht der Dinge durch die Unabhängigkeit der sittlichen Grundwahrheiten, nur kraft dieser erhalten die Ideen ihre Bedeutung."

"Fichte, Reinholds Schüler, beging dieselben methodischen Fehler noch härter und so erhielt er eine methodische Ansicht von der Wissenschaft, durch welche er, wen gleich er Kants großen ethischen Ideen treu bleiben wollte, doch der ganzen Kantischen Methode und überhaupt jeder ruhigen streng wissenschaftlichen Fortbildung der Philosophie untreu wurde. Zu ihm trat Schelling und viele andere folgten, so daß die lautesten und lebendigsten Sprecher in deutschen philosophischen Schulen nach und nach sich immer mehr selbst verführten: Phantasien über Natur, Menschenleben und die göttlichen Dinge für die wahre geniale Philosophie zu halten, wenn jene Phantasien nur in irgendeinen dürren Rahmen anscheinend philosophischer Formeln eingespannt würden.

"Kant setzt bei seinem Entwurf für die Deduktion der Kategorien das alte Vorurteil voraus, die objektive Gültigkeit der Erkenntnis werde dadurch gegeben, daß der Gegenstand die Ursache der Vorstellung desselben sei, das heißt, daß der Gegenstand die Vorstellung desselben möglich mache. Vor einer genaueren Selbstbeobachtung zeigt sich aber diese Voraussetzung als irrig und haben wir diesen Irrtum einmal anerkannt, so müssen wir der ganzen Aufgabe eine durchaus veränderte Gestalt geben. Die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit dem Sein ihrer Gegenstände ist etwas, was der menschliche Geist nie einer mittelbaren Prüfung unterwerfen kann, sondern sie ist nur die unmittelbare Voraussetzung jeder erkennenden Vernunft, die ihr einzig kraft ihres  Selbstvertrauens  gilt und in der Verbindung menschlicher Gedanken weder mittelbar gegeben, noch genommen, noch verändert werden kann. Die Anschauung für sich selbst ist ihr eigener Zeuge der Wahrheit, nur wiefern ich der Anschauung vertraue, weiß ich etwas vom Sein wirklicher Gegenstände. Ebenso unmittelbar geltund uns die metaphysischen Grundwahrheiten, die uns unmittelbar im Wahrheitsgefühl zum Bewußtsein kommen."


Vor nun zwanzig Jahren legte ich diese Untersuchung zuerst zur öffentlichen Beurteilung vor. Ich bin seitdem ununterbrochen mit denselben Gegenständen beschäftigt gewesen, habe mich bemüht auszuführen und fortzubilden. Indem ich aber jetzt für eine neue Ausgabe wieder zu den ersten Untersuchungen zurückgeführt werde, bestimmt mich eine Warnung, welche mir gerade für diesen Zweck FRIEDRICH HEINRICH JACOBI gab, an dem Ganzen so wenig als möglich zu ändern. JACOBI fand eine Verfälschung der Geschichte des eigenen Geistes darin, wenn ein Philosophierender seine früheren eigentümlichen Untersuchungen in eine wesentlich veränderte Form umbilden wolle, anstatt neue Untersuchungen zu geben und bemerkte dazu, daß die ersten den Verfasser selbst befriedigenden Darstellungen einer Untersuchung meist vor späteren einen Vorteil der schärferen, lebendigeren und gemeinverständlicheren Gedankenentwicklung behielten. Dabei halte ich meine Persönlichkeit nun eben nicht für so wichtig, daß ich auf das erstere große Rücksich zu nehmen hätte, aber umso treffender scheint mir das zweite. Gerade die Einseitigkeit der ersten kritischen Untersuchungen gibt diesen eine gewisse Schärfe der Auffassung und eine Unparteilichkeit der Darstellung, welche später leicht zum Teil verloren geht, sobald dem Untersuchenden ein gewisser Überblick des Ganzen und eine eigentümliche Verbindung der Teile untereinander schon so geläufig geworden sind, daß er sie und die daraus fließenden eigentümlichen Folgerungen leicht zu früh als auch dem Leser schon bekannt und von ihm zugestanden voraussetzt.

Ich behalte daher im Ganzen die ursprüngliche Anordnung der Untersuchungen bei, denn zurückzunehmen habe ich keine und nötige Ergänzungen lassen sich leicht einschalten. Ich bin bei meinen Untersuchungen ganz durch die Kantischen Werke und die damals durch dieselben veranlaßten Ausbildungen der Psychologie geleitet worden. Der größte Mangel der ersten Darstellung, welche sie manchmal schwerer verständlich bleiben ließ, scheint mir darin zu liegen, daß ich bei meinen Lesern eine zu genaue Kenntnis der Kantischen Lehren voraussetzte und auf diese oft nur beziehungsweise Rücksicht nahm, ohne mir die Kantischen Lehren selbst mit aufzunehmen. Der Hauptmangel dieser Art besteht darin, daß ich im zweiten Band den ganzen Leitfaden zur Auffindung der Kategorien und Ideen als aus KANTs Kritik der reinen Vernunft bekannt voraussetzte, ohne ihn in meine Darstellung mit aufzunehmen. Diesen Mängeln suchte ich seitdem abzuhelfen durch meine drei ausführlichen Schriften über Logik, psychische Anthropologie und das System der Metahpysik. Besonders wer das letztere mit dem zweiten Band meiner Kritik verbindet, wird wohl jetzt durchgängig verstehen, was ich suche und will.

Geschichtlich schließt sich meine Arbeit also ganz an KANTs große Werke und deren entscheidend wichtige Entdeckung an. Ich will darüber hier meine Ansichten zu geben suchen. Der Entwurf von KANTs Kritiken der Vernunft wurde ihm durch zwei große Entdeckungen bestimmt.
    1) Daß sich das System aller spekulativen rein philosophischen Grundbegriffe am Leitfaden der logischen Formen der Urteile und der Formen der Vernunftschlüsse vollständig aufweisen lasse. Die Formen der Urteile zeigen uns das niedere System der Kategorien, die Formen der Vernunftschlüsse das höhere der Ideen.

    2) Die Kategorien sind Begriffe von den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und müssen notwendig bei der Beurteilung der Sinnenwelt angewendet werden. Die Ideen hingegen zeigen uns reine Gedankendinge, welche gar nicht Gegenstände der Erfahrung werden können. Nach den Ideen sind nämlich unsere Vorstellungen von der Sinnenwelt nur beschränkte Vorstellungen von dem, wie die Dinge an sich sind. Diese Ideen von den Dingen an sich sind uns also für die Erfahrung und die Sinnenwelt von keiner Anwendung. Aber in unserem Geist lebt eine höhere Ansicht der Dinge durch die Unabhängigkeit der sittlichen Grundwahrheiten, nur kraft dieser erhalten die Ideen ihre Bedeutung.
Dieser Gedankenverbindung gemäß ordnete KANT mit einer unübertrefflichen Deutlichkeit, Ordnung und Ausführlichkeit die Lehren seiner Kritik der reinen Vernunft und der praktischen Vernunft. Dann gab er zur vollständigen Übersicht aller philosophischen Erkenntnisse in der Kritik der Urteilskraft noch die Lehren von der objektiven Zweckmäßigkeit in den Dingen hinzu, welche wir teils in den ästhetischen Ideen des Schönen und Erhabenen beurteilen, teils logisch in den Vorstellungen von Naturzwecken, denen die Naturerscheinungen untergeordnet seien, anerkennen.

So vollständig nun aber auch alle philosophischen Aufgaben in diesen Werken erörtert und so trefflich die Lehren geordnet sind, so geben sie doch jedem unter uns nach beendigtem Studium derselben, neben der Sicherheit sehr reicher Belehrungen, das Gefühl eines Mangels zu erkennen, als ob gleichsam noch der rechte Mittelpunkt der Lehre fehle, in den alle ihre Fäden zusammenlaufen und in den sie verknüpft werden sollten. Dieser Mangel liegt nun wohl darin, daß KANT die zwei Wissenschaften nicht vollständig in den Kreis seiner Untersuchungen mit aufgenommen hat, welche doch offenbar die eigentlichen Grundlagen derselben enthalten. Ich meine Logik und Psychologie.

Die Grundlage der ganzen Kritik der reinen Vernunft liegt im Leitfaden der Urteilsformen und Schlußformen, diese aber sind nur besondere Gegenstände der Logik. Nur ein Überblick der ganzen logischen Aufgabe kann uns vollständig über sie verständigen.

Ferner sind die dunklen Partien der Lehre in der Kritik der reinen Vernunft die, wo vom Sinn, Bewußtsein, Apperzeption, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft in ihren Verhältnissen gegeneinander gesprochen wird. Dabei sind offenbar lauter Teile einer Theorie des Erkenntnisvermögens in Frage, aber die ganze Aufgabe einer solchen Theorie kommt nicht vor. Auf ähnliche Weise erscheinen in der Kritik der praktischen Vernunft die Lehren von Begierde, Lust und Wille ohne die gewünschte Vollständigkeit. Endlich in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft erhalten wir eine kurze Übersicht aller Vermögen unseres Geistes, aber eben damit nur den Blick auf die Aufgabe der psychischen Anthropologie ohne die Ausführung derselben.

Das bestimmte mich in der Kritik der Vernunft die Untersuchungen gleichmäßig auf Logik und Metahpysik auszudehnen und das Ganze als philosophische Anthropologie darzustellen. Der veränderte Standpunkt forderte dann eine wesentlich veränderte Anordnung des Ganzen.

In vortrefflicher Verbindung miteinander stellen zwar die Kantischen Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft den Leitfaden zur Auffindung der Kategorien und Ideen, die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der sittlichen Überzeugungen und die nur praktische Gültigkeit der Religionsphilosophie dar, allein neben dieser faktischen Nachweisung war doch noch eine Hauptaufgabe für die Kritik der Vernunft: die Rechte der Vernunft an diese philosophische Erkenntnisse und die Begründung ihrer Wahrheit geltend zu machen.

Dafür aber ist der Kantische Entwurf fehlerhaft geblieben, eben aus den beiden Gründen, daß er weder vollständige logische noch psychologische Untersuchungen angestellt hat.

Seiner logischen Disposition nach begründet er in der Analytik die Grundsätze, in welchen sich die Kategorien auf die Erfahrung anwenden, durch transzendentale Beweise; zeigt dann in der Dialektik die spekulative Ungültigkeit der Ideen dadurch, daß er die Fehlerhaftigkeit der Schlüsse nachweist, durch welche die menschliche Vernunft auf Behauptungen durch Ideen geführt werde und gibt endlich in der Kritik der praktischen Vernunft moralische Beweise für die Gültigkeit der praktischen Aussprüche durch Ideen. Einen so reichen und belehrenden Gedankengang er uns nun auch nach dieser Disposition mitteilt, so ist doch die logische Form derselben selbst fehlerhaft, indem sie Beweise als höchste Begründungsmittel der philosophischen Grundsätze angibt und voraussetzt, da doch jeder Beweis aus Schlüssen besteht und in diesen den Schlußsatz höheren und allgemeineren Wahrheiten des Obersatzes und Untersatzes unterordnet.

Hiermit bleibt allerdings KANTs widerlegender Gedankengang in der Dialektik in Übereinstimmung. Er zeigt, daß in dem Schhluß, durch welchen die Unsterblichkeit der Seele spekulativ zu beweisen wäre, kein Mittelbegriff vorhanden sei; in dem Schluß, welcher ontologisch das Dasein Gottes beweisen soll, der Obersatz fehle und die Schlüsse, welche die antinomischen idealen Grundbehauptungen über das Weltganze enthalten, nur durch die Verwechslung zwischen Erscheinung und Ding an sich gebildet werden. Aber die Hauptsache sind doch die beiden behauptenden Lehren. KANT will die Gültigkeit der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft und die praktischen Grundsätze der Religionsphilosophie einem Beweis unterwerfen.

Sehen wir nun hier sein Verfahren näher an, so können wir finden, daß seinen Nachweisungen eigentlich eine ganz andere Bedeutung zukommt, als es nach seiner logischen Disposition scheint.

Die metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft beweist er aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, aber dieses ist ja kein ontologischer Grund eines Naturgesetzes, sondern nur ein psychologischer Grund eines Bedürfnisses für meine Vernunft. In der Tat beweisen KANTs transzendentale Beweise nicht, daß in der Natur jede Substanz beharre, jede Veränderung eine Ursache habe, alles was zugleich ist, in Wechselwirkung stehe, sondern sie zeigen nur, daß die menschliche Vernunft das Bedürfnis habe, die Gesetze als Wahrheiten vorauszusetzen, wenn sie die Erscheinungen als in einem Erfahrungsganzen verbunden beurteilen wolle. Diese ganze Betrachtung ist also richtig verstanden nur von psychisch anthropologischer Natur.

Ferner zeigen KANTs moralische Beweise: die sittlichen Grundwahrheiten vom Guten und der Tugend seien für den Menschen bedeutungslos, wenn nicht Gott Beherrscher der Welt und die Seele des Menschen unsterblich sei. Nun gelten aber dem Menschen die sittlichen Grundwahrheiten mit unmittelbarer, unumstößlicher Notwendigkeit, darum sei er sich seiner Freiheit bewußt und müsse an Gott und die Unsterblichkeit glauben. In dieser herrlichen Nachweisung stehen die Verhältnisse anders als vorhin, sie ist aber wieder kein eigentlicher Beweis, sondern ebenfalls nur eine psychisch anthropologische Nachweisung. Denn erstens beruth das Ganze auf den Grundsätzen der sittlichen Wahrheit, diese aber werden nicht bewiesen, sondern nur psychologisch faktisch als dem Menschen mit Notwendigkeit geltende Wahrheiten aufgestellt. Ferner folgert KANT auch nicht aus den sittlichen Grundsätzen das Dasein Gottes, die Freiheit des Willens und die Unsterblichkeit der Seele, sondern umgekehrt sucht er zu zeigen, daß ohne die Tatsache der Freiheit und ohne Gottheit und Unsterblichkeit die Gültigkeit der sittlichen Ideen nicht stattfinden können. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit werden in der Tat als notwendige Prämissen für die Gültigkeit der sittlichen Ideen aufgewiesen. Das ist also nur ein psychologischer Gedankengang, in welchem wir uns sagen: die menschliche Vernunft setze die Gültigkeit der spekulativen Ideen schon in ihren ersten sittlichen Überzeugungen voraus.

KANT hätte also die logische Disposition seiner Lehre gar nicht wählen, sondern anstatt derselben eine philosophisch anthropologische geben sollen. Das wurde von seinen Schülern bald bemerkt.

Die allgemeine logische Disposition der Kantischen Werke gab keine Stelle für den Überblick über das Ganze des menschlichen Erkenntnisvermögens. So viele einzelne neue Ansichten für die Erkenntnis darin vorkommen, so fehlt doch eine Theorie des Erkenntnisvermögens, welche daraus ein Ganzes bildete. Daher wurden viele durch das Studium der Kantischen Werke zu einer weiteren Ausbildung der Psychologie angeregt und nach und nach stimmten immer mehr Lehrer, von sonst auch noch so widerstreitenden Ansichten darin zusammen, daß psychische Anthropologie die eigentlichen Grunduntersuchungen für alle Philosophie enthalten müsse. Auch REINHOLD, der so ausgezeichnet zur Belebung des Interesses für Kantische Philosophie wirkte, wurde durch eben diesen Gedanken zu seiner Theorie des Vorstellungsvermögens geführt. Allein beim Entwurf derselben verwechselte er noch mehr den metaphysischen und psychologischen Standpunkg miteinander und brachte noch weiter den unglücklichen logischen Irrtum dazwischen, daß die ganze Philosophie aus einem obersten Grundsatz abgeleitet werden müsse.

Wären wir gemeinschaftlich bei der Behandlung der psychologischen Aufgabe länger verweilt, so würde die deutsche Schule eine viel festere und klarere philosophische Ausbildung in der Philosophie selbst und in ihren Anwendungen auf die Geschäftswissenschaften gewonnen haben.

Da aber FICHTE, REINHOLDs Schüler, dieselben methodischen Fehler noch härter beging, so erhielt er eine methodische Ansicht von der Wissenschaft, durch welche er, wenn er gleich KANTs großen ethischen Ideen treu bleiben wollte, doch der ganzen Kantischen Methode und überhaupt jeder ruhigen streng wissenschaftlichen Fortbildung der Philosophie untreu wurde. Zu ihm trat SCHELLING und viele andere folgten, so daß die lautesten und lebendigsten Sprecher in deutschen philosophischen Schulen nach sich immer mehr selbst verführten: Phantasien über Natur, Menschenleben und die göttlichen Dinge für die wahre geniale Philosophie zu halten, wenn jene Phantasien nur in irgendeinen dürren Rahmen anscheinend philosophischer Formeln eingespannt würden. So zersplitterte sich unser philosophisches Interesse in das zerstreute vieler widerstreitender Meinungen und die zuvor so allgemeine lebhafte Teilnahme mußte sich in Gleichgültigkeit verwandeln, teils weil viele der phantasierenden Philosophen das Ideal  einer  Wahrheit gar nicht mehr anerkannten, sondern jedem in seiner Art recht gaben, teils weil mit so widersprechenden Reden weder den eigentlichen Beschützern der Philosophie den Rationalisten unter den Theologen, noch den selbstdenkenden Rechtslehrern gedient sein konnte. Man wendete sich in Theologie und Rechtswissenschaft mehr vom philosophischen ab, bloß zur geschichtlichen Auffassung.

Ich bleibe aber für die streng wissenschaftliche Fortbildung der Philosophie bei der alten Aufgabe: die philosophisch anthropologische Begründung der Philosophie zu suchen. Diese Aufgabe bestimmt meinen ganzen Entwurf.

Mir erschien dabei die Hauptaufgabe, die anthropologische Rechtfertigung aller philosophischen Grundwahrheiten. Nun hatte KANT die Rechtfertigung des Gebrauches der Kategorien mit dem Wort  Deduktion  benannt. Ich habe diese Benennung beibehalten, weil meine Rechtfertigung denselben Zweck hatte und bei richtiger Verständigung über die transzendentalen Beweise auch ähnliche Hilfsmittel anwendete. In der Ausführung aber wird aus meiner Deduktion freilich etwas ganz anderes. Ich habe es nicht, wie KANT, mit der bloßen Rechtfertigung des Erfahrungsgebrauches zu tun, welche für ihn die Deduktion der Ideen unmöglich machte, sondern mir gilt die Aufgabe der Deduktion ganz gleichmäßig für Kategorien und Ideen, für mathematischen und sittlichen Schematismus, indem alle Rechtfertigungen gleichmäßig aus der Theorie der erkennenden Vernunft erhalten werden, wodurch mir dann vorzüglich auch die Theorie der synthetischen Einheit und somit die Lehre von der Identität aller Apperzeptionen eine ganz andere Gestalt bekommen hat.

Meine eigenen anthropologischen Untersuchungen führten mich vorzüglich zu einer tieferen Erforschung der Verhältnisse des Reflexionsvermögens zur reinen Vernunft und zu einer tieferen Untersuchung der Willkür. KANT weist uns die durchgreifende Parallele zwischen den Formen der analytischen und denen der metaphysischen synthetischen Einheit nach, ohne nach den Gründen derselben zu fragen. Ich zeige dagegen in den Theorien der reinen Vernunft und des Reflexionsvermögens, wie und warum sich alle diese Verhältnisse in unserem Geist gerade so zeigen müssen, wie KANT sie zuerst beobachtet hat. KANT faßt die Organisatoin des menschlichen Begehrungsvermögens in der Kritik der praktischen Vernunft nach zu wenigen, mangelhaften Unterscheidungen auf. Ich habe durch eine richtigeres Theorie des rein vernünftigen Wollens und der verständigen Willkür erst die anthropologischen Grundlagen gegeben, durch welche sich die Fehler und Mängel in KANTs Lehre vom kategorischen Imperativ verbessern lassen.

Doch dem habe ich hier nicht weiter zu folgen, da das Werk selbst darüber Auskunft gibt. Nur zwei Gegenstände muß ich hier noch näher erwähnen, nämliche die Lehre vom transzendentalen Idealismus und die Aufgabe der Religionsphilosophie.

Die Hauptlehre der Kantischen Metaphysik, welche er den transzendentalen Idealismus nennt, das heißt KANTs wissenschaftliche Rechtfertigung jener alten Platonnischen Grundlehre: die Erkenntnis der Sinnenwelt im Raum gewährt nur eine beschränkte menschliche Vorstellung von den Dingen; zu der Vorstellung von den Dingen an sich, vom wahren Wesen der Dinge erhebt er sich nur im reinen Denken durch die Ideen.

Diese Lehre ist der Hauptzweck der Kritik der reinen Vernunft. KANT erörtert dafür in der transzendentalen Ästhetik die Formen der reinen Anschauung unserer Sinnlichkeit, unsere Anschauungen des Raumes und der Zeit und sucht aus dieser Erörterung zu folgern, daß in Raum und Zeit nur Erscheinungen der Dinge und nicht die Dinge an sich erkannt werden. Dann zeigt er in der Analytik, daß die Kategorien nur auf jene Erscheinungen anwendbar seien, ferner besonders in der Dialektik, wie ihnen die Ideen von den Dingen an sich entgegen stehen. Endlich wird nun in der Lehre von der Antinomie der Vernunft der transzendentale Idealismus selbst ausführlich dargestellt durch den Widerstreit, welcher sich zwischen den Ansichten der Dinge nach Raum und Zeit und den Ideen von den Dingen an sich findet.

In dieser Darstellung der wahren Grundlehre der ganzen Philosophie hat nun unser großer Lehre einen Fehler begangen, (den ich bei niemand noch richtig beurteilt finde), welcher ihm von allen am meisten bei Schülern und Gegnern geschadet hat. Sein ganzes Raisonnement ruht nämlich scheinbar auf den Beweisen der transzendentalen Ästhetik, daß in Raum und Zeit nur Erscheinungen und nicht Dinge an sich erkannt werden können. Aber diese Beweise sind fehlerhaft.

KANT sagt dort (Seite 42): "der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgendwelcher Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis aufeinander vor, das ist keine Bestimmung derselben, die an Gegenständen selbst haftete und welche bliebe, wenn man auch von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahierte. Denn weder absolute noch relative Bestimmungen können vor dem Dasein der Dinge, welchen sie zukommen, mithin nicht a priori angeschaut werden." Ähnlich spricht er dann auch über die Zeit. Beachten wir nun näher, welchen Beweisgrund er hier mit dem "denn" voraussetze, so findet sich leicht, daß es kein anderer sein könne, als die Behauptung (Seite 124), "es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen können. Entweder wenn der Gegenstand der Vorstellung oder diese den Gegenstand allein möglich macht." Diese Behauptung zugegeben, so ist der obige Beweis leicht gerechtfertigt. Aber eben diese Behauptung wird sich nicht rechtfertigen lassen. Woher wissen wir denn, ob nicht irgendeine dritte höhere Ursache möglich sei, welche die Übereinstimmung zwischen Vorstellung und ihrem Gegenstand bestimmt, indem sie beide möglich macht? Wäre das aber so, so könnten allerdings die Dinge a priori so angeschaut werden, wie sie an sich sind. Dieser Kantische Beweisgrund für die Idealität von Raum und Zeit wird also wohl verworfen werden müssen.

Nun hat ihn KANT aber nicht nur an die Spitze gestellt, sondern auch so nahe mit der ausführlichen Erörterung seiner eigentümlichen Lehre, "daß die Sinnenwelt nur Erscheinungen und nicht die Dinge, wie sie an sich sind, zeige," verbunden, daß die meisten das Glück dieser seiner ganzen Lehre vom Schicksal dieses Beweises abhängig hielten. Allein das letztere ist nicht der Fall. Seine wahre Lehre vom transzendentalen Idealismus ist die Lehr von den Antinomien der Vernunft, dort sind mit großer Ausführlichkeit aller Erörterungen gegeben, durch welche er das Schicksal der Metaphysik für immer entschieden hat. Diese Erörterungen allein müssen dem transzendentalen Idealismus zur Grundlage gegeben werden.

Demgemäß ist mein Entwurf ein ganz anderer geworden. Denn ich kann diesen transzendentalen Idealismus nicht in der Lehre von der reinen Anschauung begründen und kann nach obigem auch die Form der transzendentalen Dialektik nicht beibehalten. Ich habe mich nur durch die Theorie des Erkenntnisvermögens auf den Ursprung unserer Ideen vom Unbeschränkten und Vollendeten als dem wahren Wesen der Dinge leiten zu lassen und kann dann die ganze Lehre vom transzendentalen Idealismus weit kürzer als der Erfinder darstellen, durch die Erörterung des Widerspruchs, in welchem die Unvollendbarkeit, Stetigkeit, bloße Verhältnismäßigkeit und Wesenlosigkeit von Raum und Zeit mit den Ideen des Vollendeten stehen.

Der eigentliche Grund dieser Irrungen liegt noch tiefer, nämlich in der Grundansicht von der Wahrheit und objektiven Gültigkeit unserer Vorstellungen. Daher halte ich die auf meinen Erörterungen, über den von mir bestimmten Unterschied zwischen empirischer und transzendentaler Wahrheit, ruhenden Lehren für das wichtigste, welches ich im Ganzen geändert habe.

KANT setzt bei seinem Entwurf für die Deduktion der Kategorien das alte Vorurteil voraus, die objektive Gültigkeit der Erkenntnis werde dadurch gegeben, daß der Gegenstand die Ursache der Vorstellung desselben sei, das heißt, daß der Gegenstand die Vorstellung desselben möglich mache. Vor einer genaueren Selbstbeobachtung zeigt sich aber diese Voraussetzung als irrig und haben wir diesen Irrtum einmal anerkannt, so müssen wir der ganzen Aufgabe eine durchaus veränderte Gestalt geben. Die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit dem Sein ihrer Gegenstände ist etwas, was der menschliche Geist nie einer mittelbaren Prüfung unterwerfen kann, sondern sie ist nur die unmittelbare Voraussetzung jeder erkennenden Vernunft, die ihr einzig kraft ihres  Selbstvertrauens  gilt und in der Verbindung menschlicher Gedanken weder mittelbar gegeben, noch genommen, noch verändert werden kann. Die Anschauung für sich selbst ist ihr eigener Zeuge der Wahrheit, nur wiefern ich der Anschauung vertraue, weiß ich etwas vom Sein wirklicher Gegenstände. Ebenso unmittelbar gelten uns die metaphysischen Grundwahrheiten, die uns unmittelbar im Wahrheitsgefühl zum Bewußtsein kommen. Die Wahrheit, über welche Menschen streiten, in Rücksicht deren sie irren und zweifeln können, ist nie diese transzendentale Wahrheit der Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand sondern die empirische Wahrheit des Bewußtseins, welche nur die richtige Vergleichung mittelbarer Vorstellungen mit den unmittelbaren verlangt. Diese Vergleichung ist die ganze und einzige Aufgabe der Kritik der Vernunft als Begründerin der Philosophie.

Endlich bemerke ich noch voraus, daß ich die Aufgabe der Religionsphilosophie in ein wesentlich anderes Verhältnis zum Ganzen stelle als KANT. Mir scheint KANT seinen ersten geschlossenen Entwurf der Lehre nur für die beiden Kritiken der Vernunft gefaßt zu haben; die Kritik der Urteilskraft kommt gleichsam als Ergänzung hinzu und die eigentümlichsten Untersuchungen von Religionslehren bringt er erst in dem Werk "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" hinzu. Letzteres zeigt sich vorzüglich darin, daß er erst hier auf die genauere Untersuchung des Begehrens, der Triebe und der Willkür kommt, das erstere in der Abgerissenheit der einzelnen Teile jener Lehre.

Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft gibt uns KANT die Eröterungen des Schönen und Erhabenen, welche zu den bewunderungswürdigsten Erzeugnissen seines Geistes gehören. Allein in den Folgerungen daraus läßt er sich durch den Sprachgebrauch der neueren Schulen verleiten, die Idee des Schönen zu eng zu fassen, anstatt daß er dem Sprachgebrauch der Sokratiker und besonders den Erklärungen des ARISTOTELES hätte treu zu bleiben sollen. Ihm hat zuletzt die ganze ästhetische Beurteilung nur einen untergeordneten sittlichen Wert, indem er hier in den untergeordneten Formen des Schönen nur Analogien findet, durch die das sittliche Gefühl begünstigt werden könne. Er bemerkte nicht, daß in allen Idealen, in denen der Geist selbst das Schöne ist, das Schöne mit dem in sich Guten eins und dasselbe sei, er bemerkte nicht, daß es ja diese Ideale seien, in denen er Glaube lebt.

Im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft gibt KANT dann noch einen zweiten Teil der objektiven Teleologie als logische Teleologie hinzu. Dies ist der einzige größere Teil der Lehre, in welchem ich auch dem Gehalt nach KANTs Behauptungen unrichtig finde. Er geht von der Erörterung aus, was Naturzweck genannt werden dürfe und findet, daß die Vorstellung eines Naturzwecks keine Begriffserklärung zulasse. Damit ist ja schon bestimmt, daß wir nur ästhetische Urteile über Naturzwecke haben und so fällt das zweite Thema ganz mit dem ersten zusammen. Logische Teleologie findet für den Menschen nur da statt, wo er über die Zwecke seines Willens und deren Vermittlungen urteilt. Auf die Natur werden diese Zwecke nur bezogen, wenn man entweder unsere eigenen Zwecke mit Naturzwecken verwechselt oder Beurteilungen logisch ausspricht, die eigentlich nur ästhetisch gemeint sind.

Ich habe also diesen Teil der objektiven Teleologie ganz beseitigen müssen. Dagegen erhält mir sowohl die Ästhetik als die Religionsphilosophie eine viel größere Bedeutung. Mir verbinden sich Religionsphilosophie und philosophische Ästethik zur praktischen Seelenlehre, in welcher das ganze System der Philosophie seinen Abschluß erhält.
LITERATUR - Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft I, Vorrede der 2. Auflage 1828