tb-1Logik und Erkenntnistheorie
 
HEINRICH MAIER
Die Bedeutung der Erkenntnistheorie Kants
für die Philosophie der Gegenwart
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"Kants idealistische Grundthese hat die Philosophie der Gegenwart wieder daran erinnert, daß die wirklichen Dinge uns nur in den Formen und unter den Bedingungen unseres Vorstellens gegeben sind. Darin liegt die Aufforderung zur eigentlichen erkenntnistheoretischen Untersuchung."

Das treibende Moment in KANTs philosophischem Entwicklungsgang war das rationalistische Interesse gewesen, das Bestreben, aus dem reinen Denken stammende, von der Erfahrung unabhängige Erkenntnis zu gewinnen. Nach häufigen Umkippungen, die indes zu keinem prinzipiellen Bedenken Anlass gegeben hatten, war die metaphysische Spekulation schließlich auf eine Antinomie gestoßen, die in der Ausscheidung der Begriffe des Raumes und der Zeit, der Grundformen der Sittlichkeit (der intuitiven Erkenntnis), aus dem Gebiet der eigentlichen Metaphysik, der rationalen Wissenschaft ihre vorläufige Ausgleichung gefunden hatte. Allein mochte diese Trennung von Phänomenologie und Metaphysik den realistischen Rationalismus auch aufs neue sichergestellt haben, so hatte sie doch bereits das kritische Denken geweckt, und als KANT daran gegangen war, ein System der eigentlichen Metaphysik, der reinen, von allen sinnlichen Momenten freien Intellektualbegriffe zu entwerfen, da hatte sich ihm sofort die kritische Frage nach der Möglichkeit eines rationalen Wissens aufgedrängt. Nicht als ob er selbst einen Augenblick an dieser Möglichkeit irre geworden wäre. Für ihn persönlich beschränkt sich das Problem von vornherein auf die Frage, worauf die ihm selbst feststehende Gültigkeit einer rationalen Erkenntnis beruhe und wie weit dieselbe reiche. Der  Glaube  an die Metaphysik hatte KANTs Denken von Anfang an den skeptischen Folgerungen HUMEs entzogen und darum in gewissem Sinne seiner Untersuchung die Richtung gewiesen. Allein ein anderes ist persönliche Überzeugung, ein anderes wissenschaftliche Wahrheit: die kritische Untersuchung hat die Aufgabe, mit dem Grunde der Gültigkeit des rationalen Wissens die Gültigkeit selbst nachzuweisen. So faßt KANT in der Tat das kritische Problem. Zugleich mit dem vollen Sinn wird ihm jedoch auch die tiefgehende Bedeutung des Problems für die Metaphysik klar. Und je bestimmter die Lösung ihn auf die Schranken der apriorischen Erkenntnis hinweist, je weiter sie ihn von der alten "dogmatischen" Metaphysik abführt, desto notwendiger scheint es ihm, der metaphysischen Systembildung eine Untersuchung vorauszuschicken, die zunächst die Möglichkeit der Metaphysik zu prüfen unternimmt. Hatte er sich in der Zeit, da er noch am realistischen Rationalismus ohne tiefergreifende Bedenken festhielt, mit dem Gedanken getragen, vor aller Metaphysik die rationalistische Methode, bzw. deren Anwendung in einer vorbereitenden Arbeit zu behandeln, hatte er später, in der Entwicklungsphase der Dissertation, beabsichtigt, durch eine vorausgehende Phänomenologie der rationalen Erkenntnis das Fundament zu sichern:  so erscheint es ihm nun als nächste, dringlichste Aufgabe, den Gültigkeitsgrund, die Grenzen und die Tragweite des apriorischen Erkennens zu bestimmen,  kurz,  durch eine Kritik der reinen Vernunft der Metaphysik selbst die Bahn zu ebnen.  Der  Weg  aber, auf dem dieses Ziel am sichersten zu erreichen ist, ist der deduktive: zurückzugehen auf die im Geiste liegenden Prinzipien, denen das rationale Wissen zuletzt entspringt, ihren Charakter und ihre Geltung festzustellen, um dann aus den Quellen selbst die synthetischen Urteile a priori, die ganze Summe der reinen Erkenntnisse abzuleiten.

Damit ist der Grundgedanke und zugleich der Gedankengang der "Kritik der reinen Vernunft" gegeben.  Die Aufgabe, die sich stellt, ist - das kommt in der 1. Auflage am präzisesten zum Ausdruck - keine andere,  als die deduktive (von Prinzipien ausgehende) Beantwortung der kritischen Grundfrage nach der Möglichkeit der Metaphysik,  einer Frage, die ursprünglich völlig identisch ist mit der andern: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" (1) Indem die Kritik die Wurzeln der synthetischen Urteile a priori aufsucht und deren Bedeutung für unsere Erkenntnis ermittelt, entscheidet sich mit dem "Wie" zugleich das "Ob" der Möglichkeit. Mit dem Sinn der Gültigkeit ergibt sich auch ihre Schranke. Das Objekt aber, auf welches sich die Kritik richtet, ist im wesentlichen die Metaphysik in dem durch die Dissertation festgelegten Umfang: die synthetischen Urteile a priori, deren Möglichkeit geprüft werden soll, sind die Sätze der Ontologie (mit Ausschluß der Sätze der Mathematik, deren Gegenstände, Raum und Zeit, bereits in der Dissertation aus dem Kreise der ontologischen Begriffe ausgeschieden worden waren), der  rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie  - so weit dieselben ihr Heimatrecht im reinen Denken (in der reinen Vernunft) nachweisen können.  Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt also in der "transzendentalen Logik",  in der die kritische Hauptfrage definitiv entschieden wird. Da nun aber die Voraussetzung, unter der allein synthetische Urteile a priori möglich sind, das Gegebensein apriorischer Anschauungen ist, so muß die Untersuchung ihr zuallererst genügen, und sie tut es in der  transzendentalen  Ästhetik, wo im Raum und in der Zeit solche reinen Anschauungen aufgezeigt werden. Müssen sich jedoch die synthetischen Urteile a priori auf apriorische Anschauungen stützen, so scheiden sich die zu prüfenden Sätze sofort in zwei Klassen: von den Verstandeserkenntnisse, die sich direkt auf Anschauung beziehen, sondern sich die transzendenten Vernunfterkenntnisse. Damit zerfällt die transzendentale Logik von vornherein in eine Logik der Wahrheit und in eine Logik des Scheins, in Analytik und Dialektik, und nur die erstere hat Aussicht, auf wirkliche synthetische Urteile a priori, auf reine aber gleichwohl objektiv gültige Erkenntnisse zu stoßen. Um jedoch zu den Verstandesgrundsätzen zu gelangen, muß die  Analytik  von den Verstandesbegriffen ausgehen. Sie weist deren Apriorität nach, indem sie zeigt, daß dieselben nichts anderes sind, als Formen der auf einen Anschauungsstoff (auf Gegenstände überhaupt) gerichteten synthetischen Funktion des Denkens, die gleichen Formen, die, auf bloße Begriffe des von der Wirklichkeit absehenden Denkens bezogen, die verschiedenen Urteilsarten ergeben. Allein dazu muß die Deduktion der objektiven Gültigkeit kommen, die auf dem allein zur Verfügung stehenden Wege vollzogen wird: die Gültigkeit der Kategorien beruht darauf, daß sie konstitutive Bedingungen des Erfahrungsganzen, objektiv ausgedrückt, der Natureinheit sind. Werden nun die a priori objektivgültigen Verstandesbegriffe auf die reinen Anschauungen bezogen, so ergeben sich sofort die objektivgültigen Verstandesgrundsätze, die synthetischen Urteile a priori. Das ist ohne Zweifel der ursprüngliche Gedanke der Analytik: die Schematismen, in welchen die Kategorien mit der reinen Anschauung in Verbindung treten, dienen ursprünglich dazu, die unmittelbare Entwicklung wirklicher apriorischer  Erkenntnisse  aus den Verstandesbegriffen zu ermöglichen. - Durch die Ergebnisse der Analytik ist der Untersuchung der  transzendentalen Dialektik  die Richtung vorgezeichnet, wie andererseits die letztere die Gegenprobe für die Wahrheit der ersteren liefert. Die Grundbegriffe der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, Seele, Welt, Gott sind Ideen, welche prinzipiell über die Erfahrung hinausgehen, um zu dem Bedingten das Unbedingte zu geben. Darum ist keine Möglichkeit geboten, ihre objektive Gültigkeit zu erweisen, und es kann sich nur darum handeln, ihre Apriorität aufzuzeigen. Von der letzteren ist KANT von vornherein überzeugt: sein Denken war zu tief in die transzendenten Spekulationen verstrickt gewesen, um einen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß dieselben, auch wenn sie Illusion sind, in der Organisation des Geistes wurzeln. Den Nachweis dafür erbrint er in der Weise, daß er die Ideen aus der Grundtätigkeit der Vernunft, der Schlußfunktion, ableitet, wie er die Kategorien aus der Urteilsfunktion hergeleitet hatte. Allein aus Ideen, deren objektive Gültigkeit nicht deduziert werden kann, lassen sich nun keine synthetischen Urteile a priori entwickeln. Und es kommt alles darauf an, ob jene Ideen nicht auf dem Wege des Syllogismus erreicht werden können, ob sich nicht durch Schlüsse von dem Gegebenen aus objektivgültige Bestimmungen über Seele, Welt und Gott gewinnen lassen. Aber wir wissen bereits: es ist die fundamentale Überzeugung der "Kritik", daß aus bloßen Begriffen, ohne die Vermittelung einer Anschauung, keine Erweiterung der Erkenntnis des Wirklichen möglich ist. So bleibt nur übrig, den dialektischen Schlüssen, die gleichwohl nicht dem irregehenden Scharfsinn einzelner Individuen entsprungen, sondern Sophistikationen der reinen Vernunft selbst sind, nachzugehen und den Schein aufzudecken, der derselben anhaftet. Das kritische Geschäft ist hiermit beendet. Es war in vollem Sinne eine Kritik der reinen Vernunft, eine Kritik, die aus der Masse der dem reinen Denken entstammenden, aber dennoch den Anspruch auf objektive Gültigkeit erhebenden Sätze in deduktivem Untersuchungsgang die wirklich gültigen heraushob: die verschiedenen Klassen der apriorischen, wirklich oder scheinbar synthetischen Urteile wurden aus ihren im Geiste liegenden Prinzipien abgeleitet; aber mit der subjektiven verband sich die objektive Deduktion, die zwar die Möglichkeit rationaler Erkenntnis ergab, zugleich aber die Art ihrer Gültigkeit bestimmte und ihre Grenze zog. Die Materialien für ein "System der reinen Vernunft" sind damit gewonnen, un der  "transzendentalen Methodenlehre",  dem zweiten Teil der Kritik der r. V., fällt nur noch die Aufgabe zu, methodische Anleitung zu einer künftigen Systembildung zu geben. Allein es ist klar, daß  ein System der reinen spekulativen Vernunft nichts anderes sein kann, als eine Metaphysik der Natur,  die Ausführung und apriorische Ausgestaltung der Verstandesgrundsätze, der synthetischen Urteile a priori, die sich aus den auf reine Anschauung bezogenen Kategorien hatten ableiten lassen.

Die Bestimmung des Grundgedankens und des Gedankenganges der Kritik der reinen Vernunft hat bereits die Beantwortung der Frage nach der  Untersuchungsmethode  derselben eingeleitet. Wenn das positive Ziel der Kritik die Gewinnung synthetischer Urteile a priori mit genauer Ermittelung des Grundes, der Art und der Grenzen ihrer Gültigkeit ist, so geht daraus unzweideutig hervor, daß nicht etwa die Geltung der synthetischen Urteile a priori, wie z. B. des Kausalprinzips, die Voraussetzung ist, auf der im Grunde die ganze Untersuchung fussen würde. Wie sich bereits gezeigt hat, ist es die ursprünglichste Absicht der Kritik,  die Verstandesgrundsätze in ihrer Apriorität und objektiven Gültigkeit wirklich, nicht bloß scheinbar, aus den Verstandesbegriffen und reinen Anschauungen,  deren a priori objektive Geltung demnach zuerst festgestellt werden muß,  zu entwickeln.  Wenn trotzdem die Beweise, die für die Axiome der Anschauung, die Antizipationen der Wahrnehmung, die Analogien der Erfahrung und die Postulate des empirischen Denkens überhaupt gegeben werden, den Verstandesbegriffen gegenüber relativ selbständig sind, und wenn dieses Verhältnis auch auf die Fassung der Schematismen zurückwirkt, so hat das Gründe, deren Erörterung hier zu weit führen würde. Die ursprüngliche Gedankenrichtung scheint doch überall durch, und die ganze Anlage der Kritik weist darauf hin. Die Gültigkeit der Verstandesgrundsätze ruht auf der a priori objektiven Geltung der reinen Anschauungen und der Verstandesbegriffe, wie sich die objektive Wahrheit der geometrischen Sätze auf den apriorischen und doch realen Raum gründet.

Die Aufgabe ist aber nun, die  Methode  zu bezeichnen,  durch welche KANT seine reinen und doch objektivgültigen Anschauungen und Verstandesbegriffe ermittelt hat.  KANTs Verfahren ist nicht das der genetischen Psychologie, welche die Entstehung unserer Erkenntnis erforscht, um auf diesem Wege den Anteil des Subjekts an den Vorstellungen zu bestimmen. Mehr als einmal stellt er selbst seine Methode in entschiedenen Gegensatz zu der psychologischen, wie sie z. B. von TETENS angewandt wurde. Dem entspricht auch, daß er es bestimmt ablehnt, seine eigene Untersuchung mit der LOCKEs auf eine Linie zu setzen. Nicht mit der Evolution der Begriffe beschäftigt er sich, nicht von der Entstehung der Erfahrung will er reden, sondern von dem, was in ihr liegt. Auf psychologischem Weg kann nie die logische, objektive Notwendigkeit erreicht werden. Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, die lediglich sagt, was geschieht, was tatsächlich beim Erkennen vorgeht; den normativen Wert einzelner Erkenntnisfunktionen kann sie nicht bestimmen; sie setzt im Gegenteil die Ergebnisse des Verfahrens voraus, das KANT das transzendentale oder kritische nennt. Daß das letztere sich nicht mit dem syllogistisch-demonstrativen der WOLFFschen Philosophie deckt, braucht nun nicht mehr versichert zu werden: über die Meinung, daß Raum und Zeit, Substanz, Kausalität usf. nicht mehr syllogistisch deduziert werden können, war er im Grundsatz schon hinausgekommen, als er von unauflöslichen Begriffen sprach. Ebenso fern liegt ihm aber der spekulativ-idealistische Gedanke, der nachher als genuin KANTisch oder wenigsten als die notwendige Konsequenz der KANTischen Lehre ausgegeben wurde: reine Anschauungen und Verstandesbegriffe aus einer schöpferischen Tätigkeit des Geistes entstehen zu lassen. Zwar leugnet der Kritiker nicht, daß Sinnlichkeit und Verstand, das Vermögen der Anschauung und das Organ der synthetischen Funktionen,  vielleicht aus einer gemeinsamen Wurzel entspringen.  Diese Wurzel ist aber jedenfalls unbekannt, und man hat Raum und Zeit einerseits, die Verstandesbegriffe andererseits als letzte Daten hinzunehmen: auch die Kategorien sind zwar Formen einer einheitlichen Tätigkeit des Geistes, aber als solche, in ihrer Verschiedenheit, nicht weiter ableitbar.  Die wirkliche Methode Kants ist die analytische.  Das unserem Bewußtsein in lebendiger Einheit gegebene Ganze der Vorstellungswelt wird durch Reflexion auf seinen Inhalt in seine Bestandteile zerlegt. Bei dieser Analyse sondern sich sofort Anschauung, in der uns die Gegenstände gegeben sind, und Denkformen, durch welche sie gedacht werden, und innerhalb der Anschauung heben sich von dem Inhalt, dem Stoff, die formalen Elemente Raum und Zeit ab. Auf die Anschauungsformen und Denkbegriffe richtet sich nun die Selbstbesinnung des kritischen Philosophen. Er sucht den Inhalt dieser Elemente genau zu bestimmen und achtet zugleich auf die natürliche Tätigkeit des Geistes, wenn derselbe räumlich und zeitlich vorstellt oder das Mannigfaltige der Anschauung denken verknüpft. So gewinnt man sichere Anhaltspunkte für die Feststellung der Apriorität der Denkformen und der Apriorität und des Anschauungscharakters von Raum und Zeit.  Entscheidend für die Apriorität ist aber doch immer das Moment der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit,  das mit jenen Elementen verknüpft ist, und das nicht aus der Erfahrung stammen kann. Es ist nicht Sache meiner freien Entschließung, wenn ich die Dinge im Raum anschaue, wenn ich Veränderungen und Ereignisse in die Zeit ordne. Ich muß räumlich und zeitlich vorstellen, wenn ich überhaupt vorstellen will, ich kann Raum und Zeit aus meinen Vorstellungen schlechterdings nicht wegdenken. Diese Notwendigkeit, die auch in der apodiktischen [logisch zwingenden, demonstrierbaren - wp] Gewißheit der geometrischen Grundsätze und der Zeitaxiome zum Ausdruck kommt, kann nicht empirisch sein; sie weist auf den apriorischen Ursprung von Raum und Zeit hin. Wenn ferner die Kategorien aus der Grundfunktion des Denkens selbst abgeleitet, bzw. als die wesentlichen Formen derselben erwiesen werden, so erhalten sie damit Anteil an der Notwendigkeit welche der letzteren eigen ist: will ich überhaupt denken, Gegenstände denkend erfassen, so muß ich sei in den synthetischen Formen der Kategorien denken. Hat man aber gegen diese subjektive Deduktion der Verstandesbegriffe Bedenken, so genügen die Merkmale der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit, die ihnen unbestreitbar anhaften, um ihre Apriorität zu sichern.  An diese Kriterien knüpft nun auch der Nachweis der objektiven Gültigkeit der Anschauungs- und Denkformen an.  Dieselbe beruht, wie wir wissen, darauf, daß diese Elemente notwendige, unentbehrliche Bestandteile der Erscheinungen, der von uns vorgestellten Gegenstände, allgemeine, konstitutive Bedingungen der Erfahrung sind: mit der Beseitigung von Raum und Zeit würde die Vorstellung eines äußeren Objekts und eines Geschehens unmöglich, und die ganze Erscheinungswelt würde verschwinden; mit der Wegnahme der Kategorien aber würde die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur, die uns in der Erfahrung entgegentritt, ja selbst das bloße Denken eines Dings als Gegenstand aufgehoben. So führt die Analyse und die kritische Reflexion über die in der Analyse unterschiedenen Elemente auf die apriori objektiven Anschauungsformen und Verstandesbegriffe. Allein so wenig die Apriorität auf psychologischem Weg ermittelt wird, so wenig fehlt ihr doch der  psychologische Charakter.  Die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit der Anschauungs- und Denkformen begründet sich doch zuletzt darin, daß dieselben Bestandteile unserer geistigen Organisation selbst sind. Nicht als ob sie angeboren wären und von Anfang an in unserem Geist bereit liegen würden! Mit dieser Annahme wäre der "Philosophie der Faulen" Tür und Tor geöffnet. Aber es muß doch ein "Grund" zu den Anschauungsformen und Kategorien im Subjekt sein, der ihr Entstehen möglich macht. Und "dieser Grund wenigstens ist angeboren". Mit uns geboren sind die Gesetze, denen zufolge wir räumlich und zeitlich vorstellen und die Anschauungen durch die Kategorien verknüpfen. Die Anlage selbst aber vermag sich nur in lebendiger Wechselwirkung mit dem Erfahrungsstoff zu entwickeln. Insofern sich Raum und Zeit "ursprünglich erworbene Vorstellungen", die Kategorien "ursprünglich erworbene Begriffe". Und die definitorische Fassung, die begriffliche Bestimmung der Anschauungs- wie der Denkformen hat dieselben in der Erfahrung, im empirischen Bewußtsein aufzusuchen. So wenig ferner die Untersuchungsmethode der Kritik die syllogischtisch-demonstrative der WOLFFschen Philosophie ist, so wenig darf doch den Deduktionen die  demonstrative Exaktheit  ermangeln: für bloße Wahrscheinlichkeit ist in der Metaphysik keine Stelle. Und in der Ausführung des "künftigen Systems der Metaphysik" gedenkt KANT auch jetzt noch "der strengen Methode des berühmten Wolff", freilich nur in der Darstellung, zu folgen.

Das positive  Ergebnis der Vernunftkritik  ist der wirkliche Nachweis synthetischer Urteile a priori. Die "reine Naturwissenschaft" bietet ein apriorisches Wissen, das gleichwohl mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Metaphysik ist also siegreich aus der Kritik hervorgegangen. Der Glaube an rationale Erkenntnis hat sich wissenschaftlich bewährt, und dem rationalistischen Interesse KANTs ist die objektive Berechtigung gesichert.  Nach langem Ringen ist das rationalistische Wissensideal endgültig gerettet. 

Aber mit welchen Opfern ist dieses Resultat erkauft?  Preisgegeben ist vor allem die rationalistische Methode.  Es ist nichts mit dem Verfahren, das aus verhältnismäßig wenig Begriffen, deren objektive Gültigkeit vorausgesetzt wird, das adäquate Abbild der gesamten Welt entwerfen will. Aus "bloßen Begriffen", mögen dieselben auch noch so mannigfaltig kombiniert werden, läßt sich nicht mehr entnehmen, als was schon vorher in ihnen lag; eine Erweiterung der Erkenntnis ist auf diesem Wege also nicht zu erreichen. Mathematische und philosophische Methode werden nun in anderer Weise unterschieden, als früher. Der Fortschritt in der mathematischen Demonstration selbst ist kein eigentlich syllogistischer; er gründet sich durchweg auf Anschauung, und die Mathematik schließt nicht "aus Begriffen", sondern aus der Konstruktion von Begriffen, sie schafft im Verlaufe der Deduktion, auf reiner Anschauung fußend, immer neue Begriffe, welche den Demonstrationsprozeß weitertreiben. Das ist in der Philosophie nicht möglich. Wollte sie in syllogistischen Verfahren von Begriffen ausgehen, so müßten ihr solche gegeben sein; allein die syllogistische Deduktion würde doch nie über die gegebenen Begriffe hinausführen. Jede Erweiterung der Erkenntnis muß sich auf Anschauung stützen, die empirische auf empirische, die apriorische auf apriorische. Die Voraussetzung der Gleichartigkeit von philosophischer und mathematischer Methode, wie sie sich als unumstößliches Dogma der rationalistischen Metaphysik von System zu System fortgeerbt hatte, erweist sich also nach zwei Seiten hin als prinzipiell verfehlt. Aber im Zusammenhang mit KANTs veränderter Stellung zur rationalistischen Methode erfährt zugleich  sein Apriori eine bedeutsame Wandlung;  es heißt nicht mehr: syllogistisch erschlossen, sondern lediglich: unabhängig von aller Erfahrung, oder genauer: unabhängig von dem Erfahrungsstoff, den Affektionen, den Empfindungen.

Doch weiter: auch die  rationale Erkenntnis selbst hat unter der Hand der Kritik ihren Charakter wesentlich geändert.  Die Begründung, welche der apriorischen Wissenschaft, der Metaphysik ihre objektive Berechtigung sicherte, führte zum endgültigen Verzicht auf den Anspruch, mit dem rationalen Erkennen das innerste Wesen der Dinge an sich zu treffen. Der  realistische Rationalismus ist aufgegeben.  Es ist nicht so, daß zwischen der Arbeit des in sich selbst zurückgezogenen Denkens und der außerhalb desselben sich abspielenden Wirklichkeit ein geheimnisvoller Rapport, eine prästabilisierte Harmonie bestünde, vermöge deren das Resultat des reinen Denkens mit dem Ablauf des wirklichen Geschehens zusammenträfe. Der Geist erkennt von der Wirklichkeit genau so viel, als er selbst zu derselben beigetragen hat, und die Möglichkeit einer vonder Erfahrung unabhängigen Erkenntnis beruht darauf, daß die wirklichen Dinge, auf die sich dieselbe bezieht, nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen, Erscheinungen sind. Die apriorischen Elemente sind Bestandteile der in der Erfahrung gegebenen Dinge, und ihre objektive Gültigkeit gründet sich darauf, daß sie unentbehrliche Faktoren der letzteren sind. Raum und Zeit sind Formen, die in der erkennenden Seele wurzeln, Formen, durch welche sie den ihr durch die reine Erfahrung gebotenen Stoff anschauend ordnet. Substanz und Akzidenz, Kausalität, Wechselwirkung, Realität, Negation, Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit usf. sind subjektive Kategorien, durch welche der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung zu bestimmten Einheiten und schließlich zu einem alles umfassenden Ganzen mit logischer Nowendigkeit zusammenschließt. Und aus den Anschauungsformen und Kategorien fließen Grundsätze, die sich als die obersten Gesetze der Natur, als die letzten Voraussetzungen der Naturwissenschaft ankündigen. So stammt schließlich die ganze Gesetzmäßigkeit, welche die Natur beherrscht, aus dem subjektiven Geiste. Aber ohne jene Anschauungsformen und Kategorien wären die Erscheinungen, wäre die Natur selbst unmöglich, und ohne diese Prinzipien hätten wir keine Erfahrung, keine Naturwissenschaft.  Das durch die Kritik gesicherte reine Wissen ist in der Tat a priori,  da es nach seinem ganzen Umfang im Geiste seinen Ursprung hat,  und es ist von der Erfahrung unabhängig,  sofern es nicht aus der reinen Erfahrung, dem Empfindungsmaterial entspringt.  Seine objektive Gültigkeit jedoch ist nicht in der gleichen Weise von der Erfahrung unabhängig.  Objektiv gültig sein heißt von wirklichen Gegenständen gelten. Nun würden wir aber ohne den Stoff, den uns die reine Erfahrung in der Empfindung darbietet, nie zu realen Objekten gelangen. Daraus folgt, daß die objektive Gültigkeit des reinen Wissens eine Beziehung desselben zur reinen Erfahrung voraussetzt. Und es kommt alles darauf an, daß die Verbindung der Elemente des reinen Wissens mit dem Stoff der reinen Erfahrung eine notwendige ist, daß nur beide zusammen die wirklichen Objekte konstituieren. Das ist inu der Tat der Fall. Reine Erfahrung verbunden mit den Prinzipien des reinen Wissens ergibt diejenige Erfahrung, die uns die Erscheinungen, die allein erreichbaren wirklichen Objekte, zuführt, sie zugleich zu einem gesetzmäßig geordneten Naturganzen zusammenfügend. Auf der grundlegenden  Bedeutung  der apriorischen Elemente für die Erfahrung in diesem Sinne ruht die objektive Gültigkeit der reinen Erkenntnis. Damit ist das rationale Wissen auf die Erscheinungen und seine Geltung auf die Sphäre der Erfahrung eingeschränkt. Seine Begründung fußt auf  zwei folgenschweren Voraussetzungen:  auf der Einsicht, daß die sinnlich wahrgenommenen Dinge überhaupt lediglich Erscheinungen sind, und auf der methodischen Überzeugung, daß nur in der Erfahrung die Wirklichkeit zugänglich ist. Man kann sagen:  der kritische Rationalismus Kants sichert sein objektives Recht mit Hilfe des Idealismus  (bzw. Phänomenalismus)  und des Empirismus. 

KANTs  Idealismus  ist freilich kein subjektiver in dem Sinne, daß er ein Ding an sich überhaupt leugnen würde. Das  Ding an sich  ist der "Kritik" auch nicht ein bloß problematischer Begriff. Man darf "Noumenon" und "Ding an sich" nicht verwechseln. Jenes ist in der Kritik, wie in der Dissertation, ein vom reinen Denken erzeugter, aber gleichwohl absolut-objektivgültiger, d. h. das Ding an sich treffender Verstandesbegriff. Es ist eine problematische Größe, daß wir durchaus keinen Anhaltspunkt dafür haben, ob es einen solchen Verstand gibt, der intuitiv sein, d. h. mit der Denkform zugleich die für die Gültigkeit erforderliche Anschauung aus sich hervorbringen müßte. Das Ding an sich dagegen ist zwar völlig unbekannt, undenkbar und unanschaubar, da ja von Kategorien und Anschauungsformen, an die unser Erkennen gebunden ist, losgelöst sein soll. Allein es ist als das notwendige Korrelat der Erscheinung ständige, positive Voraussetzung. Ausdrücklich abgeleitet, nachgewiesen wird es freilich nirgends. Das hat aber seinen naheliegenden Grund darin, daß KANT am Ding an sich überhaupt kein direktes Interesse hat: sein Augenmerk ist ausschließlich auf die Begründung der apriorischen Erkenntnis gerichtet; von Dingen an sich aber könnte es, auch wenn dieselben erkennbar wären, kein solches Wissen geben, da sie, ihrem Begriffe entsprechend, keine subjektiven, dem denkenden Geist angehörigen Elemente in sich schließen würden. Aus demselben Grund wirft er nirgends auch nur die Frage auf, ob nicht vielleicht indirekt eine hypothetische, analogiemäßige Erkenntnis der reinen Wirklichkeit erreichbar sei.

Dagegen hat das  empiristische Element der Kantischen Erkenntniskritik  zu einer weitgehenden  Gebietsbeschränkung des metaphysischen Wissens  den Anlass gegeben:  der metaphysischen Psychologie, Kosmologie und Theologie ist der Boden entzogen.  Die Ideen Seele, Welt, Gott sind keine Bestandteile des Erfahrungskomplexes und können darum von vorn herein auf  die  objektive Gültigkeit nicht Anspruch machen, die den Kategorien zukam. In Wirklichkeit sucht, wie wir wissen, die der Vernunft natürliche Spekulation auf anderem Wege, durch Schlüsse, die an die Begriffe gewisser durch das Ganze der Erfahrung gegebenen Daten anzuknüpfen, von hier aus aber rein syllogistisch "aus bloßen Begriffen" aufsteigen, zu synthetischen Sätzen a priori über jene Ideen zu gelangen; doch auch diesem Beginnen ist durch die Kritik das Fundament genommen. Eine andere Metaphysik, als die rationale, die a priori verfahrende kennt aber KANT nicht. So entrückt er die Lieblingsgegenstände der Metaphysik des Aufklärungszeitalter, die Spekulation über  Gott, Freiheit und Unsterblichkeit  dem Bereich des theoretischen Erkennens. Allein es ist auf der anderen Seite KANTs Überzeugung, daß "alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauch derselben ausfindig machen können". In der Tat läßt sich eine  "immanente" Bedeutung der transzendenten Ideen  für die Erkenntnis nachweisen: sie dienen zur Systematisierung der Erfahrung. Die Wissenschaft stünde hilflos vor der unendlichen Fülle der konkreten Gestalten und besonderen Kausalzusammenhänge der Natur, wenn sie nicht voraussetzen dürfte, daß dieselben sich unter Gattungen und allgemeinere Gesetze unterordnen lassen; sie muß an die Wirklichkeit die Forderung stellen, daß sie sich systematisieren lasse, daß sie an Gedanken angemessen, daß sie zweckmäßig sei. das ist das transzendente Postulat der Begreiflichkeit der Natur.  Die Vernunftidee nun sind regulative Prinzipien, die der Systematisierung die Richtung und den Abschluß geben,  und die  Idee Gottes  als einer höchsten, schöpferischen Intelligenz bildet zugleich  das eigentliche Fundament des Glaubens an die Zweckmäßigkeit, an die Begreiflichkeit der Natur selbst.  Allein der unwiderstehliche Hang, über die Erfahrung hinaus zu den Ideen des Unbedingten emporzusteigen, den eine "weislich uns versorgende Natur" in unsere Vernunft gelegt hat, muß doch noch einen anderen, einen letzten und höchsten Zweck haben. Die "Endabsicht", worauf die transzendentale Spekulation der reinen Vernunft zuletzt hinausläuft, "betrifft die drei Gegenstände", "die drei Kardinalsätze": die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Nun hat die transzendentale Dialektik gezeigt, daß dieser metaphysische "Hang" auf theoretischem Wegen nicht befriedigt werden könne, zugleich aber auch, daß die transzendenten Ideen nicht dem theoretischen Erkennen widerstreiten. Damit ist die Bahn für die praktische Vernunft freigemacht, die nun ihrerseits a priori zu Freiheit, Unsterblichkeit und Dasein Gottes führt. Das legt den Schluß nahe, daß der  letzte Zweck, den die Natur oder die Vorsehung mit jenem transzendenten metaphysischen Trieb im Menschengeist verfolgt, auf praktisch-moralischem Gebiete liegt. 

Es wäre verfehlt, wollte man daraus folgern, daß im Grunde eine praktisch-sittliche Tendenz zu der  Einschränkung der theoretischen Spekulation  geführt habe. Wir wissen, daß dieselbe  der  kritischen Reflexion über die Möglichkeit eines rationalen theoretischen Erkennens, dem KANTs wissenschaftliches Interesse zugewandt war, entsprungen ist. Die Voraussetzung der zweckmäßigen Organisation unseres Geistes, die KANTs eigene Untersuchung vielfach als "heuristisches Prinzip" bestimmt, fordert, daß die Ergebnisse der theoretischen und der praktischen Philosophie sich in ein einheitliches System zusammenfügen. Dieser Zusammenfassung dient jene teleologische Deutung des transzendenten metaphysischen Hanges.


III.

So zweifellos es ist, daß die  Kantische Vernunftkritik  die ganze  moderne Erkenntnistheorie  geweckt hat, so wenig läßt sich doch verkennen, daß die beiden  in ihrer Grundtendenz und in ihren Zielen nicht zusammentreffen.  Es war, wie wir wissen, ein kleiner Ausschnitt aus dem weiten Gebiet der menschlichen Erkenntnis, dem KANTs erkenntnistheoretisches Interesse galt.  Seine Untersuchung konzentriert sich auf die wirklichen oder vermeintlichen synthetischen Urteilt a priori.  Darum ignoriert er von vornherein die Erkenntnis, soweit sie auf die tatsächliche Wirklichkeit gerichtet ist. Das Wesen und die Geltung der besonderen Naturgesetze, welche spezielle Tatsachen und Zusammenhänge auf bestimmte Formeln bringen, ist nirgends erörtert. Die Wahrnehmungsurteile, die sich auf eine empirisch gegebene Realität beziehen, werden nur im Vorübergehen behandelt. Und die Empfindung, der unmittelbare Gegenstand der reinen Erfahrung, wird nirgends ausdrücklich erkenntnistheoretisch gewürdigt. Ebenso wenig zieht KANT die empirischen Vorstellungen und Urteile über die geistige Wirklichkeit in den Kreis seiner Untersuchung. Es ist darum selbstverständlich, daß er auch den metaphysischen Versuchen, welche vom Tatsächlichen ausgehend in stetiger Fühlung mit der Erfahrung eine Lösung der transzendenten metaphysischen Probleme anstreben, keine Aufmerksamkeit widmet. Was ihn an der äußeren Wirklichkeit interessiert, sind die apriorischen Prinzipien der Naturwissenschaft bzw. der Natur selbst und die apriorischen Bemühungen, ein abgeschlossenes Weltbild zu erhalten. Und im Gebiet der geistigen Realität, in welchem Grundsätze, die den naturwissenschaftlichen Prinzipien an die Seite zu stellen wären, nicht zu erweisen sind, beschränkt sich gar die Untersuchung auf die transzendenten Spekulationen über die Seele, auf die rationale Psychologie. Da die Prüfung zur Verwerfung der Gültigkeit der a priori transzendenten Schlüsse führt, so sind schließlich die apriorischen Naturprinzipien die einzigen objektiv gültigen Erkenntnisse, mit denen die KANTische Vernunftkritik sich beschäftigt.  Die moderne Erkenntnistheorie reicht viel weiter:  ihr Untersuchungsobjekt ist die gesamte menschliche Erkenntnis, die apriorische  und die empirische, die Erkenntnis der äußeren Welt  und der geistig-geschichtlichen Wirklichkeit.

Aber auch der  Gesichtspunkt,  den die erkenntnistheoretische Untersuchung unterstellt ist, ist bei KANT ein anderer, als in der heutigen Philosophie. KANT untersucht die Gültigkeit und die Grenze der apriorischen Erkenntnis; er fragt, ob, bzw. in welchem Sinn der letzteren objektive Gültigkeit zukomme. Er findet, daß die objektive Gültigkeit des apriorischen Wissens sich wirklich in  einem  Sinne halten lasse, daß dieselbe sich jedoch lediglich auf Erscheinungen beziehe, daß das rationale Erkennen überhaupt seinem Wesen nach nur Erscheinungen treffen könne.  Mit dieser, wenn auch beschränkten, Sicherung des apriorischen Wissens ist Kants erkenntnistheoretisches Interesse erschöpft,  und die Frage nach der Erkennbarkeit einer transsubjektiven Realität berührt ihn überhaupt nicht.  Auch die heutige Erkenntnistheorie prüft den Geltungswert unserer Erkenntnis.  Aber die rationalistische Tendenz der KANTischen Kritik ist ihr fremd: an der Rettung eines apriorischen Wissens in irgend welchem Sinn, mit irgend welcher, wenn auch stark reduzierter Gültigkeit, liegt ihr nichts. Und im Zusammenhang damit, daß ihr Objekt die gesamte, nicht bloß die apriorische Erkenntnis ist,  erhält das Hauptproblem selbst einen anderen, den spezifisch erkenntnistheoretischen Sinn.  Zwar kommt auch die heutige Erkenntnislehre zu der kritischen Einsicht, daß unser Erkennen zunächst und unmittelbar nur Erscheinungen erreicht. Aber sie beruhigt sich dabei nicht.  Ihre eigentliche und höchste Aufgabe ist und bleibt doch: subjektive und objektive Faktoren in unseren Vorstellungen zu sondern, um auf diese Weise,  wenn auch vielleicht nur hypothetisch,  feststellen zu können, welcher Art die reine Wirklichkeit sein muß,  die uns in den physischen und psychischen Erscheinungen durch das Medium unserer Vorstellungstätigkeit zum Bewußtsein kommt. Das besagt zuletzt die erkenntnistheoretische Grundfrage nach der Tragweite unserer Erkenntnis.

Allein so wenig die Fragestellung der heutigen Erkenntnistheorie mit der KANTischen identisch ist, so groß ist doch  der dauernde Wert der Kantischen Erkenntniskritik. 

Nicht zum mindesten in  prinzipieller  Hinsicht. KANTs  Kritik der apriorischen Erkenntnis selbst  hat mehr als bloß historische Bedeutung. Sie trifft nicht bloß den längst verschollenen realistischen Rationalismus, der in naivem Glauben an die Selbstgenügsamkeit des Denkens ein der Wirklichkeit adäquates Begriffssystem syllogistisch zu deduzieren unternommen hatte. Im menschlichen Geist wird sich die Neigung nie ausrotten lassen, in rascher, müheloser Erhebung über das in der Erfahrung Gegebene einen letzten, unbedingten Abschluß für das fragmentarische Erkennen zu gewinnen. Diesem Drängen zum Unbedingten tritt schon die methodische Forderung der KANTischen Kritik entgegen: vor allem Spekulieren das spekulative Vermögen selbst zu untersuchen. Und schon der bloße Hinweis auf das kritische Problem, ob bzw. wie überhaupt reines Erkennen möglich sei, wirkt ernüchtern auf die metaphysischen Stürmer und Dränger. KANTs Lösung aber hat  den Versuchen, die Wirklichkeit aus dem subjektiven Geist,  sei es mittels genialer Intuition, sei es auf dem Wege teleologischer Deduktion, sei es in dialektischem Prozeß,  zu entwickeln, endgültig die wissenschaftliche Berechtigung entzogen.  Es gehört zu den gesichertsten Resultaten der "Kritik", daß die aus dem reinen Denken stammende Erkenntnis nur diejenigen Elemente der Dinge erreichen könne, welche wir selbst in die Wirklichkeit gelegt haben, daß jedoch diese subjektiven Zutaten nur formale Interpolationen, nur Formen für die Ordnung und Verknüpfung des mannigfaltigen Stoffs sein können, den die Erfahrung dem erkennenden Subjekt bieten muß.  Der Kantische Empirismus wird nie überwunden werden.  Kann der Geist überhaupt Erkenntnis des Wirklichen aus sich selber schöpfen, so kann diese doch nur die Bedingungen treffen, denen die Vorstellung der  gegebenen  Gegenstände unterstellt, und die subjektiven Formen, an welche die Auffassung der Objekte gebunden ist. Der  Inhalt  muß uns durchweg aus der Erfahrung zufließen. Aber auch die Gültigkeit jener subjektiven Elemente beruth darauf, daß ohne sie die Erfahrung nicht vollendet werden kann. Nur wenn sich zeigen läßt, daß die reine Erfahrung allein zu den wirklichen Gegenständen, bzw. Vorgängen nicht zu führen vermag, daß subjektive Interpolationen unentbehrlich sind, ist die Gültigkeit der letzteren gesichert. Und die apriorische Erkenntnis selbst wird sich nur in Postulaten aussprechen dürfen, welche der erkennende Geist zunächst an die reine Erfahrung richtet, deren Berechtigung aber sich darauf gründen muß, daß ohne die postulierten Prinzipien die Erfahrung in weiterem Sinn, die Erfassung der vollen Wirklichkeit nicht möglich ist. Doch selbst die metaphysischen Hypothesen, die ihrem Wesen nach über die Erfahrung hinausgehen, um sie abzuschließen, dürfen die Fühlung mit ihr nicht verlieren. Auch sie müssen, wenn sie überhaupt auf positiven Wert Anspruch machen, in der Erfahrung Anknüpfungspunkte suchen.

Für die erkenntnistheoretische Forschung fast noch bedeutsamer als der Empirismus KANTs ist die in notwendigem Zusammenhang mit demselben stehende zweite Voraussetzung des kritischen Rationalismus:  jene Einsicht, daß die uns zugängliche Wirklichkeit nur Erscheinung, nur Vorstellung ist.  Mag KANT auch auf Umwegen zu dieser Überzeugung gekommen sein, mag dieselbe auch nur die Prämisse, das einzige "Mittel" zur Rettung der rationalen Erkenntnis, nicht das Ergebnis einer direkten erkenntnistheoretischen Untersuchung, noch weniger der eigentliche Grundgedanke der Kritik sein - in ihr liegt der unmittelbare Anstoß zur Erkenntnistheorie selbst, und auf sie gründet sich zuvörderst die aktuelle Bedeutung der KANTischen Erkenntnistkritik. Wir wissen: KANT hat das spezifische Problem der Erkenntnistheorie nirgends direkt gestellt, geschweige denn zu lösen unternommen. Aber seine idealistische Grundthese hat die Philosophie der Gegenwart wieder daran erinnert, daß die wirklichen Dinge uns nur in den Formen und unter den Bedingungen unseres Vorstellens gegeben sind.  Darin  liegt die Aufforderung zur eigentlichen erkenntnistheoretischen Untersuchung, zu der Scheidung der subjektiven und objektiven Elemente in unseren Vorstellungen und zur Ermittlung der reinen, von unserem Denken unabhängigen Wirklichkeit.

So wenig KANT jedoch zu positiven Bestimmungen über das Korrelat der Erscheinung, über das Ding an sich, zu gelangen suchte, so sicher erkennt er die unheure  Tragweite der idealistischen Entdeckung.  Die Objektie und Vorgänge der Außenwelt, das Geschehen im eigenen Geiste - alles ist zunächst Erscheinung. Natur- und Geisteswissenschaften sind Wissenschaften von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich. Damit erledigen sich uralte metaphysische Probleme. Wie Materie auf den Geist wirken könne, ist kein absolutes Rätsel mehr, wenn Materie und Geist gleichermaßen nur Erscheinungen sind.  Auch  wenn die moderne Fassung desselben Problems, die Frage, wie aus Atombewegungen Empfindungen hervorgehen können, hört auf, ein "Welträtsel" zu sein. Mag die Naturwissenschaft die Vorgänge und Veränderungen in der Außenwelt und in unserem eigenen Körper zuletzt auf mechanische Bewegungen der Atome und die Qualitäten der Atome auf Bewegungskräfte reduzieren - sie wird selbst dann nicht über die Sphäre der Erscheinungen hinauskommen. Bewegung ist ein Begriff, der aus räumlich und zeitlich geordneten Tast- und Gesichtsempfindungen abstrahiert ist, und der Atombegriff ist eine durch das Bedürfnis der Wissenschaft geforderte Fassung des Gedankens der Substantialität. Aber die Empfindungen sind Funktionen des vorstellenden Subjekts, und Raum, Zeit und Substanz erweisen sich als Vorstellungselemente, die in der der geistigen Organisation wurzeln. Mögen nun auch die Bewegungen, auf welche die Psychologie die Empfindungen zurückführt, nicht direkt wahrgenommen, sondern erschlossen sein, so ändert das ihren erkenntnistheoretischen Charakter nicht. Damit ist die weitergreifende Frage nahegelegt, ob es denn berechtigt sei, auch diejenigen Empfindungen, die zu keiner Bewegungsvorstellung führen, auf Bewegung, oder vielmehr auf diejenigen absoluten Vorgänge, die uns in den Vorstellungen der Bewegungen zum Bewußtsein kommen, zu reduzieren. Wir lassen diese Frage dahingestellt. So viel ist gewiss: wenn wir von Gehirnatomen und ihren Bewegungen sprechen, so befinden wir uns noch im Reiche der Erscheinungen. Nun ist es durchaus nicht unmöglich, daß das Reale, welches diesen Erscheinungen zu Grunde liegt, mit dem Wirklichen, das in den Bewußtseinsvorgängen zur Erscheinung kommt, identisch ist. Damit ist jene physiologische Fragestellung überwunden. Der  Materialismus  freilich ist durch den kritischen Idealismus nicht befürwortet, vielmehr endgültig widerlegt - widerlegt schon durch die einfache Reflexion, daß die Materie nicht eine ursprüngliche gegebene schlechthinnige Realität, der gegenüber die geistigen Funktionen etwas Abgeleitetes wären, daß sie vielmehr selbst Vorstellung ist, also psychische Funktionen ihrerseits voraussetzt. Die  Physiologie  (bzw.  Psychophysik)  hat psychische uns physische Vorgänge als etwas Gegebenes hinzunehmen und die tatsächlichen Beziehungen zwischen beiden aufzudecken, wobei ihr nicht verwehrt ist, zur Erklärung der Tatsachen eine umfassende Hypothese heranzuziehen. Das  metaphysische  Verhältnis beider Arten von Erscheinungen bleibt ihr immer unerreichbar, da sie über Erscheinungen nicht hinauskommt. Daraus geht zugleich hervor, daß die erkenntnistheoretische Untersuchung sich nicht auf die physiologische Forschung gründen kann.

Wenn durch den kritischen Idealismus  Natur- und Geisteswissenschaften auf das Erscheinungsgebiet eingeschränkt  werden,  so ist damit doch nicht die Realität ihrer Objekte, nicht die Wahrheit ihrer Ergebnisse geleugnet.  In den physischen und den psychischen Erscheinungen tritt uns die Wirklichkeit entgegen - nur in die Formen unseres Vorstellens eingekleidet. In beiden Gebieten soll die Forschung den Tatsachen und Zusammenhängen nachspüren, und sie darf hoffen, in ihren Formeln und Gesetzen das Wesen des Wirklichen zum Ausdruck zu bringen - übersetzt freilich in die Sprache unseres Erkennens. Die tiefergehende Untersuchung zeigt, daß sich in der kritischen Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich die Voraussetzung einer gesetzmäßigen Beziehung zwischen beiden verbirgt: auf diese Voraussetzung, die allerdings KANT selbst nicht herausgestellt hat, gründet sich zuletzt die Gültigkeit, auf welche die Resultate der besonderen Wissenschaften Anspruch machen. Es ist ein  neuer Begriff der Realität, der damit geschaffen wird.  Neben die absolute oder, wie KANT sich ausdrückt, die transzendentale Wirklichkeit tritt die  Erscheinungsrealität.  Dem Begriff der Erscheinungsrealität geht aber zur Seite ein neuer Begriff der objektiven Gültigkeit und der Wahrheit. Real ist eine Erscheinung, sofern sie ein Glied des Erfahrungskomplexes ist; objektiv gültig die Vorstellungen, die ein Element des Erfahrungszusammenhangs repräsentiert; objektiv gültig und wahr das Urteil über Seiendes, dem die Merkmale der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zukommen. Man sieht: es ist der  immanente  Wahrheitsbegriff, der hier in die Wissenschaft eingeführt wird - ein Fortschritt  von grundlegender Bedeutung für die moderne Logik.  Wenn die Logik ihre Aufgabe, die Normen und Bedingungen des wahren Denkens zu fixieren, befriedigend lösen will, so kann sie ihre Untersuchung nicht von den unsicheren und doch nur hypothetischen Ergebnissen der Metaphysik und desjenigen Teils der Erkenntnistheorie, der das Wesen der absoluten Wirklichkeit bestimmen will, abhängig machen. Sie wird darauf verzichten, ihre Gesetze an dem Realen an sich zu messen und den Geltungswert derselben auf ihre metaphysische Bedeutung zu gründen, um so mehr als der Erkenntnistheoretiker und Metaphysiker selbst einer Norm bedarf, nach der er seine Resultate beurteilen, und die ihn vor dem Abschweifen auf phantastische Irrwege bewahren kann. Diese Norm aber ist nichts anderes, als der immanente Wahrheitsbegriff, dessen Kriterien die Eigenschaften der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit sind. Und der Logik kommt es zu, die normativen Gesetze dieser Wahrheit festzustellen und zugleich die Methode zu bestimmen, durch welche sich auf den verschiedensten Gebieten Sätze erreichen lassen, mit denen das Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verknüpft ist. Die Logik liegt also gewissermaßen auf derselben Linie, wie die besonderen Wissenschaften der Natur und des Geistes. Wie die letzteren den immanenten Wahrheitsbegriff als Leitfaden auf ihrem Forschungsgang gebrauchen, so sucht jene sein Wesen und seine Voraussetzungen zu fixieren. In der Tat gehört es zu den wichtigsten Obliegenheiten der Logik, den besonderen Wissenschaften den methodischen Weg vorzuzeichnen, auf dem sie zur immanenten Wahrheit gelangen können.  So hat KANTs kritischer Idealismus tatsächlich der Logik die Richtung gewiesen, in der sie alleinu ihr Ziel erreichen kann. 

Nicht als ob KANT selbst ihre Aufgabe in diesem Sinne bestimmt hätte! Er ist bekanntlich der Schöpfer der streng formalen Logik, die sich auf das Gebiet des auf sich selbst bezogenen, des analytischen Denkens beschränkt. Aber seine "transzendentale Logik", oder vielmehr der erste Teil derselben, die "transzendentale Analytik", und seine "transzendentale Ästhetik" haben  nicht bloß den spezifischen Wahrheitsbegriff der Logik geschaffen, sondern die Lösung des prinzipiellen Teils ihrer Aufgabe eingeleitet.  Indem KANT die apriorischen Elemente unserer Vorstellungen und Urteile aufsucht, um von ihnen aus zu synthetischen Urteilen a priori zu kommen, analysiert er überhaupt unsere Vorstellungen von realen Erscheinungen und ihrem Zusammenhang und zugleich unsere Urteile über Seiendes. Und dabei sucht er die Bedingungen zu ermitteln, unter denen wir ein vorgestelltes Ding real, eine Vorstellung objektiv gültig nennen, die Bedingungen ferner, unter denen ein Urteil gültig, wahr ist. Er findet, daß Raum und Zeit, die Kategorien und die Empfindung die Elemente sind, die in einer objektivgültigen Vorstellung zusammentreffen. Und im Gebiet der Urteile unterscheidet er von den Sätzen, die nur ein Verhältnis zweier Begriffe betreffen, deren Wahrheit also lediglich auf der Übereinstimmung dieser Begriffe beruht, die Aussagen über Wirkliches, und unter den letzteren wieder von den bloß subjektivgültigen "Wahrnehmungsurteilen", die nur zwei innere, aber durch Objektie gewirkte Zustände des urteilenden Subjekts auf einander beziehen, die "Erfahrungsurteile", die eigentlichen Urteile über Seiendes mit objektiver Gültigkeit. Auf die letzteren konzentriert sich natürlich die Aufmerksamkeit der Kritik. Die Elemente aber, auf denen die Wahrheit und objektive Gültigkeit der synthetischen Urteile beruht, decken sich, wie sich nicht anders erwarten läßt, mit denjenigen, welche die Wirklichkeit einer Erscheinung ausmachen: die konstitutiven Bedingungen der Erscheinungsrealität eines Erfahrungsdings und der Wahrheit eines Erfahrungsurteils sind dieselben. Die eigentliche Absicht der "Kritik" bringt es nun freilich mit sich, daß KANT nicht für alle Elemente der Erscheinungsrealität, nicht für alle Bedingungen der Wahrheit der Erfahrungsurteile dasselbe Interesse hat. Hier tritt die durch die ursprüngliche Tendenz der KANTischen Erkenntniskritik bedingte Begrenzung ihres Untersuchungsgebietes zu Tages, auf die bereits hingewiesen wurde. Es ist dem Philosophen nur um die bleibenden, für das Vorstellen selbst unumgänglich notwendigen, in unserer geistigen Organisation begründeten Faktoren der Vorstellungen und Urteile zu tun. Darum beschränkt sich die Deduktion darauf, Raum und Zeit und die Kategorien als Bedingungen der Erscheinungsrealität und der Wahrheit der Erfahrungsurteile ausdrücklich zu erweisen: sie zeigt, daß Raum und Zeit Elemente sind, ohne welche objektivgültige Vorstellungen von Gegenständen bzw. realen Vorgängen, Urteile über Wirkliches mit den Merkmalen der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit überhaupt nicht vollzogen werden können und ferner, daß wir in den Kategorien die Formen, in denen allein der Geist die Erfahrungsinhalte mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit zu denken vermag, die Bedingungen, unter denen allein das spontane Denken selbst, die Quelle aller Nowendigkeit und Allgemeingültigkeit, in Aktion treten kann, zu sehen haben, und daß ihnen darum in strengem Sinn Denknotwendigkeit zukommen muß; sie unterläßt es aber, die Empfindung in ähnlicher Weise zu rechtfertigen, zu untersuchen, worauf sich denn das Bewußtsein der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, das sich mit den synthetischen Urteilen ihrem besonderen, zufälligen Stoff nach verbindet, worauf sich der Glaube an die Realität der Erfahrungsdinge ihrem konkreten Inhalt nach stütze; wie ja auch nirgends die Gültigkeit des tatsächlichen Inhalts der Urteile über die geistige Wirklichkeit abgeleitet wird. Dem entspricht, daß derjenige unter den synthetischen Grundsätzen a priori, der sich auf die Empfindung bezieht, nur allgemein das Gegebensein von Empfindung fordert, das eine unumgängliche Voraussetzung, eine konstante Bedingung der Wahrnehmung ist. Allein  die aus den bleibenden Elementen unserer Vorstellungen und Seinsurteile deduzierten synthetischen Urteile a priori bilden doch tatsächlich einen wertvollen Beitrag zur Beantwortung der logischen Frage nach den Normen und Voraussetzungen der Wahrheit,  nach den allgemeinen Grundsätzen, Axiomen und Postulaten unseres Erkennens. Insofern hat die KANTische Erkenntniskritik, obwohl ihr Ziel ein anderes ist, auch die positive Arbeit der modernen Logik wenigstens nach einer Seite hin vorbereitet.

Mit der Aufsuchung der apriorischen Bestandteile unserer Erkenntnis hat KANT aber zugleich  einen wesentlichen Teil der erkenntnistheoretischen Untersuchung selbst in Angriff genommen.  Mag die Erkenntnistheorie auch zuletzt auf Sonderung der subjektiven und objektiven Elemente in unseren Vorstellungen, auf Ermittlung der reinen Wirklichkeit ausgehen: ihr erster Schritt muß die Scheidung der apriorischen und empirischen Faktoren sein. Diese Scheidung hat nicht allein für die Logik Interesse. Auch hat sie nicht bloß den kritischen Wert, daß sie eine richtige Würdigung der positivistischen und empiristischen Theorie ermöglicht. Die Trennung der notwendigen, in unserer bleibenden Organisation begründeten Vorstellungsfunktionen und des schlechtweg empirisch Gegebenen bietet die einzigen Anhaltspunkte für die Folgerungen, die über den Bewußtseinsinhalt hinaus ins Reich der reinen Wirklichkeit eindringen wollen; sie gewährt allein einen Einblick in diejenigen Denkakte, durch welche ein dem Bewußtsein Gegebens auf reale Objekte bezogen wird. Das ist aber der Ort, von dem die Erkenntnistheorie ausgehen muß, wenn sie das Transsubjektive erreichen will.

Allein noch nach einer anderen Seite ist KANTs Erkenntniskritik für die Erkenntnistheorie richtunggebend. Die  Methode mittels welcher er die apriorischen Element unserer Vorstellungen aufsucht, ist dür die erkenntnistheoretische Untersuchung vorbildlich. Es bleibt dabei, daß dieselben nicht auf psychologischem Weg gefunden werden können. Der psychologisch-genetischen Forschung sind auch die konstitutiven, unentbehrlichen Erkenntnisfaktoren schlechtweg gegebene Größen, deren Notwendigkeit sie mit ihren Mitteln nicht feststellen kann und deren Apriorität ihr um so mehr verborgen bleiben wird, als sie sich nur im Zusammenhang mit der Erfahrung entwickeln.  Kein anderes Verfahren wird zum Ziel führen, als das analytisch-kritische Kants:  auf dem Weg der kritischen Selbstbesinnung sind die Elemente aufzusuchen, an welche sich das Bewußtsein der Nichtwegdenkbarkeit, der strengen Allgemeinheit knüpft. Diese Notwendigkeit beweist aber zugleich die Apriorität: Notwendigkeit im vollen Sinn kann nie aus der Erfahrung entspringen; sie kann nur denjenigen Bestandteilen unserer Erkenntnis zukommen, die in einer ursprünglichen Anlage des Geistes ihren Grund haben. Derselben analytisch-kritischen Methode muß sich aber die Erkenntnistheorie im weiteren Fortgang ihrer Untersuchung, bei der Scheidung der subjektiven und objektiven Vorstellungselemente, bedienen. Auch hier würde das psychologische Verfahren völlig versagen. Der Psychologie sind die objektiven Elemente nicht zugänglich. Die Dinge sind ihr stets nur als Vorstellungen, also in psychischen Funktionen gegeben, und sie hat schlechterdings keine Möglichkeit, über die Sphäre der Vorstellungen hinauszukommen. Nur die kritische Reflexion über den Bewußtseinsinhalt vermag das Denken auf die Punkte hinzuführen, wo es sich durch eine innere Notwendigkeit gezwungen sieht, wenn nicht der Bewußtseinsinhalt selbst völlig unerklärlich und rätselvoll bleiben soll, über das Bewußtsein hinauszugehen und eine bestimmtgeartete Wirklichkeit anzunehmen, die vom Geiste unabhängig ist, aber zu demselben in Wechselbeziehung steht.

Aus alledem geht hervor, daß  zwischen der Kantischen Erkenntniskritik und der Erkenntnistheorie der Gegenwart,  wie sie ist, bzw. sein soll, trotz der Verschiedenheit ihrer letzten Ziele  ein prinzipieller, innerer Zusammenhang besteht,  der allein schon die aktuelle Bedeutung der ersteren erkennen läßt. Aber  auch im einzelnen  hat KANTs Versuch, die a priori objektiv gültigen Vorstellungselemente und Grundsätze festzustellen, nicht wenige  Resultate  ergeben,  welche die heutige Forschung unbedenklich aufnehmen kann. Raum und Zeit  sind in der Tat Vorstellungsformen, die ihrem Keime nach in der psychischen Organisation begründet sind, Anschauungsformen, die sich zugleich von den Formen des verbindenden Denkens spezifisch abheben. Unser Geist ist an ursprüngliche, ihm eingeborene Gesetze gebunden, denen zufolge er das Wirkliche nicht anders, als in Raum und Zeit anszuschauen vermag. Selbst die Frage, ob gerade der  dreidimensionale  ebene Raum, der durch die EUKLIDischen Axiome charakterisiert wird, apriorisch sei, wird wohl zu KANTs Gunsten entschieden werden müssen: mag man andere Raumarten "herausrechnen" - man kann dieselben doch nur mit Hilfe des EUKLIDischen Raumes vorstellig, anschaulich machen. Auch die  Kategorienlehre  KANTs läßt sich in ihrem Grundgedanken festhalten. Man kann gegen die Zurückführung der Verstandesbegriffe auf die Urteilsfunktion, insbesondere gegen die Ableitung der Kategorien aus der Urteilstafel der Schullogik Bedenken haben, man kann versuchen, die Zahl der Kategorien zu reduzieren, man kann auch gegen die transzendente Deduktion (besonders der 1. Auflage der Kritik) im einzelnen manche Einwände erheben. Im Prinzip ist der Beweis, der für die objektive Gültigkeit der Kategorien geführt wird, gelungen, und die wichtigsten unter denselben, diejenigen, durch welche das Mannigfaltige der reinen Erfahrung in  sachlicher  Synthese verbunden wird, die  Begriffe des Seines, der Substanz und der Kausalität,  - um von den übrigen zu schweigen - sind in der Tat a priori. Oder vielmehr: nicht die Begriffe sind a priori, sondern die synthetischen Funktionen, aus denen dieselben abstrahiert sind. Mag auch der  Anlass  zur Anwendung dieser Funktionen stets empirisch gegeben sein müssen: aber ich ein Sein ausspreche, so ist das ein Akt schlechthinniger Anerkennung und Position eines Gegebenen, der nur durch das spontane Denken vollzogen werden kann, ohne den jedoch die Vorstellung eines realen Gegenstandes unmöglich würde. Ähnlich, wenn ich das gegebene Mannigfaltige auf eine Substanz beziehe oder kausal verknüpfe. Es ist zwar wahr: die substantielle Synthese verwickelt das Denken in anscheinend unlösbare Schwierigkeiten - es genügt an den Streit über die Materie, an den Gegensatz zwischen Kontinuitätshypothese und Atomtheorie, und dann wieder an die verschiedenen Fassungen der letzteren, an den Kampf der Korpuskulartheorie und der dynamischen Atomtheorie zu erinnern. Und auch die kausale Synthese stellt im Grunde an das Denken eine "unvollziehbare Forderung". Allein wenn ich eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen zu einer Einheit zusammenfasse und auf eine einheitliche Substanz beziehe, so folge ich nur einem in meinem Denken liegenden unwiderstehlichen Zwang, und ich habe zugleich wieder das Bewußtsein, daß ohne diese Synthese die Vorstellung eines Wirklichen nicht vollzogen werden könnte. Und wenn ich gewisse Vorgänge in kausale Verbindung bringe, so sind auch das notwendige Akte meines Denkes, ohne welche meine Vorstellungen von dem wirklichen Sein und Geschehen den Charakter zusammenhangsloser Fragmente hätten. In der objektiven Notwendigkeit, welche den substantiellen Synthesen und den Kausalgesetzen eigen ist, einer Notwendigkeit, die nicht aus der Wahrnehmung räumlicher oder zeitlicher Beziehungen fließen kann, findet die Apriorität der Begriffe der Substanz und der Kausalität und zugleich die konstitutive Bedeutung derselben für die Erscheinungswirklichkeit ihren treffendsten Ausdruck.  Weniger glücklich ist  KANT nun freilich in dem Teil seiner Untersuchung, der ihm am meisten am Herzen liegt,  in der systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes.  Man kann die "Axiome der Anschauung" und die "Antizipatonen der Wahrnehmung" anerkennen, sofern dieselben in der Tat Bedingungen sind, unter denen äußere Gegenstände allein vorgestellt werden können - mag man auch an den KANTischen Beweise wieder manches auszusetzen finden. Man kann ebenso die "Postulate des empirischen Denkens überhaupt" als synthetische Urteile a priori gelten lassen. Anders aber wird man die Sätze beurteilen müssen, auf die KANT wohl am meisten Gewicht gelegt hat: die  Analogien der Erfahrung.  Der Beweis, den er für dieselben gibt, ist verfehlt: die Behauptung, daß sie die Voraussetzungen seien, unter denen allein ein objektiver Zeitverlauf und objektive Zeitverhältnisse vorgestellt werden können, ist nicht zu halten. Überdies stimmt das Kausalprinzip in dem Sinn, in dem es von KANT überall verwendet wird, mit dem Gesetz der Beharrlichkeit der Substanz nicht zusammen. Das notwendige Korrelat des letzteren ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, durch welches das Naturgeschehen in einen festgeschlossenen Zusammenhang gebracht wird, derart, daß das Hereinwirken von Kräften, die nicht einem bestimmten Quantum mechanischer Kraft äquivalent sind, schlechterdings ausgeschlossen wird. KANT aber ist weit entfernt, dieses Prinzip irgendwie zu antizipieren. Er läßt nicht bloß den mechanischen Kausalzusammenhang durch die Wirkungen der sittlichen Noumena durchbrochen werden - um ein Durchbrechen handelt es sich hier doch -, er ist nicht bloß der Meinung, daß die Organismen von der mechanischen Forschung nie restlos erklärt werden können: er nimmt vielmehr unbefangen in seinen mechanischen Kausalzusammenhang psychische Reihen auf, sofern nu in denselben stets transzendente Ursachen das Geschehen bedingen, und er spricht unbedenklich von einer Wechselwirkung psychischer und physischer Erscheinungen. Allein weder in der Fassung der modernen Naturwissenschaft noch in der KANTischen ist das Kausalprinzip a priori. Ebenso wenig das Gesetz von der Beharrlichkeit der Materie. Beide Sätze sind nicht einmal Hypothesen, die jemals erschöpfend verifiziert werden können. Es sind  methodische Direktiven der Forschung,  deren Geltungswert nicht überschätzt werden darf, so groß auch ihre Bedeutung für die Naturwissenschaft sein mag. Ihr Wert hängt von den Erfolgen ab, welche die Wissenschaft mit ihrer Hilfe erringt. Damit führen sie uns freilich auf einen anderen Boden: sie treten beide den  heuristischen Prinzipien  KANTs zur Seite, die im Dienst des Postulats der Begreiflichkeit der Natur stehen. Insofern ist auch eine gewisse Deduktion ihrer Gültigkeit möglich. Wie KANT richtig bemerkt hat, ist es in der Tat eine Forderung, die das Denken an die Wirklichkeit mit ihrem unendlich reichen konkreten Inhalt richtet und richten muß, wenn anders Wissenschaft möglich sein soll: daß ihre Tatsachen und Vorgänge sich unter möglichst allgemeine Begriffe und Gesetze bringen lassen. Darauf aber gründen zuletzt alle Hypothesen und methodischen Prinzipien ihr Recht.

Über dem Unhaltbaren an den Einzelergebnissen der KANTischen Erkenntniskritik dürfen die bleibenden Elemente derselben nicht vergessen werden. Allein auch an die letzteren knüpft sich ein Gedanke, den die genauere Untersuchung ablehnen muß. Wir kommen zum  prinzipiellen Fehler  der Kritik, einem Fehler, der mit der Grundtendenz derselben zusammenhängt, ohne doch durch dieselbe gefordert zu sein. Bewiesen ist die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen. Aber  aus der Apriorität wird nun sofort die ausschließliche Subjektivität.  Daraus, daß Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit nur aus der psychischen Organisation des Subjekts stammen kann und darf, wird geschlossen, daß die Elemente, denen jene Merkmale zukommen, ihrem ganzen Umfang nach nur subjektive Bedeutung haben, daß sie dem transsubjektiven Gegenstand überhaupt nicht angehören können.  Raum und Zeit sind a priori, darum können sie keine Geltung für das Ding an sich haben.  Diese Annahme wird bestätigt durch die "mathematischen Antinomien", kosmologische Widersprüche, auf welche die Begriffe Raum und Zeit führen, und die unvermeidlich sind, solange diesen Größen absolute Realität zugeschrieben wird, die sich aber lösen, sobald man Raum und Zeit als subjektive Vorstellungsweisen ansieht. Die Frage, ob nicht doch den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen der Erscheinungen gewisse transsubjektive Korrelate entsprechen, wird von KANT stillschweigend verneint. Ähnlich wird den  apriorischen Kategorien sofort jede transsubjektive Bedeutung genommen.  KANT setzt sich in instruktiver Weise mit der Theorie auseinander, welche die Kategorien aus einer subjektiven, dem Geiste eingepflanzten Anlage ableitet, zugleich aber annimmt, daß dieselben zufolge einer ursprünglichen Einrichtung des Schöpfers, mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, übereinstimmen, einer Theorie also, welche Apriorität und absolut objektive Bedeutung der Verstandesbegriffe mittels einer Art von  "Präformationssystem der reinen Vernunft"   zu verbinden sucht. Diese Theorie muß - das ist KANTs Einwand - entweder die objektive Gültigkeit oder die Notwendigkeit der Kategorien preisgeben. Objektivgültige Erkenntniselemente, wie sie hier gefordert werden, d. i. Prädikate der Dinge an sich, ließen sich doch nur auf dem Wege der Erfahrung gewinnen: dann geht jedoch die Notwendigkeit verloren. Wird die letztere festgehalten, gründet sich die Kenntnis der Kategorien auf die subjektive Anlage, so läßt sich nur eine psychologische Notwendigkeit erreichen, mit der keineswegs das Bewußtsein objektiver Gültigkeit verknüpft ist: Apriorität und objektive Gültigkeit können nur dann vereinigt sein, wenn das apriorische Element selbst als solches ein Bestandteil des Objekts ist. Man sieht: KANTs Polemik richtet sich nur gegen den Versuch, notwendige, also apriorische und zugleich objektivgültige Erkenntnisse von Dingen an sich zu gewinnen. Wieder stellt er sich prinzipiell auf den Standpunkt, daß apriorisches, notwendiges Wissen von den Dingen nur dann möglich ist, wenn dieselben Erscheinungen nicht Dinge an sich sind. Allein es ist bemerkenswert, daß er die andere, noch offenstehende Möglichkeit überhaupt nicht beachtet: daß den Kategorien wenigstens tatsächliche Geltung für die Dinge an sich zukomme.  Offenbar will der Philosoph den apriorischen Ursprung der Kategorien,  der ihm unentbehrliche Voraussetzung für die Notwendigkeit des Wissens über dieselben ist,  dadurch sicher stellen, daß er sie den Dingen an sich überhaupt abspricht. Zugleich scheint die objektive Gültigkeit der apriorischen Elemente nur dann jedem Bedenken entrückt zu sein, wenn überhaupt jede Möglichkeit abgeschnitten ist, sie an etwaigen absoluten Realitäten zu messen.  Es ist jedoch klar, daß notwendige Geltung - Anschauungs- und der Denkformen - für die Erscheinungen und tatsächliche Geltung für die absolute Wirklichkeit sich nicht ausschließen, und es wäre höchst seltsam, wenn die objektive Gültigkeit der apriorischen Elemente dann besser gewahrt wäre, wenn auch deren Inhalte für die Dinge an sich schlechterdings keine Bedeutung hätten. Die Bezeichnung "objektive Gültigkeit" läßt sich für die Erscheinungsrealität auch dann festhalten, wenn man der letzteren eine absolute Realität gegenüberstellt. So viel ist sicher: daß die Behauptung der bloßen Subjektivität der Anschauungsformen und der Kategorien bei KANT aus der Absicht notwendiges Wissen über dieselben zu gewinnen, entspringt. Aber ebenso sicher ist, daß dieser Zusammenhang kein notwendiger ist, daß  apriorischer Ursprung des Wissens über gewisse Elemente und ausschließlich subjektive Bedeutung desselben nicht zusammenfallen.  Nichts hindert anzunehmen, daß die reine Wirklichkeit an die apriorischen Organe gewisse Reize heranbringe, durch welche die apriorischen Funktionen in Bewegung gesetzt und zu ihren einzelnen Akten angeregt würden. Dann liegt es aber zugleich nahe, zu vermuten, daß die Reize den Organen homogen seien. Die notwendige und streng allgemeine Erkenntnis der apriorischen Elemente selbst würde sich dabei nach wie vor auf die in der psychischen Organisation liegenden Formen stützen, und auch die objektive Gültigkeit derselben für die Erscheinungen würde dadurch nicht im mindesten berührt. Aber diesen allgemeinen Erwägungen läßt sich sofort eine ganz bestimmte Richtung geben. Es liegen in der Tat im Bewußtsein Tatsachen vor, die über die bloß subjektive Bedeutung der Anschauungsformen und der Kategorien hinausführen - Tatsachen, die KANT nicht hätte übersehen können, wenn seine Absicht auf eine erkenntnistheoretische Untersuchung des gesamten Vorstellungsinhalts gerichtet gewesen wäre, die er aber ignoriert hat, da für das Unternehmen der Kritik, synthetische Urteile a priori abzuleiten, die apriorischen Elemente nur nach ihrem Wesen und Inhalt, nicht nach ihrer faktischen Verwendung in Betracht kamen. Mögen Raum und Zeit, mögen Kategorien a priori sein:  die speziellen Anwendungen,  die bestimmte Abgrenzung gewisser Gestalten und Größen im Raum, gewisser Vorgänge in der Zeit, die bestimmte Lokalisierung einzelner Gegenstände und zeitliche Ansetzung einzelner Ereignisse, die Zusammenfassung bestimmter Komplexe von Empfindungen zu Vorstellungen einheitlicher Dinge bzw. Atome - die wissenschaftliche Beabeitung des Substanzbegriffes mag schließlich zu Atomen als den einzigen Dingen im strengen Sinn führen: das Problem bleibt doch im Grunde dasselbe -, die kausale Verbindung bestimmter Vorgänge: diese besonderen Synthesen alle lassen sich nicht aus den apriorischen Formen selbst deduzieren, sie lassen sich aber ebensowenig aus der Empfindung bzw. Wahrnehmung ableiten. Auf der anderen Seite beruhen sie auch nicht auf willkürlichen Entscheidungen unseres Denkens.  In allen Fällen ist das Denken durch einen Zwang gebunden, der zuletzt in der Sache liegen muß.  Will man diese Tatsachen überhaupt erklären - eine Absicht, die freilich vorausgesetzt werden muß; aber gegen die absolute Skepsis läßt sich überhaupt nicht aufkommen -: so muß man annehmen, daß von dem absolut Wirklichen selbst spezifische Reize ausgehen, welche die apriorishen Organe zu ihren besondern Funktionen veranlassen. Und das weist darauf hin, daß  im Reicht der reinen Wirklichkeit eine Ordnung  herrschen muß,  analog derjenigen, in der der Geist die Welt anschaut und denkt.  Dieselbe wird uns freilich ncht direkt zugänglich sein, so gewiß als wir nie über unseren eigenen Schatten zu springen vermögen. Und die genauere Untersuchung lehrt, daß die intelligible Ordnung nicht als das adäquate Urbild ihrer Erscheinung im Bewußtsein betrachtet werden darf, daß wesentliche Bestandteile der apriorischen Formen keine transsubjektive Bedeutung haben können. Aber daß den letzteren Korrelate in der reinen Wirklichkeit entsprechen, das ist geradezu ein Postulat unserer Erkenntnis, und sie zu ermitteln und wenigstens in symbolischer Weise vorstellig zu machen, ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie. Man braucht, um dieses Zusammenstimmen der apriorischen Denkfunktionen und der transsubjektiven Wirklichkeit verständlich zu machen, noch nicht zu der Hypothese eines letzten Einheitsgrundes für Denken und Sein zu greifen. Eine andere Erklärungsweise liegt näher. Man hat in der Biologie schon die verschiedenen Sinne entwicklungsgeschichtlich aus dem Tastsinn, als dem Ursinn, ableiten wollen und die Differenzierung des einen Ursinns in die spezifischen Sinne aus der Einwirkung der verschiedenen Reizgattungen auf die für Reize empfängliche Haut, also aus der Wechselwirkung der zunächst nicht differenzierten subjektiven Organisation mit dem Wirklichen zu begreifen gesucht. Sollte nicht auch der Geist die Formen des Denkens und Anschauens im Lauf der Entwicklung des psychischen Lebens von seinen rudimentären Anfängen, vom ersten Erwachen der Empfindung im niederst organisierten Tier an in lebendiger Wechselbeziehung zu der Wirklichkeit erzeugt, bzw. erworben haben?

Doch die letzte Erörterung, die eine Korrektur KANTs geben sollte, hat zugleich eine  Ergänzung  der KANTischen Vernunftkritik nach der spezifisch erkenntnistheoretischen Seite gegeben. Wir wissen: selbst wenn KANT die Möglichkeit einer gewissen transsubjektiven Geltung der apriorischen Erkenntniselement offen gelassen hätte, so hätte seine Kritik kein Interesse daran gehabt, dieselbe weiter zu verfolgen. Die Erkenntnistheorie der Gegenwart hat die Pflicht, hier  über Kant hinauszugehen.  Und sie hat nicht bloß die absolut objektive Bedeutung der apriorischen Element zu bestimmen, sondern sie hat ebenso dem  tatsächlichen Inhalt der Vorstellungen von der äußeren Wirklichkeit  ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Ja, von dem letzteren wird sie geradezu ausgehen müssen: in der Empfindung liegt am unmittelbarsten der Hinweis auf eine Wirklichkeit jenseits unseres Bewußtseins; in ihr tritt uns eine fremde Macht, ein Nicht-Ich entgegen, durch welches unser Ich sich beschränkt, bedingt, bestimmt fühlt. Die Verschiedenheit der Empfindungen aber ist für die Erkenntnistheorie ein wesentliches Hilfsmittel, wenn sie den reinen Inhalt der Außenwelt zu ermitteln such. Wie die Vorstellungen der äußeren Wirklichkeit, so sind ferner die  psychischen Erscheinungen  Objekt der erkenntnistheoretischen Untersuchung. Auch die geistige Wirklichkeit ist ja Phänomen - das sittliche Leben nicht ausgenommen: KANTs sittliches Noumenon ist in Wahrheit Erscheinung, so gut wie SCHOPENHAUERs Wille. Es ist freilich ein falsches Bild, wenn man von einem Substrat der Seelenvorgänge spricht, das  hinter  der Erscheinung liege. In den geistigen Erscheinungen tritt dem beobachtenden Denken die volle, schlechthin anzuerkennende Wirklichkeit gegenüber - aber wiederum eingehüllt in die Formen unseres Vorstellens. Auch hier kommt es der Erkenntnistheorie zu, dem Realen iun seinem reinen Wesen auf den Grund zu gehen, zu prüfen, was an dem Inhalt, was an den Formen der psychischen Erscheinungen auf absolut objektive Geltung Anspruch machen kann. Aber ihre Aufgabe ist damit noch nicht erschöpft. Wenn sie die Gegenstände der Natur- und der Geisteswissenschaften auf ihren transsubjektiven Gehalt untersucht hat, so wird sie durch das Streben des Denkens nach einem  Abschluß der Erkenntnis  weitergetrieben. In stetiger Anlehnung an die Ergebnisse, zu denen die erkenntnistheoretische Erforschung der gegebenen geistigen und physischen Realitäten geführt hat, gelangt sie zum  Weltbegriff  und zur  Gottesidee.  Damit schafft sie  der transzendenten Metaphysik  die kritische Grundlage. Diese Metaphysik ist nicht die apriorische Spekulation der KANT das Grab gegraben hat. Die metaphysischen Sätze, um die es sich hier handelt, sind Hypothesen, deren Geltng zuletzt auf den Beziehungen beruht, durch die sie mit der der Erfahrung zugänglichen Wirklichkeit zusammenhängen, Hypothesen, die über den Grad der Wahrscheinlichkeit überhaupt nie hinauskommen, ja nicht einmal von dem Makel der Undenkbarkeit völlig befreit werden können. Aber sie gewähren doch dem metaphysischen Trieb nach einer umfassenden Weltanschauung Befriedigung. Und was ihnen an theoretischem Geltungswert gebricht, das wird ersetzt durch ihren  Gefühlswert. 

Es läßt sich nicht sagen, daß die Weiterbildung der KANTischen Lehre, die damit vollzogen ist, völlig auf der KANTischen Linie liege und eine durchweg genuine Ausführung KANTischer Gedanken gebe. Das hieße den Grundcharakter und die eigentliche Tendenz der Kritik der reinen Vernunft, deren Ziel doch ist, wie sich gezeigt hat, die kritische Sicherung des rationalen Wissens ist, verkennen. Gewiß ist aber das, daß KANTs Kritik nicht bloß den historischen Anstoß zu der erkenntnistheoretischen Forschung der Gegenwart gegeben hat: sie hat das bleibende Fundament der Erkenntnistheorie gelegt und die erkenntnistheoretische Arbei in die richtigen Wege geleitet. Damit hat sie in einer Zeit tiefen Niedergangs die Neubegründung der Philosophie ermöglicht und zugleich eine neue, für beide Teile fruchtbringen Regelung des Verhältnisses von Philosophie und besonderen Wissenschaften eingeleitet. Wenn sie heue die Philosophie ihr natürliches Recht und die ihr gebührende Stellung zu einem guten Teil wieder zurückgewonnen hat, so verdankt sie das nicht zum mindesten ihrer Neubelebung durch den Geist des KANTischen Kritizismus.
LITERATUR - Heinrich Maier in Kantstudien 3, Hans Vaihinger (Hg), Hamburg und Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) Ich kann hier nur kurz darauf hinweisen, daß in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Fragestellung und im Zusammenhang damit auch der Gedankengang eine kleine Änderung erfahren hat. Und zwar unter dem Einfluß des analytischen Untersuchungsgangs der Prolegomena. Um den Leser pädagogisch auf den Standort und Ausgangspunkt: der Kr. d. r. V. hinzuführen, stellt KANT hier die Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori?" allgemeiner und im anderem Sinne. Er sucht überhaupt sämtliche synthetische Erkenntnisse a priori auf. Dazu gehören sowohl die Sätze der Mathematik als denjenigen der reinen Naturwissenschaft und der Metaphysik im engern Sinn (der transzendenten Metaphysik). Nun steht, wie sich voraussetzen läßt, dem Leser die objektive Gültigkeit der beiden ersten Klassen von synthetischen Urteilen a priori fest, während im die (transzendent-) metaphysischen Sätze mit ihrem Gültigkeitsanspruch wenigstens tatsächlich bekannt sind. Daran knüpft KANT an und fragt, worauf die - vorausgesetzte - Gültigkeit der beiden ersten Klassen beruhe, und ob die Urteile der 3. Klasse überhaupt gültig seien. Durch die Beantwortung dieser Fragen ist die Lösung der Aufgabe der "Kritik" vorbereitet, und an sich könnte nun die "Kritik" in der Gestalt der ersten Auflage an dem Punkt einsetzen, auf welchen die Prolegomena geführt haben. Allein die analytische Behandlungsweise hat die 2. Auflage in doppelter Beziehung beeinflußt. In der 1. Auflage sind zwar Raum und Zeit ebenfalls als Quellen synthetischer Erkenntnisse a priori anerkannt. Aber dieselben kommen für die Kritik direkt nur in Betracht, sofern sie den "Axiomen der Anschauung", dem Grundsatze "alle Erscheinungen sind ihrer Anschauung nach extensive Größen" untergeordnet sind. Die kritische Hauptfrage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" richtet sich nur auf die metaphysischen Sätze im ursprünglichen Sinn (Sätze der alten Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theologie). Und die transzendentale Ästhetik bereitet nur die Beantwortung dieser Frage vor. In der 2. Auflage sind in die Hauptfrage auch die Sätze der reinen Mathematik aufgenommen, und die "transzendentale Ästhetik" erhält zugleich die Aufgabe, eine besondere Klasse von synthetischen Urteilen a priori abzuleiten. Ferner aber läßt sich nicht verkennen, daß in der 2. Auflage - im Unterschied von der ersten - an verschiedenen Punkten die objektive Gültigkeit der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundsätze vorausgesetzt erscheint, so daß es sich nur noch darum handelt, diese Gültigkeit zu erklären. Zum Glück beschränkt sich die Wirkung dieser beiden Abweichungen, die dem ursprünglichen Grundgedanken der "Kritik der reinen Vernunft" nicht konform sind, auf die Einleitung und die transzendente Ästhetik. Im weiteren Verlauf lenkt die 2. Auflage in die Bahn der 1. ein. Besonderes Unheil haben jene nur in der transzendentalen Ästhetik, speziell in der Behandlung des Raumbegriffs, angestiftet. In der unglückseligen "transzendentalen Erörterung" des letzteren verquicken sich zwei Aufgaben: auf der einen Seite leitet sie aus der Raumanschauung eine Klasse von synthetischen Urteilen a priori, die geometrischen Sätze, ab; auf der anderen Seite soll sie die objektive Gültigkeit der apriorischen Raumanschauung begründen (ähnlich, wie die transzendentale Deduktion der Kategorien die objektive Gültigkeit dieser apriorischen Verstandesformen nachweist), indem sie dieselbe auf die vorausgesetzte Gültigkeit der Geometrie stützt.