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ERNST von ASTER
Zur "Antinomie
im Problem der Gültigkeit"


"Die Antinomie ist unauflöslich, weil es gleich berechtigt und gleich unvermeidlich ist, das Sein als Setzung des Bewußtseins und daher den Begriff des Seins nur sinnvoll als Inhalt einer gültigen Erkenntnis aufzufassen, wie umgekehrt Erkenntnis als existenten Denkakt anzusehen."


Der Berliner Philosoph PAUL HOFMANN hat seinem großen Werk über "Die antithetische Struktur des Bewußtseins" (Berlin 1914) eine kurze erkenntnistheoretische Skizze folgen lassen. ("Die Antinomie im Problem der Gültigkeit", Berlin 1921), die dieselbe Grundtendenz wie das größere Buch verfolgt, die erkenntnistheoretische Einstellung aber deutlicher hervortreten läßt. HOFMANN macht einen Versuch, von dem man voraussehen konnte, daß er einmal gemacht werden würde: er sucht den Gegensatz von "Logismus" und "Psychologismus" in der modernen Erkenntnistheorie als eine unauflösbare Antinomie, die im Wesen der Erkenntnis gründet und ihren zwei Seiten entspricht, darzustellen. Es ist der Gegensatz zweier prinzipiell gleichberechtigter Weltanschauungsmotive (Objektivismus und Subjektivismus), der sich darin äußert, daß man die eine oder die andere Seite zum Ausgangspunkt wählt, jeder ist an sich berechtigt und möglich, aber von keinem der beiden Standpunkte aus ist es möglich, den anderen zu widerlegen. Durch den Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus wurde die vorkantische Metaphysik zerstört, KANT glaubt in der "Erkenntnistheorie" einen Inbegriff streng und allgemein gültiger, wissenschaftlich beweisbarer Gedanken, wenn auch ohne metaphysische Brauchbarkeit, aus dem Zusammenbruch der Metaphysik retten zu können. Nun tritt derselbe Gegensatz, der die Metaphysik als Wissenschaft zerstörte, in der Erkenntnistheorie wieder zutage. Philosophie ist ohne "Weltanschauung" nicht möglich, in Dingen der Weltanschauung aber gibt es von Anfang an verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen nicht mehr wissenschaftlich entschieden werden kann, zwischen denen man "wählen" muß. Zur Philosophie in diesem Sinne gehört nicht nur Metaphysik, sondern auch Erkenntnistheorie, deren letzte Gegensätze daher nicht entschieden, sondern nur  verstanden  werden können. Nicht rein historisch verstanden, als Produkte geschichtlicher Bedingungen, sondern durch Herausarbeitung der hier letztmöglichen  Typen  und ihrer gedanklichen und außergedanklichen Motive. Es ist der Geist WILHELM DILTHEYs, der in dieser Auffassung der Philosophie und ihrer Geschichte erkennbar wird.

Der "Logismus", wie ihn HOFMANN faßt, setzt das Bestehen einer (schaubaren oder denkbaren) absoluten  Wahrheit  jenseits von Raum, Zeit und Individuum voraus; alles  "Sein"  ist für ihn abhängig von dieser Idee der Wahrheit, ihrem Bestehen, ihrer Gültigkeit, denn "sein" bedeutet: in einem gültigen Existentialurteil gesetzt sein. Der "Psychologismus" erklärt umgekehrt die Wahrheit als eine Beziehung zwischen Seiendem, als Übereinstimmung von Denkinhalten und realen Dingen, oder, im Phänomenalismus, von Bewußtseinsinhalten miteinander (Erwartungen und Wahrnehmungen) und behauptet daher, daß es nur eine relative, von wechselndem Seiendem abhängige Wahrheit gebe: die Antinomie ist unauflöslich, weil es gleich berechtigt und gleich unvermeidlich ist, das Sein als Setzung des Bewußtseins und daher den Begriff des Seins nur sinnvoll als Inhalt einer gültigen Erkenntnis aufzufassen, wie umgekehrt Erkenntnis als existenten Denkakt anzusehen.

Es sei mir nun im Folgenden gestattet, diesen Ausführungen HOFMANNs einige kurze kritische Bemerkungen hinzuzufügen. Es geschieht das zugleich in Verteidigung des eigenen Standpunktes, da HOFMANN mich gelegentlich als Vertreter des "Psychologismus" phänomenalistischer Richtung nennt. (Ob diese  Bezeichnung  für mich und für HANS CORNELIUS, als dessen Schüler ich mich fühle, in jeder Hinsicht zutrifft, ist eine Frage von untergeordneter Bedeutung).

HOFMANN gebraucht in bezeichnender Weise die beiden Begriffe  "Bewußtsein"  und  "Erkenntnis"  als gleichbedeutend; so können wir seiner Meinung nach wie bei der Erkenntnis so beim Bewußtsein nicht nur in Worten, sondern in der Sache zwischen der Erkenntnis und dem  was  erkannt wurde, scheiden. Hier hätte ich zunächst Einspruch zu erheben. Der Begriff des Bewußtseins oder des unmittelbar Gegebenen ist meiner Meinung nach ein Begriff, der über den Gegensatz des Seins und der Erkenntnis hinausliegt und in Bezug auf den wir jene Scheidung nur in nachträglicher Übertragung und Analogisierung vornehmen können. Anders gesagt: das unmittelbare erleben oder Gegebensein ist kein  Existentialurteil.  In jedem Existentialurteil wird ein bestimmtes "Was", das also dem Existentialurteil oder dessen Was-Erkenntnis der Erkenntnis seiner Existenz logisch vorhergeht, für existierend gesetzt. Im unmittelbaren Erleben oder Gegebensein aber wird eben nicht etwa ein vorgegebenes "Was" (ein rot, ein hart, ein Lustgefühl nicht einmal ein "dies") als existierend erkannt. Ebensowenig wird im unmittelbaren Erleben ein vorgegebenes "was" als ein bestimmtes "was", als ein "solches" erkannt: sondern jedes "was" (einschließlich des bloßen "dies") ensteht erst im unmittelbaren Gegebensein. (Mit FICHTE könnte man sagen, das Bewußtsein sei eine Tathandlung, keine Tatsache). Halte ich dann dieses inhaltlich bestimmte Etwas als einen solchen Inhalt fest, dann kann ich, diesen gewonnenen Denkinhalt rückbeziehend auf das Gegebene, das Bewußtseinserlebnis, in dem er entstand und es mit demselben  identifizierend  das Urteil fällen: das Erlebte sei "dies" oder ein solches (in weitergehender logisch vorausgesetzter Vergleichung, es sei ein "rot" etc.) und ebenso umgekehrt: "dies" oder "rot" sei gegeben,  existiere  als gegeben. Genauer freilich muß eben dieses Urteil schon anders lauten; nämlich: dieser Inhalt ist  jetzt  und er ist  mir  gegeben oder er existiert jetzt und in meinem Bewußtsein. Denn indem ich das "Was" vom Erlebnis unterscheide, kann ich jetzt bereits diesen Inhalt auch als nicht existierend, nämlich zu einer anderen Zeit oder in einem anderen Bewußtsein nicht existierend vorstellen. Das "Sein", das durch jene das Existentialurteil ermöglichende Scheidung im Bewußtsein entsteht, entsteht sofort als ein Sein verschiedener Sphären oder Seinsweisen, als gegenwärtiges, vergangenes, zukünftiges, als Sein meines und eines fremden Bewußtseins; denn mit der Scheidung des Erlebnisses und seines "was" sind sofort jene weiteren Möglichkeiten, das was als existierend zu beurteilen ist, gesetzt. Ohne diese Scheidung in Erlebnis und Inhalt des Erlebnisses in jene zwei Bestandteile, die als identisch gesetzt werden, kann nicht sinnvollerweise von einem Urteil, speziell auch nicht von einem Existentialurteil gesprochen werden. Zugleich ist es auch hier erst möglich sinnvollerweise die Frage nach der "Wahrheit" zu stellen (die sich jedoch in diesem Fall unmittelbar und evident bejahend beantwortet, das Erlebnis und das "Was" des Erlebnisses werden selbst als identisch erlebt): nicht das unmittelbar Gegebene ist "wahr" - das gäbe keinen Sinn - sondern daß es diesen Inhalt hat, ein "dies" oder daß "dies" gegeben ist, ist wahr. Aber mußte nicht der Bewußtseinsinhalt selbst  dasein  und so-sein, ehe sein "was" und das Erlebtsein dieses "Was" geschieden werden konnte? Diese Frage ist zweideutig: der Urteilende  identifiziert  das "Was" mit dem Erlebnis, behauptet also schlechthin, daß es eben dieses "was" ist, das erlebt wurde und das Erlebnis ein  solches  Erlebnis. Darum wird doch das Urteil erst sinnvoll von jener Scheidung aus und für den, der sie vollzieht, genau so, wie jene  Frage  erst hier sinnvoll wird. Noch genauer muß ich von jener vollzogenen Scheidung aus gesprochen sagen: der Bewußtseinsinhalt mußte als mein und mein jetziges Erlebnis "dasein". Gleichwohl setzt nicht das unmittelbar Gegebene als solches Zeit und fremdes Bewußtsein etwa voraus, sondern die Zeit und das fremde Bewußtsein entstehen erst für das Wissen dessen, der jene Unterscheidungen vollzieht (Zukunft ist die in der Weise der Erwartung, Vergangenheit die in der Weise der Erinnerung vorgestellte Wasgegebenheit). Nehme ich meinen Standpunkt vor allen jenen Unterscheidungen, so ist das Bewußtsein, das unmittelbar Gegebene weder seiend, noch nicht seiend, weder jetzt noch zu einer anderen Zeit, wie ein ganz allein für sich gesetzter Punkt im Raum weder ruht noch sich bewegt.

Das Bewußtsein, von dem der "Psychologist" ausgehen muß, erinnert so an das "Bewußtsein überhaupt" der WINDELBAND-RICKERT-Schule, von dem es sich aber dadurch unterscheidet, daß es positiv beurteil, d. h. vom Standpunkt der Trennung von Erlebnis und "Was" des Erlebnisses aus gesehen sofort zum individuellen jetzigen Bewußtsein wird, so wie das reine "Sein" HEGELs beurteilt sofort zum "Werden" wird. Es erinnert aber auch an die "Wahrheit", die der Logismus nach HOFMANN als Letztes voraussetzen muß, denn damit das Wort "Wahrheit" nicht eine leere Worthülse ist oder bleibt, muß auch der Logist das, was er mit jenem Wort meint, irgendwie selbst erfassen, also sich (phänomenologisch) zur "Selbstgegebenheit" bringen. Damit wird die Wahrheit ein unmittelbar Gegebenes.

Auch vom logistischen Standpunkt aus lassen sich gegen HOFMANN eine Reihe von Einwänden erheben. Auf sie näher einzugehen ist indessen nicht meine Aufgabe.
LITERATUR - Ernst von Aster, Zur "Antinomie im Problem der Gültigkeit", Kant-Studien Bd. 27, Berlin 1922