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ALBERT GOEDECKEMEYER
Die Geschichte des
Griechischen Skeptizismus

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"Sache des Weisen ist es in erster Linie, Irrtum und Täuschung zu vermeiden und sich vor allen Dingen vor dem schlimmsten Übel zu hüten, nämlich einem Unerkannten seine Zustimmung zu geben. Der akademische Weise soll nichts endgültig bejahen oder verneinen, sondern überall mit seiner Entscheidung noch zurückhalten, und diese Zurückhaltung geradezu für seine wichtigste Obliegenheit erklären."


2. Der absolute-eulogistische Skeptizismus
a. Arkesilaus 316/5 - 241/0

ARKESILAUS wurde als Sohn eines gewissen in den besten Verhältnissen lebenden SKYTHUS oder SEUTHUS im Jahr 316/5 zu Pitane in Aeolien geboren. Früh des Vaters beraubt, wurde er vom ältesten männlichen Familienangehörigen, seinem Halbbruder MOEREAS, bevormundet und sollte auf dessen Wunsch den Beruf eines Rhetors ergreifen. Aber seine schon von Jugend auf große Neigung zur Philosophie widersetzte sich einem solchen Plan und veranlaßte ihn, nachdem er von dem Astronomen AUTOLYKUS bereits zuhause und in Sardes einen kurzen Unterricht in der Mathematik genossen hatte, seinen zweitältesten ihm besonders nahestehenden Bruder PYLADES zu bestimmen, ihn heimlich nach Chios und von dort nach Athen zu bringen, um ihm auf diese Weise bei der Erreichung seines Zieles behilflich zu sein.

Hier in Athen hörte er nun zunächst den Musiker XANTHOS, sodann, wohl auf dessen Veranlassung, das derzeitige Haupt der peripatetischen Schule, THEOPHRAST, von dem er wegen seiner natürlichen Begabung, mit der sich eine große auch des scharfen Spottes nicht entbehrende rhetorische, ja selbst poetische Fertigkeit verbunden hat, sehr geschätzt wurde. Ein zufälliges Zusammentreffen mit KRANTOR bewog ihn jedoch, THEOPHRAST zu dessen nicht geringem Ärger zu verlassen und in die Akademie einzutreten. Als "Liebling" KRANTORs wurde er dann in die zwischen POLEMO, KRATES und KRANTOR bestehende Tafelgemeinschaft aufgenommen, und lernte auf diese Weise nicht nur die bedeutendsten Akademiker seiner Zeit, ganz abgesehen davon, daß er ihre Vorträge besuchte, auch persönlich kennen und im höchsten Grad schätzen, sondern wurde auch mit der ganzen Haltung der damaligen akademischen Philosophie, sowie ihres Stifters PLATO, dessen Werke er überdies auch besessen hat, auf das Eingehendste vertraut.

Aber seine reich veranlagte, leicht bewegliche und auch zum wissenschaftlichen Streit geneigte Natur erlaubte ihm nicht, ganz im Studium der akademischen und der auch in diesem Kreis bekannten und erörterten älteren Philosophien aufzugehen, sondern trieb ihn an, sich auch anderswo umzusehen und sich immer weiter auszubilden. So kam es, daß er zur Förderung seiner mathematischen Kenntnisse bei einem gewissen HIPPONIKUS in die Schule ging, dem er später während einer Krankheit sogar in seinem Haus sorgfältige Pflege zuteil werden ließ, daß er sich ferner zur Ausbildung und Vollendung seiner dialektischen und rhetorischen Anlagen eifrig mit der spitzfindigen und von DIODORUS KRONUS auf eine ungewöhnliche Höhe gebrachten megarischen und eretrischen Dialektik befaßte, ohne freilich die damit verbundene Klopffechterei [unfruchtbare Spitzfindigkeit - wp] zu billigen; so kam es aber auch, daß er zuletzt und zwar, wie es scheint, durch den Kyrenaiker THEODORUS und dessen Anhänger mit der pyrrhonischen Skepsis bekannt wurde.

Und in ihr fand er nun die ihm adäquate Welt- und Lebensanschauung. Jedoch hatte er keineswegs die Absicht - und es ist möglich, daß die Scheu vor KRANTOR dabei die Hauptrolle gespielt hat - zum Pyrrhonismus überzugehen, vielmehr hielt er durchaus an seiner Zugehörigkeit zur Akademie fest, ja wollte überhaupt nichts anderes sein, als ein echter Akademiker. Da er aber wohl eingesehen hat, daß man ihm diese Behauptung nur dann zugeben würde, wenn es ihm gelingt, zu zeigen, daß die skeptische Philosophie der akademischen Lehre gar nicht so feindlich gegenübersteht, als es im Anfang scheinen mochte, so suchte er durch die Anführung angemessener Zitate zu zeigen, daß die Grundthesen der Skepsis nicht nur beim Gründer der Akademie, sondern auch bei den von ihren Angehörigen stets am Höchsten geschätzten nichtakademischen Philosophen, bei einem SOKRATES, PARMENIDES und HERAKLIT zu finden sind. Trotzdem konnte es ihm aber bei seinen Nachforschungen nicht entgehen, daß im Grunde weniger der platonische, als vielmehr der sokratische Standpunkt die größere Verwandtschaft mit der skeptischen Philosophie aufweist, und so nahm er keinen Anstand, sich ausdrücklich von PLATO zurückzuziehen und über ihn hinausgehend seinen Standpunkt in erster Linie an SOKRATES anzuknüpfen. Und dieser Umstand ist für die Ausgestaltung seiner Philosophie oder besser gesagt, da auch er, zumindest für eine größere Öffentlichkeit, seinen Standpunkt nicht schriftlich fixiert hat, für die Art seines Philosophierens nicht ohne tiefgehende Bedeutung gewesen.

Zunächst freilich sehen wir ihn - und trotz seines entscheidenden Festhaltens am Namen eines Akademikers schwerlich ihm selbst unbewußt - ganz in den Spuren der pyrrhonischen Skepsis wandeln. Wie diese behauptet er, daß alles seinem Wesen nach in ein tiefes Dunkel gehüllt ist, daß es, wie er sich auch ausgedrückt zu haben scheint, ebenso ungewiß ist wie die Beantwortung der Frage, ob die Zahl der Sterne gerade oder ungerade ist, und daß aher die Wahrheit, deren objektives Vorhandensein er nicht in Anspruch genommen hat, wohl von der Gottheit, jedenfalls aber nicht von Menschen erkannt werden kann; und wie sie beruft er sich zur Stütze dieses skeptischen Grundsatzes auf die Erwägung, daß von unserer Erkenntniskräften weder den Sinnen noch dem Verstand Glauben geschenkt werden darf.

In der Begründung dieser These geht er aber seinen eigenen Weg und zwar einzig und allein aus dem Grund, weil er seine Hauptgegner in den Stoikern gesehen hat. Deshalb berief er sich zunächst hinsichtlich der Ablehnung der sinnlichen Erkenntnis in einer merkwürdigen Verkennung der Betonung dieses Argumentes nicht mehr wie TIMON und seine Anhänger auf die Subjektivität der Empfindungen, die schon die Aussage darüber ausschließt, ob überhaupt irgendeine Empfindung wahr ist, sondern erkennt zunächst einmal mit den Stoikern die Existenz wahrer und falscher Vorstellungen an, um sodann seine These lediglich damit zu begründen, daß er die Unmöglichkeit, die wahren von den falschen zu unterscheiden, betont. Und darum nimmt seine ganze Argumentation sofort die Form einer Widerlegung der entgegenstehenden Auffassung der Stoa an, die, trotzdem sie die Unzuverlässigkeit der Sinne im Allgemeinen nicht übersehen hat, doch in der Katalepsis [Einsicht - wp] als der Zustimmung zu einer kataleptischen Vorstellung ein Kriterium der Wahrheit zu besitzen glaubte. Die Falschheit dieser Ansicht suchte er aber auf einem doppelten Weg zu zeigen. Einmal durch Reflexion auf die Stellung, welche die Stoiker der Katalepsis im Vergleich zum Wissen und zum Meinen angewiesen haben. Wurde sie nämlich von ihnen zwischen das Wissen als das sichere und durch Gründe nicht zu erschütternde Begreifen und die Meinung als die ungewisse und auch wohl irrige Zustimmung zu einer Behauptung gestellt, wurde ferner das Wissen dem Weisen und das Meinen dem Toren, die Katalepsis aber beiden zugesprochen, so ergab sich schon daraus ihre Unhaltbarkeit. Denn zwischen Wissen und Meinen gibt es kein Drittes; vielmehr ist die Katalepsis, wenn sie in einem Weisen stattfindet, ein Wissen, wenn in einem Toren, ein Meinen, anders aufgefaßt aber nichts als ein leerer Name.

An zweiter Stelle aber berief er sich auf ihre Definition. Denn bestimmt man die Katalepsis als die Zustimmung zu einer kataleptischen Vorstellung, so kann sie schon deshalb nicht existieren, weil man nur einem Urteil, niemals aber einer Vorstellung zustimmen kann; weiterhin aber auch aus dem Grunde nicht, weil sich eine solche kataleptische Vorstellung gar nicht aufzeigen läßt, dda es keine von einem Wahren, d. h. von einem Existierenden ausgehende Vorstellung gibt, der sich nicht eine von einem Falschen, d. h. von einem Nichtexistierenden ausgehende zur Seite stellen läßt, die ihr ununterscheidbar ähnlich wäre.

Und das durch viele mannigfaltige Argumente sicherzustellen, gab er sich die größte Mühe, indem er sich auf die widerstreitenden Ansichten der Dogmatiker berufen hat, ferner auf die Sinnestäuschungen, die Träume und die Einbildungen der Wahnsinnigen, die Leichtigkeit, mit der sich äußerst ähnliche Objekte, wie z. B. Zwillinge, miteinander verwechseln lassen, und endlich auch den SORITES zu Hilfe genommen hat in der Weise, daß er auf die außerordentliche Schwierigkeit hingewiesen hat, die schwächste kataleptische und die stärkste akataleptische Vorstellung voneinander zu unterscheiden. Im Anschluß an diese Kritik der Sinne muß er sich dann aber auch über die Gewohnheit, d. h. die aus den Wahrnehmungen auf natürlichem Weg entstehenden allgemeinen Vorstellungen und den Verstand ausgesprochen haben, ohne daß wir jedoch näher darüber unterrichtet wären.

Aber schon die auf diese Weise begründete fundamentale These der Skepsis, deren Bestehen er etwaigen Vorwürfen gegenüber der Natur schuld gegeben hat, die, wie schon DEMOKRIT gesagt hat, die Wahrheit in der tiefsten Tiefe verbirgt -, schon diese These weiß er nun mit der Stellungnahme seiner eigenen Schule in Verbindung zu bringen, indem er sie durch eine Betonung gerade der negativen und bloß vorbereitenden Seite des sokratischen Philosophierens und eben deshalb mit Unrecht, als sokratisch hinstellt und sich von SOKRATES nur dadurch zu unterscheiden erklärt, da er über ihn hinausgehend auch der Behauptung, daß sich nichts wissen läßt, selbst den Charakter des Wissens abspricht.

Aber mit dieser Erklärung ging der scharfsinnige, nicht umsonst in der megarischen Dialektik geübte Mann über die immer noch halb-dogmatische Stellung der Pyrrhonaer hinaus und zog aus den von diesen gegebenen Prämissen die letzten Konsequenzen. Denn nun galt die Skepsis nicht mehr bloß der objektiven Erkenntnis, der Erkenntnis des wahrhaft Seienden auf naturphilosophischem und ethischem Gebiet, sondern schloß sich selbst mit ein, und gelangte damit zu der schärfsten Form, die für sie überhaupt denkbar ist: zum Zweifel an allem, zum absoluten Zweifel.

Aber diese Neuerung, die erkenntnistheoretisch betrachtet allein wahrhaft berechtigt ist, hatte nicht nur diesen Vorzug vor dem Standpunkt der pyrrhonischen Schule, sondern war auch systematisch von nicht geringem Wert, weil sie allein, wenn auch auf eigenem erkenntnistheoretischen Boden, dem Skeptizismus den Weg zu einer nicht bloß verneinenden, sondern auch positiven, lebendigen Welt- und Lebensanschauung wieder eröffnet hat, die ihm der pyrrhonische Standpunkt ganz und gar verschlossen hatte. Und wenn daher ARKESILAUS in Anerkennung des seit dem Auftreten des Problems des Weisen in den kleineren sokratischen Schulen allmählich zu allgemeiner Geltung gelangten Gedankens, daß es in erster Linie Sache des Weisen ist, Irrtum und Täuschung zu vermeiden und sich vor allen Dingen vor dem schlimmsten Übel zu hüten, nämlich einem Unerkannten seine Zustimmung zu geben, d. h. zu meinen, auch vom akademischen Weisen, ja von jedem Weisen überhaupt verlangte, nichts endgültig zu bejahen oder zu verneinen, sondern überall mit seiner Entscheidung noch zurückzuhalten, und diese Zurückhaltung geradezu für seine wichtigste Obliegenheit erklärte, so lehnte er deshalb doch nicht mit den Pyrrhonäern jedes weitere Forschen und jede Beschäftigung mit dem wahrhaft Seienden ab, sondern ergänzte sein Verlangen durch die erst auf seinem Standpunkt mögliche und für die Skepsis durchaus neue Forderung, trotz allem die Wahrheit, die er als ein Schüler der Akademie auf das Höchste zu lieben gelernt hat, immer noch weiter zu suchen.

Der Einsicht von der Zweckmäßigkeit der Zurückhaltung suchte nun ARKESILAUS überall, wo sich Gelegenheit bot, auch unter der großen Menge, Verbreitung zu verschaffen. Und dieser Absicht glaubte er, darin ganz an SOKRATES anknüpfend, am Besten durch die Erneuerung der von PLATO überlieferten sokratischen Methode genügen zu können. Und so setzte er dann an die Stelle der fortlaufenden Rede wieder jenes dialogische Verfahren, in dem der Gesprächsleiter nicht selbst seine Ansicht äußert, sondern den Mitunterredner veranlaßt, seine Meinung darzulegen, um sodann zu ihr Stellung zu nehmen. Indessen gab ARKESILAUS diesem Vorgehen sowohl im Einklang mit seinem skeptischen Standpunkt, als auch mit seiner großen Neigung zu scharfen dialektischen Erörterungen von vornherein dadurch einen streitsüchtigen Charakter, daß er der ausgesprochenen Meinung gegenüber stets eine ablehnende Stellung eingenommen hat, also nicht nur diese oder jene, sondern jede These bekämpft hat, und dabei, wie es scheint, selbst vor der rücksichtslosesten, wenn auch stets ernsthaften Benutzung der Dialektik nicht zurückschreckte. Aber all das tat er nicht mit der Absicht, die einzelne These als falsch hinzustellen, sondern wie auch die durch manche einschränkende Wendungen wie das für ihn geradezu charakteristische "meine Ich" abgeschwächte Form seiner Einwände erkennen läßt, nur, um ihre Gewißheit zu beanstanden, dadurch ihre Anhänger in ihrer Entscheidung wankend zu machen und sie so nach und nach auf den skeptischen Standpunkt hinüberzuziehen. Und darum bediente er sich bei diesen Angriffen mit besonderer Vorliebe der schon von PYRRHO benutzten Methode, die Gründe für und gegen eine These aufzustellen, um durch den Nachweis ihrer Gleichwertigkeit seine Hörer umso sicherer zur Einsicht von der Notwendigkeit der Zurückhaltung zu führen.

Seinen Hauptangriffspunkt bildeten dabei aber die Dogmen der gleichzeitigen Stoiker, auch ganz abgesehen von der schon erwähnten Zurückweisung ihrer erkenntnistheoretischen Prinzipien. Und zwar wandte er sich nicht nur gegen ihre naturphilosophischen Lehren wie gegen das Dogma von der vollkommenen gegenseitigen Durchdringung der Körper, das er durch die Bemerkung abzutun suchte, daß sich daraus die absurde Konsequenz ergeben würde, daß über ein einziges abgehauenes und verfaultes Bein, das ins Meer geworfen wird und sich darin verbreitet hat, die ganze Flotte des ANTIGONUS hinwegsegeln können muß, sondern griff auch ihren Dogmatismus in der Ethik an, indem er behauptete, daß nicht nur Reichtum und Armut, Schmerz und Tod nicht für wirkliche Güter oder Übel gehalten werden dürften, sondern daß es überhaupt nichts ansich Schönes oder Häßliches, Gutes oder Übles gibt, von dem er weiß, und daß auch das stoische "Geziemende", die Mittelstufe zwischen den auf das Gute gehenden Tugenden und den Lastern, nicht den Anspruch auf den Charakter eines von Natur Seienden erheben kann, all dies vielmehr lediglich durchaus willkürliche Annahmen und pure Satzungen sind. Ja, von hier aus scheint ihn sein Gegensatz zu den Stoikern sogar so weit geführt zu haben, daß er kaum ohne Spott erklärte, daß, wenn schon einmal von einem höchsten Gut und Übel und überhaupt von Gütern und Übeln geredet werden soll, es jedenfalls richtiger ist, das höchste Gut in der Epoche, das höchste Übel in der Zustimmung und die einzelnen Güter und Übel in den einzelnen Zurückhaltungen und Zustimmungen zu suchen, als in jenen Faktoren, von denen die Stoiker so viel Wesens machten.

Nun war aber auch für ARKESILAUS das letzte Ziel des Lebens die Glückseligkeit. Und so ergab sich für ihn ebenso wie für die Pyrrhonäer und zur Abwehr der dogmatischen, insbesondere der stoischen Einwände, die Aufgabe, nachzuweisen, daß dieses Ziel auch auf skeptischem Boden erreicht werden kann. Da er aber in Übereinstimmung mit seinem ganzen Standpunkt der Überzeugung war, daß des Menschen Glückseligkeit wesentlich von seiner Tätigkeit im praktischen Leben abhängig ist, so suchte er gründlicher als seine skeptischen Vorgänger, die sich lediglich auf die Angabe eines Kriteriums für das ansich noch nicht als Problem empfundene Handeln beschränkt hatten, zunächst einmal festzustellen, ob der skeptische Standpunkt ein Tätigsein im praktischen Leben überhaupt zuläßt, oder aber, wie die stoischen Gegner behaupten, durch seine theoretische Zurückhaltung gegenüber dem wahrhaft Seienden auch jede praktische Tätigkeit vernichtet, weil es unmöglich ist, zu handeln, ohne zu wissen, d. h. ohne eine auf einer Zustimmung zum Erscheinenden beruhende theoretische Einsicht in dessen wahres Wesen zu besitzen. Und diese Überlegung führte ihn nun zu der Behauptung, daß dem Tätigsein nicht, wie die Stoiker meinen, unbedingt ein Wissen vorhergehen muß, sondern, daß die Vorstellung eines uns erstrebenswert Erscheinenden schon ansich, also ohne irgendeine hinzutretende dogmatische Entscheidung genügt, um - rein natürlich - zunächst unser Begehren zu erwecken, und weiterhin die äußere Handlung hervorzubringen.

Das Kriterium aber für das auf diese Weise auch auf skeptischem Boden als möglich nachgewiesene Handeln wollte er nun nicht mit TIMON in der Gewohnheit sehen - denn das mußte dem sokratischen Akademiker als ein Rückfall in das unphilosophische Bewußtsein erscheinen - sondern fand es in der Wohlbegründetheit. Denn nur die Einsicht, oder gleich richtiger und seinem skeptischen Standpunkt entsprechend, nur die praktische Klugheit, vermag uns nach seiner Überzeugung zur Glückseligkeit zu führen. Und darum werden wir dieses Ziel nur dann erreichen,, wenn wir lediglich die Handlungen ausführen, zu denen sie uns rät. Das aber sind diejenigen, welche sich ohne weitere wissenschaftliche Überlegungen rein natürlich aus den gegebenen Bedürfnissen und Neigungen der jeweiligen Natur des Einzelnen ergeben und, weil sie darauf beruhen, wohl begründet sind - Handlungen, die er wohl nicht ganz ohne Spott mit dem stoischen Terminus der absoluten Pflicht belegte.

Diese Lehre war nun für den ganz in seinem Studium aufgehenden Philosophen, der weder durch Familiensorgen in Anspruch genommen wurde, noch auch, wie schon sein Widerstand gegen die Absichten seines Bruders MOEREAS erkennen läßt, für eine politische Tätigkeit Interesse zeigte, nicht nur der Gegenstand seiner Erörterungen in der Akademie, sondern wird auch oft genug das Gesprächsthema der prunkvollen Gastmähler gebildet haben, an denen er, reichbegütert und zum Wohlleben ebenso geneigt, wie zum Wohltun, mit seinen Freunden und Bekannten, unter denen sich auch der Peripatetiker [Schule des Aristoteles - wp] HIERONYMUS, der Stoiker KLEANTHES und der Epikuräer CHARMENIDES befanden, bis in sein höchstes Alter teilzunehmen liebte. Ja selbst in die breite Öffentlichkeit trat er, ein neuer SOKRATES, zum nicht geringen Anstoß seiner philosophischen Bekannten mit seinen Ansichten hinaus. Und da ihn nun eine obendrein von körperlichen Vorzügen unterstützte geradezu glänzende Beredtsamkeit auszeichnete, die ihn nicht nur befähigte, das Gespräch bei allen Abschweifungen und Seitensprüngen stets zum Grund gelegten Thema zurückzuführen, sondern ihm auch alle zum Überreden geeigneten Mittel der Rhetorik zur Verfügung stellte und ihn auf diese Weise fast unwiderstehlich machte, so konnte es nicht ausbleiben, daß er bald genug zu den angesehensten und beliebtesten Philosophen seiner Zeit gehörte, dessen Ruhm selbst einen so populären Mann wie EPIKUR nicht ohne Neid gelassen hat. Aber niemals hat ihn dieser Ruhm seiner ursprüngichen Überzeugung von der Mangelhaftigkeit aller menschlichen Gedanken, auch seiner eigenen, untreu werden lassen. Noch als angesehener Lehrer gab er seinen Schülern den so ganz der skeptischen Abgeklärtheit entsprechenden Rat, nicht nur bei ihm in die Schule zu gehen, sondern auch die Vorträge anderer Philosophen zu hören.

Seine Berühmtheit hatte nun auch die Folge, daß er nach dem Tod des KRATES, der übrigens nur sehr kurze Zeit an der Spitze der Akademie gestanden haben kann, und nach dem freiwilligen Zurücktreten eines gewissen SOKRATIDES zum Scholarchen seiner Schule gewählt wurde. Damit hielt dann aber auch die von ihm vertretene Richtung ihren Einzug in die Akademie, weshalb die späteren Historiker der Philosophie die arkesilaische Akademie von der alten als die mittlere unterscheiden, und führte sie einer neuen Blüte entgegen, so daß sie bald wohl die erste Stelle im Kreis der Philosophenschulen zu Athen eingenommen hat. Zahlreiche Schüler aus Griechenland selbst und den benachbarten Ländern traten in sie ein. Und wurden sie auch nicht selten durch den freimütigen Tadel ihres Hauptes unangenehm berührt, so ließen sie sich doch durch seine überzeugende Rede und seine Herzensgüte gern von Neuem fesseln, ja waren sogar sehr von ihm eingenommen, daß sie ihn selbst in den Äußerlichkeiten seiner Rede nachzuahmen suchten. Mit Namen sind uns von ihnen freilich nur die wenigsten bekannt. So APELLES, ARIDIKES aus Rhodus, dessen sich seine Mitbürger einmal als Gesandten an die Byzantiner bedienten, DOROTHEUS aus Telphusa in Arkadien, PANARETUS, die Megalopolitaner EPIDAMUS, APOLLONIUS und DEMOSTHENES; EKEDEMUS und MEGALOPHANES, von denen die beiden letzteren im Jahre 251 zusammen mit dem jungen PHILOPOEMEN SIKYON von der Tyrannis befreiten, die Kolophonier DIONYSIUS und ZOPYRUS, welche dem Kyniker MENIPPUS seine Schriften untergeschoben haben sollten, ein gewisser Metapontiner TELEKLES, der früher bereits POLEMO gehört hatte, ferner PYTHODORUS, der des ARKESILAUS Gespräche schriftlich wiedergegeben hat und endlich als der bedeutendste von ihnen der Kyrenäer LAKYDES.

Indessen scheint die Mehrzahl dieser Männer weniger durch die Philosophie des ARKASILAUS angezogen sein, als vielmehr durch seine Berühmtheit und seine von gleichzeitigen und späteren Zeugen immer wieder gepriesene unvergleichliche Beredtsamkeit, und so konnte es kommen, daß es in der mittleren Akademie, von einzelnen Abtrünnigen ganz abgesehen, neben entschiedenen Skeptikern sowohl solche gegeben hat, welche eher den Lehren der alten Akademie zuneigten, als auch solche, die zwischen den beiden für die arkesilaische Richtung maßgebenden Faktorn unentschieden hin- und herschwankten, ja daß die entschiedenen Skeptiker sogar in der Minderzahl waren und dieser Unsicherheit und vielfachen Schwankungen in der Akademie scheint ARKESILAUS selbst nicht mehr Herr geworden zu sein. Das gelang erst seinem Schüler LAKYDES, der im Jahr 241/0 in der Leitung der Schule folgte.

b. Lakydes †216/5 oder 206/5

LAKYDES wurde zu einem uns nicht bekannten Zeitpunkt in Kyrene als Sohn eines gewissen ALEXANDER geboren. Aus sehr dürftigen Verhältnissen stammend zeichnete er sich von Anfang an durch Arbeitsamkeit und Liebenswürdigkeit im Umgang aus. Im Laufe der Zeit muß es ihm jedoch gelungen sein, ein gewisses Vermögen zu erwerben, das ihm die Möglichkeit gewährte, sich in Athen dem Studium der Philosophie zu widmen.

Hier besuchte er die Schule des ARKESILAUS und war einer von den wenigen, die sich ganz der Lehre des Meisters angeschlossen haben und ihn nicht nur in seiner dialektischen Methode nachahmten, sondern auch seine theoretischen Überzeugungen rückhaltlos anerkannten. Daher treten uns auch bei ihm die Grundsätze des ARKESILAUS entgegen: die Bezweiflung der Erkenntnisfaktoren, die Behauptung, daß alles unbegreiflich ist und die daraus abgeleitete Forderung der Zurückhaltung dder Entscheidung, die er mit derselben Ausnahmslosigkeit verlangte, wie ARKESILAUS, da auch ihm das Meinen für einen Weisen durchaus unpassend zu sein schien. Ja, von hier aus soll er sogar die Erinnerungslosigkeit gefordert haben mit der Begründung, daß auch das Sich-erinnern ein Meinen ist.

Weiterhin scheint er dem ARKESILAUS, mit dem er übrigens auch in der Neigung zu frohen Gelagen harmonierte, auch in seiner Bestreitung der Stoiker, ebenso wie in seinen auf das Kriterium des Handelns bezüglichen Erörterungen gefolgt zu sein, und muß in allen seinen Ausführungen den Eindruck eines tüchtigen und achtunggebietenden Denkers gemacht haben.

Eben deshalb wurde er auch vom alternden ARKESILAUS allem Anschein nach zur Teilnahme an der Leitung der akademischen Schulen herangezogen, die er nach dem Tod des ARKESILAUS allein, und zwar seit dem Jahr 230, in einem von dem ihm befreundeten König ATTALUS I. von Pergamum angelegten Garten, der nach ihm den Namen des lakydischen erhielt, fortsetzte. Als Scholarch hat er sich nun nicht geringe Verdienste um die Akademie erworben. Nicht nur verzichtete er auf die lediglich mündliche Vertretung der akademischen Philosophie und gab in verschiedenen Werken eine schriftliche Darstellung derselben, sondern es gelang ihm auch, wohl nicht zuletzt dadurch, daß er mit TIMON erheblich enger befreundet war als ARKESILAUS die von diesem fast ängstlich gehütete Fiktion von der Reinheit der damaligen Akademie fallen gelassen hat und ohne Rückhalt die beiden Quellen anerkannte, aus denen sie faktisch entsprungen ist - das unter ARKESILAUS in ihr herrschende Hin- und Herschwanken zum Stillstand zu bringen und sie definitiv auf den Skeptizismus festzulegen. Und aus diesem Grund scheint schon er selbst sich als Stifter der neuen Akademie bezeichnet zu haben.

Auch ihm strömten nun während seine Scholarchats nicht nur aus Athen und anderen Städten Griechenlands, sondern auch aus den griechischen Kolonien in Asien und Afrika, aus Ephesus, Mallos in Sizilien, aus Eritrea, Kyrene und Karthago zahlreiche Schüler zu. Aber nur wenigen von ihnen, wie dem Kyrenäer ARISTIPP, der neben einer berühmten Schrift über die akademische Lehre vielleicht auch ein Werk über die Naturphilosophen geschrieben hat, in dem sich eine hohe Achtung vor PYTHAGORAS erkennen läßt, sowie den Phozeern TELEKLES und EUANDRUS, die uns als die berühmtesten bezeichnet werden, scheint eine größere Bedeutung zugekommen zu sein. Und so sind es diese beiden letzteren denn auch gewesen, denen LAKYDES noch längere Zeit vor seinem 216/5 oder 206/5 erfolgten Tod im Jahre 223/2 die Leitung der Schule übergeben hat.

c. Telekles †168/7,
Euandrus, Hegenius †159/8

Auch unter ihrer gemeinschaftlichen Leitung dauerte nun die großartige Blüte der Akademie in unverminderter Stärke fort. Die Zahl der Schüler, unter denen uns auch ein Alexandriner genannt wird, der auffälligerweise als das Haupt einer eigenen bis ins dritte Glied angeführten Schule erscheint, hat kaum nachgelassen, und die wissenschaftliche Tätigkeit, die sich von der Bekämpfung der Stoiker mehr und mehr zurückgezogen zu haben scheint, wandte sich vor allem der schriftlichen Darstellung der im Ganzen unverändert festgehaltenen akademischen Lehre zu. Darin aber müssen TELEKLES selbst und sein Schüler APOLLONIUS aus Kyrene besonders fruchtbar gewesen sein.

Nach TELEKLES vielleicht im Jahre 168/7 erfolgten Tod hatte sein Mitscholarch EUANDRUS noch eine geraume Zeit die Leitung der Schule allein in der Hand, bis sie von ihm auf HEGESINUS aus Pergamum überging.

Unter diesem scheint nun in der schon bei seinen Vorgängern zu konstatierenden Zurückhaltung im alten Streit gegen die Stoiker noch ein weiterer Fortschritt eingetreten zu sein, so daß sich zwischen der Akademie und der Stoa, wenn auch kaum ohne manche Modifikation des akademischen Standpunktes, allmählich ein ganz erträgliches Verhältnis herausgebildet haben muß. Indessen schon der Nachfolger des HEGESINUS KARNEADES, der später allgemein zum größten Akademiker erklärt wurde, ließ die Haltung seines Vorgängers unbeachtet und ging über ihn hinaus auf ARKESILAUS zurück, um den von diesem begonnenen Streit gegen die Dogmatiker, nur noch auf viel breiterer Basis, zu erneuern.
LITERATUR - Albert Goedeckemeyer, Die Geschichte des Griechischen Skeptizismus, Leipzig 1905