cr-3Elizabeth Eisenstein - Gesetz und Ursache 
 
FRITZ MAUTHNER
Einfluß des Buchdrucks
II-41

"Seit Luther gewinnt die Schrift durch die Buchdruckerkunst und durch die Volksschule eine ungeheure Ausdehnung."

Der Einfluß der Buchdruckerkunst auf unsere Sprache ist um so schwieriger festzustellen, als wir uns immer noch im Fluß dieser Erscheinung befinden und (ohne Übertreibung) die Ausdehnung der heutigen Buchpresse sich zu der aus der Lutherzeit verhält, wie etwa die Lutherzeit zu dem Buchverkehr im alten Alexandrien zur Zeit der Ptolemäer. Um das einzusehen, braucht man nur die Millionen von Preßerzeugnissen, die heute die Zeitungspresse und der Kolportagebuchhändler täglich über Stadt und Land verbreiten, mit den wenigen Schriften zu vergleichen, welche selbst in der aufgeregten Zeit der Reformation ihren Weg fanden. Der Einfluß der Buchdruckerkunst auf die Sprache beginnt wohl mit der Erfindung der ersten Druckpresse, aber er hat sich seit bald fünfhundert Jahren ins Unangemessene gesteigert.

Ein kleines Vorspiel dessen, was LUTHERs Bibelübersetzung bedeutete, begab sich schon im Mittelalter, als durch das Zusammentreffen politischer und anderer Umstände die schwäbische Mundart eine Zeitlang die Modesprache und die Schriftsprache in Deutschland war. Es ist wohl nicht zu gewagt, anzunehmen, daß eine schwäbelnde Mundart die deutsche Gemeinsprache geworden wäre, hätte damals schon die Buchdruckerkunst auf ihre Weise eine Einheit hergestellt. Zu dieser Spracheinheit kam es bekanntlich erst durch LUTHER. Sicherlich ist seine Bibelübersetzung ein erstaunliches Werk unvergleichlicher Sprachkraft; sicherlich half die außerordentliche Erregung des Volkes mit; aber geschaffen wurde die Spracheinheit erst durch den Buchdruck, durch die Schrift, denn sonst hätte LUTHERs Sprache das katholische Deutschland nicht erobern können. Entscheidend war es, daß LUTHERs Sprache allen Buchdruckern als diejenige erschien, in welcher sie ihre Druckschriften überall in Deutschland absetzen konnten. Das war die Vorbedingung, die auch LUTHER zur Wahl seiner Bibelsprache bestimmte; die Neigung zur Spracheinheit mußte vorhanden sein, um den Buchdruckern den Weg zu einem gemeinsamen Idiom zu weisen; aber nachher ging die wirkliche Spracheinheit aus der Buchdruckersprache hervor. Man darf sich nicht daran stoßen, daß Fragen des Gelderwerbs und des Verkehrs so für wichtige Faktoren ausgegeben werden; das Geschäft und sein Verkehr ist oft der wichtigste Faktor der Kulturgeschichte gewesen. Und man darf sich auch nicht daran stoßen, daß eben gesagt worden ist, LUTHER habe die Sprache seiner Bibelübersetzung "gewählt". Es ist das eine Tatsache, und LUTHER selbst spricht sich klar und unbefangen darüber aus. Er habe sich nicht einer gewissen, sonderlichen, eignen Sprache im Deutschen bedient (das heißt also auch nicht seiner eignen Mundart), sondern der Sprache der sächsischen Kanzlei, welcher alle Fürsten und Könige in Deutschland folgen; die Sprache der sächsischen Kanzlei, das heißt die offizielle Dienstsprache im Reiche, sei infolgedessen die gemeine deutsche Sprache und allein geeignet, von Ober- und Niederdeutschen verstanden zu werden.

Die Sprache LUTHERs ist also im Sinne der Sprachwissenschaft weder eine organische Fortsetzung einer mittelalterlichen Schriftsprache, noch die organische Ausbildung irgend eines damals lebendigen deutschen Dialekts: es ist, wie man sich jetzt gern ausdrückt, eine papierne Sprache. Schon SCHLEICHER hat den Ausdruck für sie gebraucht oder doch wenigstens gesagt, daß sie ihren papiernen Ursprung deutlich an der Stirne trage. Es tut hier nichts zur Sache, inwieweit LUTHERs ganze Persönlichkeit und künstlerisches Sprachgefühl es ermöglicht haben, daß diese papierne Sprache groß und schön und lebendig werden konnte. Jedesfalls war der psychologische Zustand der Deutschen nach Einführung der Bibelübersetzung und vieler anderen Druckschriften der, daß kein einziger deutscher Volksstamm seine Mundart in dieser Schriftsprache wiederfand, daß dagegen jedermann, der lesen gelernt hatte, die neue Schriftsprache mit den Augen verstand und sich bemühte, sich in dieser Schriftsprache überall in Deutschland auch von Mund zu Mund verständlich zu machen. Wie war das möglich?

Die Wirkung des Bücherlesens war im 16. Jahrhundert immerhin noch so gering, daß die Mundarten in fast ungeschwächter Kraft weiter bestanden. Der Mecklenburger und der Schwabe konnten einander ebensowenig verstehen wie BISMARCK und der vlamische Fischer in Ostende, wie heute der Holländer und der Bayer einander verstehen können. Solange der Mecklenburger und der Schwabe die gemeinsame Schriftsprache so aussprachen, wie es ihnen die Heimatsmundart vorsprach, so lange blieb eine gegenseitige Verständigung auch nach der Erfindung der Buchdruckerkunst unmöglich. Es mußte also dasjenige geschehen, was wir heute noch bei plattdeutschen und bei schwäbischen Dorfkindern alle Tage beobachten können. Sie reden zu Hause ihre alte Mundart in langsamer Abschwächung weiter fort. Aber sie haben gelernt - wohlgemerkt: in der Schule gelernt -, daß überall in Deutschland die Sprache geredet werde, die sie schreiben und lesen können und die sie namentlich in der Religionsstunde in einer nicht eben anmutigen Weise auch sprechend üben. Kommen nun ein plattdeutscher Bauer und ein schwäbischer Bauer einmal zusammen und wollen sie sich miteinander verständigen, so reden beide die Katechismussprache, die ein Kompromiß ist zwischen ihrer Mundart und der deutschen Gemeinsprache der gebildeten Welt, die denn auch mit einer unbewußten Ironie ganz richtig die "Schriftsprache" heißt. Ich überlasse es besseren Arbeitern, als ich einer bin, diese Tatsachen sprachgeschichtlich genau zu untersuchen und die neue Lautverschiebung festzustellen, welche in sämtlichen deutschen Mundarten seit LUTHER in einer zentralen Richtung sich vollzogen hat. Diese neueste Lautverschiebung würde dann mit historischer Gewißheit auf etwas Schriftliches, auf die Einführung gedruckter Bücher zurückzuführen sein.

Wie schon gesagt, diese Entwicklung hat langsam angefangen, um seit der politischen Anregung der französischen Revolution, seit der Anwendung der Dampfmaschinen auf die Buchdruckerpresse und der Erfindung der Rotationspresse, kurz seit der ungeahnten Ausbildung des Zeitungswesens ungeheure Dimensionen anzunehmen. Heute ist in Deutschland ein Ausnahmsmensch, wer nicht lesen und schreiben kann. Diese theoretische Kenntnis will freilich nicht viel sagen. Aber auch die praktische Übung im Lesen hat namentlich seit dem Beginn der sozialdemokratischen Agitation maßlos an Ausdehnung gewonnen. Es ist also in Deutschland (und ähnlich in anderen Ländern) die Zahl der Menschen außerordentlich groß, die sich dem psychologischen Zustande nähern, in welchem der Mensch durch eingeübtes Lesen Mitteilungen erhält.

Man kann die Bedeutung des Buchdrucks für die Geschichte der Menschheit nicht hoch genug anschlagen. Hat er einerseits eine Art Vollständigkeit des Wissens für jeden Forscher auf jedem Gebiete erst möglich gemacht, so hat er anderseits die Demokratisierung des Wissens und damit die Demokratisierung der Welt vollendet. Natürlich wurde die Buchdruckerkunst erst erfunden, als das Wissensbedürfnis allgemeiner geworden war, und so ging wie gewöhnlich das Bedürfnis der Erfindung voraus. Dann aber entwickelte sich die geistige Revolution durch die neue Erfindung um so schneller. Die gedruckten fliegenden Blätter der Reformationszeit schufen den dritten Stand; die Bewegungen des Bauernkrieges, der großen französischen Revolution und des gegenwärtigen Sozialismus hängen aufs engste zusammen mit der Geschichte der Presse, die eine Geschichte der Buchdruckerkunst ist. Ein Blatt, das in hunderttausend Exemplaren an einem Tage verbreitet wird, verhält sich in seiner Wirkung etwa zu einem polemischen Gedichte WALTHERs von der VOGELWEIDE wie ein Torpedo zu der Gefechtsleistung eines einzelnen Mannes und wäre er HERAKLES. HERAKLES ist künstlerisch schöner, ein Torpedo aber ist stärker als der Halbgott.

Ich lasse nun beiseite, welche Wichtigkeit diese Veränderung für die Einheit der Sprache hat. Wohl geht neben der unaufhaltsamen sprachlichen Einigung Deutschlands gerade jetzt das Bestreben einher, die Mundarten durch künstlerische Verwertung zu erhalten. Anstatt aber die Einigung aufzuhalten, ist diese Wiederbelebung - wie mir scheint - nur ein Zeichen, daß die Mundarten dem Verfall nahe sind, was übrigens für die dichterischen Zwecke der deutschen Sprache nur zu bedauern ist. Es will mir scheinen, als ob diese krampfhaften Versuche, die Mundarten in Dialektdichtungen zu konservieren, an die Zeit erinnern, wo die Humanisten klassisches Latein zu schreiben sich bemühten. Das war nicht eine Renaissance der lateinischen Sprache: das war - wie schon gesagt - vielmehr das deutlichste Zeichen, daß die lateinische Sprache im Begriffe war, eine tote Sprache zu werden. Es ist ein romantischer Sinn im Menschen, die Toten zu ehren und auch von den Sterbenden nur Gutes zu sagen; es ist ein romantischer Zug der Einheitssprache, nach ihrem Siege den besiegten Mundarten schöne Grabsteine zu setzen. Und wer ein Ohr hat für die Volksseele, der wird bemerkt haben, daß wenigstens bei uns in Deutschland es die Gebildeten sind, die sich zumeist durch ihre Liebe zur Mundart auszeichnen, daß das Volk dagegen nach der hochdeutschen Sprache drängt. BISMARCK spricht plattdeutsch mit seinem Förster; der Waldhüter spricht mit dem Fürsten gern hochdeutsch.

Die große und immer noch wachsende Zahl der Menschen, welche mehr oder weniger an eine schriftliche Sprache gewöhnt sind, mußte naturgemäß die Ausbildung dieser schriftlichen Sprache fördern. Wir stehen also, ohne es klar mit Worten fassen zu können, inmitten einer Geistesbewegung, welche für die leitenden Kreise des Volkes eine schriftliche Sprache zum Verständigungsmittel geschaffen hat. Man wird das Besondere dieses Zustandes vielleicht besser verstehen, wenn man mit mir zwei verschiedene Annahmen phantastisch bis zu Ende denkt. Man stelle sich einmal vor: es würden in allen Kulturländern plötzlich alle Schriften und Bücher für immer vernichtet, dazu auch der Gebrauch der Schrift; der Gebrauch der mündlichen Sprache aber bliebe erhalten. Ich male wohl nicht zu schwarz, wenn ich sage, daß unsere Welt damit rasch in die Kulturzustände des Mittelalters zurücksinken müßte. Unsere Erfindungen und ihre Anwendungen in der Industrie und im Verkehr könnten vielleicht noch einige Tage oder Wochen oder Jahre stockend weiter bestehen, aber endlich könnten keine neue Maschinen mehr gebaut werden, ein Räderwerk nach dem anderen aus dem Uhrwerk unserer Kultur würde stehen bleiben, und am Ende wäre unsere Zivilisation eine Ruine, wie die Kunstuhren an alten Münstern, die man nicht mehr in Gang bringen kann, weil der Schlüssel fehlt. Denn alle Wissenschaft, deren wir uns rühmen, ist so recht eigentlich nicht in der Sprache niedergelegt, sondern in der Schrift. Und stellen wir uns vor, was freilich noch schwerer vorzustellen ist: der Gebrauch der lebendigen Sprache würde in allen Kulturländern mit einem Schlage aufhören, der Gebrauch aber und das Verständnis der Schriften und Bücher bliebe erhalten (wie man die altchinesische Schrift wohl verstehen, aber nicht aussprechen kann), so wäre dieser Zustand der Menschheit vom Standpunkte des Dichters nicht eben schön zu nennen, aber ohne Unterbrechung könnte die Kultur der Welt ihre hübschen kleinen Erfindungen weiter benützen und weiter entwickeln.

Diese Vorstellung, daß nämlich die Schrift in ihrer höchsten Ausbildung selbständig geworden sei und die mündliche Sprache gar nicht mehr braucht, ist aber gar nicht so phantastisch, wie es scheinen könnte. Die neuesten Sprachphilosophen neigen freilich dazu, die Schrift nur auf die ungünstige Wirkung hin zu betrachten, die sie auf den alten Organismus der Sprache geübt hat. Daß aber die Schrift besonders seit der Popularisierung der Buchdruckerkunst langsam aufgehört hat, eine bloße Nebenerscheinung der Lautsprache zu sein, daß die Schrift, wenn wir unsere Bibliotheken unter dieser Bezeichnung zusammenfassen wollen, sich in den Gelehrtenköpfen von der Lautsprache gewissermaßen schon emanzipiert hat, das ist eine psychologische Tatsache, an der auch WHITNEY und seine deutschen Schüler achtlos vorübergegangen sind. Phantastisch ist in der oben gewagten Phantasie doch eigentlich nur die schematische Annahme, es habe der Gebrauch der mündlichen Sprache aufgehört; dies ist beim Gebrauche unserer Buchstabenschrift ein Unding, weil die Buchstabenschrift immer erst nach der Lautsprache erlernt werden kann. Trotzdem ist die Schrift in ihrer Entwicklung zum Buchdruck eine selbständige Macht geworden, eine Konzentration aller Erinnerungen der Menschheit, also eine Sprache für sich, mit deren Leistungen sich die mnemotechnischen Leistungen der vorschriftlichen Sprache nicht messen können.

Um vorerst den psychologischen Vorgang recht zu begreifen, stelle man sich einmal die gesamte Sprachtätigkeit eines Professors der höheren Mathematik vor, der z.B. sein Leben der Theorie der ABELschen Funktionen gewidmet habe. Er gebraucht natürlich die Lautsprache genau so wie ein anderer Mensch, wenn er mit Frau und Kindern redet, mit Schneider oder Kellner. Er gebraucht auch noch die Lautsprache, wenn er im Jargon seiner Kollegen sich über Buchhändlererfolge und persönliche Eigenschaften anderer Mathematiker unterhält. Sowie er jedoch über seiner Facharbeit sitzt - sei es, daß er die Entwicklung einer Formel auf ihre Richtigkeit prüft oder daß er selbst eine neue Formel zu entwickeln sucht -, verschwindet die Gemeinsprache im Dunkel des Unbewußten, und die Schrift, die Zeichensprache seines Faches, ist allein in seiner Vorstellung. Die Lautsprache ist durch die Zeichensprache vollkommen verdrängt; und diese Zeichensprache ist nicht etwa eine phonetische Schreibung der Lautsprache (wie die Schrift es ursprünglich gewesen sein muß), sondern eine selbstherrliche, über die Lautsprache weit hinweg schreitende Bezeichnungsart. In ganz ähnlicher Weise ist die geistige Tätigkeit eines gelehrten Chemikers vom Gebrauche seiner Muttersprache losgerissen. Ein Gemisch von beiden Sprachen entsteht eigentlich nur dann, wenn der Professor der Mathematik oder der Chemie ein Lehrbuch schreibt oder seine Gedankengänge den Studenten mündlich vorträgt; es wird da mancher Satz aus der Gemeinsprache als Füllsel zu Hilfe genommen, wenn auch die Hauptsache in Schrift vorgetragen wird. Und da ereignet sich der Fall, der noch nicht näher untersucht worden ist, obwohl er alle Lehren der Sprachphilosophie auf den Kopf stellt. Es heißt nämlich immer, daß die Schrift auf der Lautsprache beruhe, nur durch sie verstanden werden könne und bestenfalls durch die Schnelligkeit und Einübung des Gelehrten ohne das Bewußtsein einer Lautsprache verstanden werde.

Wenn aber der Professor der Mathematik oder Chemie seinen Vortrag hält, so sind die Schriftzeichen das Ursprüngliche, das unmittelbar Verständliche, und er hat oft Mühe, sie durch die Lautsprache auszudrücken.

Man könnte einwenden, daß die Zeichen der Mathematik und der Chemie eine Welt für sich seien und darum nicht beweiskräftig für die Emanzipation der Schrift. Aber gar so verschieden von der psychologischen Tätigkeit eines Chemikers oder Mathematikers scheint mir die eines Ingenieurs, eines Physiologen oder eines Historikers auch nicht zu sein. Je mehr die Spezialwissenschaft mit der Natur und mit dem Menschen zu schaffen hat, desto reichlicher freilich wird der Professor die Gemeinsprache zu Hilfe nehmen müssen, desto weniger wird er die allgemeinen Erinnerungen der Menschheit, das heißt die Volkssprache entbehren können. Was ihn aber zunächst beschäftigt, die Fülle der Tatsachen aus seinem Spezialfach, das wird dem heutigen Büchermenschen dennoch als ein sichtbares Zeichen, als eine Bucherinnerung gegenwärtig sein. Und so vollzieht sich in der geistigen Arbeit des Forschers das, was ich vorhin als eine scheinbar wilde Phantasie hingestellt habe. Nicht für sein Wirtshaus- und Familienleben, wohl aber für sein Forschen und Lehren ist der Gebrauch der Muttersprache in die Nacht der Vergessenheit versunken: der Gelehrte, ja auch der praktische Ingenieur steht bei seiner Lebensarbeit unter dem Zwange der Schrift, der Bücherwelt. Es klingt nur paradox, aber es ist es nicht, wenn ich sage: da Sprechen Denken ist, so denkt der Gelehrte nicht bei seinem Forschen und Lehren, oder vielmehr es ist ein neues Denken über ihn gekommen, das Buchdenken, und hier haben wir den Punkt, der die moderne Wissenschaft von dem Forschen der Vorzeit trennt. Wir denken bücherhaft, die Alten dachten sprachlich. Die letzten vierhundert Jahre haben diesen Bruch vollzogen. Und aus dieser wichtigen Erscheinung erklärt sich vielleicht nebenbei psychologisch der kleine Nebenumstand, daß die Forscher fast alle so zerstreut erscheinen, wenn man sie aus der Arbeit weckt; sie sind ja nicht bloß mit anderen Dingen als mit denen des Alltags beschäftigt gewesen, sie haben in einer anderen Sprache gedacht.

Wie dieser Bruch zwischen der Lautsprache und dem Buchdruck notwendig und möglich wurde, das mag ein Hinweis auf den wirklichen Bestand unserer gegenwärtigen Welterkenntnis erläutern, ein Blick auf den Bestand und die Aufbewahrungsart.

In der vorschriftlichen Zeit gab es nur einerlei Zeichen für die zusammenfassenden Erinnerungen; HOMEROS und die Gelehrten seiner Zeit hatten für die Erinnerungen ihres Lebens und die ererbten Erinnerungen der Menschheit nichts anderes als die Lautzeichen ihrer Worte, das heißt also (wie immer der Vorgang aussehen mag) eingeübte Bewegungsbahnen in ihrem Gehirn. Es liegt auf der Hand, daß in solcher Zeit erstens die Welterkenntnis ihre Grenze hatte an der Leistungsfähigkeit des einzelnen Gehirns, zweitens daß die vorhandenen Kenntnisse von Mitteilung zu Mitteilung, von Erinnerung zu Erinnerung dem Wandel unterworfen sein mußten. Vielleicht konnte auch HERAKLEITOS, der sich selbst einen Autodidakten nannte, noch nicht schreiben, und dann hätte sein Satz "Alles fließt" eine Anwendung nicht nur auf die objektive, sondern auch auf die subjektive Welt. Der Gelehrte der vorschriftlichen Zeit war sonach in der Lage eines Mannes, der nur Kupfergeld besitzt und darum eine große Summe gar nicht bei sich führen kann. Dafür hatte er in jedem Augenblick die freie Verfügung über all sein bißchen Besitz; der vorschriftliche Gelehrte verfügte über sein kleines Sprachgut wie bei uns ein Knabe über das seine. Vielleicht kommt es daher, daß in der vorschriftlichen Zeit HOMEROS der unübertreffliche Dichter werden konnte.

Wir überspringen jetzt die Zwischenzeit und versuchen den gegenwärtigen Zustand zu begreifen. Der heutige Gelehrte hat die Welterkenntnis, über welche unsere Zeit verfügt, nicht mehr in seiner Sprachgewalt, weil er sie nicht mehr in seinem Gehirn hat. Ich wage es nicht, auf die Frage einzugehen, wie sehr sich rein physiologisch das Menschengehirn der Kulturvölker verändert haben muß, um die eigentümliche Art der Büchererinnerung neben der alten Spracherinnerung in sich aufzunehmen; es muß eine gewaltige Entwicklung stattgefunden haben, fast wie in den anderen Jahrtausenden, als die Menschen sprechen lernten. Genug, das heutige Gelehrtengehirn besitzt eine Art abstrakter oder schematischer oder lokaler Erinnerungen an die Bücher, aus denen es jeden Augenblick das gegenwärtige Wissen holen kann. Wer diese mechanische Fächereinteilung in seinem Fachwissen besitzt, der gilt mit Recht für einen Gelehrten. Wirklich gebrauchsfertig hat der einzelne Forscher immer nur einen ganz kleinen Teil seines Spezialgebietes. Das ungeheure Wissen der Gegenwart steckt nicht in den Köpfen, sondern in den Büchern. Wenn man hundert der besten Gelehrten Europas zeitlebens zusammenbrächte, ihnen aber keine Bücher oder Schriften zur Verfügung stellte, so würden sie nicht das gesamte Wissen eines Konversationslexikons aufzubringen imstande sein.

So hat die Schrift (in ihrer äußersten Entwicklung zum Buchdruck) ihre dienende Stellung zur Sprache überwunden und hat in der Praxis der Gelehrtenbetriebe wenigstens einige Mängel der menschlichen Sprache verbessert. Durch den Buchdruck ist das menschliche Wissen von den Schranken des einzelnen Gehirns befreit und von den Wandlungen im lebendigen Organismus. Die Erinnerungen der Menschheit sind noch reicher und fester geworden, nur daß sie im Buche so wenig zu einer Welterkenntnis führen können wie in der Sprache.

Hat nämlich die moderne Naturwissenschaft darin recht, daß das Sehen, Hören usw. nur Symbole der Wirklichkeit darbiete, daß die Sinnesempfindungen nur subjektive Reaktionen auf ewig unbekannte Aktionen der Außenwelt seien, unsere Sinne eben unsere Mittel, daß unser ganzes Vorstellen sogar also selbst nur mittelbares Vorstellen sei: dann verflüchtigt sich schon das Denken, das wir bisher für Denken erster Potenz hielten, zu einem Spiel der Schatten von Schatten, zu einem Mondschattenspiel, und das bloße Lesen der Gelehrten, das Lesen ohne begleitendes Sprechen, wird zu einem gespensterhaften Huschen von Phantomen, die jede direkte Beziehung zu den wirkenden Dingen verloren haben. Solche Gelehrtenarbeit, die doch unsere Bibliotheken füllt, hat für die Erkenntnis des Weltganzen nicht mehr Wert, als für die Erkenntnis der Gravitation das Eselsohr, das der Lehrer in sein Buch macht, wenn der Schuldiener die Stunde geläutet hat. Und doch hat die Gravitation durch Pendelbewegung dem Schuldiener die richtige Zeit verraten.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906