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KURT STERNBERG
Rezension
von Vaihingers "Philosophie des Als Ob"

"So wenig die einzelnen fiktiven Denkprodukte die Wirklichkeit ausdrücken, sondern nur durch die beabsichtigte Lösung einer bestimmten Aufgabe Sinn und Bedeutung haben: so wenig erfaßt das Denken überhaupt die Wirklichkeit, so wenig ist die Vorstellungswelt ein adäquates Abbild des Wirklichen; auch sie gewinnen ihren letzten Sinn und ihre eigentliche Bedeutung erst durch die große Aufgabe, zu deren Erfüllung sie dienen, und diese Aufgabe besteht darin, daß sie dem Menschen die Orientierung in der Empfindungswirklichkeit und somit Bewegung und Handeln, also das Leben überhaupt ermöglichen."

"Sind uns übrigens wirklich, wie Vaihinger meint, die bloßen Empfindungen schlechthin gegeben? Sind diese nicht vielmehr das Produkt einer Abstraktion, während uns in Wahrheit die Erfahrung als ein einheitliches Ganzes gegeben ist, in welchem die Empfindungen bereits in den Formen der Anschauung und des Denkens geordnet sind?"


Es gibt in der Philosophiegeschichte zwei Stellen, an denen jedem, der sich mir ihr beschäftigt, jene charakteristische Partikelverbindung "als ob" auffällt, zwei Stellen, die sich merkwürdigerweise alle beide gerade bei KANT finden. Jedermann hört oder liest in irgendeiner Darstellung der Philosophiegeschichte, daß KANT im zweiten Teil der "Kritik der Urteilskraft" an die Stelle der alten Teleologie, welche die offensichtliche Zweckmäßigkeit in der Natur aus dem zwecktätigen Walten einer baumeisterlichen Intelligenz zu erklären suchte, eine andere Betrachtung gesetzt hat, nach welcher der physiko-theologische Gottesbeweis im dogmatischen Sinn zwar nicht mehr aufrechterhalten, aber die Natur doch mit gutem Nutzen und Erfolg so angesehen werden kann, als ob ein verständiger Wille sie hervorgebracht und ihre Formen in absichtlicher Zwecktätigkeit der menschlichen Urteilskraft angemessen gestaltet hat. Der Teleologie wird somit als einem nützlichen heuristischen Prinzip Sinn und Bedeutung zugestanden. - Ferner kann man überall erfahren, daß KANT in der Rechtsphilosophie die alte naturrechtliche Frage, ob die Gründung des Staates auf einen Vertrag zurückzuführen ist oder nicht, in dem Sinne entschieden hat, daß es aber vorteilhaft ist, den Staat so zu betrachten, als ob er aus einem Vertragsschluß hervorgegangen ist. Der Vertrag dient hier als heuristisches Prinzip, um Recht und Gesetze zu beurteilen, nämlich daraufhin, ob sie dem Geist eines solchen Vertrages entsprechen oder nicht.

Wenn man sich nun überlegt, welcher Prozeß hier eigentlich stattgefunden hat, so gelangt man zu der Erkenntnis, daß in beiden Fällen etwas fingiert wurde (im ersten eine zwecktätige Intelligenz, im zweiten ein Urvertrag) und daß der Wert beider Fiktionen nicht etwa ein theoretischer in dem Sinne ist, daß durch sie unsere Erkenntnis erweitert würde, sondern ein rein praktischer, indem sie als heuristische Prinzipien die Wirklichkeit (im ersten Fall die Natur, im letzteren Recht und Gesetz) berechnen und beherrschen helfen.

Bei weiterem Nachdenken kommt man zur Einsicht, daß das von KANT in den genannten Beispielen beliebte Verfahren kein so einzigartiges und merkwürdiges ist, wie es zunächst vielleicht scheinen möchte, daß man sich vielmehr in allen Wissenschaften mehr oder weniger der Fiktionen als heuristischer Prinzipien bedient. So ist es vor allem in der Mathematik, in der die fiktive Denkmethode schon seit Jahrhunderten eine ganz besonders feine Ausbildung und Durchführung genossen hat. Um das Krumme berechnen zu können, muß der Mathematiker versuchen, die Gesetze des Geraden auf das Krumme anzuwenden; so fingiert er, der Kreis sei ein Vieleck mit unendlich vielen und unendlich kleinen Seiten und ermöglicht sich dadurch die Lösung gewisser Aufgaben, die ohne diese Fiktion nur sehr schwer oder überhaupt nicht möglich sein würde. Die ganze analytische Geometrie des DESCARTES sowie die Differential und Integralrechnung von LEIBNIZ und NEWTON beruhen auf einen fiktiven Prinzip. Nicht anders verfährt der Naturwissenschaftler. Kein erkenntniskritisch auch nur einigermaßen gebildeter Physiker glaubt heute noch an die reale Existenz von Atomen; und dennoch behält man die Atome bei, da sie von den Zeiten LEUKIPPs und DEMOKRITs bis auf die Gegenwart dem Physiker als illustrative Hilfsbegriffe zur Lösung gewisser Aufgabenn ihre guten Dienste geleistet haben bzw. noch heute tun. Auch die Nationalökonomie kennt die Verwendung der Fiktion. ADAM SMITH fingierte, daß alle menschlichen Handlungen rein egoistischer Natur sind und ausschließlich auf Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung ausgehen. Aus diesem egoistischen Prinzip konnte er dann gewisse volkswirtschaftliche Gesetze deduzieren, die für den menschlichen Handel und Verkehr von maßgeblicher Bedeutung sind.

Aber nicht nur die Wissenschaft kennt die Fiktion; auch unser praktisches Handeln steht mit ihr in allerengster Berührung. Wir fordern ein sittliches Handeln und verlangen damit, daß sich jemand in einer ganz bestimmten und den sittlichen Prinzipien entsprechenden Weise verhalten soll; wir loben ihn, wenn er es getan, tadeln ihn, wenn er es verabsäumt hat. Das würde absurd sein, wenn wir nicht die Freiheit des menschlichen Willens und Handelns voraussetzen würden. Nun wissen aber moderne Naturwissenschaft und Philosophie sehr wohl, daß auch das menschliche Wollen dem Kausalgesetz untersteht; und dennoch nehmen wir die Freiheit des Willens an, da sonst unsere sittlichen Bewertungen gar keinen Sinn hätten. Wie wollte man vollends gar die Strafe rechtfertigen, wenn nicht mit der Annahme, daß der Strafwürdige eben anders hätte handeln können, als er es getan hat? So ist die Fiktion der Willensfreiheit die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] für unsere sittlichen Bewertungen sowie für das Institut der Strafe.

Wie bei unserem praktischen Handeln, so spielt auch bei unserem ästhetischen Genießen die Fiktion eine wichtige Rolle. Der Künstler, der mit der Wirklichkeit frei schaltet und sich in kühnem Flug weit über sie erhebt, weilt im Bereich der Fiktion; durch seine ästhetischen Fiktionen will er begeisternde und erhebende Gefühle in uns erwecken.
    "Und so erkennt man dann auch, daß ein gemeinsames Band die Differentiale der Mathematik, die Atome der Naturwissenschaft, die Ideen der Philosophie und sogar die Dogmen der Religion umschlingt - die Einsicht in die Notwendigkeit bewußter Fiktionen als unentbehrlicher Grundlagen unseres wissenschaftlichen Forschens, unseres ästhetischen Genießen, unseres praktischen Handelns."
Mit diesem letzten Gedanken sind wir in das Zentrum des VAIHINGERschen Werks eingetreten; und solche Betrachtungen wie die vorstehenden sind es auch offenbar gewesen, die vor mehr als 3 Jahrzehnten den Ausgangspunkt VAIHINGERs bildeten und den Grund zum vorliegenden Werk legten (1). Angeregt durch jene auffallende Partikelverbindung "als ob" oder auch "wie wenn" ging er darauf aus, die logische Beziehung zu finden, deren sprachlicher Ausdruck die genannte Partikelverbindung ist. Er erkannte, daß es sich in allen solchen Fällen um Fiktionen handelt, d. h. um die Verwendung von Hilfsbegriffen, die zwar ein Unwirkliches ausdrücken oder doch zumindest von der Wirklichkeit abweichen, die aber doch das Denken zur Lösung gewisser Aufgaben, zur Berechnung und Beherrschung der Wirklichkeit notwendig braucht. So entstand für VAIHINGER das Problem: "Wie kommt es, daß wir mit bewußtfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen?" Die bisherige Logik konnte ihm hierauf keine Antwort geben. Wohl sah er, daß KANT und auch F. A. LANGE in reichlichem Maß die Fiktion in der Philosophie praktisch angewendet hatten; aber Ansätze zu einer Theorie des fiktiven Denkens fanden sich höchstens bei HERBART und LOTZE und zwar in einem so dürftigen Maß und so sehr ohne wirkliches Eindringen in den Kern der Sache, daß VAIHINGER sich hier einer ganz neuen Aufgabe gegenübersah. Es kam nun darauf an, die ausgedehnte Anwendung der Fiktion auf allen Gebieten nachzuweisen, hieraus ihre allgemeine logische Theorie zu abstrahieren und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des fiktiven Denkens darzulegen.

VAIHINGER fand nun, wie gesagt, daß es sich in allen Fällen, wo das Denken sich einer Fiktion bedient, um eine Abweichung von der Wirklichkeit handelt, welche bewußt und absichtlich zur Erreichung gewisser Ziele vorgenommen wird. Dabei zeigte es sich, daß das fingierte Gebilde unter Umständen sogar ein sich selbst widerspruchsvoller Begriff sein kann; und hierauf gründet sich VAIHINGERs Unterscheidung von Semifiktionen und (echten) Fiktionen. Bei den Semifiktionen wird zwar von der Wirklichkeit abgewichen, ohne daß aber der fingierte Hilfsbegriff einen Selbstwiderspruch in sich birgt. In diesem Sinne ist z. B. das erwähnte Prinzip ADAM SMITHs nur eine Semifiktion, denn die Annahme, daß alle menschlichen Handlungen rein egoistischer Natur sind, mag von der Wirklichkeit recht weit entfernt sein, enthält aber jedenfalls keinen inneren Widerspruch. Auch die künstliche Einteilung, wie sie beim LINNÉschen System vorliegt, und das Verfahren der Juristen, welche eine Sache so behandeln, als ob sie unter ein bestimmtes Gesetz fällt, ohne daß dies in Wirklichkeit der Fall ist, sind streng genommen nur Semifiktionen. Anders verhält es sich aber mit den Begriffen des Atoms, des Unendlichen, des Absoluten usw. Hierbei handelt es sich um echte Fiktionen im strengsten Sinn; denn diese Begriffe enthalten noch einen inneren Widerspruch ganz abgesehen davon, daß sie von der Wirklichkeit abweichen und ein Unwirkliches darstellen.

Es liegt nun auf der Hand, daß sowohl bei den Semifiktionen als auch bei den echten Fiktionen das Denken die Fehler, die es durch seine Abweichung von der Wirklichkeit macht, auf irgendeine Weise wieder gut machen muß, da es sonst am letzten Ende nicht doch wieder zu richtigen Resultaten gelangen könnte. Dies geschieht bei den Semifiktionen durch eine Korrektur des durch die Abweichung von der Wirklichkeit gemachten Fehlers. Um noch einmal auf die SMITHsche Annahme zurückzukommen, so muß man eben die aus dem fiktiven Grundsatz, daß der Egoismus der alleinige Quell aller menschlichen Handlungen ist, deduzierten Resultate in dem Sinne korrigieren, ddaß man zum Schluß doch noch die sympathisch-altruistischen Gefühle der Menschen, ihre sittlichen Vorstellungen, den Einfluß der Staatsgewalt und andere Faktoren als Handlungsmotive in Anschlag bringt; nur durch eine solche nachträgliche Berücksichtigung von anfangs vernachlässigten Momenten kann eine fehlerhafte Einseitigkeit des Endergebnisses vermieden werden. -

Schwieriger ist nun die Sachlage bei den echten Fiktionen. Hier kann man nur zu richtigen Resultaten kommen, wenn man den in der Fiktion liegenden Fehler durch einen entgegengesetzten Fehler wieder gut macht, so daß das fingierte Gebilde aufgehoben und durch seinen Ausfall ein richtiges Schlußergebnis ermöglicht wird. Wenn der Mathematiker, der ein Interesse daran hat, den Kreis als einen Spezialfall der Ellipse zu begreifen und die Gesetze der letzteren auf ihn anzuwenden, den Kreis als Ellipse definiert, so macht er durch diese Fiktion offenbar einen Fehler; er macht ihn aber durch die Annahme wieder gut, daß der Kreis eine solche Ellipse ist, bei der die Distanz der Brennpunkte gleich 0 ist. Nun ist aber die Distanz O überhaupt keine Distanz; und der erste Selbstwiderspruch (daß der Kreis eine Ellipse ist) wird also durch nichts anderes als durch einen zweiten (daß die Distanz der Ellipsenbrennpunkte gleich 0 ist) aufgehoben und wieder gut gemacht. So wird ein richtiges Endresultat durch die Aufhebung und den gänzlichen Fortfall des fingierten Gebildes ermöglicht.

Auf diese Weise wird es erklärbar, wie das Denken trotz seiner in den Semifiktionen und in den echten Fiktionen vorliegenden Abweichungen von der Wirklichkeit schließlich doch wieder zu richtigen Resultaten gelangt. Ja, es gewinnt diese richtigen Resultate in Wahrheit sogar nur wegen seiner Verwendung von fiktiven Hilfsbegriffen; denn das Denken würde direkt und nicht erst indirekt auf dem Umweg eines fiktiven Verfahrens vorgegangen sein, wenn es ohne diesen Umweg eines fiktiven Verfahrens vorgegangen sein, wenn es ohne diesen Umweg gleichfalls oder ebenso leicht hätte an sein Ziel gelangen können. Man ersieht hieraus auch, daß die richtigen Endergebnisse der einzige Zweck der Fiktionen und der einzige Berechtigungsgrund für ihre Verwendung sind. Für sich allein genommen haben die Fiktionen keinerlei Bedeutung und Erkenntniswert; sie sind nicht Endpunkte, sondern bloße Durchgangspunkte für das Denken, das mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit berechnen will. Sie haben folglich keinen theoretischen, sondern nur einen praktischen Wert.

Hierdurch unterscheidet sich die Fiktion gerade von der Hypothese, was oftmals übersehen wird. Es ist nötigf, den Gegensatz von Fiktion und Hypothese auf das grellste zu beleuchten; denn die Vermischung beider Denkmethoden in Theorie und Praxis war die wesentlichste Ursache dafür, daß man bis jetzt die eigenartige und durchaus selbständige Bedeutung der Fiktion nicht erkannt und gewürdigt hat. -

Die Hypothese geht stets unmittelbar auf die Wirklichkeit selbst; der Forscher, der sie aufstellt, glaubt durch sie ein wirkliches Sein oder Geschehen zum Ausdruck zu bringen. Er hat die Hoffnung auf eine spätere Verifikation der Hypothese, durch welche das, was er vorläufig nur hypothetisch ansetzen kann, einst zur völligen Gewißheit werden wird. Von alldem kann bei der Fiktion gar nicht die Rede sein! Der Forscher, der sich einer Fiktion bedient, glaubt keineswegs, in ihr ein wirkliches Sein zum Ausdruck zu bringen; im Gegenteil ist er sich seiner willkürlichen Abweichung von der Wirklichkeit vollauf bewußt. Daher ist auch an eine zukünftige Verifikation gar nicht zu denken; an ihre Stelle tritt die Justifikation der Fiktion, d. h. die Rechtfertigung ihrer Nützlichkeit und Notwendigkeit durch einen aufzuzeigenden praktischen Zweck. Die Fiktion hat somit nur einen mittelbaren, praktischen Wert, während der Hypothese ein unmittelbarer, theoretischer Zweck zukommt. Die letztere will uns Wissen schaffen, indem sie eine Lücke in unserer Erkenntnis ausfüllt; sie bedeutet somit einen Endpunkt für unser Denken. Die Fiktion will das Wirkliche nicht selbst zum Ausdruck bringen, sondern es nur berechnen helfen; sie ist somit nur ein Durchgangspukt unseres Denkens.

Des hier dargelegten Unterschiedes zwischen Fiktion und Hypothese ist man sich, wie schon bemerkt, in keiner Weise immer bewußt gewesen; vielmehr zeigt uns die Geschichte der Wissenschaften, daß die wissenschaftliche Praxis beide Denkmethoden immer wieder miteinander verwechselt hat. Fiktionen, deren Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit man einsah, wurden ohne weiteres für Hypothesen gehalten, indem man fälschlich von der Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit auf die Wirklichkeit des für fiktiv Gedachten geschlossen hat; und umgekehrt verwarf man Hypothesen gänzlich, bei denen man den Selbstwiderspruch der Annahme und ihre Abweichung von der Wirklichkeit erkannte, indem man ebenso falsch von der Unwirklichkeit auf die Unbrauchbarkeit und Überflüssigkeit der Annahme geschlossen hat und die Möglichkeit ihrer Nützlichkeit als einer guten Fiktion gar nicht ins Auge faßte. So zeigt sich uns das Verhältnis von Fiktion und Hypothese in der historischen Entwicklung als ein schwankendes; hier herrscht das Gesetz der Ideenverschiebung: Fiktionen werden zu Hypothesen oder gar zu Dogmen erhoben, und Dogmen werden erst zu Hypothesen und dann gar zu Fiktionen degradiert, wobei das eine oder das andere Stadium der Entwicklung natürlich auch übergangen werden kann. So haben die religiösen Dogmen, die platonischen Mythen (von der Seelenwanderung usw.), die System von LINNÉ und ADAM SMITH ihre Bedeutung mehrmals in dem angegebenen Sinn gewechselt.

Solange man in dieser Weise den Unterschied von Fiktion und Hypothese in der wissenschaftlichen Praxis nicht streng genug gefaßt hatte, konnte dies naturgemäß auch in der logischen Theorie nicht der Fall sein. Der selbständige Charakter und die eigenartige Bedeutung der Fiktion wurden nicht erkannt; sofern die fiktive Denkmethode von der Logik nicht gänzlich übergangen wurdef, verquickte man sie immer wieder mit der Induktion und der durch sie gewonnenen Hypothese. Aus den vorherigen Betrachtungen erhellt sich aber auf das Deutlichste, daß der Fiktion eine selbständige Stellung neben Induktion und Deduktion gebührt. -

Im Übrigen ist das fiktive Urteil eine ganz besondere und eigenartige Modalitätsform des Urteils; es geht im problematischen Urteil keineswegs auf, wie man geglaubt hat. Man wird in Zukunft neben der assertorischen, problematischen und apodiktischen auch noch die fiktive als eine besondere Modalitätsform des Urteils nennen müssen. Ihr sprachlicher Ausdruck ist das "als ob" oder "wie wenn" (A ist zu betrachten, als ob oder wie wenn es B wäre); ihr logischer Sinn liegt darin, daß das Urteil trotz seines durchaus erkannten Mangels an objektiver Gültigkeit vollzogen wird, eben im Bewußtsein seiner großen subjektiven Bedeutung, die auf seiner praktischen Nützlichkeit und Zweckdienlichkeit beruth.

Dieser praktische Nutzen ist der einzige Sinn und Zweck des fiktiven Urteils; das Denken bedient sich der fiktiven Hilfsbegriffe nur, weil sie ihm die Lösung gewisser Aufgaben erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen. Und wie die fiktiven Denkprodukte bloße Hilfsmittel zur Berechnung und Beherrschung der Wirklichkeit sind, so ist nun für VAIHINGER das ganze Denken überhaupt nur ein organisch-biologisches Instrument zur menschlichen Orientierung im Leben, zur Beherrschung der Wirklichkeit. Das einzig wirklich Gegebene sind ihm die Empfindungen in ihren unabänderlichen Koexistenz- und Sukzessionsverhältnissen; nicht in der Erkenntnis erblickt er das letzte Ziel des Denkens, sondern in der Ermöglichung des Handelns, der praktischen Betätigung in der Empfindungswelt. Zwischen den beiden Polen der Empfindung und des Handelns liegt die ganze Vorstellungswelt, wie sie das Denken zur Verbindung dieser beiden Pole zur Ermöglichung des Handelns in der Empfindungswirklichkeit, aufgebaut hat. Die logische Funktion ist somit nur ein Mittel zur praktischen Betätigung; die Vorstellungswelt und das Denken, welches die erstere mit seinen Hilfsmitteln aufgebaut hat, haben keinen absoluten theoretischen, sondern nur einen relativen und praktischen Wert. So wenig die einzelnen fiktiven Denkprodukte die Wirklichkeit ausdrücken, sondern nur durch die beabsichtigte Lösung einer bestimmten Aufgabe Sinn und Bedeutung haben: so wenig erfaßt das Denken überhaupt die Wirklichkeit, so wenig ist die Vorstellungswelt ein adäquates Abbild des Wirklichen; auch sie gewinnen ihren letzten Sinn und ihre eigentliche Bedeutung erst durch die große Aufgabe, zu deren Erfüllung sie dienen, und diese Aufgabe besteht darin, daß sie dem Menschen die Orientierung in der Empfindungswirklichkeit und somit Bewegung und Handeln, also das Leben überhaupt ermöglichen.

Wie man aus dieser Betrachtung ersieht, ist VAIHINGER zu einer überaus wichtigen erkenntnistheoretischen Konsequenz gelang: auch die Kategorien sind für ihn nur Fiktionen; auch sie haben keinen absoluten und rein theoretischen Erkenntniswert, sondern nur eine relative und praktische Bedeutung als Instrumente des Denkens zum Aufbau der Vorstellungswelt. Wie alle Fiktionen, so sind auch Substantialität und Kausalität rein subjektive Gebilde, die uns die Empfindungswirklichkeit berechnen und beherrschen helfen, um nach getaner Arbeit wieder ausgeschaltet zu werden. Gegeben sind uns nur die Empfindungen in ihren Zeitverhältnissen der Simultaneität und Sukzession. Durch die kategoriale Betrachtung der Empfindungen verfälscht das Denken die Wirklichkeit; wenn es z. B. das Ding (den Zucker) von seiner Eigenschaft (süß) trennt, so verdoppelt es fälschlich die gegebene Empfindung. Ding ist eine Fiktion, Eigenschaft ist eine Fiktion und somit das ganze Verhältnis von Substanz und Akzidenz nichts als eine Fiktion. Das Denken macht aber den begangenen Fehler im Urteil (der Zucker ist süß) wieder gut; denn es nimmt ihn ihm wieder zusammen, was es vorher fälschlich getrennt hatte. Ganz ebenso verhält es sich mit der Trennung von Ursache und Wirkung und ihrer Wiedervereinigung im kausalen Urteil. -

Und was wird durch dieses Verfahren eigentlich erreicht? Die Kausalitätskategorie greift eines von den uns gegebenen Sukzessionsverhältnissen der Empfindungen heraus, nämlich das des Willens zur Handlung, in der irrigen Meinung, dieses Phänomen der sogenannten inneren Erfahrung besser zu kennen als die der äußeren Erfahrung. Die Sukzessionsverhältnisse aller uns gegebenen Empfindungen werden nun nach der Analogie dieser Relation von Wille und Handlung aufgefaßt. Hierdurch wird freilich ein Schein des Begreifens erzeugt, was ja auch der Zweck des ganzen Verfahrens ist; in Wahrheit aber wird auf diese Weise gar nichts begriffen. Die Psyche beruhigt sich zwar und löst ihre Spannung durch die Unterordnung des Sukzessionsverhältnisses zweier gegebener Empfindungen unter die Kategorie der Kausalität; re vera [in Wirklichkeit - wp] geschieht aber durch diese Unterordnung weiter gar nichts, als daß das einschlägige Sukzessionsverhältnis nach der Analogie des Verhältnisses von Wille und Handlung betrachtet wird. Diese analogische Betrachtung wird durch den Mittelbegriff der Kausalität ermöglicht, der daher wie alle Mittelbegriffe und alle echten Fiktionen am letzten Ende einfach ausfällt. Die Kategorien sind nichts als analogische Fiktionen, die keinen theoretischen Erkenntniswert haben, sondern bloß einen praktischen Zweck verfolgen, nämlich die Erzeugung einer Art Schein von Begreifen.

An dieser Stelle macht sich mit gebieterischer Stimme die Forderung geltend, das Verhältnis der soeben dargestellten VAIHINGERschen Auffassung der Kategorien zur kantischen zu untersuchen; ich will mich dieser Untersuchung auch keineswegs entziehen, schiebe sie aber am Besten bis zur Beendigung meiner Analyse des VAIHINGERschen Werkes auf. Jedoch sei hier schon bemerkt, daß VAIHINGER sich bis zu einem gewissen Grad seines Gegensatzes zu KANT durchaus bewußt ist; andererseits sucht er freilich nachzuweisen, daß KANT der im Vorigen vorgetragenen Auffassung der Kategorien auch nicht allzu fern gestanden hat. In dieser letzteren Absicht führt er einige Stellen (aus der "Kritik der Urteilskraft" und aus den "Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie") ank, in denen - wie man nicht abstreiten kann - KANT in der Tat einer rein fiktiven Interpretation der Kategorialbegriffe, besonders des der Substanz, außerordentlich nahe kommt. Aber schließlich beweist doch gerade die Tatsache, daß VAIHINGER die paar Stellen als besonders auffällig herausgreift, eigentlich nur, daß sie aus dem Rahmen der kantischen Erkenntniskritik und ihrer Methode herausfallen; denn wenn das nicht der Fall wäre, so würden sie VAIHINGER ganz gewiß nicht aufgefallen sein. Die Tatsache, daß diese Stellen auffallen, ist also gerade ein Beweis dafür, daß der Weg VAIHINGERs vom kantischen doch wohl ganz erheblich unterscheidet.

Ich werde hierauf noch zurückkommen; was aber VAIHINGER auf jeden Fall gelungen ist, das ist der zweifellose Nachweis, daß sich bei KANT zahlreiche Ansätze zu einer "Philosophie des Als Ob" finden, weit mehr, als man bisher gewußt oder auch nur geglaubt hat. Selbst wenn man sich einzelnen Ausführungen VAIHINGERs, wie der rein fiktiven Interpretation der Begriffe Freiheit, Ding-ansich usw., gegenüber skeptisch verhalten sollte: als Ganzes ist sein Nachweis auf jeden Fall gelungen. Dieser Nachweis konnte VAIHINGER nur dadurch gelingen, daß er aus sämtlichen Schriften KANTs unermüdlich die Stellen exzerpierte und nebeneinander stellte, die sein Verhältnis zur "Philosophie des Als Ob" darlegen; auch die Briefe, Vorlesungen, nachgelassenen Papiere (wie sie in den "Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie" und in den "Losen Blättern aus Kants Nachlaß" vorliegen) und das opus postumum KANTs her er herangezogen und in der angegebenen Weise verwertet. Hierin manifestiert sich eine ganz ungeheure und gar nicht genug zu bewundernde philologische Arbeitsleistung, die ganz gewiß auch im höchsten Maß dankenswert ist, da das von VAIHINGER zusammengestellte Material für den KANT-Forscher und speziell natürlich für denjenigen, der in der VAIHINGERschen Richtung weiter arbeiten will, geradezu unentbehrlich ist.

Von den Betrachtungen VAIHINGERs sollen ganz besonders die religionsphilosophischen Konsequenzen hervorgehoben werden, zu denen seine KANT-Interpretation gelangt ist. Nach der üblichen Ansicht hat KANT in der "Kritik der reinen Vernunft" die Unmöglichkeit dargelegt, auf theoretischem Weg das Dasein Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit zu beweisen, dafür aber in der "Kritik der praktischen Vernunft" auf praktisch-moralischem Weg die Existenz Gottes usw. nachzuweisen versucht, so daß er also zwar nicht auf theoretischem, wohl aber auf praktischem Weg doch wieder zu theoretischen Erkenntnissen gelangt istf. VAIHINGER sucht nun zu zeigen, daß hier von irgendwelchen theoretischen Konsequenzen überhaupt nicht die Rede sein kann. Im Mittelpunkt seiner diesbezüglichen Darlegungen dürfte wohl das nachfolgende Zitat aus der "Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie" stehen, in welchem KANT selbst von den Postulaten sagt: "Man postuliert ... nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgendeines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts." VAIHINGER fügt hinzu:
    "Nach dieser wichtigen Erklärung wird also nicht das Dasein Gottes und der Unsterblichkeit postuliert, auch nicht einmal der Glaube an ein solches Dasein, sondern es wird postuliert: du sollst dich so verhalten, als ob jene Gegenstände existieren würden."
In diesem Sinn würde der Glaube an Gott und die Unsterblichkeit keinerlei theoretische Erkenntnis bedeuten, von der es ja im Prinzip höchst gleichgültig sein würde, ob man zu ihr auf theoretischem oder auf praktischem Weg gelangt ist, sondern nur ein praktisches Handeln; wer sittlich handelt, verhält sich so, als ob das Dasein Gottes und der Unsterblichkeit eine unzweifelhafte Tatsache ist. Mit einem Wort: das sittliche Handeln und der Glaube an Gott und die Unsterblichkeit sind, um mit SPINOZA zu sprechen, una eademque res [dieselbe Sache - wp], sind miteinander identisch.

So viele von den von VAIHINGER zusammengetragenen Stellen auch für diese Interpretation sprechen, so kann man doch nicht in Abrede stellen, daß zahlreiche andere Stellen bedenklich machen müssen. VAIHINGER, der sich eine bewunderungswürdige Freiheit des Blicks zu wahren gewußt hat und nicht seinem System zuliebe, wie das häufig zu geschehen pflegt, der Philosophiegeschichte Gewalt antut, ist sich dessen auch durchaus bewußt und weist selbst darauf hin, daß die vom Gottesbegriff handelnden Paragraphen der "Prolegomenen" sowie die Ausführungen der "Kritik der praktischen Vernunft" über die Postulate weit dogmatischer gehalten sind, ebenso daß KANT leider auch die prächtige vorher zitierte Stelle im unmittelbaren Anschluß an sie sofort wieder in einem dogmatischen Sinn abgeschwächt hat. Auf jeden Fall hat aber VAIHINGER in zweifelloser Weise nachgewiesen, daß sich Ansätze zu einer fiktiven Behandlung der religiösen Probleme bei KANT in allerweitestem Umfang finden.

Es ist ein weiteres Verdienst VAIHINGERs, die Aufmerksamkeit der Philosophiehistoriker auf FORBERG, den Urheber des bekannten Atheismusstreits von 1798/99 gelenkt zu haben, dessen Name in der Philosophiegeschichte von der Sonne FICHTEs in einem unverdienten Maß verblaßt war. VAIHINGER zeigt, daß FORBERG im Zeitalter KANTs der einzige war, der die fiktive Seite der kantischen Religionsphilosophie erkannt und gewürdigt hat. Freilich ist auch bei ihm neben der fiktiv-radikalen Seite seiner Religionsphilosophie noch eine dogmatisch-konservative Unterströmung vorhanden, so daß er auch gerade hierdurch in die allernächste Näher von KANT selbst rückt.

Eine weitere Bestätigung seiner "Philosophie des Als Ob" sieht VAIHINGER in F. A. LANGEs "Standpunkt des Ideals". Er zeigt durch eine Aneinanderreihung von Stellen, daß LANGE zwar einerseits gegenüber dem Dogmatismus den rein fiktiven Charakter unserer Ideale bzw. gewisser methodischer Hilfsbegriffe betont, daß er aber andererseits gegenüber einem beschränkten Materialismus ihren hohen sittlichen Wert bzw. ihren großen Nutzen in den Vordergrund stellt. -

In einem abschließenden Kapitel zeigt VAIHINGER dann noch und zwar wiederum durch eine Synthese exzerpierter Stellen, daß auch FRIEDRICH NIETZSCHE, der oft Verkannte, einer "Philosophie des Als Ob" nicht allzu fern stand, daß er im Laufe seiner philosophischen Entwicklung die Nützlichkeit und Unentbehrlichkeit der Anwendung bewußtfalscher Vorstellungen mehr und mehr eingesehen hat. -

Hiermit hätten wir nun die Analyse des VAIHINGERschen Werks beendet und wohl auch erkannt, daß seine logische Theorie der Fiktion sich im engsten Zusammenhang mit seiner ganzen Welt- und Lebensanschauung befindet. VAIHINGER selbst bezeichnet diese als "idealistischen Positivismus". Positivistisch ist sie insofern, als sie nicht in dogmatischer Weise in metaphysische Fernen schweift, sondern sich auf das positiv Gegebene beschränkt; das für VAIHINGER aus unveränderlichen Koexistenz- und Sukzessionsverhältnissen der gegebenen Empfindungen besteht. Idealistisch ist sie, weil sie die menschliche Vorstellungswelt nicht absolut real setzt, sondern sie vielmehr als ein Erzeugnis des menschlichen Denkens ansieht, das sie aus dem gegebenen Empfindungsmaterial zum Zweck unserer Orientierung in der Wirklichkeit aufgebaut hat; idealistisch ist sie auch, insofern sie festhält an den Ideen, insbesondere an den moralischen und religiösen, als nicht bloß nützlichen, sondern notwendigen Begriffsgebilden der Menschheit. Somit ist VAIHINGERs Weltanschauung psychologisch und biologisch fundiert; er ist somit einen der beiden Wege gegangen, die für den heutigen Philosophen, der durch die Schule LOCKEs, HUMEs und KANTs gegangen ist, einzig und allein noch gangbar sind.

Es gibt neben diesem aber auch noch einen anderen Weg, der innerhalb der Grenzen der bloßen Erkenntniskritik bleibt uns sich von jeglicher Psychologie und Biologie völlig fern hält. Für denjenigen, der diesen Weg geht, handelt es sich nicht um die Inhalte der Erkenntnis, sondern nur um ihre Form, um ihre allgemeine Gesetzlichkeit überhaupt. Daher gelangt man auf diesem Weg naturgemäß auch zu ganz anderen Resultaten als VAIHINGER. Analysiert man den Begriff der Erfahrung, um die allgemeine Gesetzlichkeit aller Erfahrung überhaupt aufzufinden, so erkennt man, daß die Kategorien für die Erfahrung eine konstitutive Bedeutung und somit auch einen wirklichen Erkenntniswert haben; analysiert man den Begriff der Sittlichkeit, um die Form alles Sittlichen überhaupt aufzufinden, so sieht man, daß dem Freiheitsbegrifff gleichfalls eine konstitutive Bedeutung zukommt, zwar nicht für die Erscheinungswelt in ihrem sinnlich-naturgesetzlichen Zusammenhang, wohl aber für ein (natürlich nicht metaphysisch, sondern ausschließlich methodisch zu verstehendes) Reich der Sittlichen Werte und Zwecke, in welchem eben Kausalität durch Freiheit herrscht. -

Sind uns übrigens wirklich, wie VAIHINGER meint, die bloßen Empfindungen schlechthin gegeben? Sind diese nicht vielmehr das Produkt einer Abstraktion, während uns in Wahrheit die Erfahrung als ein einheitliches Ganzes gegeben ist, in welchem die Empfindungen bereits in den Formen der Anschauung und des Denkens geordnet sind?

Die Vertreter der beiden hier gegenübergestellten Richtungen verstehen sich oftmals nicht und befehden sich auf das Heftigste, keineswegs mit allzugroßemm Recht und irgendeinem Vorteil für die Sache selbst. Es ist gar kein Grund einzusehen, aus welchem mman dasselbe Phänomen nicht unter zwei völlig verschiedenen Gesichtspunkten betrachten sollte, und es ist weiter klar, daß ein verschiedener Ausgangspunkt auch leicht zu ganz verschiedenen Resultaten führen kann. Wer vom einheitlichen Ganzen der Erfahrung ausgeht und durch eine Analyse des Begriffs der Erfahrung die ihn konstituierenden Elemente und ihren gesetzlichen Zusammenhang finden will, schlägt natürlich einen ganz anderen Weg ein als derjenige, der an den Empfindungen seinen Ausgangspunkt nimmt, die ja in Wahrheit nur innerhalb des einheitlichen Ganzen der Erfahrung Bestand haben und in der Isolierung nur die Produkte einer Abstraktion aus diesem Ganzen der Erfahrung sind. Beide Wege schließen einander in keiner Weise aus, so wenig wie sich Erkenntniskritikk und Psychologie ausschließen; denn offenbar ist der erste Weg der erkenntniskritische, der zweite der psychologische. Der Erkenntniskritiker kann nicht abstreiten, daß die Begriffe "Erfahrung" und "Sittlichkeit" auch psychologische Phänomene sind; als solche sind sie selbstverständlich auch Gegenstand der psychologischen Forschung. Ferner kann man auch die biologische Bedeutung nicht verkennen, welche der Erfahruung im Leben der Menschen, der Sittlichkeit im Lebenshaushalt der Völker zukommt. Alle diese psychologischen und biologischen Betrachtungen sind sicherlich höchst reizvoll und fraglos auch von größtem wissenschaftlichem Wert; nur glaube ich nicht, daß die Untersuchung hier schon beendet ist. Meines Erachtens beginnt hier überhaupt erst das eigentliche philosophische Problem, dessen Lösung von Rechtswegen den erwähnten psychologischen und biologischen Betrachtungen vorangehen müßte. Um nämlich die Frage beantworten zu können, wie Erfahrung und Sittlichkeit (psychologisch) entstehen und (biologisch) sich entwickeln, muß ich doch erst einmal wissen, was denn Erfahrung und Sittlichkeit eigentlich sind, d. h. wie der gesetzliche Zusammenhang der diese Begriffe konstituierenden Elemente beschaffen ist. Die Beantwortung dieser Frage erfolgt durch eine Analyse der einschlägigen Begriffe, wie sie bekanntlich KANT in seinen kritischen Hauptwerken unternommen, wenn auch nicht immer rein durchgeführt hat. Diese Begriffsanalyse ist die Aufgabe und zugleich die Methode der Philosophie; gerade hierdurch unterscheidet sich die philosophische Untersuchung von jeder anderen, also speziell auch von der psychologischen und biologischen. Selbstverständlich kann und will die philosophische Betrachtungf die psychologische und biologische keineswegs ersetzen und überflüssig machen; aber psychologische und biologische Forschung sollten auch ihrerseits einsehen, daß das philosophische Problem eine wichtige und selbständige Frage enthält, die auch eine selbständige Behandlung erfordert und mit den Mitteln der Psychologie und Biologie ganz gewiß nicht zu beantworten ist. Es handelt sich auf beiden Seiten um ganz verschiedene, aber durchaus gleichberechtigte Probleme, die miteinander gar nichts zu tun haben und auch ganz verschiedener Methoden zu ihrer Lösung bedürfen; deshalb kann auch von einer Feindschaft zwischen beiden Gebieten von Rechts wegen gar keine Rede sein. Eine solche kann nur dadurch entstehen, daß sich eine von beiden Seiten unberechtigte Übergriffe erlaubt; dies geschieht besonders dadurch, daß Psychologie und Biologie das spezifisch philosophische Problem verkennen und seine Lösung mit ihren dazu gänzlich untauglichen Mitteln versuchen wollen.

Ich geben die Konsequenzen, zu denen VAIHINGER gelangt ist, ohne weiteres zu; aber ich bin mir beußt, daß ihnen ausschließlich psychologische und biologische, keinesfalls aber erkenntniskritische Bedeutung zukommt. Gewiß haben die Kategorien vom biologischen Standpunkt aus eine Art regulativer Bedeutungf und praktischen Nutzen, insofern sie die Erscheinungen der Lebenswelt regeln und dadurch Leben und praktisches Handeln ermöglichen; aber deshalb kommt ihnen zugleich vom erkenntniskritischen Standpunkt aus eine konstitutive Bedeutung und ein theoretischer Erkenntniswert zu, weil und insofern sie die Erfahrung konstituieren. Gewiß hat die Freiheit einen regulativen Nutzen, insofern sie das menschliche Handeln nach sittlichen Prinzipien regelt; aber sie hat zugleich auch eine konstitutive Bedeutung für ein praktisches Reich der sittlichen Werte und Zwecke (was natürlich, wie schon einmal betont wurde, nicht in einem metaphysischen, sondern rein methodischen Sinn zu verstehen ist). Freilich ist unser Denken ein Mittel zu unserer Orientierung in der Wirklichkeit und damit zu unserem Leben überhaupt; aber es hat neben dieser praktisch-technischen auch eine selbständige theoretische Bedeutung als konstituierendes Element unserer Vorstellungswelt. Und weiter kann man VAIHINGER zugeben, daß es in einem psychologisch-biologischen Sinn so etwas wie eine Art doppelter Wahrheit gibt; trotzdem kennt die Erkenntniskritik nur einen Wahrheitsbegriff, den sie in einem eindeutigen Sinn festzulegen hat.

VAIHINGERs Untersuchung beleuchtet die Sachlage eben von einem psychologischen und biologischen Standpunkt aus; und dagegen ist auch gar nichts zu sagen, solange man sich nur der verschiedenen Probleme und der verschiedenen Methoden der beiden genannten Forschungsgebiete klar bewußt ist. Der psychologisch-biologische Weg VAIHINGERs ist der Weg DAVID HUMEs, während der erkenntniskritische der KANTs ist; man darf die beiden Richtungen nicht miteinander verquicken. Gewiß hat VAIHINGER nachgewiesen, daß sich bei KANT zahlreiche Ansätze zu einer "Philosophie des Als Ob" finden. Allein das beweist nichts dagegen, daß die eigentliche historische Bedeutung KANTs gerade darin liegt, daß er eine von jeglicher Psychologie und Biologie gänzlich unabhängige Erkenntniskritik geschaffen hat; vielmehr kann uns das nur mit einer neuen und stärkeren Bewunderung für den großen und umfassenden Geist KANTs erfüllen, der den Schwerpunkt seiner Tendenzen zwar auf die Erkenntniskritik verlegte, dessen ungeachtet aber auch die psychologische und biologische Seite des Erkenntnisvorgangs bereits in den Umkreis seiner Betrachtungen zog. Die VAIHINGERsche Untersuchung über die Stellung KANTs zur "Philosophie des Als Ob" ist zweifellos eine große philosophiegeschichtliche Tat, die der ihr gebührenden Beachtung sicher sein darf; die große, gar nicht genug zu bewundernde philologische Arbeitsleistung, die diese Untersuchung zur Voraussetzung hatte, wird zweifellos nicht vergeblich unternommen worden sein. Auch VAIHINGERs Würdigung FORBERGs und F. A. LANGEs sowie seine Ausführungen über NIETZSCHE sind philosophiegeschichtlich unbedingt verdienstlich. Auch die Logik dürfte von VAIHINGER, der als erster das fiktive Denken systematisch behandelt hat, starke Impulse empfangen haben. Nimmt man noch hinzu, daß er seinen Weg der psychologisch-biologischen Untersuchung mit schöner Konsequenz und in vorbildlich klarer und anschaulicher Weise bis an seine äußersten Grenzen verfolgt hat, so kann man nicht umhin, sein Werk als eine der bedeutendsten Erscheinungen in der philosophischen Produktion der letzten Jahre anzusprechen. "So wie es nun ist, mag es Manchem das lösende Wort in quälenden Problemen bringen, man Anderen aus dogmatischer Ruhe in neue Zweifel stürzen, bei Vielen Anstoß erregen, aber hoffentlich auch Einigen neue Anstöße geben."
LITERATUR - Kurt Sternberg, Rezension von Vaihingers "Philosophie des Als Ob", Kant-Studien, Bd. 16, Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) Übrigens hat die Tatsache, daß die hier niedergelegten Untersuchungen größtenteils schon vor so langer Zeit angestellt worden sind, neben anderen Gründen wohl in erster Linie Vaihinger dazu veranlaßt, sich nicht als Verfasser, sondern nur als Herausgeber seines Werkes einzuführen. So sehr man dieses Motiv auch verstehen und würdigen mag, so muß man doch sagen, daß diese übergroße Vorsicht Vaihingers wirklich nicht nötig war. Die von ihm behandelten Probleme sind nicht nur auch heute noch interessant; vielmehr stehen sie gegenwärtig zweifellos noch weit mehr im Mittelpunkt des philosophischen Denkens, als es vor 35 Jahren der Fall war, was auch Vaihinger selbst im Vorwort zu seinem Werk ausdrücklich bemerkt hat.