"Jedes wissenschaftliche Gesetz ist nach Meyerson eine ideale Konstruktion, das wir mittels einer Abstraktion schaffen, durch die Isolierung einzelner Phänomene vom Weltganzen. Es entspricht der Wirklichkeit nur in dem Maße, wie das geschriebene Wort dem Ding, das es bezeichnet. Die Überzeugung von der Ordnung im Kosmos, der Gesetzlichkeit der Naturerscheinungen ist kein Produkt der Erfahrung, denn sie geht jeder wissenschaftlichen Erkenntnis voran, ist deren Bedingung und Voraussetzung."
"Es ist für Meyerson erwiesen, daß das Identitätsprinzip die wirkliche Erscheinungswelt nicht vollkommen beherrschen kann, daß also kein Naturvorgang, auch nicht der kleinste, restlos erklärbar ist. Die Rationalisierung der Wirklichkeit, die wir mittels des Kausalitätsprinzips vollziehen zu können glaubten, ist ein Ziel, das die Wissenschaft nie erreichen wird. Denn wir gelangen auf rationalem Weg nicht zu einer Erklärung der Realität, sondern nur zu deren Verneinung."
Das SCHILLERsche Epigramm auf die Naturforscher und Philosophen ("Feindschaft sei zwischen euch") verliert immer mehr, dank den Schöpfungen eines JOHANNES MÜLLER, C. E. von BÄR, HELMHOLTZ, MACH und OSTWALD, an Aktualität. Langsam aber sicher bricht sich die Ansicht Bahn, daß der vermeintliche Gegensatz zwischen abstrakter Philosophie und naturwissenschaftlichem Denken der Eintracht und der gegenseitigen Berücksichtigung weichen muß, aus der allein die Philosophie wie auch die exakten Wissenschaften frische Nahrung, neues Blut schöpfen können. In Frankreich ist diese Erkenntnis niemals ganz verloren gegangen. Hier ging neben der COUSINschen Philosophie, die stets an der Oberfläche blieb, der wahre Strom der Wissenschaft, der von d'ALEMBERT über AMPÈRE, COURNOT, RENOUVIER zu den Zeitgenossen führt. Die jüngste Frucht dieser "Philosophie des sciences" ist das Werk EMIL MEYERSONs, das sich den Schöpfungen BOUTROUX', BERGSONs und POINCAREs würdig anreiht.
Was uns MEYERSON in seinem Werk zunächst bietet, ist nicht mehr und nicht weniger ein System der Wissenschaften, das dem positivistischen, welches unter verschiedenen Benennungen einen Weltteil nach dem andern erobert hat, diametral entgegengesetzt ist. Das Grundprinzip des Positivismus ist, wie MEYERSON ausführt, dasjenige der Gesetzlichkeit (Legalität). Die positivistische Lehre beschränkt die Wissenschaft, die nach dem Prinzip der Ökonomie des Denkens verfährt (MACH), auf eine Beschreibung der Naturerscheinungen. Sie erklärt mit HUME als eine wesentliche Forderung für den wahrhaften Philosophen, daß er das Streben nach Ursachen zu forschen unterdrückt. Die Kausalität wird entweder in die metaphysische Rumpelkammer verwiesen, oder, wie BERKELEY und HUME es getan haben, mit der Gesetzlichkeit identifiziert. Gelingt es, den Nachweis zu führen, daß diese beiden Prinzipien wesentlich voneinander verschieden sind, daß die Gesetzlichkeit allein das Wesen und den Gang der wissenschaftlichen Forschung nicht zu erklären vermag, so stürzt das positivistische System wie ein Kartenhaus zusammen.
MEYERSON geht im ersten Teil seines Werkes an diese Aufgabe heran, die er imt ebensoviel Gründlichkeit wie Wissenschaftlichkeit löst. Seine Methode ist dabei historisch-kritisch. Von den Ergebnissen der exakten Wissenschaften ausgehend, durchforscht er genau die Genesis eines jeden Konstanzprinzips, so daß diese Untersuchungen zum Teil mit zum Besten gehören, was auf dem Gebiet der Geschichte der Wissenschaften geleistet wurde.
Jedes wissenschaftliche Gesetz ist nach MEYERSON eine ideale Konstruktion, das wir mittels einer Abstraktion schaffen, durch die Isolierung einzelner Phänomene vom Weltganzen. Es entspricht der Wirklichkeit nur in dem Maße, wie das geschriebene Wort dem Ding, das es bezeichnet. Die Überzeugung von der Ordnung im Kosmos, der Gesetzlichkeit der Naturerscheinungen ist kein Produkt der Erfahrung, denn sie geht jeder wissenschaftlichen Erkenntnis voran, ist deren Bedingung und Voraussetzung. Wir hypostasieren [einem Wort gegenständliche Realität unterschieben - wp] die Naturgesetzlichkeit, weil wir tätige, handelnde Wesen sind. Ohne Ordnung im Weltall keine Voraussicht und infolgedessen keine Tätigkeit. Der Selbsterhaltungstrieb, der sich im Kampf gegen die Naturgewalten manifestiert, ließ uns die strenge Gesetzlichkeit im Kosmos postulieren, um die drohenden Gefahren vorauszusehen, vorausbestimmen und abwehren zu können. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der Urquell alles praktischen und nützlichen Wissens, ist in uns aber nicht alleinherrschend. Ihm gegenüber steht der Erkenntnistrieb, jener innere Drang in uns, der auf das Warum und nicht auf das Wie der Dinge gerichtet ist, der erkennen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält. LEIBNIZ nannte ihn das Prinzip des zureichenden Grundes, MEYERSON erblickt in ihm die Wurzel zum Kausalitätsgesetz.
Kausalität und Gesetzlichkeit sind nicht bloß ihrem Ursprung nach verschieden, sondern auch in ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit, auf Zeit und Raum. Nach dem Prinzip der Naturgesetzlichkeit, das die völlige Homogenität von Zeit und Raum den Gesetzen gegenüber verlangt, beharren die Dinge im Raum, aber nicht in der Zeit. Es genügt, daß wir die Art und Weise der Veränderung kennen, die die Objekte nach Ablauf eines Zeitabschnitts erfahren, um neue Gesetze aufstellen zu können. Die Kausalität hingegen, oder zumindest die wissenschaftliche Kausalität (Causalité scientifique), die MEYERSON als das Prinzip der Identität in seiner Anwendung auf die Existenz der Dinge in der Zeit definiert, stellt die Zeit, was die Beharrlichkeit der Dinge betrifft, dem Raum gleich. Die Identifikation von Antezendenz [Vorausgehendes - wp] und Konsequenz [Nachfolgendes - wp], die MEYERSON, nach einigen feinsinnigen Bemerkungen über das Zeit- und Raumproblem und die Willensfreiheit, für den Hebel aller wissenschaftlichen Forschung erklärt, erscheint im ersten Augenblick als eine unfruchtbare Tautologie, als ein analytisches Urteil. MEYERSON hebt mit SPIR hervor, daß der Identitätsbeschluß seinen analytischen Charakter verliert, sobald er auf die Zeit angewandt wird, "er ist synthetisch, wenn er als eine Behauptung aufgefaßt wird, welche die Natur der wirklichen Dinge betrifft".
Wie ist nun diese wissenschaftliche Kausalität in der Geschichte des menschlichen Denkens wirksam gewesen? Welches sind ihre Resultate? Eine Reihe von Kapiteln, die der Naturforscher mit ebensolchem Genuß, wie der Philosoph lesen wird, geben uns darüber Aufschluß. Mit Hilfe einer haarscharfen analytischen Zergliederung dessen, wie die Konstanzprinzipien entstanden und zur Geltung gekommen sind, wird überzeugend dargelegt, daß denselben kein empirische Grundlage zugeschrieben werden kann. Die Konstanzgesetze können keinesfalls, wie das übrigens schon manche Physiker erkannt haben, als Gesetze in einem positivistischen Sinn aufgefaßt werden. Daher die auffallende Tatsache, daß nicht bloß Philosophen, sondern auch bedeutende Naturforscher nach apriorischen Beweisen gesucht haben. MEYERSON führt klar aus, daß diese apriorischen Beweise ebensowenig stichhaltig sind, wie die aposteriorischen. Die Konstanzprinzipien beruhen auf dem Kausalitätssatz oder einem Kausalitätsbedürfnis, d. h. auf der Gleichsetzung von Antezedenz und Konsequenz. Sie sind weder a priori noch a posteriori, sondern gehören einer neuen Klasse an: sie sind "plausibel". Was MEYERSON darunter versteht, erklärt er folgendermaßen:
"Jeder Satz, der die Identität in der Zeit behauptet, erscheint uns a priori in hohem Grad wahrscheinlich. Er findet unseren Geist vorbereitet, bestrickt ihn und wird sofort angenommen, außer, wenn ihm offensichtliche Tatsachen widersprechen. Vielmehr wäre es angezeigt, Aussagen dieser Art, die zwischen dem a priori und dem a posteriori liegen, eine neue Bezeichnung beizulegen. Wir schlagen, in Ermangelung eines besseren, den Ausdruck plausibel vor; so ist dann jeder Satz, der die Identität in der Zeit bedingt, jedes Konstanzgesetz plausibel."
Dasselbe Identitätsprinzip dominiert auch in der Atomlehre, die nach MEYERSON nichts anderes ist, als das Postulat, daß gewisse Begriffe, denen wir den Charakter der Substand verleihen [hypostasieren - wp] im ewigen Wechsel der Zeit sich identisch bleiben. Das Weltbild, das die Sinne uns liefern, wird auf einen Wirbel eigenschaftsloser Atome zurückgeführt, so daß ein Verstand höherer Ordnung, wie MEYERSON mit POINCARÈ sagt, von dieser Wirklichkeit etwa den Eindruck empfinge, wie von einer Partie Billard. - Allein mit der Schaffung der Konstanzprinzipien und eines wärme-, farb- und klanglosen Mechanismus hat sich unser Verstand nicht Genüge getan. Er grübelt weiter und sucht zunächst, die Zeit als unabhängige Variable zu eliminieren. In der Wissenschaft der organisierten Natur, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe steht, ist das ursprüngliche Gesetz noch häufig beibehalten. Hingegen wir in den fortgeschrittenen Teilen der Naturwissenschaft, namentlich in der Mechanik, die Zeit möglichst ausgeschaltet. Ebenso bedeutet die chemische Gleichung eigentlich eine Leugnung der Zeit. Denn Antezedenz und Konsequenz, als linke und rechte Seite der Gleichung, werden durch das Gleichheitszeichen verbunden, d. h. es sieht aus, als wäre nichts geschehen. Zwar haben HENRY SAINTE-CLAIRE DEVILLE und OSTWALD eine andere Deutung versucht, aber MEYERSON tut überzeugend dar, namentlich durch eine Analyse der Schriften LAVOISIERs, des Schöpfers des Grundgedankens der modernen Chemie, daß diese Auffassung unhaltbar ist, daß eine Präexistenz der Resultate tatsächlich vorausgesetzt wird. Dieses jede Bewegung leugnende Weltbild ist unserem Verstand noch immer nicht Endzweck. Seine Tendenz führt vielmehr zu einer Identifikation der Materie mit dem Raum. Wie dies im einzelnen geschieht, weist MEYERSON nach, durch eine Untersuchung der die Physik der Vergangenheit und der Gegenwart beherrschenden Tendenzen. Namentlich ist die Neigung zur Annahme einer Einheit der Materie, deren eigentliche Grundlage viel umstritten ist, - LOTZE hat sie bekanntlich aus ästhetischen Gründen entspringend bezeichnet - nach MEYERSON nur eine Vorstufe zum völligen Verschwimmen der Materie im Äther, der eben nur, wie es bereits HELMHOLTZ dargelegt hat, eine Hypostase des Raumes ist.
"Wir haben zunächst erklärt, d. h. verneint die Veränderung, indem wir Antezendenz und Konsequenz gleichsetzten, und der Weltlauf hielt inne. Es blieb uns ein von Körpern erfüllter Raum zurück. Wir haben die Körper mittels des Raumes gebildet, sie auf den Raum zurückgeführt, und die Körper verschwanden ihrerseits. Es ist die Leere, das Gar-Nichts, wie Maxwell sagt, die Nichtigkeit (néant). Denn die Zeit und der Raum haben sich aufgelöst. Die Zeit, deren Lauf keine Veränderung in sich schließt, ist nicht unterscheidbar, existiert nicht. Und der Raum, von Körpern entleert, durch nichts gekennzeichnet, verschwindet auch."
Mit logischer Konsequenz und dramatischer Gewalt zeigt uns MEYERSON, wie sich die Katastrophe vorbereitet, herannaht, und wie schließlich die Katharsis [Reinigung - wp] erfolgt, die Reaktion, die von der exakten Wissenschaft gegen die Verneinung der Wirklichkeit ausging. CARNOT war es, der der Menschheit das wiedergab, was die Unterlage ihres Begriffes der wahrnehmbaren Sinnenwelt ausmacht: den Begriff der Irreversibilität [Unumkehrbarkeit - wp], der Veränderung und der realen Zeit. Im VIII. Kapitel, gleichsam der Peripetie [plötzlicher Umschlag - wp] des Buches, behandelt MEYERSON das CARNOTsche Prinzip. CARNOT hat seinen fundamentalen Gedanken in seiner berühmten Abhandlung, "Reflexions sur la puissance motrice du feu" [Betrachtungen über die bewegende Kraft des Feuers - wp], formuliert. Er stellt darin anhand des einfachsten Wärmephänomens fest, daß in der Wirklichkeit keine Erscheinung umkehrbar ist. Es wird dadurch, wie MEYERSON zeigt, erwiesen, daß das Identitätsprinzip die wirkliche Erscheinungswelt nicht vollkommen beherrschen kann, daß also kein Naturvorgang, auch nicht der kleinste, restlos erklärbar ist. Die Rationalisierung der Wirklichkeit, die wir mittels des Kausalitätsprinzips vollziehen zu können glaubten, ist ein Ziel, das die Wissenschaft nie erreichen wird. Denn wir gelangen auf rationalem Weg nicht zu einer Erklärung der Realität, sondern nur zu deren Verneinung. Das Irrationale, das im Kosmos herrscht, steckt die Grenzen unserer Erkenntnis ab. Das Wesen und die Beschaffenheit dieses Irrationalen präzisiert MEYERSON in einem besonderen Kapitel, dem er die Darstellung der nicht-mechanischen Theorien folgen läßt. Er leitet dieselben ebenfalls vom Identitätsprinzip ab, namentlich die peripatetische [aristotelische - wp] Theorie und deren Abzweigungen im Mittelalter. Den Kern des Buches stellt das 11. Kapitel dar, das vom naiven Realismus handelt. Wie MEYERSON im Vorwort bekennt, ist ihm die Theorie der Wissenschaften nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, um den Werdegang der Welt des gesunden Menschenverstandes zu erkennen. Er geht von einem heuristischen Prinzip aus, das HELMHOLTZ' Optik beherrscht und das vor diesem BERKELEY klar formuliert, daß nämlich der Prozeß des unbewußten Schlusses mit demjenigen des bewußten identisch ist. BERKELEY und HELMHOLTZ haben diesen Grundsatz auf den Prozeß des Sehens angewandt, MEYERSON dehnt ihn auf die Wahrnehmung der Außenwelt überhaupt aus. Schritt für Schritt wird dargelegt, daß der Prozeß des wissenschaftlichen Denkens mit demjenigen des naiven Realismus genau übereinstimmt, daß die Überzeugung von der Existenz der Dinge, die in unserer augenblicklichen Wahrnehmung gar nicht enthalten sind, nichts anderes ist, als die nach dem Identitätsprinzip durchgeführte Kontinuierlichkeit dessen, was in Erscheinung treten kann. Sie findet ihren genauesten Parallelismus in den wissenschaftlichen Hypothesen, so in der latenten Wärme von BLACK und in der potentiellen Energie des modernen Physikers. Dieses 11. Kapitel wird unserer Ansicht nach den Philosophen am meisten ansprechen. Aber es wäre verfehlt, an dasselbe herantreten zu wollen, ohne sich mit den vorhergehenden bekannt gemacht zu haben. Dies ist das eigentliche Schlußkapitel. Das 12., das mit "Schlußfolgerungen" überschrieben ist, enthält nur Korollarien [Zugaben - wp], es behandelt nur diejenigen Schlußfolgerungen, die sich für den Gang der Naturwissenschaften ergeben. In verschiedenen Anhängen bespricht MEYERSON schließlich einige geschichtlich merkwürdige Punkte, z. B. das Verhältnis von LEIBNIZ und NEWTON zur actio in distans [Fernkraft - wp] und die Auffassung der Bewegungsgesetze bei den Korpernikanern.
Das MEYERSONsche Werkt stellt ein planmäßig geordnetes Gedankengefüge dar, welches von außen nach innen, von der Peripherie zum Zentrum vorschreitet, und zwar unter Benutzung aller Hilfsmittel und Errungenschaften der exakten Wissenschaften. Die Klarheit der Darstellung, die nicht einer poetischen Färbung entbehrt, die geschickte Disposition, die Universalität des Wissens endlich, das im Zeitalter der Blüte des Spezialistentums besonders beachtenswert ist, machen die Lektüre des Buches zu einem wahren ästhetischen Genuß. Die französischen Rezensenten, die das Werk durchwegs enthusiastisch aufgenommen haben, heben besonders die Fülle des verwerteten Materials hervor. Wir möchten hingegen betonen, daß das Buch mit großer Sparsamkeit an gelehrtem Apparat aufgebaut ist. Der einsichtige Leser wird unter der Fülle der Zitate kaum ein überflüssiges finden. Vielmehr ist das Ganze logisch streng gefügt, eigentlich nur ein einziger Satz. Es ist zu wünschen, daß das Werk dem deutschen philosophischen Publikum durch eine baldige Übersetzung zugänglich gemacht wird.
LITERATUR - Avram Berkowitz, Identität und Wirklichkeit, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. XV. Berlin 1909
Anmerkungen 1) Identité et realité par EMILE MEYERSON, Paris 1908