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HUGO DINGLER
[mit NS-Vergangenheit]
Der Zusammenbruch der
Wissenschaft


"Es zeigt sich also, daß reale Umstände, die nicht unmittelbarer Wahrnehmung zugänglich sind (denn nachdem Vergangenheit und Zukunft, ferner in der Gegenwart alles nicht unmittelbar Wahrgenommene ausgeschlossen ist, bleibt nur das unmittelbar Wahrgenommene übrig) nicht mit voller Sicherheit des Geschehens ausgesprochen werden können und es erhebt sich die Frage,  wie wir in der Lage sind, überhaupt etwas darüber auszusagen. "

Vorbemerkung

Eines der größten Schauspiele der Weltgeschichte überhaupt, für uns Europäer aber das größte der für uns wichtigen, ist der Untergang der Antike. Und gerade heute meinen wir zu fühlen, daß dieses Geschehnis für uns von einer ganz besonders aktuellen symbolischen und prophetischen Bedeutung sei. Ist doch ein Gefühl nach dem Weltkrieg und durch ihn unter uns aufgekommen, als ob auch wir an einer solchen Weltenwende stünden.

Tiefer als mancher denkt, ist dieses Gefühl berechtigt, ganz besonders aber und vielleicht grundlegend in geistiger Hinsicht. Denn der Untergang der griechisch-römischen Antike wurde vorbereitet und eingeleitet, ja, ich möchte sagen, im Geistigen direkt bedingt durch den Zusammenbruch der griechischen Philosophie, der geschah, als sie sich mit tiefstem Erschrecken bewußt wurde, daß die kühnen, klaren, echt griechischen Geisteskonstruktionen, die in der Mathematik, in der theoretischen Wissenschaft überhaupt, in der apodeixis [Beweis - wp] den Zugang zu letzter, letztester, absoluter Sicherheit zu bieten schienen, schließlich auch in ihrer Sicherheit angreifbar waren und vor dem tiefsten kritischen Blick der letzten Fundamente entbehrten.

Im antiken Skeptizismus, dem viel zu wenig bekannten und in seiner Bedeutung gewürdigten, haben wir den folgerichtigen Endzustand griechischer Philosophie vor uns und da auch er letzte Sicherheit nur in der Aussage zu bieten vermochte, daß zurzeit solche Sicherheit nicht erreichbar erscheine und deshalb Enthaltung die einzig mögliche Geisteshaltung sei, so war die Philosophie reif, als Weg zur Lösung der tiefsten Fragen verlassen zu werden. Wie es dann auch geschah, indem die Menschen zuletzt auch in dem, was der Vernunft vorbehalten sein sollte, in die Welt des Gefühls flüchteten. Die antike griechische Geisteswelt brach zusammen.

Im Mittelalter ermannte sich die Menschheit langsam zu neuem Denken. Zunächst äußerlich in Anknüpfung an die untergegangene Gedankenwelt der Griechen. Allmählich aber entstanden neue Methoden in Mathematik, Physik und Philosophie, die zu neuen Erfolgen der Wissenschaft führten. Nach und nach entwickelte sich eine methodologische Überzeugung über die Natur dieser Forschungen. Man glaubte es jetzt besser und klüger angefangen zu haben als die alten Griechen. Jetzt endlich glaubte man, den einzigen absolut unfehlbaren Weg zur Wissenschaft innezuhaben, es war der Weg der induktiven Naturwissenschaft, des Experiments. Aber auch hier kamen nach Jahrhunderten von sieghaften  Erfolgen  Schwierigkeiten und mit ihnen kritische Denker, die nachzuforschen begannen, wie es mit dieser absoluten Sicherheit bestellt sei. Und es stellte sich heraus und damit sind wir schon ganz nahe an unsere Zeit gekommen, daß wir nur Beschreibungen vom Realen zu geben vermöchten. Die verschiedenartigsten Beschreibungen traten auf, jede mit dem Anspruch auf Alleinrichtigkeit. Inzwischen aber wurden alle alten Gesetze der Wissenschaft in Frage gestellt, kamen ins Wanken, neue traten an ihre Stelle, in immer kürzeren Zwischenräumen wurden in ganzen Wissenschaften das Unterste zuoberst gekehrt und schließlich entstand der Zustand, in dem wir uns befinden, den meist nur der wirklich sieht, der in den verschiedenen Wissenschaften bis auf den Grund geht, der aber besteht und ständig und unaufhaltsam wächst: der Zustand, wo nichts mehr wirklich sicher, alles möglich ist und zugleich auch alles behauptet wird, wo es keine Basis und keine Richtlinien mehr gibt, nichts, nichts, was sicher wäre - mit einem Wort, das Chaos, der Zusammenbruch. In dem stehen wir mitten drin. Das Publikum ahnt das nicht und die Gelehrten verschließen oft krampfhaft die Augen. Aber früher oder später wird es allen offenbar werden.

Nur wer den Dingen fest ins Gesicht blickt und den Mut hat, sie beim Namen zu nennen, kann hoffen, einen Fels in der Sintflut zu finden. Die geistige Antike ist untergegangen, weil sie ihn nicht zu finden vermochte. Wir wollen im folgenden dem Chaos ins Antlitz blicken, den Zusammenbruch mit Bewußtsein erleben - und dann nach dem festen Boden suchen.

Dieser neue Zusammenbruch der Wissenschaft, in dem wir mitten darinnen stehen und der im Zusammenbruch des Glaubens an die Sicherheit des experimentellen Prinzips besteht, ist noch nicht soweit vorgeschritten, daß er in allen Einzelkammern des großen Gebäudes der Wissenschaft schon bemerkbar wäre. Nur der, welcher offenen Auges die Fundamente durchforscht, erkennt ihn, erkennt sein unaufhaltsames Fortschreiten, wenn nicht das Haus auf eine neue sichere Basis gestellt wird. Inzwischen aber geht in den einzelnen Teilen, wo die Detailforscher arbeiten, die nichts voneinander wissen und von dem was in den Nebenkammern gearbeitet wird, die  handwerkliche  Forschung ruhig und scheinbar gesichert ihren Gang. Wir werden verstehen lernen, wie diese scheinbare Sicherheit in einer Umgebung, wo alles wankt, zustande kommen, sich vorspiegeln kann. Der Einzelforscher klammert sich an sie. Wenn er einmal zufällig einen Blick in den Abgrund tut, drückt er wohl die Augen zu. Aber die Gesetze des Denkens sind unerbittlich. Auf  diese  Weise läßt sich der Zusammenbruch nicht vermeiden.


I. Kapitel
Der Zusammenbruch der antiken Philosophie

§ 1. Das Wahrheitsproblem

Stets mußte es das Ziel allen ernsthaften Philosophierens sein, eine endgültige, unumstößliche Philosophie zu erreichen, aufzustellen. Auch in Fällen, wo ein Philosophierender dies nicht ausdrücklich aussprach, mußte im Stillen ein solches Ziel vorschweben, denn jeder die Sache wollende Philosophie muß wünschen, daß seine Aufstellungen von größtmöglicher Dauer seien, dies aber ist die unbegrenzte Dauer. Denn gerade dadurch unterscheiden wir den theoretischen Philosophen vom Politiker, Tagesschriftsteller oder Rhetor, daß er mit dem Anspruch auftritt, das, was er sagt, nicht für den Tag und die Stunde zu sagen, sondern für alle denkbare Dauer und daß er deshalb darauf verzichtet, seine Meinung nach den ökonomischen wirtschaftlichen Forderungen der Stunde zu formen, soweit solche Forderungen überhaupt in seine vom Getriebe des Alltags vielfach ferne Tätigkeit hineinragen.

Solch tagesfernes Ewigkeitswerk, dessen Bearbeitung und Erledigung für die Menschheit ebenso nötig ist wie alle die praktischen Dinge, hat aber zuletzt dennoch tiefgehendste Wirkung auch auf die praktische Seite des Daseins, da es notwendig dazu führt, auch die praktischen Dinge in der Art zu behandeln, wie das der wahren Vernunft am meisten gemäß ist.

Man kann nun bei jedem Satz der Wissenschaft, welcher mit dem Anspruch von  Wahrheit, Geltung, Richtigkeit, Bewiesenheit  an mich herantritt, fragen, wodurch er diesen seinen Anspruch begründet. Alle diese vier Ausdrücke Wahrheit, Geltung, Richtigkeit, Bewiesenheit haben nun in den philosophischen und methodologischen Untersuchungen mehrfache genauere Bedeutungsbestimmungen erfahren, die nicht nur für diese vier Termini unter sicht, sondern auch für jeden einzelnen von ihnen bei den einzelnen Autoren meist recht verschieden sind. Dies ist der Grund, warum es sehr schwer ist, über diese Dinge so zu sprechen, daß man in dem, was man eindeutig meint, auch eindeutig verstanden wird.

Wir wollen zunächst kurz den Tatbestand, wie er sich bei naiver phänomenologischer Betrachtung darbietet, betrachten.

Wir sprechen im täglichen Leben in Sätzen unserer Sprache und unterscheiden (besonders bei unseren Kindern - bei Erwachsenen haben diese Begriffe eine andere Bedeutung!)  Wahrheit und Lüge  im Hinblick auf solche Sätze, soweit sie eine Aussage enthalten. Wir alle wissen, daß es vom praktischen Gesichtspunkt aus viele Fälle gibt, wo wir eine Lüge direkt feststellen können, daß es aber auch Fälle gibt, wo es recht schwer und manchmal unmöglich ist, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, Fälle, wo beide untrennbar zusammenfließen.

Neben dem praktischen Leben haben wir die sogenannte  Wissenschaft.  Diese besteht in großen Gruppen von Sätzen, die sämtlich mit dem Anspruch auftreten, "richtig" zu sein, oder "wahr" zu sein. Die direkte, bewußte "Lüge" ist in diesem Gebiet in weitem Maß durch starke öffentliche Kontrolle ausgeschlossen. Dagegen tritt hier die Unterscheidung von richtig und nicht richtig auf, indem nach bestimmten Kriterien festgestellt oder festzustellen versucht wird, ob ein bestimmter Wissenschaftler in einem bestimmten Fall einen richtigen Satz aufgestellt hat, oder einen nichtrichtigen, indem er sich "getäuscht" hat, einen "Fehler" gemacht hat.

Irgendwie also werden hier nicht näher genannte Instanzen stillschweigend und implizit anerkannt, die jenseits der Willkür des einzelnen den Maßstab dafür liefern, ob ein von ihm ausgesprochener Satz als annehmbar oder als zu verwerfen anzusehen ist.  Dies ist die Hauptsache, daß diese Instanzen jenseits der Willkür des einzelnen liegen.  Dann liegen hier also Etwasse vor, die eine in der genannten Richtung sozusagen selbständige Macht darstellen, welche unabhängig von der Willkür des einzelnen ist. In der Erforschung dieser Mächte, dieser Instanzen, muß natürlich letzten Endes alle Lehre von Aussagen überhaupt und damit auch alle Erkenntnistheorie gipfeln.

Es ist daher unsere nächste Aufgabe, die für diese Erforschung vorliegenden Möglichkeiten zu überdenken.


§ 2. Die Ungewißheiten

Die uns gewohnte, schon im Naiven bestehende Zeitempfindung läßt uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden, die sich zeitlich gegenseitig ausschließen. In dieser Ausdrucksweise ist es eine allgemein angenommene Sache, daß wir über die Zukunft nichts Gewisses wissen. Auch erfahren wir von dieser Anschauung aus tatsächlich fortwährend die Richtigkeit dieses Satzes. Wir pflegen uns auszudrücken, daß nur die Gegenwart unmittelbare Wahrnehmung sei. Da nur letztere als völlig unzweifelhaft gilt, so ist die Gegenwart als unzweifelhaft damit bezeichnet.

Auch die Vergangenheit ist uns weitgehend unbekannt und ungewiß. Da nur die Gegenwart unmittelbare Wahrnehmung ist, so ist die Vergangenheit es nicht. Und da nur die unmittelbare Wahrnehmung für völlig unzweifelhaft gilt, so ist die Vergangenheit auch von diesem Prädikat ausgeschlossen.

Aber auch innerhalb des Gegenwärtigen gibt es Ungewißheiten. Wir treffen hier auf das "Problem der Rückseiten". Wie es hinter der von mir gesehenen Türe jetzt aussieht, kann ich nicht mit völliger Gewißheit wissen. Ich habe in wechselnder Stärke praktische Sicherheitsgefühle darüber, wie es dort aussieht, aber absolute Sicherheit nicht. Ebenso, wenn ich verreist bin und an meinen Wohnort denke oder wenn ich aus meinem Bureau entfernt bin, kann ich nicht mit absoluter Gewißheit wissen, wie es dort aussieht. Ich kann es mit einem je nach den näheren Umständen wechselnden Maß von Sicherheit, niemals aber mit absoluter. Je länger ich von einem solchen Ort entfernt bin, desto geringer wird die Sicherheit. Ein nach Amerika Ausgewanderter kann nicht wissen, was in seiner Heimatstadt sich verändert hat.

So kann ich also nicht mit absoluter Gewißheit wissen, wie es hinter irgendeinem undurchsichtigen Gegenstand aussieht, selbst wenn ich soeben dorthin gesehen habe. Alle Taschenspielereien, alle Überraschungen, aller Okkultismus, aller Betrug beruhen auf diesem Nichtwissen, aber oft vermeintlichen Wissen. Natürlich gibt es in unseren stabilen Ländern und Zeiten Möglichkeiten, wo mit einer fast restlosen Sicherheit auf die Fortdauer einmal direkt wahrgenommener Umstände geschlossen werden kann, falls keine Umstände bekannt sind, die dem entgegenwirken. Dies ist aber nicht Folge eines notwendigen überall bestehenden Zustandes, sondern ist eine spezielle Eigenschaft dieser Gegend zu dieser Zeit, ist also im weitesten Sinne Zufall.

Es zeigt sich also, daß reale Umstände, die nicht unmittelbarer Wahrnehmung zugänglich sind (denn nachdem Vergangenheit und Zukunft, ferner in der Gegenwart alles nicht unmittelbar Wahrgenommene ausgeschlossen ist, bleibt nur das unmittelbar Wahrgenommene übrig) nicht mit voller Sicherheit des Geschehens ausgesprochen werden können und es erhebt sich die Frage,  wie wir in der Lage sind, überhaupt etwas darüber auszusagen.  (1)


§ 3. Zur Terminologie

1. Natürlich können wir nur nach und nach unsere Terminologie genau festlegen, soweit es nötig ist. Ich werde aber stets versuchen, soweit als möglich, mit Ausdrücken zu arbeiten, die als eindeutig gebraucht werden.

Wenn ich das Adjektivum "allgemein" von einem Urteil aussage, so sagt das zunächst nur, daß eine Mehrheit von Fällen in Betracht kommt. Aber diese können zunächst in zweierlei Weisen aufgefaßt werden:
    a) eine Mehrheit von Personen, welche das Urteil als geltend anerkennen,

    b) eine Mehrheit von Einzelfällen, welche das Urteil in ein Gesamturteil zusammenfaßt.
Im Fall  a)  wollen wir das Urteil als  "apperzeptiv oder anerkennungs- allgemein  für den betreffenden Personenkreis" bezeichnen.

Im Fall  b)  wollen wir das Urteil als  "bestehens-allgemein"  für den betreffenden Kreis von Einzelfällen bezeichnen. Man könnte die Fälle  a)  und  b)  auch durch die Termini communis und generalis unterscheiden.

Die Möglichkeiten weiterer Unterscheidungen werden sich uns noch ergeben im Verlauf unserer Überlegungen.

2. Wir wollen ferner einen Terminus schaffen, der die Begründetheit von Sätzen eindeutig ausspricht. Bei der Vielverworrenheit der Nomenklatur ist es notwendig, dazu besondere Vorkehrungen zu treffen. Das Problem dieser Begründungen ist nun u. a. das Zentralproblem dieses Buches. Wenn ich etwa von einem Satz sagen möchte, daß er völlig ohne Grund sei und sage dies mit den Worten: "der Satz ist völlig unbewiesen", dann erwidert mir mein Gegendisputant: "Der Satz kann gar nicht bewiesen sein, da er ein Axiom ist." Er versteht also unter "beweisen" einzig und allein das "logische Ableiten" eines Satzes mittels einer Kette von logischen Schlüssen. Ich sage etwa, daß der Satz "unbegründet" sei. Er erwidert darauf etwa, daß der Satz überhaupt keiner Begründung brauche, da er in keinem Kausalverhältnis zu einem anderen Satz stehe. Er hat also wiederum meine Meinung nicht verstanden oder verstehen wollen. Da wir nun der Ansicht huldigen, daß jeder Satz, der vor wissenschaftlichem Forum verantwortlich aufgestellt wird, in seinem Inhalt müsse gerechtfertigt werden können, so ist es natürlich naheliegend, daß man gelegentlich den Fall findet, wo eine solche Rechtfertigung überhaupt nicht vorhanden ist. Und dies, ohne jede Nebenbedingung sollten die obigen Formulierungen ausdrücken. Der Opponent versteht jede derselben mit irgendeiner speziellen Nebenbedingungen und könnte sich damit den Konsequenzen entziehen. Das mag nun bei Gelegenheiten, wo das Streitreden ansich Selbstzweck ist, bequeme Art des Vorgehens sein. Seine Verwendung zeigt jedoch immer, daß der Opponent sich fürchtet, das eigentlich gemeinte Problem wirklich zur Diskussion kommen zu lassen und damit scheidet er eigentlich aus unserem Interessenkreis aus. Wir wollen als folgendes festsetzen: Wir verstehen die allgemeinen Ausdrücke:  beweisen, begründen,  stets im  allgemeinsten Sinn  als  "letztes Rechtfertigen",  als Beantwortung der quaestio quid iuris [Rechtfertigungsfrage - wp]  ohne jede Einschränkung hinsichtlich der Art, wie das geschehen soll.  Soll eine Spezialisierung dieser Art vorgenommen werden, dann werde dies stets durch ein Beiwort angedeutet.


§ 4. Das Geltungsproblem und die Stufenleiter der Begründungen

Historisch grundlegend für die ganze philosophische Entwicklung ist bekanntlich die Philosophie der Griechen. Und grundlegend für die Philosophie der Griechen war in vieler Hinsicht die Entwicklung der griechischen  Mathematik. 

In dieser fanden folgende Stufen des Werdens statt. Der erste Schritt, durch den die Geometrie zur theoretischen Wissenschaft wurde (und dieses eben bewirkt zu haben, ist die unfaßlich große Leistung der Griechen, die damit die erste reine Wissenschaft überhaupt schufen) besteht in der Entdeckung wurde angeblich zu THALES Zeiten (ca. 600 v. Chr.) gemacht, denn PROKLUS DIADOCHUS erzählt uns in seinem Mathematikerverzeichnis, daß THALES den Satz, daß der Kreis durch seinen Durchmesser halbiert werde, bewiesen habe. Auch noch einige andere solcher Sätze werden von PROKLUS angeführt. (2)

In Wirklichkeit dürfte PROKLUS hier sagenhafte Überlieferung wiedergegeben haben. Wir sind heute ziemlich sicher, daß die Idee des Beweisens im genannten Sinn kaum lange vor DEMOKRIT, wenn nicht überhaupt erst bei ihm aufgetaucht ist, wie denn bei diesem Denker die Begriffe Element und System und die mit ihnen korrelativ verknüpften von Analyse und Synthese zum ersten Mal erfaßt zu sein scheinen. (3) Ohne Zweifel waren es erst die sogenannten älteren Pythagoreer welche die Anfänge der Methode des Beweisens entwickelten. Ansätze finden sich gleichzeitig bei den Eleaten.

Ist die Möglichkeit des Beweises überhaupt einmal entdeckt, wird sie bald zur Forderung erhoben, da sie allein vor falschen Sätzen zu schützen vermag. Schon bald, wohl bei den Schülern des Pythagoras, sehen wir einen Triumph der schließenden Methode, indem diese zeigen können, daß die Diagonale des Quadrats mit dessen Seite inkommensurabel sei. Dieser Satz kann niemals anschaulich erschaut, er muß also erschlossen und damit also "bewiesen" worden sein. ARISTOTELES überliefert uns (4) sogar den Kern des Beweises in den Worten, daß diese Inkommensurabilität bestehe, weil sonst Gerades Ungeradem gleich sein müßte.

So bildeten sich nach und nach gewisse Gedankenketten, welche solche Beweise darstellten, d. h. gewisse kompliziertere Lehrsätze auf einfachere oder mindestens andere zurückführten. Beim lebhaften Betrieb der Sache in allen Philosophenschulen mehrten sich solche Beweisketten schnell und es muß dann eine Zeit eingetreten sein, wo der eine Mathematiker den Satz  A  aus dem Satz  B,  der andere den Satz  B  aus dem Satz  A  (im weiteren Sinn) ableitete. Es mußte die Frage entstehen, wie man aus dem so erwachsenen Wirrsal herauskommen könne. Leider haben wir aus dieser Periode, die kurz vor PLATO und gleichzeitig mit ihm gedauert haben mag, nur recht wenig Reste der mathematischen Forschung und diese sind zwar historische, aber lange nicht so methodologisch durchforscht. Es scheint, daß es dann im wesentlichen PLATO und seine mathematischen Freunde waren, die den Gedanken faßten, daß dieser Wirrwarr behoben werden könne, wenn alle diese Ansätze  in einem umfassenden System  vereinigt wurden, woraus sich dann die Eigenschaften eines solchen logischen Systems (relativ kleine Gruppe von selbst darin unbewiesenen Ausgangssätzen - Axiomen, alles weitere lediglich abgeleitete Sätze und Definitionen) mit Notwendigkeit ergaben. Eine wichtige Vorbereitung hierzu war sicher das Elementarlehrbuch des HIPPOKRATES von Chios (zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts), von dem PROKLUS im Mathematikerverzeichnis seines Kommentars zum 1. Buch des EUKLID als dem  ersten  jemals verfaßten uns erzählt. Schon in der Tatsache des Zusammenfassens der verschiedenen vorhandenen Teile der Geometrie liegt ein wichtiger Schritt zum schöpferischen Gedanken des "Systems" und wenn PLATO (geboren 429), der, als altathenischer Familie stammend, in Athen aufwuchs, bei HIPPOKRATES (der nach einer von JAMBLICHUS überlieferten Anekdote von den Pythagoreern in Athen gemieden wurde, weil er gegen Bezahlung Unterricht in der Mathematik erteilte), mathematische Unterweisung fand, dann haben wir einen klaren Einblick in das Werden der Dinge und müssen auch dem HIPPOKRATES ein gut Stück Verdienst an der Platonischen Auffassung zuschreiben. (5) Bei PLATO dem Philosophen wirkt sich diese Kenntnis vom geometrischen System zunächst zu seinem großzügigen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen Idealismus aus. Sein Schüler ARISTOTELES ist in dieser Hinsicht schon nüchterner geworden, er sieht in diesem großen rationalen Gedankensystem, zu dem sich die Hippokratisch-platonische Idee des Systms der Geometrie und nach deren Vorbild die Erkenntnis überhaupt zu entwickeln begann, mehr die  Methode.  In seiner zweiten Analytiken hat ARISTOTELES in grandioser Weise die logischen Folgerungen aus dieser dem System der Geometrie nachgebildeten Vorstellung vom  "System der Vernunfterkenntnis"  gezogen. Ihm sind die rationalen Formen ebenfalls die eigentlichen "Dinge ansich" (und das  proteron te physei  ist das, was on diesen gesehen das "Nähere" ist). Ihm erscheint eine genaue Leiter zu liegen zwischen den Dingen der Wahrnehmung und den letzten rationalen Prinzipien (den  archai),  auf der man nach Belieben durch Induktion (epagoge) und durch Deduktion (apodeixis) auf- und abzusteigen vermag.

Bei ARISTOTELES stellt sich nun die Sache so dar, daß ihm das Allgemeine (=gemeralis), die Idee im eleatischen Sinn, das wahre Sein darstellt. Ihm eigentlich ist dann der Gedanke, daß dieses zugleich die Ursache des Geschehens sei, "dasjenige also, um mit WINDELBAND zu reden, woraus und wodurch das wahrgenommene Einzelne begriffen oder erklärt werden soll. Die Wissenschaft hat darzustellen, wie aus dem begrifflich erkannten Allgemeinen das wahrgenommene Einzelne  folgt.  Das Allgemeine ist aber andererseits im Denken der Grund, durch welchen und aus welchem das Besondere  bewiesen  wird. Danach ist das Begreifen und das Beweisen dasselbe:  Ableitung  des Besonderen aus dem Allgemeinen."

So werden dann durch Ableitung, Deduktion immer aus Sätzen von größerer Allgemeinheit solche von geringerer Allgemeinheit gewonnen. Hierin eben besteht der charakteristische Gedanke, den wir als den der  Leiter,  der  Kette  der  Begründungen  bezeichnen wollen (Regressus).

Dieser Gedanke der Leiter, der Kette der Begründungen hat nun notwendig eine überaus weitgehende Wirkung in der ganzen Philosophie ausgeübt. Er stammt ja selbst aus zwei Quellen. Einmal aus der Mathematik, dann aber aus den logischen Studien der Griechen, die sich aus den Streitreden und in den Regeln darüber, welche die Sophisten fanden, entwickelten. Hier sind für uns hauptsächlich diejenigen Konsequenzen von Wichtigkeit, welche über die Verhältnisse an den beiden "Enden" dieser Leiter etwas aussagen. Denn man hat folgende Konsequenz: Entweder ragt die Leiter in der Richtung nach dem immer Allgemeinern hin ins Unendliche, oder aber, sie bricht an irgendeiner Stelle ab.

Würde nun die Leiter dort ins Unendliche ragen, dann könnte diese Reihe also von uns in endlicher Zeit niemals so durchlaufen werden, daß in dieser Richtung alle Sprossen erreicht wären. Es wäre dann, da jede einzelne Begründung für sich durchlaufen werden muß und in endlicher Zeit nur eine endliche Reihe von solchen Gliedern durchlaufen werden kann,  eine letzte Begründung überhaupt unerreichbar.  Da nun aber die Begründung eines Satzes gerade so schwach ist, wie das schwächste Glied der ihn begründenden Kette (genau wie die Festigkeit einer Kette abhäng von der ihres schwächsten Gliedes), so würde also für einen Satz, dessen letzte Begründung unerreichbar wäre, eine letzte Begründung niemals zu geben sein,  er würde also im ganzen als unbegründet  zu bezeichnen sein. Man nennt eine solche unbegrenzte Kette von aufeinander beruhenden Begründungen einen  "unendlichen  Regreß" und das Gesagte beweist, daß ein auf einem solchen gegründeter Satz als unbegründet bezeichnet werden muß.

Angesichts dieses Umstandes mußte natürlich, sobald einmal der Gedanke einer solchen Begründungskette gefaßt war, die Frage auftauchen:
    1. wo hört diese Kette der Begründungen auf,

    2. wie wird die letzte (oder besser vorletzte) dieser Begründungen (also eigentlich die erste, auf der alles andere beruth) selbst in ihrer Sicherheit begründet?
Diese zweite Frage, welche die erste nochmals mit umfaßt, ist  die eigentliche Zentralfrage aller Philosophie.  Man kann geradezu die ernsthafteren Versuche einer philosophischen Systembildung daran unterscheiden von den weniger ernsthaften, ob sie zu  dieser  Frage ausführlich Stellung nehmen oder nicht, ob sie diese Frage in ihrer ganzen zentralen Wichtigkeit überhaupt erkennen und ob sie einen wirklichen Versuch zu ihrer Lösung machen, oder sich durch eines der mehreren zu diesem Zweck von manchen Denkern hergestellten Schlafmittel beruhigen lassen.

Wir werden die üblichen vorhandenen Lösungsversuche dieser Frage, die wir kurz als die  Zentralfrage  bezeichnen wollen, näher dahin zu besprechen haben, inwieweit sie der Kritik standhalten und wir werden sehen, daß sie nicht standhalten. So bleibt uns nichts übrig, als alles, was nicht völlig unumstößlich ist, ohne Zögern beiseite zu räumen. Nur wenn wir in dieser Hinsicht völlig tabula rasa machen, werden wir hoffen dürfen, endlich den wirklich letzten sicheren Grund gewinnen zu können.
LITERATUR - Hugo Dingler, Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie, München 1926
    Anmerkungen
    1) Hier nur zwei Zitate für viele: "Wie kommt das Erkennen, das doch als ein intersubjektives Bewußtseinsvorkommnis verläuft, zu diesem Vorzug, dessen kein anderer intersubjektiver Vorgang sich rühmen kann? Wie kommt das Erkennen dazu, sein unmittelbares Dasein gleichsam zu überwinden? Hat es wirklich die wunderbare Eigenschaft, sich dorthin zu erstrecken, wo es  nicht  ist? Hat es die Eigenschaft des  Geltens?"  so fragt JOHANNES VOLKELT in "Gewißheit und Wahrheit", München 1918, Seite 25. - "Wie es zugeht, daß die Naturgesetze, die der Geist nach seinem Gesetz aus dem Material der Erfahrung schafft, durch neue Erfahrungen bestätigt werden oder wie es geschieht, daß jene  Rechnung,  obgleich sie nicht von den Tatsachen, sondern vom denkenden Geist angestellt wird, in ihrem Ergebnis immer wieder mit den Tatsachen zusammentrifft, das freilich ist ein Rätsel. Ja, es ist das große Rätsel", sagt THEODOR LIPPS in seinem Vortrag "Naturwissenschaft und Weltanschauung", Heidelberg 1906, Seite 10.
    2) Siehe z. B. M. CANTOR, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik I, 3. Auflage, Seite 138.
    3) Siehe ERICH FRANK, Plato und die sogenannten Pythagoreer, Halle 1923, Seite 77, 81
    4) ARISTOTELES, Erste Analytiken I, Seite 23
    5) So zeigt sich diese Tätigkeit des Verfassers des ersten Lehrbuchs der Geometrie nicht als etwas so Nebensächliches, wie es meist dargestellt wird (z. B. M. CANTOR, a. a. O. Seite 202), sondern dürfte die schöpferische Haupttat des HIPPOKRATES enthalten.