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HERMANN LOTZE
Über den Begriff der Schönheit
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"Zur Welt der Bewegungen und der Ereignisse muß eine Welt der Schmerzen und der Wonne kommen; und nie wird jener Übergang vom Erhabenen zum Grauenhaften vermieden werden, wo jene einfache Welt des Begriffs und des Daseins als das letzte Wirkliche dasteht, das nicht noch außer sich selbst ein Ziel hat, dem es mit aller Erhabenheit dienen muß. Denn davor ergreift uns ein gerechtes Grauen, daß irgendein Seiendes, irgendein Gesetz, irgendein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste ist, das in aller Welt zugrunde liegt und sich verwirklicht; viel lieber geben wir dem Dasein, allen letzten Abschluß fürchtend, ein fremdartiges Ziel noch außer ihm, damit es nach dem Maß seines Strebens, jenem Ziel sich zu nähern, einen Wert erhält, der in ihm selbst nicht gefunden wird."

IV. Lassen wir nun diesen Beruf der Schönheit gelten, eine Versöhnung zwischen dem eigensinnigen Stoff und dem herrschenden Gedanken darzustellen, so zeigt sich auch, daß in einer weiten, allmählich aufsteigenden Reihe von Gestalten diese Bestimmung in sehr verschiedener Stärke und Vollendung erfüllt werden mag. Wir meinen wohl gewöhnlich, wenn wir vom Schönen sprechen, es mit durchaus reinlich abgeschnittenen Grenzen als etwas einzig in sich Zusammengehöriges zu bezeichnen; allein bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß es vielmehr den höchsten Gipfel einer Reihe bildet, die sich nach verschiedenen Seiten in das angrenzende Gebiet des bloß Angenehmen und des Guten verliert. In der Tat, indem wir, die Schönheit als eine der Aufgaben der wirklichen Welt ansehend, die Gestalten der Wirklichkeit, in denen sie sich zeigen kann, überblicken, finden wir bereits vor aller Zusammensetzung der Eindrücke die einfachen sinnlichen Empfindungen der Farben und der Klänge auf diesem zweifelhaften Gebiet. Daß beide selbst den Bedingungen des leiblichen Lebens bald günstig sich anschmiegen, bald entgegenstehen, ist gewiß; dennoch mag der Eindruck, den eine reine, lichtvolle, gesättigte Farbe ohne bestimmten räumlichen Umriß auf uns hervorbringt, mit Recht für mehr gelten, als ein bloß Angenehmes. Indessen scheint in diesen Fällen allen die Wirkung, die vielleicht die reine Bläue des Himmels auf unser Gemüt macht, weniger in dem zu liegen, was der Gegenstand ist, als in dem, woran er erinnert; ja selbst in den Gesängen der Vögel wird uns mehr der Ausdruck strebender Lebendigkeit gewinnen, als die eigene Schönheit der großenteils so reizlosen Klänge selbst. Gewiß liegt nun schon in dieser Pracht der Sinnlichkeit die erste Überwindung des toten Stoffes durch das Reich des Gedankens im weitesten Sinne, allein diese Empfindungen, nur das einfachste Mittel darbietend, durch welches jener Stoff dem geisten Leben unterworfen werden mag, bleiben zu sehr mit ihm selbst verschmolzen, als daß sie, die zu versöhnenden Gegensätze deutlich zeigend, das Gefühl unzweifelhafter Schönheit erwecken könnten.

Dreierlei aber gibt es in aller Wirklichkeit, worauf unsere Betrachtung achten muß. Zuerst jene allgemeinen Anschauungen des Raumes, der Zeit und der Bewegung, in die alles wahrnehmbare Geschehen der Erscheinungen eingeschlossen ist. Sie stehen als ein verfeinerter Stoff den wahrhaft wertvollen Gedanken der Welt gegenüber, und so weit sie durch die Verbindungsweise ihrer Teile die Beziehungen jener Gedanken abzubilden wissen, werden sie auch der Schönheit und zwar jener freien Schönheit fähig sein, die ohne einem bestimmten Zweck genügen zu müssen, sich des wechselreichen Spiels ihrer Angemessenheit zum Ausdruck jedes höheren Gedankens freut. Aber die Natur hat nicht nur diesen allen Erscheinungen gemeinsamen Boden; sie läßt auf ihm vielmehr die bestimmten, durch innere Verwandtschaften geheimnisvoll bezogenen Gestalten der einzelnen Gattungen auftreten; und so werden ihre Erzeugnisse zugleich jener freien Schönheit huldigen, die in allseitigen Andeutungen spielt, zugleich aber der Stelle angemessen sein müssen, die ihr wesentlicher Begriff in der Entwicklungsreihe alles Seienden einnimmt. So bildet sich die anhängende Schönheit, um einen einfachen Ausdruck KANTs zu benutzen. Aber ebensowenig wird schließlich die Welt aus der geschichtslosen Aufhäufung dieser Gattungen bestehen, sondern der eigentliche Kern ihres Wertes wird sich in der Gesamtheit der Ereignisse finden, die zwischen ihnen unerschöpflich geschehen; und an ihnen wird die Schönheit eine dritte Veranlassung zur Entfaltung haben. In diesen verschiedenen Trägern der Schönheit lassen sich leicht auch die Beziehungen, die sie zu einzelnen Arten derselben, ja selbst zu verschiedenen Arten der Kunstschöpfung haben, im Voraus erblicken.

In der freien Schönheit, zu denen er freilich auch die Gestalten der Blumen rechnete, sah KANT die eigentliche, von keinem Einfluß der verständigen Urteilskraft getrübte Schönheit. Wir haben oben ihren Begriff enger beschränkt, und zählen zu ihr nur räumliche Gestalten und zeitliche Verbindungsweisen, die noch durch keinen Begriff einer Gattung zu einem bestimmten Glied der beabsichtigten Entwicklungsreihe des Seienden zusammengefaßt, nur die unendliche Fähigkeit jener Anschauungen, dem Ausdruck der höchsten Gedanken zu dienen, darstellen. Sehen wir zu irgendeiner weitgreifenden Unternehmung der Menschen noch gestaltlose Mittel zusammengebracht, noch in keine Ordnung verbunden, die uns den nächsten wirklichen Gebrauch veranschaulicht, so erfreut sich doch unsere Einbildungskraft vorgreifend an dem fliegenden Überblick möglicher Ergebnisse, die diese Mittel ahnen lasen, und ohne weder Ziel noch Zweck deutlicher zu sehen, fühlen wir uns doch in einer Welt, in der sich überhaupt Mittel einem Zweck ahnungsvoll aufdrängen. So wie vor dem Beginnen eines Liedes einzelne versuchende Griffe uns zuerst von der Gegenwart eines Reiches der Klänge überzeugen, die geordnet schlummernd einer Unermeßlichkeit reichen Ausdrucks entgegenharren, so wird auch die freie Schönheit in den Spielen räumlicher Gestalt und zeitlicher Verknüpfungen uns durch diese allgemeine Zusicherung von der Versöhnung zwischen Grundlagen und Zwecken erquicken.

An räumlichen Zeichnungen mag uns deshalb zwar auch dies ergreifen, daß sie sich in ihrer eigentümlichen Gestalt als bildliche Darstellungen von Beziehungen zeigen, ohne die auch ein höherer Gedanke keine Erscheinung gewinnen könnte, und sie werden sich dadurch hauptsächlich zu einfachen Bildern des Unsinnlichen verwenden lasen; allein diese Bedeutung beruth zu sehr auf den Erinnerungen und dem zufälligen Gedankengang des Gemüts, als daß sie näher mit der gezeichneten Gestalt selbst zusammenfällt. Im Ganzen wird daher die freie Schönheit nicht die Herrschaft eines bestimmten Gesetzes über den Stoff darstellen, sondern vielmehr durch Ebenmaß überhaupt nur die Herrschaft des Gesetzes im Allgemeinen.

Der Eindruck, den alles ebenmäßig Begrenzte im Gegensatz häßlicher Verwirrung der Umrisse macht, bedeutet uns überhaupt nur die Tatsache, daß der unentschiedene, nirgends von selbst sich abschließende Stoff durch die höhere Gewalt des Gedankens in zusammenhaltende, scharfkantige Begrenzungen gegossen ist, und nur so weit, als das Regelmäßige nicht bloß im Begriff zu erfassen ist, sondern sich auch dem Anblick als entsprechendes Ebenmäßiges zeigt, wird es überhaupt die Lust des Schöne erwecken. Dann aber umso mehr, je vielfacher die Teile sind, über die sich beherrschend dieselbe Gestalt ebenmäßiger Verbindung erstreckt und so, wie die Schönheit eines einfachen scharfgezeichneten Vielecks überboten wird, so steigert und befestigt auch die Baukunst und die Kunst der Klänge den einmal gewonnenen Eindruck durch die immer reicher, immer tiefer in sich gegliederte, in sich selbst unendlich teilbare Wiederholung desselben Satzes oder des Schmuckwerks, das zuerst einzelne Teile des Gebäudes verziert, dann zur belebenden Seele des Ganzen wird. Wie jedoch alle Schönheit einen überwundenen inneren Gegensatz verlangt, so wird auch jedes ungestörte einfache Ebenmaß zu sehr die unbedingte Herrschaft allgemeiner Gesetze, nicht jene zurvorkommende Einfügung eines selbständigen Stoffes verraten. Ohne daher in die Verwirrung der Gesetzlosigkeit zurückzufallen, zeigen doch die lebenden Gestalten nicht mehr jenes Ebenmaß des Gesetzes, sondern das des Sinnes. Verschiedenwertig werden die äußeren Umriße, und anstatt gleichlaufender Begrenzungen treten jene entgegengesetzten von rechts und links zusammenstrebenden oder auseinanderweichenden Beugungen ein, die mit aller Gleichheit der Gesatlt doch den entschiedensten Gegensatz der Richtungen verbinden. Auch nicht nach allen Seiten hin beherrscht dasselbe Gesetz die Ausdehnung, sondern verschiedene Regeln, vom hineinspielenden Sinn der Erscheinung abhängig, haben sich vereinigt, um in scheinbarer Unregelmäßigkeit dennoch ein leicht wieder hervortretendes, doch nicht allseitiges Ebenmaß zu begründen. So zeigt sich die freie Schönheit lebendiger Wesen; auch die Kunst hat ihr nachgeahmt; und wenn sie in früheren Zeiten ihren Gebäuden einfach gleichlaufende Begrenzungen gab, so hat sie später in Grundriß, Seitenansicht und Höhe dieses Ebenmaß zerstört, um es aus einer Anordnung wieder zu gewinnen, welche die einzelnen Teile des Gebäudes aus einer gemeinsamen Mitte nach außen streben ließ, jeden in Richtung und Größe seinem eigenen Sinn gemäß, die hohen Bedachungen über der lebendigen Mitte, dem Herzen des Gebäudes, die Türme, nach oben aufrichtend, außerhalb der Mitte, wie das Haupt des lebendigen Leibes, nicht für das Leben des Ganzen, sondern für eine hinausdeutende Beziehung auf ein jenseitiges Ziel bestimmt.

Für die Deutung dieses, so wie alles anderen Ebenmaßes sind die Erscheinungen zeitlicher Bewegung notwendig, und in ihnen hat Natur und Kunst eines der höchsten Mittel, freie Schönheit zu entfalten. Wie die Erfüllung jenes Zweckes, wie jedes Geschehen nur möglich ist durch den ewigen leisen Fluß der Zeit, indem jeder verschwindende Augenblick der Gegenwart einen Teil der unendlichen Zukunft verwirklicht und dem Reich der Vergangenheit zuweist, so liegt in allem Entstehen und Vergehen überhaupt diese allseitige Hindeutung auf den Gang der Welt und aller Seligkeit und Schmerzen, die er in sich schließt. Räumliche Bahnen mit dem zeitlichen Wechsel verbindend läßt die Natur die himmlischen Körper allen Zauber eines aufwachenden und allmählich schwindenden Glanzes, eines ewigen Suchens und Findens über die irdische Welt ausstrahlen, und hüllt diese in die Pracht ineinanderklingender Farben, oder läßt in größeren Zwischenräumen, nur der Erinnerung bemerkbar, mit ihren Jahreszeiten auch das Blühen und Keimen der Gewächse kommen und gehen. Und hierin hat die Kunst nicht durch die Unmöglichkeit der Sache, sondern durch ihre Unausführbarkeit gezwungen, ihr nicht folgen können. Kaum daß der Tanz einen schwachen Versuch enthält, die ahnungsvollen Reize der verschlungenen Bewegungen darzustellen; mit Farben aber bedeutungsvoll zu spielen, wie mit den Klängen, müßte doch selbst unserer Kunst möglich sein, wenn sie im Feuerwerk nicht Farben, haftend an einem gleichgültigen Stoff und ebenso fremder räumlicher Form, sondern farbige Lichter, gestaltlos aus dem Dunkel anschwellend und wieder verklingend, in allen jenen Verhältnissen sich suchenden Einklangs darstellte, die Farben wie Tönen zukommen, und wenn sie dieses Spiel, was der Musik unmöglich ist, durch ebenso sinnige räumliche Bahnen des Kommens und Gehens verstärken würde. Töne sind der Natur keine Mittel zur Entfaltung freier Schönheit; aber in ihrer reichen Gesamterscheinung langen die Stimmen des säuselnden Laubes zur Erweckung der Gefühl aus. Dagegen bemächtigt sich die Kunst der Töne, und in ihren Verwandtschaften, ihrem Aufsteigen und Niedersinken und all jenen eilenden oder zögernden Übergängen und zauberhaften Ähnlichkeiten wiederholt auftauchender Verknüpfungen weiß die Musik die freie Schönheit des geistigen Lebens zur Erscheinung zu bringen. Manches wertvolle Ereignis des inneren Lebens wird gewiß nur begriffen werden können, wo der Mensch nicht seiner selbst allein, sondern auch seiner bestimmten Stellung zu allem Äußeren mitgedenkt. Allein ebenso sehr, wie die scharfe Zeichnung unserer eigenen Gattung und die bestimmten Umrisse unserer Lebensverhältisse uns eigentümliche Genüsse schaffen, ebenso hindern sie uns, mitzugenießen, was sich in fremdartigen Kreisen des Leben gestalten mag. Wir wissen nicht wie Fischen so wohlig ist auf dem Grund, und die eigene Färbung, die anderen Geschöpfen in ihrer bestimmten leiblichen Einrichtung den Gesichtskreis ihres Dichtens und Trachtens umzieht, ist uns undurchdringlich. Diesen Bann weiß die Musik zu lösen. Unfähig, wie sie ist, durch ihre allgemeinen Mittel ein bestimmtes Ereignis in bestimmter Umgebung zu malen, befreit sie uns andererseits von der Beschränktheit des Lebens, das durch Gattungsbegriffe unwiderruflich begrenzt ist, und in freier Schönheit lehrt sie uns die Seligkeit und den Schmerz kennen, wie beide als ein allgemeiner dahinschmelzender Geist alle Gebiete des Daseins durchwehn, und statt uns an die scharfkantig begrenzte Welt des Menschen zu binden, führt sie uns vielmehr unendlich wechselnd in das Leben alles Lebendigen, ja selbst in die dumfen Bebungen des Bewußtlosen mitfühlend ein. Die Natur schafft jedoch nicht nur diese freien, sondern auf dem Gebiet des Lebens auch anhängende Schönheiten, wenngleich das Urbild der letzteren nicht überall selbständig durch einen Begriff der Erkenntnis zu fassen ist. Nicht dies allein war ihre Aufgabe, daß Leben, diese tatsächliche Versöhnung des herrschenden Gedankens mit dem widerstehenden Stoff, in irgendeinem Winkel der Welt neben anderen Erscheinungen nur auch verwirklicht wird: sondern welche Kreise äußerer Umstände auch dasein mögen, ihnen lalen soll diese Lebendigkeit abgewonnen werden. Und so bildet sich eine unendliche Mannigfaltigkeit der lebenden Geschöpfe, damit nirgendwo eine Lage ist, deren Inhalt nicht durch irgendeine Weise des Lebens gewonnen wird. Aber nicht alle äußeren Verhältnisse werden seiner Ausbildung gleich günstig sein, und die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe wird sich in einer Reihe allmählich erst durch viele Stufen der vollen Lebendigkeit nähern. Ja selbst einzelne Gattungen der Gewächse und Tiere wird es geben, in denen der Gedanke des Lebens, zwischen zwei entschiedenen Gestalten schwankend, sich noch nicht der Ungunst des Stoffes vollkommen entzogen hat, sondern eine Häßlichkeit hervorbringt, die zwar immerhin ihre Bedeutung in der Verkettung der ganzen Reihe hat, aber nicht deswegen abgeleugnet werden sollte, damit man alles für schön erklären kann, was den Anforderungen seiner Gattung vollkommen entspricht. Wohl kann alles nur in seiner Art schön sein, aber nicht deswegen ist es schön, weil es diese Bestimmung seiner Art erfüllt. Der Wert der Gattungen hängt selbst von der Kraft ab, mit der sie die höheren allein wertvollen Gedanken des Lebens in der äußeren Erscheinung zu verwirklichen verstehen. Weit entfernt daher, daß Naturtreue und Richtigkeit der Gestalten die einzige Aufgabe künstlerischer Nachbildung sein könnte, hat vielmehr die Kunst die Pflicht, über die unbedingte Schönheit der Naturgeschöpfe selbst bei der Wahl ihrer Gegenstände zu richten und so wenig sie leibliche Verrichtungen, deren die Natur sich bei der Verwirklichung ihrer Gebilde nicht entschlagen kann, nachahmt, so wenig darf überhaupt die Wirklichkeit mancher Gattungsformen sie verblenden, die dem Fortschritt der Naturentwicklung wesentlich, aber dennoch nicht schön sind. Ebenso sehr aber wird es der Kunst freistehen, Gegenden zu betreten, die der Natur um der Beständigkeit ihrer verwirklichenden Ursachen willen unzugänglich sind. So wenig es für eine unberechtigte Ausschreitung gilt, vom Gegebenen erkennend überzugehen zum Übersinnlichen, der Richtung nachfolgend, in der das Sinnliche über sich hinausdeutet, so kann auch die Betrachtung der wirklichen Naturgestalten eine Richtung entdecken, nach welcher hin alle ihre einzelnen Verhältnisse streben, ohne doch das höchste Ziel einer solchen Reihe zu erreichen. Warum sollte die Kunst, die, nichts wirklich belebtes schaffend, über viele Hindernisse des Naturgangs hinwegschweben kann, dieses nirgends gefundene Urbild nicht in ihrer Weise zu verwirklichen suchen? Ja selbst zusammensetzen wird sie, was nie die Natur vereinigt und in jenen der alten Kunst so oft vorschwebenden Gestalten der Hermaphroditen [Zweigeschlechtliche - wp], in den märchenhaften Tieren, ja selbst in den geflügelten Engeln wird sie Wesen schaffen, die der Natur völlig fremd und unmöglich sind; und doch wird in jeder gelungenen Darstellung sich sogleich eine gewisse Naturnotwendigkeit der Bildung aufdrängen, die keine andere Art der Verschmelzung der Gliedmaßen, keinen anderen Ansatzort der Flügel gestattet, als wie beide der Künstler gewählt hat.

Indssen die bloße allgemeine Gestalt der Gattung will weder die Natur noch die Kunst; sie wollen Einzelnes, lebendig Wirkliches bilden. Und hier ist wie die Natur, indem sie ihren Gattungsbegriff den wirkenden Kräften zur Darstellung überläßt, so auch die Kunst, indem sie das Eigentümliche der lebendigen Einzelheit nachahmt, in Gefahr, Häßliches statt des Schönen zu bilden. Die Bestimmung alles Lebendigen ist nicht allein diese, den gemeinschaftlichen allgemeinen Begriff seiner Gattung auf das Vollkommenste zur Erscheinung zu bringen, sondern überall bildet die Leiblichkeit nur die notwendige Grundlage, die die von der Seele vorausgesetzt, benutzt und in sich aufgenommen wird. Daher wird keine bildende Kunst den Menschen im Allgemeinen darzustellen streben; sie würde damit kein Urbild liefern in dem Sinne, daß dies das letzte zu erreichende Glied in der Reihe menschlicher Entwicklung wäre, sondern nur in dem, daß es die erste unerläßliche Bedingung wäre, ohne welche alles Höhere unerreichbar bliebe. Ebenso würde sie irren, wenn sie einen Zug dieser höheren geistigen Bestimmung einseitig hervortreten und das gesamte Bild der Gestalt nur von ihm durchdrungen sein ließe. Frömmigkeit, Treue, Gerechtigkeit und Standhaftigkeit finden sich nicht wie verschiedene Tierarten nebeneinander in verschiedenen Gattungen der Geschöpfe verwirklicht, sondern sind gemeinsame Aufgaben eines einzigen Geschlechts, das schon früher mit mannigfaltigen natürlichen Richtungen der Gefühle und Neigungen ausgestattet ist, ehe es jene Gipfel der Bildung zur vorherrschenden Beleuchtung seines Gemüts macht. Daher sind alle jene Bildsäulen oder Gemälde, die auf den nackten Umriß menschlicher Gestalt sogleich jenen höchsten Schimmer einer vollendeten Tugend übertragen, immer nur Werke der von fremdartigen Bedürfnissen des Gemüts aufgeforderten Kunst. Sich selbst überlassen wird die wahre Kunst zwar auch nach einem Urbild der Menschheit in einer dieser bestimmten Richtung streben, aber sie wird es so mit natürlichen, angeborenen Zügen ausstatten, daß zumindest eine Erinnerung an die Richtung, in der der Geist sich seiner nie fehlenden Naturbestimmtheit entrang, um dem Höchsten seiner Bestimmung allein zu dienen, die vollendete Gestalt noch umschwebt und so das ursprünglich Natürliche, das wirklich Lebendige zum Urbild verklärt wird, dieses aber aus jenem die Lebenskräfte zieht, mit denen es sich an die wirkliche Welt anschließt. Diese Aufgabe haben die großen Maler überall zu lösen gestrebt, und selten zeigt die Mutter Gottes in ihren Bildern dem Betrachtenden ein Antlitz, das nie und nirgends entstanden von allem Anfang an eine naturnotwendige Heiligkeit besessen hätte, sondern die Züge, unwillkürlich an einen Stamm, einen Familie erinnernd, deuten auf die Natürlichkeit zurück, die zu vollkommener Klärung gelangt ist. Diese Forderung, die an die Bildhauerei streng zu richten ist, deren schwere Stoffe, und deren Unfähigkeit, durch die Hinzufügung einer erläuternden Umgebung die einzelne Gestalt zu heben, sie von jeder Darstellung allzu leichter und einfacher Gegenstände abhalten muß, darf auch an die Malerei gerichtet werden. Nicht die erste beste scharf gezeichnete Natürlichkeit, nicht die Darstellung überhaupt eines gesunkenen Lebens kann ihre Aufgabe sein, obgleich alles Häßliche und Verzerrte einer selbstgefälligen Kunstfertigkeit einen leichteren Spielraum zur Spiegelung ihrer Geschicklichkeit gibt; überall wird vielmehr der Keim des Besseren und die Trefflichkeit gleichmäßiger innerer Ausbildung in diese verkümmerten Gestalten hinein zu verfolgen sein, und die Hebung des Gewöhnlichen zumindest so weit, daß die Möglichkeit einer schönen Entwicklung hervorbricht, muß das Ziel auch dieser Kunst bilden. Da jedoch überhaupt die Überwindung des Stoffes durch den Gedanken die Schönheit begründet, so ist es nicht ganz zu verdammen, wenn Kunstkenner besonders in der Malerei oft ebenso großen Wert auf die Eigentümlichkeiten der Pinselführung und Farbengebung legen, als auf die Schönheit der Erfindung. In der Malerei mehr als in anderen Künsten gibt es eine Mannigfaltigkeit der Wege, den gestaltlosen Stoff zur Endwirkung zu verbinden: und so mag die Großartigkeit des Handhabens der Mittel, selbst eine schöne Entwicklung des schaffenden Gemüts, auch einen Teil der Bewunderung neben der Schönheit des Bildes selbst für sich gewinnen.

Jedes wahrhaft schöne Werk der bildenden Kunst, wie jede schöne Gestalt der Natur weist uns aber hinaus auf die Gesamtheit der Welt, in der die Beziehungspunkte liegen für alle jene geistigen Kräfte, die der Gestalt innewohnen, so wie die Auflösungen der Mißklänge, die sie in sich fühlt. Das wahre und höchste Feld der Schönheit ist die Welt der Ereignisse, nicht die der Gestalten. Beobachtungen der Natur im Kleinen lassen teils die ahnungsvollen Reize freier Schönheit, teils die in sich beruhigte Vollkommenheit einzelner Gestalten erscheinen; ihre Betrachtung im Großen führt überall zunächst zu einem Gefühl der Erhabenheit, das sich immer an die Einfachheit der Gesetze und Mittel knüpft, durch welche große Mißklänge ausgeglichen, oder eine unabsehbare Verwirrung der Mannigfaltigkeit in ihrem scheinbaren Auseinanderweichen dennoch zusammengelenkt wird. So haftet dieses Gefühl schon am Anblick des Einförmigen und Großen, hier fast immer durch die Ahnung begründet, daß eine mannigfaltige Welt ihren Untergang in diese Ruhe gefunden hat; so knüpft es sich noch mehr an die fortschreitende Erkenntnis der Gewalt, mit welcher im Haushalt der Natur die verschiedenartigsten Kämpfe widerstreitender Ereignisse zu einem einfachen und bedeutungsvollen Ergebnis zusammengezogen werden. Und wo diese Einheit nicht zur Erscheinung wird, begleitet dieselbe Erhabenheit die Voraussetzungen der Wissenschaft, die die unendliche Mannigfaltigkeit überal quellenden Lebens auf einen Grundstoff, ein ursprünglich Seiendes, einen einzigen Alles durchströmenden Gedanken zurückführt. Allein gerade diese vollkommene Alles umfassende Erhabenheit hat die gefährliche Spitze, in ein höchstes Häßliches überzugehen. Eine Zeitlang wohl wird sich mit jedem Fortschritt der Erkenntnis, der den scheinbaren Zwiespalt durch ein höheres Gesetz bändigt, ein Gefühl der Befriedigung verbinden; verfolgen wir aber diese Bahn, sehen wir, wie selbst unsere eigenen Schicksale, die Bestrebungen, in denen wir frei zu sein glauben, wie alle Verhältnisse unseres Geschlechts, innerhalb deren für uns ein unerschöpfliches Spiel ahnender Sehnsucht und Wonne aufging, wie all dies durch eine verborgene Macht ebenfalls an unabänderliche, gleichgültig waltende Gesetze geknüpft ist, dann beginnt allmählich die Stille der Erhabenheit uns zu still zu werden, und aus den schönen Zügen, die die mit sich einige Natur uns zukehrt, tritt durch einen plötzlichen Wechsel der Beleuchtung das starre Gerippe der Notwendigkeit hervor, auf das sie sich stützen. Erfahrungen dieser Art hat wohl jeder gemacht; es bedarf bei all dem immer einer besonderen Stimmung des Gemüts, um sich auf dem Gipfel der Erhabenheit festzuhalten und nicht in den Abgrund des Grauens zu fallen, der daneben gähnt. Die Naturwissenschaften führen auf jenen, so wie an diesen, und selbst jene Weltansichten, die in der Begeisterung für den unbedingten Urgrund der Welt schwelgen, erscheinen oft plötzlich dem Gemüt als eine trostlose Öde, in der mit einer unerschöpflichen Triebkraft, wie die wuchernden Gewächse in Sümpfen, oder das wilde Fleisch in Geschwüren sich eine unendliche Mannigfaltigkeit zwar entwickelt, aber in gährender Ratlosigkeit nur von unten getrieben wird, ohne von außen oder oben durch ein Ziel gehoben und erlöst zu werden, dem diese bange Unruhe zustrebt. Die Gründe so seltsamer Gemütsbewegungen sind nicht schwer zu finden. Es ist einesteils die Bangigkeit, die das Bewußtsein erzeugt, das Letzte gefunden zu haben, was hinter allen Erscheinungen ruht, und wonach die Sehnsucht lange, ihres eigenen, jetzt ersterbenden Strebens froh, gerungen hat. Ist nun das endlich Bekanntgewordene nicht von so hohem Wert, daß auch ohne die Aufstachelung eines noch unvollendeten Strebens die Seele ihm ewige Teilnahme widmen kann, was bliebe übrig, als mit ihrem Streben auch selbst zu vergehen? Sie fühlt diese Notwendigkeit ihres eigenen Untergangs, wo sie in der Betrachtung der Welt nichts als jene Erhabenheit ewiger und unerschütterlicher Gesetze im Strudel verworrener Erscheinungen findet. Sie findet, daß, wo nicht mehr in der Welt wäre, dieser Anblick die Mühe des Suchens täuscht, die einer ganz anderen Befriedigung für tiefere Bedürfnisse nachgeht. Zur Welt der Bewegungen und der Ereignisse muß eine Welt der Schmerzen und der Wonne kommen; und nie wird jener Übergang vom Erhabenen zum Grauenhaften vermieden werden, wo jene einfache Welt des Begriffs und des Daseins als das letzte Wirkliche dasteht, das nicht noch außer sich selbst ein Ziel hat, dem es mit aller Erhabenheit dienen muß. Denn davor ergreift uns ein gerechtes Grauen, daß irgendein Seiendes, irgendein Gesetz, irgendein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste ist, das in aller Welt zugrunde liegt und sich verwirklicht; viel lieber geben wir dem Dasein, allen letzten Abschluß fürchtend, ein fremdartiges Ziel noch außer ihm, damit es nach dem Maß seines Strebens, jenem Ziel sich zu nähern, einen Wert erhält, der in ihm selbst nicht gefunden wird.

Schon früher haben wir zugegeben, daß alles Schöne sich auf die Fähigkeit des Geistes, Lust oder Unlust zu empfinden bezieht. Aber damals hätten wir uns am Schönen und allen wertvollen Gedanken der Welt zu versündigen geglaubt, wenn wir diesen Erfolg für den Zweck der Schönheit angesehen hätten, und ihren Beruf nur in die Befriedigung unserer eigenen Sehnsucht gesetzt hätten. Vielleicht haben wir hiermit zuviel getan und die Berechtigung der Gefühle verkannt. Lassen wir ein Weltall in höchst wechselnden, mannigfaltigen Erscheinungen jenen erhabenen unerschütterlichen Gang befolgen, der geregelt durch allgemeine ewige Gesetze in der Gestalt seiner Ergebnisse einem einzigen Gedanken wankellos entspricht, doch nehmen wir zugleich an, daß wohl ein Geist die Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen denkend zur Einheit eines Bildes zusammenfaßt, aber daß kein Herz in der Welt ist, für welches sich das All bewegt, wie sollte in dieser Welt der Wahrheit noch die Schönheit einen Platz finden? Gedanke und Seine würde so zusammenfallen, daß zwar ein müßiger Verstand vielleicht die Möglichkeit des Andersseins ahnt, ohne diese Verschiedenheit bis zu einem Gegensatz steigern zu können, dessen Begriff nicht bloß die erkannte Weite, sondern die gefühlte Bitterkeit des Unterschiedes einschließt. So wie die seiende Welt den Geist voraussetzt, dessen selbstbewußtes Weben und Leben die zerstreuten Beziehungen in eine stetige helle Anschauung zusammenfaßt und ihnen dadurch erst Wirklichkeit gibt, so setzt die Schönheit auch überall den fühlenden Geist voraus, nicht um von ihm als schon vorhanden, nacherkannt zu werden, sondern um in seiner Berührung zu entstehen. Ist die Schönheit überhaupt die Versöhnung des Gedankens mit dem Seienden, so ist die wahrhaft höchste Schönheit die Versöhnung des Seienden mit dem lebendigen, freien Gedanken des fühlenden Geistes. Dieses Gemüt aber, an das sich alles Schöne wendet, ist nicht das natürliche mit seinen ihm fremdher angeborenen Neigungen und Leidenschaften, noch auch das allgemeine mit seinen beständigen Gattungsmerkmalen, sondern jenes wirkliche, das wohl die eigentümliche Kraft leidenschaftlicher Strebungen in sich empfindet, aber auch den höchsten wertvollen Inhalt als in seiner besonderen Tätigkeit gegenwärtig, von ihm sich durchdrungen fühlt. Und so indem das Gemüt sich selbst als einen Teil der wertvollen Welt weiß, kann es verlangen, daß sich das Dasein seinen Wünschen beugt und daß sich als letztes Ziel und als Kern aller Erhabenheit im Ablauf der Dinge nicht der Begriff irgendeiner Zusammenstimmung und Ausgleichung, sondern die inhaltvolle Seligkeit zeigt, die aus dem Einklang der notwendigen Weltordnung mit ewig berechtigten Wünschen und Strebungen des Gemüts hervorgeht. Nicht also, wie jene Erhabenheit, betrachten wir irgendetwas als letzten Inhalt der Welt, dem nicht von selbst ein Wert zukäme, der jede weitere Nachforschung nach einem höheren Ziel ausschließt. Und diesen Inhalt meinen wir nicht in irgendeinem Gedanken zu finden, der träumend sich nur in der seienden Welt entwickelt, sondern in einem Glück besteht, das der Versöhnung dieses Seienden selbst mit dem lebendigen Herzen entspringt. An mancher Nebenfrage wollen wir hier vorübergehen, hoffend, daß kein Gemüt dieses Glück mit dem vergänglichen Reiz des Angenehmen verwechselt, und überzeugt, daß nur deshalb manches Herz über die Seligkeit selbst zu einem noch Höheren gelangen möchte, weil es im Genuß selbst durch die leise Erinnerung der Unreinheit seines Glücks überrascht wird, oder weil es vergißt, daß neben der Betrachtung der Schönheit noch andere Bahnen des Gedankens laufen, denen dasselbe Ziel vielleicht ernster, doch nicht weniger wertvoll erscheint. Die wahre höchste Versöhnung des Daseins mit dem Gedanken wird nicht in der äußeren Natur, sondern im Geiste vollzogen, und er feiert sie, die Schönheit sowohl genießend wie auch schaffend. Für beides hat man oft eine eigentümliche Fähigkeit des Geistes verlang und geheimnisvoll angedeutet. Dieses Geheimnis scheint offenbar zu sein und beruth auf jener engen Verschmelzung wertbestimmter Gefühle mit Begriffen der Erkenntnis, die uns oft selbst überrascht, wo wir im reinen Denken zu sein glauben, und die in der schönen Einbildungskraft gewohnte Wirkungen nur stärker entfaltet. Entgegengesetzte Bewegungen im Raum werden ausgeglichen, nicht versöhnt; und doch trägt schon hier die Anschauung in den Begriff des Gegensatzes die Nebenbestimmung einer nur fühlbaren Feindseligkeit hinein. Allerdings nun unterscheidet sich die Tätigkeit jener schönen Einbildungskraft vom Tun der gemeinen, die im Dienste des Verstandes und sinnlicher Anschauung denselben Namen trägt. Wenn die letztere das Weltall denkt, da verbindet sie Mannigfaltiges unter Gesetzen zu einer Einheit eines Gesamtbildes; so die erstere aber so anschauliche Gestalten schafft, da empfindet sie zugleich den Schmerz oder die Lust des Schaffens, wiederholt im Bilden selbst die strebende Kraft der Mächte, die in Wirklichkeit tätig sind, und wo sie wie jene, das Einzelne aufeinander bezieht, fühlt sie den Druck und die Last mit, die jede Beziehung auf diese Einzelnen wirft, die Spannung der Einheit, die Lust unerschöpflicher Ausbreitung, die Bitterkeit der Gegensätze, die Seligkeit ihrer Überwindung. Und so bildet sich im Geist eine zurückgespiegelte urbildliche Welt aus, in welcher das Gemüt alle ewigen und unverlierbaren Bedürfnisse mit dem erkennbaren Gang der erhabenen Notwendigkeit ausgeglichen hat; und diese Weltansicht ist nicht nur die Beleuchtung, die jeden Genuß einer gegebenen Schönheit vermittelt, sondern auch der lebendige Quell, aus dem alle unsterblichen Gebilde schaffender Kunst hervorgehen.

LITERATUR - Hermann Lotze, Über den Begriff der Schönheit [abgedruckt aus den Göttinger Studien] Göttingen 1845
    Anmerkungen
    1) Diese Abhandlung, durch ihren Platz in einer Sammlung verschiedener Arbeiten räumlich beschränkt, und bestimmt, durch keinen undeutschen Ausdruck der Sache eine ihr fremde Schwierigkeit zu geben, will nur eine durchaus elementare Einleitung zu den Kunstbetrachtungen sein, die in neuester Zeit teils sehr wertvoll, teils überklug ausgebildet, jedenfalls auf einem Boden ruhen, den zu betreten diesen Zeilen nicht gestattet war.