tb-2É. BoutrouxH. PoincaréP. DuhemE. Meyerson E. MachV. Kraft    
 
GUSTAV RATZENHOFER
Kritik des Intellekts

"Die Erfahrungswissenschaften haben im Taumel der jüngsten Erfolge vergessen, daß sie nie einen entscheidenden Schritt zu machen vermochten, dessen Richtung ihnen nicht die Spekulation gewiesen hatte." "Die positivistische Philosophie bedarf also einer neuen Sprache und diese ist die lebendige mit ihrer gültigen Begriffsauslegung. Weg mit der alten, sinnverwirrenden Begriffswelt, die vielfach überwundenden Vorstellungen angehört und gleichsam wie Bleigewichte die Gedankennotwendigkeit unserer Vorstellungen am freien Flug hindert. Auf diese Weise wird es im allgemeinen entbehrlich, unausgesetzt das Steckenpferd aller Zunftphilosophen, die Begriffskritik, zu reiten."

Vorwort
    "Es kann nur  eine  Wahrheit und nur
     einen  Urgrund ihres Inhaltes geben."
Mit der Veröffentlichung des vorliegenden Buches ist die Darlegung meines philosophischen Systems, des monistischen Positivismus, hauptsächlich abgeschlossen.

Dieser Positivismus darf keineswegs mit jenem COMTEsCOMTEs oder SPENCERs verwechselt werden, weil beide wohl den Aufbau der Erkenntnis auf positive Tatsachen als den Weg zur Wahrheit festgestellt, diesen aber in der Durchführung vielfach verlassen und sich auf den Boden der Meinungen und Wünsche begeben haben. Der monistische Positivismus ist wirklich insofern positive Erkenntnis, als er bewußt alles Subjektive unterdrückt und nur ausspricht, was beweisbar, widerspruchslos und durch eine lückenlose Schlußfolgerung geprüft ist.

Während ich das System in philosophischer Hinsicht als abgeschlossen erachte, bleibt dessen empirische Beweisführung beim unausgesetzten Fortschritt der Wissenschaften auch einer fortgesetzten Erweiterung und Vervollkommnung anheimgestellt. Gerade darin wurzelt der Positivismus, daß er für die Entwicklung der Naturgesetze auch die Entwicklung der Erkenntnis offen erhält. Dieser Positivismus ist daher in seiner Weltanschauung und in seiner empirischen Entwicklungsfähigkeit unvergänglich.

Der monistische Positivismus ist nicht bloß ein philosophisches System - womit seine Wesenheit unerfüllt bliebe -, sondern ein System wissenschaftlicher Zweckmäßigkeit, indem er durch die soziologische Erkenntnis das positiv Erkannte der praktischen Verwirklichung zuführt. Denn eine positive Wissenschaft bezweckt keine tiefsinnige Betrachtung der Erscheinungen, sondern ihre Erforschung im Dienste unserer Entwicklung und Vervollkommnung.

Um aber diese Zweckmäßigkeit des Systems und jene Widerspruchs- und Lückenlosigkeit prüfen zu können, reicht die Berücksichtigung des einen oder anderen seiner Teile nicht aus; denn entsprechend dem Begriff eines Systems, kommt dasselbe nur durch alle seine Teile zum Verständnis und mancher Rezensent würde sich den Verweis auf einen Widerspruch oder eine Lücke erspart haben, wenn er nicht nur einen Teil, sondern das Ganze in Betracht gezogen hätte.



Einleitung

Der Drang oder die "Liebe" zum Wissen verweist den Menschen, insoweit sein Intellekt zur Vernunft gereift ist, stets auf das Naturerkennen. Sein inhärentes (angeborenes) Interesse an der Erhaltung und Entwicklung des Ich und seiner Gattung zwingt ihn nämlich, die sinnlichen Wahrnehmungen zu erforschen, um die praktischen Erscheinungen zu verwerten und aus den Erfahrungen Nutzen zu ziehen. Diese naive Empirismus stieß aber auf allen Stufen des ursprünglichen Naturerkennens und ohne Rücksicht auf die intellektuelle Befähigung eines Volkes oder einer Rasse alsbald auf das zunächst unbesiegbare Hindernis, die Naturerscheinungen mehr oder weniger rätselhaft zu finden. Die bloße Beobachtung der Erscheinungen konnte daher den menschlichen Wissensdrang nicht befriedigen. Der Mensch wandte sich deshalb an seine Vernunft, welche scheinbar über seinen Erfahrungen steht, und versuchte, spekulativ das Geheimnis der Erscheinungen, das im Grund und seiner Folge liegt, zu ermitteln. Sein Wissensdrang irrte daher von der sicheren Bahn der Erfahrung imemr mehr ab und verlor sich entweder in die Phantasie des Glaubens, insofern ihn das Transzendentalinteresse hierzu veranlaßt oder strebte nach vernunftgemäßer Einsicht in die Wesenheit der Erscheinungen. Ist dem betreffenden Volk bereits eine hinreichende begriffliche Verstandesentwicklung, festgelegt in der Sprache, eigen geworden, so gewann der Wissensdrang auf dem Weg der Vernunft zum erstenmal den Boden einer wirklichen Erkenntnis. Was dem Menschen die Erfahrung zu versagen schien, die Schöpfung von Axiomen und apodiktischen Erkenntnissen, wurde ihm durch die vernunftgemäße Einsicht mehr oder weniger verläßlich geboten.

In der Tat machte die Erkenntnis auf diesem Weg mächtige Schritte nach vorwärts. Doch gerade jene Erklärungen, welche der Mensch infolge seiner realen Existenz am lebhaftesten sucht, den Aufschluß über die qualitative Natur der Erscheinungen, fand er auf der Bahn der vernunftgemäßen Erwägung nicht. Er erkannte wohl mannigfach deren formale Gesetzlichkeit, aber über ihren Inhalt gibt die Vernunft keinen Aufschluß; diesen aber zu erfahren, brennt der Mensch. Und so kehrte er, selbst nach einer so tiefgehenden Einsicht, wie sie der griechischen Weisheit gelang, enttäuscht zu mystischen Autoritäten zurück, welche ihm mühelos den Inhalt des Seins offenbaren.

Es ist zweifellos, daß jede Konfession jenes philosophische Bedürfnis erstickt; denn sie beantwortet auf dogmatischem Weg die Kausalität und den Zweck des Seins und gibt scheinbar sogar die Mittel zu dessen Befriedigung. Da aber der Mensch anhand realer Bedürfnisse darauf kommt, daß diese Offenbarungen mehr versprechen, als sie halten können, so kehrt er nach vielen Gemütsqualen zu jenem Born zurück, der ihn schon früher Wahrheiten schöpfen ließ: er wendet sich abermals an die Vernunft und entschließt sich, von ihr nur das erfahren zu wollen, was sie bereits früher zu bieten vermochte, die formale Erkenntnis, - den Inhalt des Seins und seiner Zwecke aber der Offenbarung vorzubehalten. Die Renaissance der griechischen Philosophie vollzieht sich unter diesem resignierten Wollen und der Rationalismus, gestützt auf die Mathematik und die Offenbarung, führt dasselbe aus. DESCARTES ist der Begründer dieser Schule; THOMAS von AQUIN versucht, den Glauben mit dem Wissen für alle Zeiten in Übereinstimmung zu bringen.

Doch nur scheinbar ergab sich der menschliche Wissensdrang diesem Kompromiß; schon SPINOZA durchbricht das schwankende Gebäude unerprobter Vernunftschlüsse und unbefriedigender Glaubenssätze. Der alte Kampf hebt wieder an; die Wirklichkeit, der Inhalt des Seins, soll ergründet werden. Vergeblich quält man abermals die Vernunft, etwas zu ergründen, für was sie unzugänglich ist; obgleich HUME und KANT auf dem Weg der Kritik an die Grenzen vernünftigen Erkennens gelangen, verliert sich dieses doch bald in das Nebelreich des Idealismus. Die Philosophie der Vernunft hat gleich den Offenbarungen nicht gehalten, was sie versprach und allseitiger Pessimismus beschließt diese Periode philosophischer Bestrebungen.

Das entscheidende Merkmal dieses Pessimismus ist, daß die Menschen die Ansicht gewinnen, es sei gar nicht gerechtfertigt oder notwendig, über den Inhalt des Seins eine Erklärung zu suchen. Dessen Realität sei unbestreitbar und dieser praktisch zu dienen, sei alles, was wir können. Eine Art Indignation [Entrüstung - wp] erfüllt die meisten Denker gegenüber der Metaphysik und man schwört sich gleichsam zu, die Wissenschaft nie mehr mit Fragen nach dem Wesen des Seins zu belästigen.

So wäre die Menschheit auf dem Pfad der Vernunft am Ende aller Philosophie angelangt, wenn nicht gleichsam parallel mit der Spekulation die Erfahrung gewirkt hätte, welche dem Menschen früher wie ein unmündiges Accessorium [Beiwerk - wp] neben der souveränden Vernunft erschien. Mit ihrer Bereicherung und Systematisierung zeigt sie sich immer deutlicher als schätzenswerter Unterstützer der Vernunft, um sich endlich mit dem Schiffbruch der reinen Vernunfterkenntnis als die Beherrscherin des Intellekts zu entpuppen. Immer deutlicher tritt hervor, daß das wichtigste Werkzeug der Vernunft, die Sprache, selbst nur ein Niederschlag der Erfahrung ist. Der Erfahrung, in das Gewand der Naturwissenschaft gekleidet, lehrte, daß man dem Inhalt des Seins dadurch näher zu rücken vermag, indem man die Erscheinungen als das Merkmal der lange gesuchten Wirklichkeit ansieht und diese anhand der formalen Gewißheit festzuhalten sucht. Die der Vernunft einst so armselig gegenüberstehende Erfahrung war nun derart reichhaltig geworden, daß sich jene die strengste Zurückweisung auf ihre exakten Formalien gefallen lassen mußte, daß endlich das Experiment als Erfahrung  in nuce  [kurz - wp] die Vollwertigkeit einer Erkenntnis zu bestätigen vermochte. So standen wir am Ende des 19. Jahrhunderts vor der Tatsache, für die realen Erscheinungen das  Wie  der Wirklichkeit im Gewand der Naturgesetze tiefgreifend erschlossen zu haben, welcher gegenüber sich die Naturwissenschaft und Mathematik befriedigt fanden. Insoweit die Naturwissenschaft philosophiert, weist sie aber noch immer jede Erklärung der Erscheinungen und schon gar des Seins weit von sich und findet, daß der Mensch vom Realen nicht mehr zu wissen braucht, als er "greifen" kann; insoweit ihm dies zu wenig ist, müsse er sich, getröstet durch das "Ignorabimus", wieder an die Offenbarung halten. Die Wissenschaft steckt nunmehr in der Sackgasse des Materialismus und des Dingbegriffs, aus der sich jeder konfessionell befreien mag, wenn es ihm zu eng darin wird.

So ist die Gelehrsamkeit vor lauter ängstlich gehüteter Wissenschaftlichkeit zur totalen Unwissenschaftlichkeit hinsichtlich desjenigen gelangt, um dessentwillen der Mensch überhaupt zu denken begann. Dieser bescheidet sich aber infolge seines inhärenten Interesses nicht mit dem Bewußtsein, es praktisch so weit gebracht zu haben; er weist es zurück, über den Inhalt des Seins nichts zu erfahren. Kann die Erfahrung nichts erklären, so muß doch wieder die Vernunft heran; vielleicht ist sie jetzt reif geworden, um den letzten Durchbruch zur Gewißheit zu machen. Und in der Tat, der Mensch hat in seinem inneren Drang das Richtige getroffen. Die Betrachtung, welche die Empirie der Spekulation zuteil werden läßt, ist nur ein neuer Beweis jener alten Undankbarkeit, welcher sich die Menschen stets gegen jene Hilfsmittel befleißigen, welchen sie ihre vergangene Entwicklung zuzuschreiben verpflichtet sind. Die Erfahrungswissenschaften haben im Taumel der jüngsten Erfolge vergessen, daß sie nie einen entscheidenden Schritt zu machen vermochten, dessen Richtung ihnen nicht die Spekulation gewiesen hatte. Die Notwendigkeit, die Erfahrung durch diese zu ergänzen und zu verwerten, bricht sich wieder Bahn; die Methode jedoch ist zunächst noch die herkömmliche Dialektik, womit natürlich gegenüber der philosophisch sich gebärdenden Naturwissenschaft, die absolut keinen Schritt jenseits exakter Beweisführung machen will, nicht aufzukommen ist. Noch immer ist auch bei den fortgeschrittensten Philosophen die Vernunft Richtung gebend und nicht die Erfahrung, wenn auch dieser, hinsichtlich aller Gebiete, ein beratender Einfluß zugestanden wird. Auf diese Weise hat sich eine Art zu philosophieren eingefunden, welche nicht mehr ganz rationalistische verfährt, aber auch noch nicht auf der Erfahrung basiert. Ich rede hier nicht von jenen Auswüchsen der Skeptik, die sich in der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Wirkungslosigkeit der Philosophie darin gefallen, an allem zu rütteln, was die Vergangenheit als sicheres Erbe hinterlassen hat oder andererseits alles Neue als Verirrungen verwerfen und empfehlen, zu diesem oder jenem philosophischen System zurückzukehren, - also nicht von jener betrübenden Erscheinung, daß der Glaube an eine regelmäßige Entwicklung verloren ging, sondern von jenen beachtenswerten Versuchen, den unzulänglichen Materialismus als Weltanschauung bloß durch die Kraft der Vernunft zu überwinden. Gerade diese Philosophie, welche auch vorwiegend die Lehrstühle beherrscht, vermag aber darum das metaphysische Bedürfnis nicht zu befriedigen, weil sie ihre Spekulation durch den Mangel einer einheitlichen Methode immer wieder in Widersprüche mit der Erfahrung bringt.

Unzweifelhaft steht die intellektuelle Entwicklung der Menschheit vor einem Wendepunkt, ähnlich jenem zur Zeit des Emporsteigens des Rationalismus oder des Antritts der Herrschaft durch die Naturwissenschaften; dies wird durch die empfundene Unzulänglichkeit der gültigen Weltanschauung und durch eine gewisse Anarchie des philosophischen Bewußtseins bewiesen. (1) Solche Krisen wurden stets durch ein völliges Brechen mit der herrschenden Methode eingeleitet; nicht so sehr darum, weil das Überlieferte ansich keinen Ausweg versprach, sondern weil dieser durch den bisherigen Aufbau verrammelt war.

Nehmen wir ein modernes philosophisches Werk zur Hand, so stoßen wir in der Regel auf den Umstand, daß die Grundbegriffe entweder nicht mit der allgemein gültigen Auffassung des bezeichnenden Wortes übereinstimmen oder daß eine verschiedene Auffassung des Begriffes bei den verschiedenen Philosophen zu konstatieren ist, kurz, daß die logische Sicherheit der Spekulation untergraben ist. Die philosophische Tätigkeit, ohnehin der Hauptsache nach mit der Sicherstellung von Begriffen beschäftigt, wurde mit Aufklärungen darüber überlastet, welche Auffassung dieser oder jener Autor mit irgendeinem philosophischen Fundamentalbegriff verbinde. Was für Kämpfe hat KANT in dieser Hinsicht überhaupt und durch seine saloppe, widerspruchsvolle und unklare Schreibweise verschuldet - Und gerade gegenwärtig - wo der Ruf ertönt: "Zurück zu Kant!" - kann man bestätigt finden, daß über wichtige Begriffe bei seinen Anhängern keine Klarheit herrscht. Der Philosoph, insoweit er rationalistisch oder dialektisch vorgeht, steht also auf einer Grundlage, die wenig geeignet ist, eine Erklärung des Seins zu gestatten, entsprechend der totalen Veränderung in den Lebensanschauungen, welche die Naturwissenschaft und die soziologische Erkenntnis hervorgerufen haben. Ich vermag mir keinen gefährlicheren Grundsatz vorzustellen, als den, welchen WUNDT darin anerkennt, daß die wissenschaftliche Analyse berufen sein soll, "die Begriffsbezeichnungen zu berichtigen und zu ergänzen". (2) Auf diesem Weg hat man es z. B. mit dem Begriff "Wille" so weit gebracht, daß man sich alles mögliche Ursächliche dabei denken kann, nur nicht das, was jeder gesunde Verstand darunter denkt, nämlich den von der Absicht zur Tat vorschreitenden Entschluß.

Dabei darf nicht vergessen werden, daß sich die philosophischen Schriftsteller durch ihre Anlehnung an die Dialektik der Vernunftphilosophie vielfach eines Stiles befleißen, welcher sich mit der Aufgabe der Wissenschaft nie vertragen hat, aber in der Zeit der Scholastik wenigstens dadurch entschuldigt war, daß die "hohe" Wissenschaft nur wenigen, gleichsam Eingeweihten, zugänglich zu sein brauchte. Heute hat jede Wissenschaft und besonders die Philosophie, die Bestimmung, von jedermann, der gründlich gebildet ist, verstanden zu werden und jenes Zunftwesen, das oft seine Hohlheit der Gedanken hinter die fachmännische Geschraubtheit des Ausdrucks verbirgt, ist hoffentlich für immer dem Verfall überantwortet.

Die Philosophie, berufen, das Einigungsgebiet aller Wissenschaften zu sein, muß es sich zur formellen Methode machen, sprachlich mustergültig zu arbeiten; sie muß es insbesondere von sich weisen, neue Fachausdrücke zu schaffen, welchen Mißbrauch nicht zum geringen Teil das Schwanken der Begriffe zuzuschreiben ist. Andererseits ist es aber unmöglich, den naturwissenschaftlichen und soziologischen Errungenschaften auf dem Weg herkömmlicher Fachausdrücke gerecht zu werden. Die Tatsachen, mögen sie sich auf sinnlichem oder auf intellektuellem Gebiet geltend machen, müssen durchgreifend die Grundlage der philosophischen Lehren sein. Eine solche Tatsache ist auch die Entwicklung der Sprache, daher muß sich die Wissenschaft dieser Entwicklung anpassen. Die positivistische Philosophie bedarf also einer neuen Sprache und diese ist die lebendige mit ihrer gültigen Begriffsauslegung. Weg mit der alten, sinnverwirrenden Begriffswelt, die vielfach überwundenden Vorstellungen angehört und gleichsam wie Bleigewichte die Gedankennotwendigkeit unserer Vorstellungen am freien Flug hindert. Auf diese Weise wird es im allgemeinen entbehrlich, unausgesetzt das Steckenpferd aller Zunftphilosophen, die Begriffskritik, zu reiten.

Die positivistische Philosophie braucht aber auch einen neuen Aufbau; es ist unmöglich, geschnürt auf das Prokrustesbett der dialektischen Stoffgliederung, den Erfahrungen volles Recht werden zu lassen. Die naturwissenschaftliche Abweisung alles Unbewiesenen hat diesem Aufbau als Methode der Darstellung vorzuschweben, um die Spekulation strengstens an die Erfahrung zu fesseln.

Ist aber dieses Brechen mit dem Herkömmlichen ein Verleugnen desselben, eine versündigende Negation der Leistungen unserer Vorgänger im Dienste der Philosophie? Vor einer solchen Meinung bewahrt die soziologische Erkenntnis, die uns lehrt, daß jedermann nur auf die Einsicht seiner Vorfahren gründend am allgemeinen Entwicklungsgang unseres Intellekts teilzunehmen vermag. Wohl kann in entscheidungsvollen Wendepunkten der intellektuellen Entwicklung eine Neugruppierung des Erkenntnisschatzes aller Zeiten notwendig werden, um diesen zum vollen Überblick zu bringen, aber nie ist eine Loslösung von dessen Inhalt möglich. Sollte es durch die positivistische Methode gelingen, die bisherigen Begleitmängel der Philosophie abzustreifen, ohne ihre Schätze preiszugeben, dann dürfte sich als Lohn dieses Vorgangs die Erkenntnis ergeben, daß Vernunft und Erfahrung insofern identisch sind, als sie in stetem Zusammenhang bleiben. Welcher scheinbar geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Vernunft und Erfahrung besteht, das zu enthüllen, ist die Aufgabe der Kritik des Intellekts, durch welche mittelbar auch der Inhalt des Seins enthüllt wird.

Die positivistische Methode bringt ferner mit sich, daß die Philosophie zweckmäßig wird; d. h. sie muß aufhören, bloß nichtig der Wahrheit zuzustreben, sondern sie muß in lebendigen Zusammenhang mit dem Werdegang der Menschheit treten, um dieser eine Leuchte auf der Bahn zur realen Vervollkommnung zu sein.
LITERATUR - Gustav Ratzenhofer, Kritik des Intellekts - Positive Erkenntnistheorie, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Wie die Zunftphilosophie bereits anfängt, selbst einzusehen, daß sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt und daß ein Wandel im Interesse der Gesellschaft dringend geboten sei, zeigt in den "Preußischen Jahrbüchern", Band 109, 3. Heft, 1902, FERDINAND J. SCHMIDT in dem Artikel "Die Philosophie in den höheren Schulen". Derselbe beschwört natürlich die Gelehrtenwelt zur Rückkehr zum Rationalismus und wendet sich gegen WUNDT, der dem Positivismus die Tore auch in Deutschland geöffnet haben soll - Kann eine Überzeugung philosophisch sein, welche glaubt, die Intellekte würde sich nach rückwärts entwickeln?
    2) WILHELM WUNDT, System der Philosophie, 2. Auflage, Leipzig 1897, Seite 374