p-4ra-1 L. PongratzR. WillyM. WalleserC. Sigwart    
 
ERNST LAAS
Die Kausalität des Ich
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"Die erste, aber sofort eine höchst wertvolle Beobachtung, die man macht, ist die, daß die unwillkürlichen Prozeduren den willkürlichen zeitlich immer vorangehen; daß wir nicht willkürlich gähnen, husten, usw. können, wenn wir es nicht schon früher unwillkürlich getan haben. Diese Tatsache trägt weit. Bei einiger Umschau bemerken wir nämlich, daß es mit anderen willkürlichen Bewegungen nicht anders ist, daß sie alle auf dem Boden des Gedächtnisses erwachsen, daß das  Wollen  kein ursprünglicher Prozeß des Geistes ist."

Erster Artikel
6. Die unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen

Unter den Bewegungen pflegen einige mit dem Attribut  "willkürlich"  ausgezeichnet zu werden. Es läßt sich erwarten, daß, wenn irgendwo, in der genauen Markierung dessen, wodurch sich diese willkürlichen Bewegungen von den übrigen nervös bestimmten und regulierten Leibesprozessen unterscheiden, der Punkt, den wir suchen, sichtbar werden muß.

Als  nicht willkürlich,  blind naturgesetzlich, ganz mechanisch werden von den durch nervöse Zu- und Ableitung vermittelten Leibesveränderungen natürlich zuerst einmal alle diejenigen bezeichnet, welche völlig ohne Mitbeteiligung des Bewußtseins auf physische Reize unmittelbar erfolgen. (1) Man pflegt hierher gewisse Muskelkrämpfe zu rechnen, die rastlosen Kontraktionen des Herzmuskels, die peristaltischen Bewegungen des Magens und der Gedärme, die Verengung und Erweiterung der Blutgefäße; ferner in gewissem Umfang auch die Atmungsvorgänge. Wir vermögen zwar "willkürlich" schneller oder langsamer, flacher oder tiefer zu atmen; aber atmen überhaupt  müssen  wir, so lange wir sind.

Ebenso naturnotwendig sind aber auch diejenigen Vorgänge, bei denen der physische Reiz zwar auch eine kontrollierbare psychische Folge hat, aber wo derselbe, ohne daß die Seele irgendeinen Einfluß gewinnen kann, unaufhaltsam sogleich auch in eine von Natur präformierte Bewegung ausschlägt. Sobald ein Reiz auf die Schleimhaut des weichen Gaumens gelangt, die völlig machtlos bleiben, sogleich Schlingbewegungen; Reize der Nasenäste des Trigeminus [Drillingsnerv im Gehirn - wp] werden zwar auch psychisch gemerkt, aber bei einer gewissen Intensität rufen sie "unwillkürlich" auch das Niesen hervor usw.

Weiter gehören hierher alle diejenigen Veränderungen, welche als unentrinnbare Folgeerscheinungen  psychischer Erregungen selbst  erscheinen. Zunächst haben  Gefühle  eine solche blinde, notwendige Kausalität; die oben erwähnten automatischen Bewegungen während der ersten Stadien des Seelenlebens, z. B. das Zappeln und Schreien des Säuglings, gehören hierher. Aber auch das Gefühlsleben des Erwachsenen steht noch fortwährend unter dem Geleit solcher motorischen Notwendigkeiten. Physische Martern rufen allgemeine Muskelkrämpfe hervor. Ein in Wut Geratener kann nicht verhindern, daß sein Herz heftiger schlägt; jeder schnelle Übergang im Gefühlsstnad bewirkt notwendig einen Wechsel im Rhythmus und der Tiefe des Atmens; Scham, Schauder, Schreck, Zorn, Verlegenheit rufen ungewollt Erröten, bzw. Erbleichen hervor; durch alle psychischen Erregungen, selbst durch ruhiges Denken wird der nervus facialis in Aktion gebracht; man liest sie von unserer Physiognomie - oft sehr wider unseren "Willen" - ab; wir kausieren sie nicht.

Aber nicht bloß  Gefühle,  auch  Vorstellungen  und  Wahrnehmungen  haben die Kraft, unwillkürliche Bewegungen hervorzurufen; was indessen, wenn man die Tatsache bedenkt, daß sich kein Bewußtseinszustand ganz ohne Gefühlsbeteiligung hält (2), gegen den vorigen Fall nur einen Gradunterschied darstellt. Es sind auch wirklich vor allem Wahrnehmungen und Vorstellungen mit stärkerem Gefühlsbeisatz, welche unwillkürlich, oft fast "dämonisch" in motorische Folgen ausschlagen. Die schwachen, unser Denken begleitenden Gehörphantasmen verlautbaren wir doch meist nur im Affekt. Und als die Urmenschen Wahrnehmungen und Erinnerungen in Reflexlaute ausströmten, aus denen allmählich die Sprache entstanden ist, war gewiß jederzeit  Gefühl  mit im Spiel. Verbrechen, Gewalttaten übermannen den Menschen doch nur dann, wenn er lange mit dem Gedanken gespielt, sich mit ihm vertraut gemacht, den Lustmomenten, die er enthält, nachgehangen hat. Unwillkürlich zucken die Beine an, wenn wir Tanzmusik hören; wenn wir uns vorstellen, wir bissen in eine Zitrone, so läuft uns der Speichel im Mund zusammen; ekelhafte Vorstellungen erwecken Vomituritionen [Brechreiz - wp]; die lebhafte Vergegenwärtigung eines Bades in Eiswasser kann im warmen Zimmer Gänsehaut, ja Zusammenschauern des ganzen Körpers hervorbringen. Auch in diesen Fällen liegt das Gefühlsmoment offen zutage.

Von  vergleichweise  gefühlsfreien Wahrnehmungen üben vorzüglich diejenigen einen motorischen Reiz aus, welche sich auf Bewegungen selbst beziehen. Wir begleiten den Laut der Kegel- oder Billardkugeln mit imitativen Gesten; wir folgen den Bewegungen unserer Feder mit Gesichtsverzerrungen; wir müssen oft, wenn andere gähnen oder lachen, mitgähnen und mitlachen.

Das Merkwürdigste ist, daß "bei jeder Vorstellung (einer Bewegung) eine Bewegungstendenz in oder nach dem Apparat ihrer Darstellung durch Bewegung entsteht, eine Tendenz, die durch Übung und Gewöhnung einen solchen Grad der Leichtigkeit erhält, daß die bloße Disposition jedes Mal in Aktion tritt." (3) Man gähnt oft schon, wenn man bloß von Gähnen hört oder liest. Wenn sich jemand lebhaft einbildet, er schlage jemand, so kann er sich kaum des Schlags enthalten usw. -

Von den sogenannten  willkürlichen  Bewegungen müssen offenbar drei Arten für uns am instruktivsten sein: Erstens solche, wo dieselben Veränderungen, welche unwillkürlich zu geschehen pflegen auch willkürlich hervorgerufen werden: logisch möglich ist es ja, daß die "Folge" auch andere "Gründe", ein "Effekt" auch andere "Ursachen" habe. Zweitens solche, wo der sonst - bei einigen Individuen zu gewissen Zeiten - unwillkürlich eintretende Effekt bei anderen Individuen und zu anderen Zeiten willkürlich modifiziert oder verhindert wird. Drittens solche, bei welchen durch willkürliche Hervorrufung bzw. Hemmung physischer oder psychischer Reize zu unwillkürlichen Bewegungen letztere  indirekt  hervorgerufen bzw. gehemmt werden.

Fassen wir zunächst Beispiele der  indirekten  Verursachung und Hemmung ins Auge! Wir weinen, wenn ein fremder Körper die Konjunktiva [Gewebeschicht am Augapfel - wp] reizt; wir weinen auch, wenn wir traurig sind; wir können aber auch willkürlich weinen;  jedoch können wir es nur durch indirekte Kausation;  indem wir entweder willkürlich jenen physischen Reiz hervorbringen (das Auge drücken, eine Zwiebel hinhalten) oder uns absichtlich in traurige Stimmung versetzen; indem wir uns traurigen Wahrnehmungen oder Erinnerungen oder freien Phantasien hingeben; Mancher kann es auch, indem er sich den Weinvorgang selbst nur lebhaft vorstellt. Wir können nicht erröten, wenn wir "wollen"; aber da wir es von selbst tun, sobald wir uns schämen, in Zorn oder uns in Verlegenheit befinden, so können wir das Erröten gerade so weit indirekt kausieren [verursachen - wp], als wir die in  Wahrnehmungen  oder  Vorstellungen  liegenden Veranlassungen zu den  Gefühlen  hervorzurufen wissen, denen es naturnotwendig folgt. Alle Beispiele dieser Art weisen uns immer auf dieselben Wege. Überall tritt es hervor,  daß motorische Gefühlsreize nur indirekt zu gewinnen sind.  Um  physische  Reize zu unwillkürlichen Bewegungen hervorzurufen, bedürfen wir der Körperbewegung; derselben bedürfen wir auch, um uns motorische  Wahrnehmungsreize  zu verschaffen; die Heranziehung motorischer  Vorstellungen  aber erfordert die Herrschaft über den Mechanismus der Ideenassoziation.

Die indirekten Hemmungen laufen die analoge Bahn. Wenn wir wissen, daß Kitzeln uns unausweichlich lachen, grelles Licht uns weinen macht, so werden wir diesen Wirkungen ausweichen können, wenn wir unsere Haut dem Kitzeln und unser Auge dem grellen Licht zu entziehen vermögen. Wenn wir wissen, bei welchen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Vorstellungen wir unweigerlich lachen und weinen müssen, so werden wir dieses Lachen und Weinen verhüten können, wenn wir jenen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Vorstellungen zu entgehen wissen: jenes vermögen wir, wenn wir gewisse Leibesbewegungen, dieses wenn wir den Vorstellunglauf in unserer Gewalt haben. Wir fragen: Hat das Ich diese Gewalt?

Wir wenden zunächst den  direkten Hemmungen  unsere Aufmerksamkeit zu.

Es schien eine Zeit lang, als wollte die Psychologie der Hypothese des russischen Physiologen SETSCHENOW (4) anschließen, daß die Hemmungen von andringenden Reizen durch  besondere Vorrichtungen  des Nervensystems geschehen. Gegenwärtig scheint diese Position ziemlich aufgegeben zugunsten einer Lehre, welche unsere Frage bedeutend vereinfacht: nämlich, daß, abgesehen von natürlicher "Ermüdung" der Nerven, alle "Hemmung" darauf beruth, daß den bezüglichen Reizen der Zugang zum Bewußtsein, bzw. zu den Nervenbahnen, in die sie sich zu entladen streben, augenblicklich durch stärkere,  konträre  Erregungen  verlegt  ist; oder, noch materieller ausgedrückt, daß die zur Verfügung stehende Nervenkraft auf einen anderen Punkt konzentriert ist; oft reicht zu dieser antagonistischen Wirkung schon die bloße "Aufmerksamkeit" auf den Vorgang aus. Es bedarf hiernach für die Hemmung nur der Möglichkeit, des Daseins und der ausreichenden Erregung, bzw. Verstärkung antagonistischer Reize, bzw. Bewegungen. Und das Ich bedarf, um nicht willkürlich Bewegungen aufkommen zu lassen, nur erstens der Kenntnis der ihm überhaupt zur Verfügung stehenden Antagonisten; man muß erwarten, daß die Erfahrung ihm diese Erkenntnis zuführt; zweitens der Fähigkeit, bei drohenden Aussichten, die es verhüten will, zur Vorstellung der geeigneten Hemmungsbewegung sofort den psychischen Übergang zu finden, was wiederum Herrschaft über die Ideenassoziation voraussetzt; und drittens der Fähigkeit, in jedem gegebenen Fall, wo es eine vorgestellte mögliche Bewegung ausführen will, von sich aus indirekt oder direkt dieselbe kausieren, bzw. vorhandene Bewegungsreize der Art verstärken zu können. So verfließt dieser Fall zum Teil in den eben behandelten, zum Teil in den noch übrigen  der direkten willkürlichen Kausation. 

Wir gähnen unwillkürlich, wenn der Magen leer ist oder wenn wir müde sind; oder wenn wir uns langweilen; oder wenn wir gähnen sehen; ja, wenn wir vom Gähnen lesen oder hören. Wir können aber auch "künstlich" gähnen. Ebenso können wir künstlich, willkürlich schlingen, husten, lachen, schluchzen.

Was lehren nun Vorgänge dieser Art? wie vollzieht sich so ein willkürliches Motivieren dessen, was auch auf physische oder psychische Reize von selbst erfolgen kann?

Die erste, aber sofort eine höchst wertvolle Beobachtung, die man macht, ist die, daß die unwillkürlichen Prozeduren dieser Art den willkürlichen zeitlich immer vorangehen; daß wir nicht willkürlich gähnen, husten, usw. können, wenn wir es nicht schon früher unwillkürlich getan haben. Diese Tatsache trägt weit. Bei einiger Umschau bemerken wir nämlich, daß es mit anderen willkürlichen Bewegungen nicht anders ist, daß sie alle auf dem Boden des Gedächtnisses erwachsen,  daß das "Wollen" kein ursprünglicher Prozeß des Geistes ist.  Doch davon später mehr.

Zweitens beobachtet man, daß die willkürlichen Nachbildungen unwillkürlicher Bewegungen der sie vorausnehmenden Vorstellung und zwar der Vorstellung des äußeren und des inneren Effekts bedürfen. Zwar tritt manchmal die zweite Hälfte im Bewußtsein zurück: wir gähnen oft schon, sowie wir nur an den Anblick, den ein Gähnender gewährt, denken; aber in anderen Fällen werden wir wieder umso mehr inne, wie nötig auch die Vorstellung der inneren Aktion ist. Wenn wir frisch und ausgeschlafen sind, können wir doch höchstens gähnen, wenn wir die eigentümliche Empfindung reproduzieren, die die Ausführung der Bewegung selbst zu begleiten pflegt. Auch dieser Punkt ist sofort auf die willkürlichen Bewegungen überhaupt übertragbar. Sie bedürfen alle der die Bewegung und ihren Effekt vorbildenden Vorstellung: manchmal der einen mehr, manchmal der anderen; aber völlig entbehrt werden kann keine der beiden Hälften. Wie wenig die wenn auch noch so exakt gefaßte Vorstellung des äußeren Effekts imstande ist, diesen nun auch wirklich zu erregen, können wir noch täglich an den Fällen konstatieren, wo wir uns neue Bewegungsformen zu eigen machen wollen; (5) wir bedürfen eben zu aller willkürlichen Bewegung, daß wir sie vorher schon anderweitig  gemacht  haben. Andrerseits genügt auch die Erinnerung an den inneren Vorgang allein nicht: die Sprache derer verwildert, welche die hervorgebrachten Effekte nicht mehr zu hören vermögen. Manche Psychologen fügen diesen beiden Vorstellungselementen noch dasjenige hinzu, was wir Innervationsempfindung [Nervenimpulse - wp] genannt haben; erst sie verleihe, sagt z. B. VOLKMANN (6), "der ruhenden Vorstellung der erregenden Akzent". Jedoch dürfte sie als ein Gesondertes schwer zu konstatieren sein: und was "den erregenden Akzent" anbetrifft, so glauben wir ihn anderswo suchen zu müssen.

Indessen wenn auch wirklich als drittes Vorstellungselement in den willkürlichen Nachbildungen unwillkürlicher Bewegungen noch die Erinnerung an das ursprüngliche Innervationsbewußtsein mitspielt: wir kommen mit allen drei Elementen nicht zu etwas, was die direkt willkürliche Bewegung wesentlich von der unwillkürlichen oder indirekt willkürlichen scheidet. Da Bewegungsvorstellungen oft die "dämonische" Kraft haben, sich in Bewegungen selbst umzusetzen, so könnten Bewegungen, die von jenen drei Vorstellungselementen allein kausiert sind, nur entweder unwillkürliche Bewegungen sein oder, wenn willkürlich, nur indirekt willkürlich: nämlich durch spontane Reproduktion der sollizitierenden [nötigenden - wp] Bewegungsvorstellung herbeigeführt; was wiederum nur möglich wäre, wenn das Ich seinen Vorstellungslauf "frei" dirigieren könnte.

Wir fragen: was ist das Agens, welches die  direkt  willkürlichen Bewegungen auszeichnet?

Da wir auf empirischem Boden stehen, so können wir uns nicht in die Lehre flüchten, daß bei all unserem Tun das eigentliche Agens jenseits des Bewußtseins liegt und aller direkten Konstatierbarkeit enthoben sei (7); abgesehen davon, daß der Sprachgebrauch, der diese Klasse von Bewegungen besonders bezeichnet, doch irgendein empirisches Motiv dazu gehabt haben muß; und abgesehen auch davon, daß jenes asylum ignorantiae [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp] uns die Freudigkeit und Beruhigung, die wir für unser Leben und Streben suchen, nicht zu gewähren vermöchte.

Wir fragen, ob außer den auf gemachten Bewegungserfahrungen ruhenden Bewegungsvorstellungen noch ein weiterr Faktor an den willkürlichen Bewegungen entdeckt werden kann.

Wie aufrichtig und aufmerksam, sei es in flagranti, sei es aus der Erinnerung wir uns auch prüfen mögen: es ist nichts weiter zu entdecken, als Etwas, was wir vorläufig nicht besser bezeichnen können, wie als  "Wunsch"  der Ausführung. Wir nennen: ich meine der Sprachgebrauch nennt jede Bewegung direkt, willkürlich durch das Ich kausiert, bei welcher der unruhige Drang und Wunsch, die Bewegung auszuführen, der ruhenden Vorstellung Nachdruck, "den erregenden Akzent" verleiht. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Vorstellung, z. B. die Lösung eines Rätsels - in der Aufregung - sofort unwillkürlich verlautbare, bzw. ob ich das Aussprechen und das Wort selbst so laut denke, daß es mir entschlüpft oder ob ich neben Begriff und Wort den Wunsch habe, sie mitzuteilen, der Mitteilung meinen Beifall gebe und nun das Aussprechen dem Wunsch gemäß erfolgt.

Wollten wir jetzt aus diesen analytischen Betrachtungen den Schluß ziehen, daß  alle  "willkürlichen" Bewegungen gewisser Bewegungsvorstellungen einerseits und andererseits des Strebens und Wunsches nach Ausführung bedürfen, so würde uns die große Zahl von willkürlichen Bewegungen entgegentreten, die keinen der beiden Faktoren zu enthalten scheinen; die fast wie jene allerunwillkürlichsten, ganz mechanischen Bewegungen, mit denen wir einsetzten, durch bloße Überstrahlung der Nervenerregung von sensiblen auf motorische Bahnen, ohne oder fast ohne alle Bewußtseinsbeteiligung verlaufen. Hierher gehört das Gehen, das Sprechen, das Schreiben, das Klavierspielen des Virtuosen usw.

Wenn man näher zusieht, so handelt es sich in Fällen dieser Art meist um  Fortsetzung  angefangener Bewegungs-Modi; und immer um Ergebnisse der  Einschulung  und  Gewöhnung.  Was hic et nunc [hier und jetzt - wp] oder fast vorstellungs- und begierdelos sich vollzieht, hat einst all jene Stadien durchgemacht, die wir noch jetzt bei jeder Einübung neuer Fertigkeiten erleben können; nur daß wir jetzt Teilerfahrungen analoger Art im Einzelnen immer schon vorfinden und, so unterstützt, das gewünschte Gesamtresultat nunmehr jederzeit schneller erreichen.

Unruhig strebend und bedürfnisvoll sucht das Bewußtsein einen vorgestellten Effekt zur Ausführung zu bringen. Damit sie gelinge, müssen innerhalb der natürlich präformierten Koordinationen von Muskeln hier Gruppen und Glieder gelöst, isoliert, hier neu kombiniert werden; hier sind Innervationen zu stärken, dort zu schwächen oder gar zu hemmen; und das alles zumeist ohne irgendwelche anatomisch-physiologischen Kenntnisse und Anschauungen. Es ist kein Wunder, daß das Gewünschte oft erst nach vielen vergeblichen Versuchen - und dann fast zufällig - hervorbricht. Nun aber bemächtigt sich die Erinnerung des erreichten Erfolges. Mit dem Streben und der Vorstellung des Effekts assoziiert sich die Erinnerung an die eigentümliche Empfindung des Vorganges selbst: und allen dreien gelingt es im glücklichen Fall (8) sogleich, meistens allmählich die gewünschte Bewegung der Natur gleichsam wieder abzutrotzen. Das nächste Mal geht es schon leichter; es geht allmählich immer leichter; die zur Verfügung stehende Nervenkraft schlägt auf die leiseste Anregung die eingewöhnten Bahnen ein. Das Schema des Vorgans wiederholt sich. Jede gewonnene höhere Befriedigung erweckt das Streben sie wiederzuerlangen; die Freude des Gelingens regt neue Bemühungen und Versuche an; immer wieder gelingt es, aus Streben und Vorstellung des Effekts, mit der richtigen Aktivitätsempfindung assoziiert, die Bewegung selbst hervortreten zu sehen; immer wieder gelingt es Verbindungen dieser Art festzumachen. Auf diesem Weg gelangt der glückliche Treffer und unermüdliche Über dahin, jede organisch überhaupt mögliche Aktion mit den denkbar einfachsten Mitteln und dem geringsten Aufwand von Zeit, Aufmerksamkeit und Anstrengung herzustellen. Immer mehr Proben und Vorbereitungen fallen weg. Immer fester werden die Verbindungsfäden zwischen Vorstellung, Wunsch und Ausführung; immer fester werden die einzelnen Abschnitte komplizierter und vielgliedriger Bewegungen miteinander verkettet; zuletzt ist es nicht mehr nötig, jedes Stück mit schwerfällig deutlichem Bewußtsein bis ins Detail vorzustellen; von Punkt zu Punkt gleitet an leisen, kaum merkbaren Direktiven die Bewegung wie "von selbst" weiter; allerdings fast wie die unwillkürlichsten Bewegungen, etwa wie wenn bei den peristaltischen Bewegungen der Gedärme jeder motorische Effekt zugleich Reiz wird für die folgende sensible Erregung, die ihrerseits "von selbst" weiter den motorischen Erfolg auslöst. Nur den Anfangsimpuls merkt oft der sich in Bewegung setzende Wanderer; danach zieht das Aufstoßen des einen Fußes durch fast unbewußten Reiz sofort die in tausenden von analogen Fällen assoziierte Erinnerung an die für die Erhebung des andern Fußes nötige Empfindung herbei; und über dem Ganzen schwebt leise fortwirkend der Gesamtwunsch weiter zu kommen, ein vorgestecktes Ziel zu erreichen; die Seele ist so sehr alles überflüssigen Aktionsapparates entlastet, daß sich über jenem Unterstrom ein bewegtes Wellengekräusel von Beobachtungen, Gedanken und Träumen entwickeln kann. Nun liegt das Ziel da; die Schlußaktion der Hemmung macht für alle nun fälligen weiteren praktischen Notwendigkeiten den Raum frei und die Pforte auf.

Es bedarf nur einer geringen Besinnung und Beobachtung, um zu erkennen, daß der geschilderte Entwicklungsgang nicht auf die Fälle beschränkt ist, wo komplizierte und kettenartig sich hinstreckende Bewegungen eingeschult werden und zu leicht beherrschbaren Fertigkeiten erwachsen. Fassen wir den Verlauf in seinen allgemeinsten Zügen auf, so treffen wir im Anbeginn auf ein Stadium, wo die Bewegungen noch gar keine Zwecke verfolgten, wo das animalische Individuum noch keine Zwecke und noch keine Bewegungen vorstellen konnte, sondern wo die gleichwohl auftretenden Bewegungen der blinde Reflex seiner von leiblichen Dispositionen geweckten Gefühle waren. Auch die später willkürliche Bewegung war zunächst nur automatischer Gefühlsreflex. Die Erfahrung dessen, was sie für Nutzen gewährt, sondert sie aus einer größeren Zahl ebenso automatischer Äußerungsweisen als ein bevorzugtes Objekt heraus. Es bildet sich der Wunsch, sie zu verwirklichen; zunächst wird der Effekt, allmählich auch die innere Aktivität vorgestellt; Wunsch und Vorstellung arbeiten so lange an der natürlichen Bildsamkeit und Lenksamkeit der Nervenkraft, bis sie ihnen endlich zu Willen ist. Nun bemächtigt sich die bewußte Einübung der Errungenschaft; die erreichte Assoziation zwischen Wunsch, Bewegungsvorstellung und effektiver Bewegung wird befestigt. So lernt das Kind, seine Nahrung zu erzappeln und zu erschreien; so lernt es, Objekte mit den Augen zu fixieren, bewegten Gegenständen nachzublicken, zu undeutlich Wahrgenommenem, das es fesselt, die richtige Position zu gewinnen; so lernt es das Pferd, den Sporendruck und Peitschenschlag richtig zu deuten und mit geeigneten Bewegungen den Zumutungen der Dressur zu entsprechen. "Nur dann tun wir etwas absichtlich, wenn wir es schon unabsichtlich getan haben. Die Natur muß immer den Anfang machen." (9) Vieles wird schwer gelernt, weil die "Natur" die nötigen Muskelkoordinationen nicht sogleich darbietet. Welche Mühe hat manches Kind zu lernen, einen Ball aus der Hand zu werfen, sich die Nase zu schnäuzen, auszuspeien, willkürlich zu riechen usw.

Allmählich aber kann jede Bewegung, die der Organismus gestattet und die wir häufig genüg üben, in diejenige Verfassung übergehen, welche dem Gemüt zu mancherlei anderen Aktionen nebenher freien Spielraum läßt, so daß die innervierenden Bewußtseinsnuancen fast ganz oder ganz ins Unmerkliche verschwinden.

Man kann es bei diesem Sachverhalt  darwinistisch  denkenden Psychologen nicht verargen, wenn sie dem Gedanken nachhängen, ob nicht alle oder einige jener  "instinktiven",  präformierten Bewegungen, die der Erhaltung des Organismus dienen und bei denen sensible Erregungen ganz oder fast ohne Bewußtseinsbeteiligung in motorische überstrahlen, auf  ererbten Einschulungen  der Voreltern beruhen mögen; und ob nicht andererseits unsere eigenen Einübungen und Gewohnheiten den späteren auf Fertigkeiten dieser Art gerichteten Wünschen unserer Kinder und Enkel Erleichterungen und Begünstigungen zu gewähren imstande sein.


7. Wunsch, Wille, Absicht, Trieb

Als unterscheidendes Charakteristikum derjenigen Leibesbewegungen, die das Ich sich selbst zu verdanken scheint, hat sich der sie belebende und anregende  Wunsch  sie auszuführen dargestellt. Was stecken nun in solchem Wunsch und Streben näher für psychische Potenzen? Kann die wissenschaftliche Analysis in ihm Bestandteile entdecken, die jene innerlichere, persönlichere Beteiligung des Ich zum Vorschein bringen, die wir suchen, um sie den Extravaganzen der mechanischen Weltvorstellungen als Schutzwehr gegenüber halten zu können?

Der Wunsch, um den es sich hier handelt, ist kein sogenannter  leerer Wunsch;  er spielt nicht mit unmöglichen oder unwahrscheinlichen Vorstellungen; er geht auf das nach der "Regel des Lebens" Erfüllbare und er kausiert den Beginn der Erfüllung. Wünsche können auch durch den blinden Naturlauf verwirklicht werden: wir nennen ihre Erfüllung  zufällig;  ebenso zufällig ist die Erfüllung, wenn sie durch andere von uns und unserem Wunsch unabhängige Ichs herbeigeführt wird; ja auch wenn sie durch unsere eigene Aktion bewirkt wird, sobald dieselbe entweder unwillkürlich oder unbewußt war oder ganz wo anders hinzielte oder von uns wider alle Regel der Wahrscheinlichkeit und ohne berechtigten Anhaltspunkt in der Erfahrung auf diesen Erfolg bezogen war. Geschieht die Erfüllung aufgrund unseres Wunsches von anderen, so wird sie zwar von uns kausiert, aber nur mittelbar, indirekt. Nur von den durch Eigenbewegung erfüllten Wünschen, bei denen diese Erfüllung aufgrund vorhergegangener Erfahrung vorhergesehen und vom jedesmaligen Wunsch selbst erregt und belebt wurde, ist hier die Rede. Wir wollen Wünsche dieser Art  aktive, kausative, effektive Wünsche  nennen.

Sieht man die Bewegungen, welche von solchen Wünschen sollizitiert [nachgesucht - wp] werden, näher an, so bemerkt man, daß der eigentliche Wunsch nicht sowohl auf die Bewegung selbst, als auf etwas durch sie Erreichbares, Weiteres gerichtet ist: mag dieses eigentliche Wunschobjekt sich unmittelbar an jene Bewegung anschließen, wie wenn wir nach einem uns wertvollen Gegenstand greifen oder mögen sich zwischen ihr und der völligen Perfektion des Wunsches noch naturnotwendige Ereignisse oder sicher, bzw. höchst wahrscheinlich zu erwartende Handlungen anderer einschieben. Die Bewegungen ist nur conditio sine qua non, Mittel zum eigentlichen Zweck. (10)

Dieses Verhältnis läßt beliebige Erweiterungen zu. Wenn ich über den die Bewegung kausierenden nächsten Wunsch noch weitere ausstecke, die nach diesem Anfang und nur unter dieser Voraussetzung zu verwirklichen sind, so steht jeder fernere zu jedem näheren in demselben Zweck-Mittel-Verhältnis, wie der nächste zur willkürlichen Bewegung. Wir wollen die - eine kurze oder lange Reihe von Wunschverwirklichungen - einleitende willkürliche Bewegung, mag sie einfach oder kompliziert (11) sein, eine  Willensaktion  und den sie belebende mittelbaren Wunsch eine  Wollung  (volitio) ein  Wollen,  einen  Willen,  jeden die Wollung selbst nahe oder entfernt bestimmenden (kausativen) Wunsch aber, mag er auf den letzten Zweck oder nur auf ein Mittel zu seiner Verwirklichung gerichtet sein,  Absicht  (12) nennen; nur die letzte Absicht wird, genau gesprochen  "bezweckt".  In unseren Absichten liegen die  Motive  zu unseren Handlungen: Motiv ist, was als näherer oder fernerer Zweck vorschwebt (13), das (wirkliche oder vermeintliche)  Gute,  das man mit der Handlung zu erreichen hofft.

Gewollt wie beabsichtigt wird nicht, was nicht direkt oder indirekt gewünscht und für "möglich" gehalten würde.  Bloß  gewünscht kann auch das Unmögliche werden. Oft wird freilich auch das ansich Mögliche nur gewünscht, nicht gewollt und nicht beabsichtigt, wenn nämlich der Wünschende an den Punkt, wo er eingreifen könnte, nicht denkt oder aus irgendeinem Grund, etwa wegen eines stärkeren konträren Wunsches (mehr davon später) nicht eingreifen mag. Der Wollende, Beabsichtigende  handelt;  das liegt im Begriff des Wollens und der Absicht; ein Wille, der mit der Ausführung zögert, das Vollbringen nicht findet, ist nur ein uneigentlich sogenannter Wille, ist nur ein Wunsch; der bloß Wünschende bleibt in tauber Passivität. Wenn der Wille, die Absicht wider vernünftiges Erwarten an physischen Hindernissen scheitern, so sind sie nachträglich auf den bloßen Wunsch herabgesetzt. Der  Versuch  war dann die ganze Tat. Tat aber muß sein, wo wirklich Wille und Absicht zugestanden werden soll.

Jeder Wollung ist  die Vorstellung  des Gewollten, d. h. der Bewegung, inexistent; der Willensakt ist die Realisierung der vorgestellten Bewegung. So sehr aufgrund von Übung und Gewohnheit diese Vorstellung mitsamt dem indirekten Wunsch, der die Bewegung belebt, hinter den direkten, dirigierenden Wünschen, so sehr, anders ausgedrückt, sich der ganze Wille oft hinter der Absicht verdunkelt (14):  ursprünglich  muß jede Willkürliche Bewegung, deren wir uns jetzt so leicht und unaufhaltsam bedienen, wirklich als solche gewünscht und mit und im Wunsch auch  vorgestellt  gewesen sein.  Es gibt keinen ursprünglich unbewußten Willen;  (15) er kann unbewußt (oder nahezu unbewußt) nur  werden,  werden durch fortgesetzte Übung und Gewohnheit. (16)

Da alles unbewußte Wünschen und Wollen aus bewußtem hervorgeht, da letzteres durch die ihm inhärierende [innewohnende - wp]  Vorstellung des Gewollten  gekennzeichnet ist, alle Vorstellung aber Erfahrung voraussetzt, da insbesondere die aktive Vorstellung der willkürlichen Bewegung auf derjenigen Erfahrung ruht, die aus unwillkürlichen Bewegungen, aus den Erfolgen bloßer Versuche entsteht: so ist alles Wollen (wie Wünschen) nur ein  sekundärer  Vorgang, nicht so ursprünglich, wie das  Empfinden  und das es begleitende  Fühlen,  nicht so ursprünglich auch, als die aus physischen Reizen oder aus Gefühlen stammenden  Bewegungen.  Alles gegenständliche Wünschen ist nur möglich auf dem Boden des ziehen1.htmlGedächtnisses (17); ignoti nulla cupido [Unbekanntes wird nicht begehrt - wp]; und alles Wollen bedarf außerdem der Erinnerung an die Bewußtseinszustände, welche sich bei ganz ungewollten oder versuchsweise ins Spiel gesetzten Bewegungen von selbst anbieten. (18)

Alle kausativen Wünsche gehen, wie die Wünsche überhaupt, auf  die Zukunft;  (19) sie bestimmen die Zukunft unter der Direktive sie vorbildender Vorstellungen. Schon wenn man bloß diese Seite ins Auge faßt, erscheint die willkürliche Bewegung als etwas, was von allen mechanischen Naturvorgängen radikal verschieden ist. Wo auch im Bereich der Natur außerhalb der Ich-Kausalität Bewegungen vorkommen, immer sind es bloße Resultanten der Vergangenheit; nirgends halten wir uns wissenschaftlich berechtigt, die Rücksicht auf die Zukunft als bestimmend vorauszusetzen. Alles Geschehen im Bereich des Nicht-Ich ist aetiologisch [verursacht - wp], ist "mechanisch", ist blind; nirgends darf man sich, ehe das Ich ins Spiel kommt, veranlaßt finden, an eine teleologische, prämeditative Wirksamkeit zu denken. Diese Art des Geschehens ist nur möglich durch die für alles Nicht-Ich beispiellose, schlechterdings eigenartige Natur des Ich, durch jene seine wundersame Fähigkeit, innerhalb gewisser Schranken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Kontinuität des Bewußtseins durch das Medium von Erinnerungs- und Phantasievorstellungen in Eins zu fassen, durch die Fähigkeit, aufgrund erfahrender und reproduzierbarer Erlebnisse und Wahrnehmungen in einiger Ausdehnung die Zukunft vorzubilden und für solche vorgestellte Zukunft interessiert zu sein. Neue, spezifisch neue Kräfte kann es freilich in den Naturlauf nicht hineinwerfen; auch seine Produkte bringen nichts Neues; z. B. so Neues nicht, wie wenn chemische Affinitäten und Differenzen sich plötzlich zu molekularen Aktionen entwickeln: aber von neuer, noch in höherem Sinne mechanisch nicht vorher bestimmter Art ist das, was aus seinem Streben, Wünschen und Wollen erfließt, wahrhaftig gleichwohl. Die vorhandenen Naturpotenzen treten durch seinen Eingriff in ein neues Schema, in neue Kollokationen [Anordnungen - wp]. Die relativ bildsame und lenkbare Nervenkraft erfährt einen bestimmenden, gestaltenden Einfluß. Bisher galt in der Natur überall der fatalistische Zwang der Vergangenheit; wo das Ich zu regieren beginnt, erhebt sich zum ersten Mal innerhalb der empirischen Welt die Möglichkeit, die Vergangenheit in den Dienst der Zukunft zu zwingen. Die Situation ist schon fast ins Konträre gewandt. Was bisher in absoluter Abhängigkeit war, die Zukunft, wird Herrin; und die allgewaltige Vergangenheit muß ihr dienen. Freilich wird damit die Zukunft so allmächtig nicht, wie vorher ihre Rivalin war; ihre Macht hängt am Ich; und seine Fähigkeit ist beschränkt.

Es ist nicht die Rücksicht auf die Zukunft überhaupt und allein, was die auf Wünschen und Streben gegründete Kausalität des Ich vor jeder mechanischen auszeichnet: in den willkürlichen Aktionen liegt noch ein zweites Distinguens [Unterscheidungsmerkmal - wp], etwas, was das Wesen des Ich noch tiefer, sozusagen vitaler berührt. Wenn das Ich in die Zukunft blickt und mit dieser neuen Art von Kausalität dem Mechanismus der Natur entgegenwirkt, an die Stelle des Stoßes a tergo [von hinten - wp] den Zug a fronte [von vorn - wp] setzend: so steht es damit nicht etwa unter einem neuen - wenn auch konträren - Fatum. Es benutzt seine aus eigenen Erfahrungen geschöpfte Kenntnis nicht im Dienst einer ihm fremden Macht, etwa eines teleologischen oder providentiellen [schicksalhaften - wp] Dämons. Es ist schlechterdings sein eigenstes Interesse und Wollen, was ihm die Vorsorge für die Zukunft eingibt.

Das animalische Ich ist ursprünglich - ehe das Gedächtnis zu spielen beginnt - identisch mit seinem Gefühl; es ist es in jeder unteilbaren Gegenwart, wenn man von den Vorstellungsbeziehungen nach vorwärts und rückwärts absieht, noch immer. Und wo es sich der Vergangenheit erinnert und Zukunftsbilder entwirft, immer geschieht es mit Rücksicht auf das Gefühl, das es damals hatte, das es von der Zukunft hofft und dessen Reflex es gegenwärtig besitzt. In der sich fortspinnenden Reihe seiner wechselnden Stimmungen besteht ihm der Kern seines Lebens. Die annähernd gleiche oder kontinuierlich sich entwickelnde Art, von den Dingen gefühlsmäßig berührt zu werden, ist das Hauptband seiner Tage und Jahre (20). Jedes Gefühl hatte ursprünglich Leibesbewegungen im Gefolge. Parallel mit ihnen minderten oder mehrten sich Lust und Schmerz; je nachdem; so wie es in der ererbten Konstitution begründet lag. Das Ich hat ein Interesse darn, daß seine Lust sich erhalte, daß sie wachse, daß Unlust ihm möglichst fern bleibe, daß jeder Mangel Befriedigung finde. Das ist sein Wesen, seine eigentümliche Art. Wenn es nun im weiteren Fortschritt seiner intellektuellen Entwicklung vorwärtsstrebend Zukunftsvorstellungen von ausführbaren Leibesbewegungen entwirft, so tut es das nicht, um sozusagen die Götter der Vergangenheit, denen der mechanische Naturlauf bisher ergeben war, zu stürzen und den Kultus der Zukunft heraufzuführen, sondern schlechterdings  seiner selbst, seiner eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Befriedigung wegen;  nur um seine Lust zu erhalten und zu mehren, nur ums sich Unlust zu vermindern und abzuwehren, nimmt es Interesse an der Zukunft überhaupt. Weil es nun einmal eine Substanz ist von jener Kontinuität des Bewußtseins und Interesses, aufgrund deren es sorgen muß und vorausbedenken kann, was die Zukunft ihm für Gefühlsreize bringen werde: darum strömt es in die Vorstellung möglicher Bewegungen, die es für geeignet anzusehen gelernt hat, sein Wohl zu fördern, es strömt in die mit diesen Vorstellungen assoziierten Innervationsempfindungen und dgl. all die Kraft und Inbrunst lebendigen Wunsches hinein, die ihm Erfüllung bringt.

Wem sollen wir nun sagen, daß so eine Erfüllung dient? welchem Fatum soll ein Wesen, dem solches gelingt, unterworfen sein? Es setzt in seinen Willensakten sein Interesse, sein Selbst durch. Alles, was seine Eigentümlichkeit kennzeichnet, reflektiert sich in ihnen: seine Bewußtseinskontinuität, sein Gefühl, seine Fähigkeit, aus der Vergangenheit eine Voraussicht für die Zukunft zu erlernen, und zuletzt jene wundersame Eigenschaft, in gegenwärtigem Interesse Vergangenheit und Zukunft in Eins zu binden. Ja es  "handelt",  wenn es handelt, in Wahrheit; es ist  "frei",  steht nicht unter dem Zwang des Mechanismus. Es kann in den drangvollsten Lagen immer noch die Rücksicht auf das vergleichsweise Beste nehmen, auf das, was ihm gut scheint, auf seine Lust, auf den höchsten Grad der Schmerzlinderung und Bedürfnisbefriedigung.

Wo aber diese Rücksicht, die Rücksicht auf  das "Gute"  herrscht, da ist der blinde Mechanismus durchbrochen. Und so weit  meine  Lust und  meine  Voraussicht das in letzter Instanz Bestimmende ist, so weit bin  ich  Herr.

Das Ich ist demnach mehr als ein mit Bewußtsein begabtes, empfindendes oder wahrnehmendes und fühlendes, sich erinnerndes und vorstellendes Wesen: das Ich ist erst ganz Ich, soweit es die Kraft hat, im eigenen Interesse aktiv zu sein. Es bereitet sich seine Lust, sein Schicksal zum Teil durch seine Wollungen. Dieselben sind mit dem Urstand des Ich noch nicht gegeben; sie setzen die selbst schon abgeleiteten Funktionen des Gedächtnisses und der Erwartung voraus: aber warum soll das volle Ich auch das Ich des Anfangs und nicht der Reife sein? Das volle Ich ist das durch Wunsch, Willen und Absicht kausierende Ich. Das "Vermögen" zu wollen, der "Wille" ist der Kern und Mittelpunkt der ausgebildeten Persönlichkeit.

Und wenn auch das Wollen nur ein abgeleitetes Phänomen der psychischen Entwicklung ist: letzten Endes geht es doch mit seiner Wurzel in das Allerursprünglichste, in das  Gefühl  zurück. So spielerisch zugleich und gefährlich es ist, das Gefühl selbst auf einen ursprünglichen sogenannten "unbewußten Willen" zurückzuführen, so kann man, das ganze Ich, all seinen Inhalt, all sein Leben und Streben überschauend, sich vielleicht doch  den  Ausdruck erlauben, daß, was es auch im Einzelnen wolle und wünsche, über allem der  generelle  Wunsch und "Trieb" (21) - wenn auch nicht Wille (22) - schwebe, Lust zu haben, befriedigt, selig zu sein. Dieser Wunsch und Trieb spezialisiert sich bei den verschiedenen Klassen von Ichs aufgrund zum Teil natürlicher Disposition, zum Teil der Erziehung und Gewöhnung zu besonderen konkreten Arten des gesuchten Glücks; hier geht er z. B. vorzugsweise auf sinnliche Annehmlichkeit, dort auf intellektuelle und moralische, dort auf religiöse Befriedigung aus; und bei manchen Persönlichkeiten, die einzig in ihrer Art sind, gestaltet er sich ganz individuell. Wirksam, lebendig und unmittelbar gegenwärtig sind im Bewußtsein immer nur die konkreten Ausgestaltungen und Ausfüllungen des Triebschemas: aber das Allgemeine ist im Besonderen enthalten; und die Reflexion kann sich darauf besinnen, es entdecken und es sich verdeutlichen.

Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Handlung des Ich dem Fatum entrückt: was es auch wolle und tue, es ist Versuch, Mittel oder Beispiel der ihm eigentümlichen Art, sein Glück und seinen Frieden zu finden; es ist Ausprägung, Darstellung seines Wesens, sein eigen. -

In der Vergangenheit hat am frühesten die Verstandes- und Gefühlsbestimtheit der Ich-Kausalität dem blinden, kalten Naturmechanismus gegenübergehalten und bezeichnet - PLATON. So wenig wir seinen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien im Allgemeinen huldigen, (23) so wenig wir auch in der vorliegenden Frage der kosmogonischen und ideologischen Träume und Schwärmereien, zu denen er seinen Fund ausgebeutet hat, vertreten mögen: so müssen wir doch die Kraft, Schärfe und Triftigkeit, mit der er den Gegensatz selbst gefaßt und bezeichnet hat, anerkennen.

Daß es keinen ursprünglich unbewußten Willen gebe, daß der animalische Wille überhaupt nichts Ursprüngliches und daß er an gewisse Naturschranken gebunden sei, daß wir nicht alles können, was wir "wollen": stellen wir schon oben als Korollar [Zugabe - wp] unserer Analyse heraus. Unsere Auseinandersetzungen haben aber auch  diese  Folge, daß wo auch immer in der Natur jemand die Dinge a fronte, teleologisch, aus Rücksichten auf die Zukunft, auf Zwecke bestimmt annehmen will, er entschlossen sein muß, Analoga und Vorstufen des animalischen oder menschlichen Ich und seiner Willensaktion vorauszusetzen; und daß er sich klar machen muß, ob und wie "der Wille" das, was ihm zugemutet wird, - dieser Analogie gemäß - wohl zu leisten imstande sein möchte. Leider wird auch außerhalb der SCHOPENHAUERschen Schule diese Konsequenz und Notwendigkeit nicht gehörig in Acht genommen. (24) Man kann es nicht dringend genug einschärfen, daß alles Wollen ungewolltes Bewegen voraussetzt; daß ursprünglich das Gewollte  vorgestellt  werden muß; daß nur gewollt werden kann, was vorher schon einmal automatisch, blindlings gelang; daß der Wille nur dirigiert, nicht schafft; und daß das Zweckmäßige erst aus vielen tappenden Versuchen allmählich emporsteigt.
LITERATUR - Ernst Laas, Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschafliche Philosophie, Bd. 4, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) Wenn es nämlich dergleichen Veränderungen überhaupt gibt, und nicht auch ein Schimmer von ihnen in Partikeln jenes indistinkten, aber fundamentalen Gefühl, das wir Vitalgefühl nennen, ins Bewußtsein fällt.
    2) Vgl. LOTZE, Medizinische Psychologie, Seite 245f
    3) JOHANNES MÜLLER, Handbuch der Physiologie II, Seite 105
    4) IWAN MICHALOWITSCH SETSCHENOW, Physiologische Studien über die Hemmungsmechanismen für die Reflextätigkeit im Gehirn des Frosches, 1863. Vgl. z. B. ROSENTHAL, Allgemeine Physiologie der Nerven und Muskeln, Seite 263 und 277f. Dagegen CHMIELOWSKI, Die organischen Bedingungen der Entstehung des Willens, Seite 13f
    5) Zum Beispiel wenn wir eine fremde Sprache erlernen oder technische und operative Handgriffe in aller erforderlichen Präzision nachmachen wollen; oder wenn wir versuchen einwärts oder auswärts zu schielen.
    6) VOLKMANN, Lehrbuch der Psychologie, Seite 318f
    7) So z. B. LOTZE, bei dem sich diese Lehre noch mit der merkwürdigen Bizarrerie verquickt, daß wir in unserem Tun nur  unser Leiden  fühlen; vgl. u. a. "Medizinische Psychologie", Seite 311: "... wir müssen hier allgemein aussprechen, daß wir ... gar nicht  die Kraft  empfinden,  während sie eine Wirkung zu erzeugen eilt,  sondern daß wir  hinterher  vielmehr nur  das Leiden  fühlen, welches  ihre unbeobachtet vorübergehende Kausalität  in unseren ... Muskeln verursacht hat." Oder W. VOLKMANN, a. a. O., Seite 294: "Was der Muskelempfindung den Zug der Aktivität verleiht, ist der Umstand, daß sich in ihr  der an sich unbewußte  psychische Impuls dem Bewußtsein reflektiert.
    8) Demgegenüber findet sich aber auch  der  Fall, daß die zufällig gelungene Bewegung  nicht  reproduziert werden kann, auch nach mancherlei Versuchen nicht wieder gefunden wird; so daß der Betreffende endlich mißvergnügt die Versuche selbst aufgibt.
    9) CONDILLAC, Traité des sensations, II, Seite 4, 5f
    10) Vgl. PLATON, Gorgias, 467D
    11) Die  Einheit  ist daei ein so elastisches Attribut, wie auch sonst; das Determinationsmoment liegt hier im nächsten dirigierenden Wunsch und im Interesse, das die Reflexion daran hat, ihn in viele oder wenige elementare Einheiten auseinandertreten, bzw. aus solchen "höhere" Einheiten zusammentreten zu lassen.
    12) Nicht völlig dem - weiter reichenden - Sprachgebrauch des (übrigens erst seit dem 18. Jahrhundert auftretenden) Wortes kongruent: man spricht auch von noch bevorstehenden, geplanten, ernstlich zur Ausführung ins Auge gefaßten Handlungen als  "beabsichtigten".  Die Bedeutung des Textes geht auf den gewünschten und nach der Regel des Lebens erwarteten Erfolg jetzt wirklich ausgeführter Handlungen; man fragt in diesem Sinne etwa: was beabsichtigst Du eigentlich mit dieser Handlung? Vgl. GRIMM, Deutsches Wörterbuch I, Seite 114. - Auch der Ausdruck "Wille" wird im weiteren Sinne - oft für jeden Wunsch - von der Sprache angewandt; vielfach steht er wie ein Synonym neben und für Absicht. "Was Willenserklärung heißt, ist eigentlich Absichtserklärung" (ZITELMANN, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1897, Seite 243).
    13) Oft wird im Sprechen freilich auch die Unlust, das Gefühl des Mangels, für den man in der Handlung Befriedigung sucht, oft auch sogar die Ursache des Mangels als Motiv bezeichnet: Jemand verleumdet mich, um mir zu schaden, um sich an mir zu rächen, aus Rache, weil er sich von mir beleidigt fühlt (welche  Meinung  ihm Unlust  macht),  weil ich ihn öffentlich getadelt habe. (Vgl. ZITELMANN, a. a. O., Seite 156f
    14) Zum Beispiel "das, was wir  mit Willen  tun, um einen Gedankenlauf laut werden zu lassen, ist, daß wir  die Wörter,  in die er zu fassen ist, in  der Absicht,  sie auszusprechen, denken" (LAZARUS. Leben der Seele II, 2. Auflage, Seite 85). Und wie oft gleitet das Sprechen selbst über diese notwendige Vermittlung nahezu bewußtlos hin!
    15) Ursprüngliche, geerbte  Dispositionen  zu Begehrungen "Wille" zu nennen, ist ein höchst bedenkliches terminologisches Spiel.
    16) Vgl. CHRISTOPH SIGWART, Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache, Tübingen 1879, Seite 17f und 41.
    17) So schon PLATON, Philebos, 35A
    18) Vgl. JOHANN JULIUS BAUMANN, Handbuch der Moral, 1879, Seite 5f. Nur ist dort die - wo nicht auch in der Sache, so mindestens im Ausdruck - bedenkliche Lehre BAINs von einer "spontaneous activity" der Nerven viel zu rückhaltlos in Gebrauch genommen. Vgl. CHMIELOWSIK, a. a. O., Seite 16f
    19) Das gilt auch vom Faustischen: "Augenblick, verweile doch! Du bist so schön!"
    20) Vgl. LOCKE, Essay concerning human understanding II, 1. Buch, 11.
    21) Es genügt hier, in Beziehung auf diesen von allen charakterpsychologischen Ausdrücken wohl am meisten mißbrauchten Terminus auf die lichtvollen Auseinandersetzungen LOTZEs, Medizinische Psychologie, Seite 297f zu verweisen.
    22) Die mißbräuchliche Anwendung dieses Ausdrucks geht bis auf die sokratisch-platonische Ethik zurück (vgl. TOBIAS WILDAUER, Die Psychologie des Willens bei Sokrates, Platon und Aristoteles I, Seite 12, 21, 63f; II, 39, 217); sie hat aber erst seit SCHOPENHAUER ihre ganze Gefährlichkeit entfaltet.
    23) Vgl. LAAS, Idealismus und Positivismus, Seite 11f
    24) So lese ich z. B. bei STEINTHAL, Abriss der Sprachwissenschaft, Seite 335: die Tierseele habe sich Hand und Sprachorgane nicht geschaffen, weil sie kein Bedürfnis derselben gehabt habe (als ob das bloße Bedürfnis zum Gestalten, Wirken und "Schaffen" genügte). "Hätte sie dieses Bedürfnis gehabt,  so wäre es auch an sich genügend gewesen,  sich Befriedigung zu verschaffen; jener Drang, fände er statt, er würde  an sich selbst  (!) zur Schöpferkraft geworden sein und jene Organe gebildet haben, wie sie ihm genügen."