cr-2RechtLogik für JuristenSprachkritik als Aufgabe der Rechtstheorie    
 
DIETRICH BUSSE
Der Stellenwert der Sprachtheorie
in der juristischen Methodenlehre


Die klassische Auslegungslehre "Am verfänglichsten ist die versteckte Vieldeutigkeit jener Wörter, die wir ununterbrochen im Munde führen, und die recht eigentlich als eindeutig gelten."

Die herrschende Meinung der juristischen Auslegungslehre kennt vier Methoden (oder besser: Aspekte; bei LARENZ "Kriterien der Auslegung"), nach denen ein Gesetz ausgelegt werden kann. Sie werden als "Kanones" bezeichnet und gehen auf die 1802 verfaßte Methodik von F. C. von SAVIGNY zurück. Dieser kannte neben der "philologischen" Auslegung nach den "Regeln der Sprache" (auch als "grammatische" Auslegung bezeichnet) noch eine "historische" und eine "systematische" Auslegung (letztere auch als "logische" Auslegung bzw. als "genetische Darstellung des Gedankens im Gesetz" bezeichnet). Diese methodologischen Aspekte stehen in engem Zusammenhang mit der dem Rechtspositivismus verpflichteten sog. "objektiven" Auslegungstheorie. In der heutigen Auslegungs-Methodik werden folgende Kanones unterschieden:
    a) Auslegung nach dem Wortlaut ("grammatische Auslegung")

    b) systematische Auslegung (auch "logische" Auslegung, d.h. Auslegung eines Paragraphen nach der Stellung im "System" des Gesetzes oder aller Gesetze)

    c) Auslgegung nach der Entstehungsgeschichte ("genetische" bzw. "historische", auch "genetisch-historische" Auslegung genannt)

    d) Auslegung nach dem "Zweck des Gesetzes" ("teleologische Auslegung")
Zu a) "Grammatische" Auslegung meint zunächst nichts anderes als die Orientierung am "Buchstaben des Gesetzes" (1). "Jede Auslegung eines Gesetzes wird mit dem Wortsinn beginnen." Dazu ENGISCH:  
"Mit der nicht sehr präzisen, aber nun einmal üblichen Vokabel  grammatische Auslegung ist jedoch offenbar nur gemeint jene spezifische Methode der Sinnermittlung, die sich (zumindest fürs Erste) orientiert an der sprachgebräuchlichen (häufig lexikalisch zu erschließenden) Bedeutung der Worte und ihrer syntaktischen Zusammenfügung." (2)
Es liegt auf der Hand, daß die Diskussion darüber, was der "Wortlaut" einer Gesetzesnorm sei und wie er auszulegen ist, den Punkt bezeichnet, wo linguistische Theorien Eingang in die juristische Methodik gefunden haben. Die allgemein verbreitete Auffassung, daß Gesetzesanwendung als eine (wie immer auch verstandene) Subsumtion eines Falles unter den Wortlaut einer Rechtsnorm funktioniere, zieht die Berufung auf alle denkbaren Theorien sprachlicher Bedeutung quasi notwendig nach sich.

Die Frage nach dem "Wortlaut", d.h. die Frage, wie die Bedeutung einer Normformulierung herausgefunden werden kann und in welchem Verhältnis solcherart Bedeutungsfindung zur eigentlichen Aufgabe der Juristen, Rech zu finden bzw. zu sprechen, steht, bilden das Zentrum aller rechtssemantischen Überlegungen. Das Zitat von ENGISCH belegt zwei übliche Herangehensweisen von Juristen an das "Bedeutungsproblem" der grammatischen Auslegung: Die Orientierung an der "sprachgebräuchlichen Bedeutung" der Worte und Syntagmen einer Normformulierung meint tatsächlich die Befragung der eigenen Sprach-Kompetenz des Interpreten, ironisch auch als "Lehnstuhl-Methode" bezeichnet.

Der Griff zum Lexikon, den ENGISCH daneben erwähnt, findet wohl seltener statt als zu vermuten wäre. Die eigene Sprachfähigkeit als Bedeutungsverständnis eines "normalen, unverbildeten Sprechers der deutschen Sprache", als "natürliches Sprachempfinden" (oder wie auch immer die Umschreibungen lauten mögen) auszugeben und zur Begründung der eigenen Entscheidung heranzuziehen, ist auch heute noch gängige wenn nicht gar vorherrschende Praxis.

Nach WANK verfährt der Jurist meist so, daß er sein natürliches Sprachempfinden stellvertretend für den allgemeinen Sprachgebrauch antworten läßt", was u.a. die bedenkliche Folge nach sich zieht, "daß der Jurist dabei im allgemeinen weder repräsentativ noch nach semantischen Kriterien vorgeht, sondern im Rahmen seiner juristischen Arbeit seine Rechtsauffassung hinter dem Verweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch verbirgt".

Von Juristen wird deshalb öfters erwogen, welche Formen der empirischen Bedeutungsfeststellung der Normtext-Auslegung ein stabileres Fundament geben könnten. Die anvisierte Trägheit der Gesetzes-Interpreten würde sich dabei stark linguistischen Forschungsmethoden annähern.

Das wirft die Frage auf, ob mit "Auslegung einer Rechtsnorm" überhaupt ein empirisches Verfahren der Bedeutungsfeststellung gemeint sein kann, oder ob die juristische Tätigkeit sich zwar der Normtexte bedient, aber über  Interpretation  im textwissenschaflichen Sinn hinausgeht; d.h. es steht in Frage, ob SAVIGNYs Charakterisierung der juristischen Tätigkeit als "philologische Methode" gerechtfertigt ist und den Anforderungen an die Rechtsprechung gerecht wird.

Die Indizien sprechen dafür, daß mit dem Verweis auf den "allgemeinen Sprachgebrauch" eben nicht der empirische Sprachgebrauch der Sprecher der deutschen Standardsprache gemeint ist, sondern daß es rechtswissenschaftliche und höchstrichterliche Interpretationen und Definitionen sind (die sich - wie etwa beim Begriff  Gewalt  - sehr weit vom alltäglichen Sprachempfinden entfernen können), auf welche bei rechtlichen Entscheidungen zurückgegriffen wird.

"Grammatische" Auslegung wäre dann im besten Fall - wenn sie weiterhin als Methode der Bedeutungsfeststellung begriffen werden soll - eine Aufklärung der Semantik fachsprachlicher Termini der Juristensprache. Begreift man die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke als Resultate des in einer Sprachgemeinschaft herrschenden Sprachgebrauchs, dann müßte aufgeklärt werden, was alles zum "Sprachgebrauch" der juristischen Fachsprache hinzugerechnet werden soll. Sind es nur die Gesetzestexte, sind es Urteile, Kommentare, Fachliteratur (die ja selbst stets schon Interpretation der Ursprungstexte sind)? Sind es Definitionen, oder sind es gar systematische Aspekte, welche die Interpretation schon steuern?

All diese Fragen nach der Bedeutung von Gesetzestexten - dem "Wortsinn" - und den Methoden, mit denen sie herausgefunden werden kann, setzen voraus, daß schon geklärt ist, was "Bedeutung" sprachlicher Texte eigentlich sei. Wenngleich einige Juristen diese Frage als (in der Jurisprudenz) gänzlich ungeklärt ansehen, spricht doch mehr für die Vermutung, daß in allen Methodenlehren schon eine - wenn auch implizite - Bedeutungsauffassung enthalten ist.

Diese Bedeutungsauffassungen aufzuspüren und sie zu formulieren ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit. Damit betreffen sprachwissenschaftlich relevante Aspekte, wie sie etwa die bedeutungstheoretischen Grundfragen der juristischen Methodenlehre darstellen, den Kern der juristischen Tätigkeit, solange die Orientierung der Rechtsprechung "an dem Gesetzeswortlaut", und damit der Vorrang der (wie auch immer aufgefaßten) "grammatischen Auslegung", Verfassungsgebot ist.


Zu b): Als "systematische" Auslegung wird die Berücksichtigung der Stellung einer einzelnen Rechtsnorm im Gesamtzusammenhang des Gesetzes (bzw. aller Gesetze, d.h. der "Rechtsordnung" schlechthin) bezeichnet. Da die einzelnen Paragraphen nicht gleichwertig nebeneinander stehen, sondern zwischen ihnen hierarchische Über- oder Unterordnungsbeziehungen bestehen können (z.B. "Subsidiarität", d.h. eine bestimmte gesetzliche Regelung greift erst dann, wenn eine andere, ihr vorgeordnete, nicht auf den Sachverhalt paßt), woraus sich komplizierte systematische Verflechtungen ergeben können, wird diese Auslegung oft auch als "logische" Auslegung bezeichnet.
"Der logisch-systematische Zusammenhang betrifft nicht nur die Bedeutung der Rechtsbegriffe im jeweiligen konkreten Gedankenzusammenhang ... Er betrifft vielmehr letztlich die Fülle des im einzelnen Rechtssatz geborgenen Rechtsgedankens in seienr mannigfaltigen Bezüglichkeit auf die anderen Bestandteile des gesamten Rechtssystems." (3)
Die Auffassung des Rechts als eines in sich strukturierten, vollständigen und systematischen Zusammenhangs, der mit Mitteln der Logik aufzuklären sei, steht in enger Beziehung zur sog. "Begriffsjurisprudenz", welche das Recht ausschließlich als System von Rechtsbegriffen auffaßt, welche zu definieren und gegeneinander abzugrenzen seien. Wenngleich diese Schule heute nicht mehr die herrschende Lehre bestimmt, so werden logische Theorien in der Methodenlehre auch heute noch häufig als Hilfsmittel herangezogen und anderen (z.B. nicht an der Logik orientierten Sprachtheorien) vorgezogen.

LARENZ bezeichnet den systematischen Aspekt auch als "den Bedeutungszusammenhang des Gesetzes". Dies wirft die Frage auf, in welcher Beziehung die "systematische" Auslegung zur "grammatischen" Auslegung steht. Werden zwei verschiedene Aspekte angenommen, wonach zur Feststellung der Bedeutung eines Normwortlauts die Einordnung der Norm in ihrer festgestellten Bedeutung in den systematischen Zusammenhang anderer Normen tritt (die dann folgerichtig auch schon in ihrer Bedeutung festgestellt sein müßten)? Oder ist die Berücksichtigung der systematischen Stellung einer Norm im Gesamtzusammenhang Bestandteil der Feststellung ihrer Bedeutung, wie es LARENZ Formulierung nahelegt?

Ein strenge Trennung beider Auslegungs-Kanones kann wohl nicht gedacht werden, da jede systematische Überlegung bereits die Kenntnis der Bedeutung der herangezogenen Gesetzestexte voraussetzt; "grammatische" Auslegung geht der "systematischen" Auslegung notwendig voran, weshalb die Beziehung der Kanones untereinander auch meist als hierarchische Ordnung bzw. als Schrittfolge bei der Auslegung angesehen wird. Umgekehrt ist aber nicht so klar, ob eine "grammatische" Auslegung auch auf systematische Aspekte zurückgreift (zurückgreifen) darf.

Im linguistischen Sinne könnte der systematische Gesetzes-Zusammenhang als ein  Bedeutungshorizont " bezeichnet werden, der bei jeder Auslegung einer einzelnen Normformulierung stets schon vorhanden ist und ihr Ergebnis mit beeinflußt. In der alltäglichen Rechtspraxis wird dies wohl auch der Fall sein, da die Rechtsanwender die heranzuziehenden Rechtsnormen, zu denen eine auszulegende Normformulierung in systematischer Beziehung steht, stets schon wissen oder zumindestens ahnen (wäre dies nicht so, dann könnten sie die bezogenen Normen im Wust der Gesetze gar nicht finden). D.h. daß, wenn konkurrierende oder verwandte Rechtsnormen existieren, ihre Kenntnis auch auf die Auslegung einer Normformulierung "nach dem Wortsinn", d.h. auf die "Feststellung ihrer Bedeutung" zurückwirken kann.

Fragen der systematischen Beziehung von Normen untereinander sind Gegenstand der juristischen "Dogmatik", d.h. der Lehre von der Auslegung und Ordnung der Rechtsnormen, und damit selbst schon Gegenstand wechselnder Lehrmeinungen, welche wiederum vermutlich auf abweichenden Interpretationen einzelner Normen beruhen. Es ist fragwürdig, ob solche Gesichtspunkte schon in die Auslegung "nach dem Wortsinn" eingehen dürfen, wenn man die Fiktion der puren "Feststellung" der Bedeutung einer Normformulierung aufrechterhalten will.

Ist die Beziehung der "systematischen" Auslegung zur Seite der "grammatischen" Auslegung ungeklärt, so besteht andererseits auch eine enge Beziehung zum vierten Kanon, der "teleologischen" Auslegung, wie ENGISCH betont:
"Da diese Sinnbezüglichkeit jedes Rechtssatzes auf die Gesamtrechtsordnung zum guten Teil eine teleologische ist, indem ja die Rechtssätze großenteils die Aufgabe haben, im Zusammenhang mit anderen Normen bestimmte Zwecke zu erfüllen, diese anderen Normen final zu ergänzen, läßt sich die systematische Auslegung von der teleologischen kaum trennen." trennen." (4)
Zu c): Unter "genetisch-historischer" Auslegung wird die Auslegung "nach der Entstehungsgeschichte" einer Norm, bzw. nach der "Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers" verstanden. (Die "genetische" Auslegung bezieht sich auf die Gesetzes-Materialien, während die "historische" Auslegung die vorherige Rechtslage miteinbezieht.) Dahinter steht deutlich die Fiktion vom "Willen des Gesetzgebers", welchen die Rechtsanwender zu verwirklichen hätten, als der die Norm (das Recht) tragenden Kraft, welche ihr in einem Akt der Autorschaft quasi eingehaucht sei.

Historisch leitet sich die Auffassung, daß das Recht dem Willen des Gesetzgebers zu folgen habe, aus den absolutistischen Monarchien der frühen Neuzeit ab, in denen der "Wille des Gesetzgebers" (selbst wenn auch das schon angesichts der damals herrschenden Realität eine Fiktion gewesen sein mag) wenigsten noch als "Wille" einer einzelnen, greifbaren, real existierenden Person verstanden werden konnte. Diese Erklärungsfigur wurde mit in das Rechtssystem der demokratischen Staatsverfassung übernommen, in der indes nicht mehr so ohne weiteres auszumachen ist, welche Person bzw. Personengruppe der "Gesetzgeber" ist und was angesichts einer möglichen Vielzahl von Motiven, Absichten, Zwecken als deren "Wille" aufzufassen ist.

Ist das Konzept vom "Willen des Gesetzgebers" als zu verwirklichendem Inhalt der Rechtsnormen also schon von seinen staatstheoretischen Grundlagen her ein fragwürdiges Modell, so ist seine Eignung für demokratisch verfaßte Staatswesen - nähme man es ernst - auch an der Realität der Gesetzgebungspraxis kaum zu verifizieren. Betrachtet man den "genetischen" Aspekt dieses Auslegungskanons näher, dann wird darunter in der Regel die Entstehungsgeschichte einer Norm verstanden, wie sie in den Gesetzesmaterialien, z.B. den Protokollen von Parlamentsdebatten, den Anträgen, Kommentaren zu Gesetzesvorhaben etc. dokumentiert ist.

Semantisch gesehen könnten all dies Texte als  Kontext  zum Bedeutungshorizont der auszulegenden Norm gerechnet werden, da einzelne Ausdrücke der Norm bzw. ganze Syntagmen und Sätze darin erläutert werden, oder wenigstens in differenzierenden Verwendungen den Sprachgebrauch zu interpretierender Ausdrücke exemplifizieren und damit paradigmatischen Charakter für die "Feststellung" von deren Bedeutungen bekommen. Es steht indes zu vermuten daß das (rechtspositivistisch gesehen) eigentliche Auslegungsproblem, nämlich die Feststellung der einen, gültigen Bedeutung (bzw. Auslegung), mit Heranziehung der "Entstehungsgeschichte" nicht gelöst wird.

Die Absichtserklärungen, welche in den Parlamentsmaterialien evtl. abgegeben werden, können selbst widersprüchlich, unklar oder rechtlich irrelevant sein. Zudem wird in Parlamentsdebatten selten in juristisch verwertbarer Weise über Ziel und Zweck von Gesetzen/Normen debattiert; die allermeisten Gesetze werden vom "Gesetzgeber", dem Parlament, nach Vorlagen aus den Ministerien ohne Debatte abgestimmt; und ob die Kommentare /Erklärungen von Ministerialbeamten, die qua Verfassung Teil der Exekutive (und eben nicht der Legislative) sind, bindenden Charakter für die Rechtsprechung haben können, ist äußerst fraglich.

Es ist also ausgesprochen fraglich, ob mit den Mitteln der "genetischen Auslegung" der "Wille des Gesetzgebers" im Sinne der Bedeutungsabsicht eines Textautors zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es wäre schon eine umfangreiche Leistung historischer Bedeutungsforschung, die in den Gesetzesmaterialien enthaltenen Sprachdaten auf ihre Verwertbarkeit für die Interpretation der auszulegenden Normformulierung zu überprüfen. "Der  Wille des Rechtssetzers  müßte, wenn überhaupt, mitd en Mitteln der Geschichtswissenschaft weit über die Gesetzesmaterialien hinaus erforscht werden." (5)

Das für die Auslegungsmethodik wichtigste Problem besteht aber darin, daß alle heranziehbaren Materialien als  Texte  selbst wiederum  auslegungsfähig  und  -bedürftig  sind, der Rechtsanwender also auch hier wieder auf die "grammatische Auslegung" angewiesen ist. Der "genetischen" Auslegung wird innerhalb dieses Kanons gelegentlich der Aspekt der "historischen Auslegung" gegenübergestellt. Zwar sind beide Aspekte Bestandteil historischen Rückgriffs, doch bezieht sich die "genetische" Auslegung eher auf die Gesetzesmaterialien im engeren Sinne, mit deren Hilfe die Sinn-Intention es historischen "Gesetzgebers" herausgefunden werden soll, während die "historische" Komponente eher auf die historische Entscheidungssituation, z.B. vorhergehende Normtexte und Gründe für ihre Änderung, zielt.

Nach ENGISCH geht das historische Verstehen eines Gesetzes so vor:
"einsetzend beim faktisch gemeinten und gewollten Sinn, sodann die nächsten geschichtlichen Zusammenhänge aufklärend, die  Motive  ergründend, die Ansichten der Autoren befragend, schließlich den ganzen historischen Wurzelboden und die geistige Atmosphäre der gesetzlichen Entwicklung erforschend." (6)
Diese Beschreibung der Erforschung des Willens des historischen Gesetzgebers erinnert stark an ein Ondit eines Jura-Professors, der seinen Studenten bei Einführung der Kanones die "tele-ologische Auslegung" so erklärte: "von ganz weit her geholt". Die "historische Auslegung" wird wegen ihrer zum Teil teleologischen Zielrichtung auch als "subjektiv-teleologische" Methode bezeichnet, um sie vom vierten Kanon, der "objektiv-teleologischen" Auslegung, zu unterscheiden.

Zu d): Der vierte und umstrittenste Kanon der Gesetzesinterpretation ist die "teleologische Auslegung", d.h. die Auslegung "nach dem Zweck des Gesetzes". Eine solche Auslegung liegt z.B. dann vor, wenn in einem höchstrichterlichen Urteil der Diebstahl von Gas nach dem Diebstahl-Paragraphen des StGB abgeurteilt wird, obwohl die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal "fremde bewegliche Sache" fragwürdig erscheint. Will man die semantische Beschreibung von "Sache" und "beweglich" nicht über Gebühr ausdehnen und vom alltäglichen Sprachgebrauch entfernen, dann kann man nach der "Regelungsabsicht" fragen und als "Diebstahl" all das bestrafen, was wie die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache anzusehen ist und auch von den Rechtsunterworfenen so angesehen wird.

Teleologische Auslegung ist, da sie der Spekulation und damit der Willkür Tür und Tor öffnet, in demokratischen Staatswesen ausgesprochen fragwürdig. Schon bei F.K. SAVIGNY, aus dessen Methodenlehre die übrigen drei Kanones stammen, fehlt die teleologische "Methode". Das Fragen nach dem "Zweck des Gesetzes" (der Norm) kann dann wichtig werden, wenn eine Auslegung nach der "Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers", am "Bedeutungswandel" der Normformulierung scheitert. Ob sich hinter dem vielzitierten Bedeutungswandel von Rechtsnormen ein in erster Linie semantisches Phänomen verbirgt, ist noch nicht ausgemacht; der Wandel von Normen (d.h. tatsächlich: von Akten der Norm-Anwendung) ist ein Ergebnis der Rechtspraxis, das mit rechtssystematischen Gesichtspunkten, mit dem Wandel des Alltagslebens, der Veränderung von moralischen und sittlichen Werthaltungen und politischen Anschauungen mindestens ebensoviel zu tun hat, wie mit dem Bedeutungswandel von Wörtern in Normtexten.

Nur eine pragmatische Bedeutungstheorie könnte all diese Aspekte in Beziehung zur Bedeutung sprachlicher Zeichen setzen; in einer genauen Überprüfung der Umgangsweise von Juristen mit sprachlichem Material, d.h. in einer Analyse der juristischen Semantik, muß erst der Frage nachgegangen werden, ob das Arbeiten der Juristen mit Texten in Termini der Linguistik und einer linguistischen Semantik überhaupt zureichend erfaßt werden kann. Dem Linguisten stellt sich die sprachliche Vermitteltheit aller vier Auslegungs-Kanones als unumgehbar dar; für die Juristen ist die Bindung der Rechtsprechung "an den Wortlaut des Gesetzes" oberstes verfassungsrechtliches Gebot. Insofern stellt sich die Frage nach einer Rangfolge der vier Kanones gar nicht; laut FRIEDRICH MÜLLER konnte sie in der herkömmlichen Methodenlehre auch gar nicht festgelegt werden, a die Kanones keine abgrenzbaren "Methoden" der Gesetzesinterpretation darstellen, sondern "vielmehr unterschiedliche, aufeinander angewiesene Teilmomente des Auslegungsgeschäfts". (7)

Jede Auslegung, auch diejenige nach dem "Zweck des Gesetzes" endet nach herrschender juristischer Auffassung an der "Grenze des Wortlauts". Wo diese zu ziehen ist, und ob sie überhaupt unstrittig gezogen werden kann, darüber gehen indes die juristischen Lehrmeinungen ebenso auseinander wie über den Vorrang der einzelnen Auslegungskanones.

Wenn auch die vier Auslegungs-Kanones Gemeingut der juristischen Methodenlehre sind, so wird ihre unterschiedliche Definition doch überschattet vom grundsätzlicheren Streit zwischen "subjektiver" und "objektiver" Schule der Gesetzesinterpretation. Auf diesem Feld werden all die Differenzen über Rechtsanwendung  vs. Rechtsfortbildung ,  Auslegung  vs.  Analogie,  Bedeutungsfest stellung  vs. Bedeutungsfest setzung  ausgetragen, zu deren Begründung wechselnde semantische Theorien herangezogen werden, deren Kern aber nicht nur ein methodisches Problem ist, sondern ebensosehr das möglicherweise differierende Verfassungsverständnis und Bild über die Aufgaben aber auch Grenzen der Jurisprudenz.

Der Streit geht vordergründig darum, ob der "Wille des Gesetzgebers" in einer Art historischer Analyse der Bedeutungsintentionen der ursprünglichen Autoren des Gesetzes festgestellt werden muß (subjektive Auslegung), oder ob die "Intention" der Rechtsquelle "hic et nunc" (hier und jetzt) zu entnehmen sei, ihr als "objektiver Sinn" überzeitlich inneliegt (objektive Auslegung). Mit ENGISCHs Worten:
"Wird der Sachgehalt des Gesetzes und damit das letzte  Auslegungsziel  durch den vormaligen und einmaligen  Willen  des historischen Gesetzgebers derart bestimmt, daß der Rechtsdogmatiker in die Spuren des Rechtshistorikers treten muß, oder aber ruht der sachliche Gehalt des Gesetzes in ihm selbst und in seinen  Worten  als  Wille des Gesetzes , als objektiver Sinn, der unabhängig ist von dem  subjektiven Meinen und Willen des historischen Gesetzgebers, dafür aber auch notfalls frei beweglich, entwicklungsfähig wie alles, was am  objektiven  Geist teilhat?" (8)

LITERATUR - Dietrich Busse, Juristische Semantik, Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 1993
    Anmerkungen
    1) Die für Linguisten verwirrende Vokabel "grammatisch" meint wohl das griechische  to gramma = Buchstabe, Schrift, Geschriebenes - und nicht die Grammatik im linguistischen Sinn (als Syntax).
    2) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956
    3) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 76
    4) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 77
    5) Friedrich Müller, Juristische Methodik, Berlin 1990, Seite 162
    6) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 87
    7) Friedrich Müller, Juristische Methodik, Berlin 1990, Seite 248
    8) Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin /Köln/Mainz 1956, Seite 88. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979, Seite 35: "Die objektive Auslegungstheorie besagt (...), daß nicht die vom Urheber gemeinte, sondern eine unabhängig davon zu ermittelnde objektive, dem Gesetz immanente Bedeutung die rechtlich maßgebende sei. Sie behauptet daher vor allem einen grundsätzlichen Gegensatz der juristischen Auslegung zur philologisch-historischen."