ra-3cr-2ra-2E. Cassirervon HeydebreckG. StörringE. SprangerW. Dilthey    
 
THEODOR LITT
Das Allgemeine im Aufbau der
geisteswissenschaftlichen Erkenntnis

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"In Wirklichkeit gibt es nur Einzelnes, Besonderes, Individuelles. Von einem Allgemeinen kann überhaupt erst die Rede sein, wenn das Subjekt an diese Wirklichkeit herantritt und sie zu erkennen versucht. Was dieses Subjekt sich gegenüber hat, das ist eine Unendlichkeit von unendlich vielgestaltigen Befunden, die in extensiver Vollständigkeit aufzunehmen und festzuhalten seine Kräfte übersteigt. Es muß die Einzelphänomene sichten, ordnen und nach Gruppen vereinigen, um den Gehalt dieser Welt geistig bewältigen zu können."

"In dem Eifer, der Macht des Allgemeinen nur ja zur Anerkennung zu verhelfen, wollte die  Aufklärung an den Einzelerscheinungen der Geschichte nur das als wesentlich und bedeutsam gelten lassen, worin sie die allgemeinen Prinzipien des Geistes verwirklicht zu finden glaubte; was ihnen darüber hinaus noch zu eigen war, galt ihr als äußerliche Einkleidung und belanglose Zutat. Auf diese Weise wurden ihr die Individualgestalten des Geistes zu bloßen  Fällen des durch sie repräsentierten Allgemeinen, dessen Herrschaft die Unterdrückung des Besonderen als solchem nach sich ziehen mußte."

"Indem ein Mensch darauf aus ist, seinem Leben Gestalt und Ordnung, seinem Tun Richtung und Ziel zu geben, fühlt er immer wieder eine schicksalsschwere Frage in sich aufsteigen: soll er seine entscheidenden Impulse aus dem Besonderen entnehmen, auf das Besondere beziehen, als welches und in welchem er sein lebendig-gegenwärtiges Dasein führt - oder soll er sich vom Allgemeinen beauftragt, dem Allgemeinen verpflichtet glauben, das ihn mit einer so unüberhörbaren Mahnung aus seinem Sonderdasein herausruft? So vernimmt er zwei Stimmen in seiner Brust, von denen die eine ebenso entschieden dem Besonderen wie die andere dem Allgemeinen das Wort zu reden scheint."


IV. Das Sichselbstwissen des apriorischen Wissens

Allein die Zweifel, denen die letzte Abwehr galt, sind auch mit dem Aufgeführten noch nicht zur Ruhe gebracht. Sie verlegen sich nur an eine andere Stelle - gleichsam eine Station weiter nach rückwärts. Auch wenn man sich entschlossen hätte, nicht nur das Gewicht der die geisteswissenschaftliche Empirie tragenden Voraussetzungen einzuräumen, sondern auch der ausdrücklichen Vergegenwärtigung dieser Voraussetzungen den gebührenden Wert zuzuerkennen, so könnte man immer noch die Frage stellen, was uns denn der umständliche Nachweis geholfen hat, daß das in dieser Vergegenwärtigung Erkundete den Charakter einer  apriorischen  Geltung trägt. Das inhaltliche Was der fraglichen Voraussetzungen soll im Wesentlichen bereits in DILTHEYs einschlägigen Untersuchungen entwickelt worden sein. Auf dieses Was aber kommt es an. Was bei ihm vermißt wird, das sei nur die Rückbesinnung auf den logischen Charakter dieser seinen eigenen Enthüllungen. Es fehlt sozusamen die logische Ortsbestimmung. Wenn nun die philosophische Reflexion die bei ihm unterbliebene Selbstaufklärun nachholt, so ist damit vielleicht etwas für die logische Theorie, aber für die Sache selbst nichts gewonnen. Das, was wir über den Geist als lebendige Wirklichkeit wissen, hat durch diese Klärung keinen Zuwachs erfahren.

Man mache sich deutlich, daß, wenn wir die damit gestellte Frage aufnehmen, unsere Untersuchung sich abermals um eine Stufe höher erhebt. Was bis zu dieser Stelle unser Thema bildete, das war der logische Charakter und die innere Tragweite derjenigen Erkenntnis, die (um diesen ihren logischen Charakter selbst nicht wissend) die apriorischen Voraussetzungen der Geisteswissenschaften enthüllt. Dieses Thema ist jetzt zum Abschluß gefüht. Unser nunmehriges Thema ist das Wesen und Gewicht derjenigen Erkenntnis, welche die Aufgabe dieser logischen Durchleuchtung erfüllt, also das Wesen und Gewicht eben der jetzt in unserem Rücken liegenden Überlegungen. Es hat demnach eine abermalige Rückwendung stattgefunden. An die Rückbesinnung, die dem Inhalt des Apriori galt, schließt sich die Rückbesinnung auf diese Rückbesinnung an. Man hüte sich wohl, diese erneute Aufstufung spitzfindig und haarspalterisch zu schelten! Würde sie verdienen überflüssig und künstlich provoziert genannt zu werden, so würde der gleiche Vorwurf auch und erst recht den Einwand treffen, der sie nötig macht. Denn die besagte Wendung hat immer dann schon stattgefunden, wenn dieser Einwand laut wird. Auch er entspringt einer Rückbesinnung auf die Rückbesinnung.

Es dient der Klärung dieses nicht leicht zu durchschauenden und oft verkannten logischen Verhältnisses, wenn wir uns rückblickend die Folge der Stufen vergegenwärtigen, in denen sich das Ganze der auf den Geist bezüglichen Erkenntnis aufbaut:
    1. Die empirische (sowohl generalisierende als auch individualisierende) Erkenntnis der Geisteswissenschaften (die von der unreflektierten Praxis der Forschung erreichte Stufe).

    2. Die Besinnung auf die Leistungsformen, durch welche die empirische Erkenntnis zustande kommt = Rückbesinnung auf die erste Stufe (die von  Dilthey  erreichte Stufe; der zweite Abschnitt unserer Untersuchung).

    3. Die Besinnung auf den logischen Charakter und die innere Tragweite derjenigen Erkenntnis, durch welche diese Leistungsformen erfaßt werden = Rückbesinnung auf die zweite Stufe (der dritte Abschnitt unserer Untersuchung).

    4. Die Besinnung auf den logischen Charakter und die innere Tragweite derjenigen Erkenntnis, durch welche diese Überprüfung geleistet wird = Rückbesinnung auf die dritte Stufe (der im Vorliegenden sich entwickelnde Abschnitt unserer Untersuchung).
Das Verhältnis der Stufen ist also dieses, daß immer wieder auf der nächsthöheren Stufe die auf der vorliegenden Stufe erfolgte Leistung in das Licht der Reflexion gerückt wird.

Die Zweifel nun, mit deren Erwägung wir zur vierten Stufe aufsteigen, haben ohne Frage etwas sehr Überredendes an sich. Gleichwohl ist ihnen gegenüber schon aus dem Grund ein Mißtrauchen geboten, weil wir in ihnen nur die Anfechtungen sich erneuern sehen, denen schon weiter abwärts eine Abweisung widerfahren ist. Auch die Erkenntnis der  zweiten  Stufe sollte in ihrer Bedeutung mit der Begründung herabgesetzt werden, daß eine auf die Bedingungen der Erkenntnis zurückgehende Besinnung unmöglich zur Bestimmung des zu Erkennenden selbst beitragen kann. In der Prüfung dieses Einwandes - die Aufgabe der  dritten  Stufe - stellte sich heraus, daß durch die Frage, in welchen Formen der Geist erkannt wird, zugleich die Frage nach dem Wesen des Geistes selbst uner einem veränderten Aspekt abermals gestellt wird, folglich in der Beantwortung diese Frage das Wissen um den Geist selbst sich fortentwickelt und anreichert. Wenn nun dem auf der dritten Stufe heimischen Wissen mit der gleichen Begründung die gleiche Abwertung widerfahren soll, so ist aufs Neue zuzusehen - Aufgabe der  vierten  Stufe - ob nicht auch die nunmehr angezweifelte Erkenntnis die Schranken einer bloß für die Logik erheblichen Belehrung überschreitet und tiefer in die Wirklichkeit des Geistes selbst hineinführt.

Was die  logische  Durchleuchtung der fraglichen Erkenntnis angeht, so ist das Entscheidende bald gesagt. Wenn es auf der  dritten  Stufe noch eines erheblichen Aufwandes bedurfte, um am Wissen der zweiten Stufe sowohl seinen Unterschied von allem induktiven Wissen als auch seinen logischen Vorrang vor allem induktiven Wissen nachzuweisen, so darf sich die auf der  vierten  Stufe fällige Reflexion der entsprechenden Anstrengung enthoben fühlen. Sie braucht nur geltend zu machen, daß die durch sie zu prüfende Erkenntnis - diejenige der dritten Stufe - sowohl den besagten Unterschied als auch den besagten Vorrang nicht zu bemerken, geschweige denn zu erhärten imstande wäre, wenn sie nicht, was ihren logischen Rang angeht, der durch sie in ihrem Vorrang bestätigten Erkenntnis - zumindest  gleich gestellt wäre. Völlig ausgeschlossen ist es also, daß ihr etwa bloß der Rang eines induktiven Wissens zukommt. Ja, muß sie nicht sogar, um jenen Unterschied des Rangs sehen zu können und proklamieren zu dürfen, auch der von ihr als vorgeordnet qualifizierten Erkenntnis ihrerseits wieder  vor geordnet sein? Muß sie nicht im Verhältnis zu ihr dieselbe apriorische Stellung einnehmen, die sie ihr im Verhältnis zum induktiven Wissen bezeugt? Es sieht doch so aus, als ob wir an dieser Stelle ein "Apriori des Apriori" zu statuieren nicht umhin könnten - als ob hinter einem "Apriori ersten Grades" ein "Apriori zweiten Grades" sichtbar würde. Und hinter diesem zweiten Apriori scheint sich der Ausblick auf eine Reihe von weiteren und immer weiteren Überhöhungen aufzutun, die überhaupt keinen Abschluß kennt.

Allein hat die auf der vierten Stufe angelangten Reflexion wirklich einen Grund, hinter dem durch sie zu prüfenden Apriori eine solche Folge sich bis ins Unendliche emporsteigernder Aprioris zu postulieren? Diese Forderung aufzustellen könnte sie sich nur dann versucht fühlen, wenn sie vergißt, durch welche Beziehungen das ihrer Prüfung unterliegende apriorische Wissen, das Wissen um die "Bedingungen der Möglichkeit", mit dem  nicht-apriorischen Wissen verbunden ist, um dessen Möglichkeit es weiß. Welches sind diese Beziehungen? Es würde kein nicht-apriorisches Wissen geben, wenn es nicht die "Voraussetzungen" gäbe, auf denen es fußt: diese aber sind die vom apriorischen Wissen gewußten Voraussetzungen. Es würde aber auch kein apriorisches Wissen geben, wenn es nicht die Voraussetzungen gäbe, um die es weiß: diese aber sind die vom nicht-apriorischen Wissen gemachten Voraussetzungen. Hier ist eins nur mit dem andern und durch das andere. Und die Voraussetzungen, die dort gemacht, hier gewußt werden, bilden die Mitte, in der sich nicht-apriorisches und apriorisches Wissen verschränken. Was wir vor uns haben, das sind zwei Wissenskreise von verschiedenem Inhalt und verschiedener logischer Struktur. Aber diese Kreise liegen nicht äußerlich nebeneinander wie zwei "Gebiete", von denen ein jedes unabhängig vom andern, ohne Rücksicht auf das andere ist, was es ist, und auch beim Ausfall des anderen das bleiben könnte, was es ist. Nein: jeder der beiden Kreise ist, was er ist, nur in seiner Beziehung zum anderen, und sowohl die inhaltliche als auch die logische Verschiedenheit beider besteht nicht als ein Sachverhalt, den erst der hinzutretende Betrachter vergleichend festzustellen hätte: sie  ist  nur als Verschiedenheit der sich aufeinander Beziehenden, wie umgekehrt auch die Beziehung nur als Beziehung der sich voneinander Unterscheidenden sein kann.

Wenn das philosophische Denken nur allzuoft nicht dahin gelangt ist, sich diese  wechsel seitige, also auch für das Apriori verbindliche Bezogenheit in ihrer ganzen Strenge zu Bewußtsein zu bringen, so ist dafür vor allem ein ansich durchaus richtiger Gedanke verantwortlich zu machen: der Gedanke an die logische Überlegenheit des apriorischen Wissens. Es liegt so sehr nahe, das Verhältnis, in dem diese Überlegenheit wurzelt, dem Verhältnis des Grundlegenden ("Fundierenden") zu demjenigen, dessen Grund in ihm gelegt ist (dem "Fundierten"), gleichzusetzen. Gegen diese Auslegung ist solange nichts einzuwenden, wie sie gewisse sich andrängende Anschauungshilfen fernzuhalten weiß. Aber diese Abwehr unterbleibt nur allzu oft. Und dann stellt sich prompt im Anschluß an räumliche Bilder die Vorstellung ein, daß zwar die Grundlage für das auf sie Gegründete, nicht aber umgekehrt dieses für die Grundlage nötig ist. Es scheint für das Fundierende nichts auszumachen, ob ein Fundiertes sich von ihm tragen läßt, auf ihm "ruht" oder nicht. Das Fundierte erscheint in der Rolle des zusätzlich Beigegebenen. Verstärkend tritt die weitverbreitete Vorstellung eines Aufbaus in "Schichten" hinzu, die gleichfalls die Meinung begünstigt, daß zwar die weiter aufwärts liegende "Schicht" von der tiefer gelagerten, nicht aber diese von jener getragen zu werden verlangt. Lauter Anschauungen, die man nicht zulassen kann, ohne das Verhältnis  ein seitiger Abhängigkeit selbstverständlich zu finden. Aber gerade die Anschaulichkeit dieser Vorstellungen ist es, die Mißtrauen hervorrufen müßte. Denn das Reich des Logischen ist nun einmal von einer Struktur, die keinen Vergleich mit räumlich-anschaulichen Verhältnissen verträgt. In diesem Reich gibt es keine einzige Provinz, die die anderen so "außer" sich hätte, daß sie gegen ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gleichgültig wäre. Eine jede von ihnen ist das, was sie ist, nur in der strengsten Bezogenheit auf die Gesamtheit der übrigen. Ihr strukturelles Gefüge ist geradezu eins mit dem Insgesamt dieser Relationen. Das gilt ohne Abzug auch für diejenige logische Region, der die logische Besinnung im Verhältnis zu einer anderen oder den anderen den Vorrang zuzusprechen hat. Dieser Vorrang verträgt sich nicht nur mit strengster Bindung: er  ist  geradezu diese Bindung, beurteilt nach dem Verhältnis, das sie zwischen den Gebundenen stiftet. Nur vermöge dieser allseitigen Verschränkung bilden die Provinzen des Wissens kein Aggregat, sondern ein  System. (19)

Ermessen wir die logische Notwendigkeit, kraft deren das apriorische Wissen mit dem nicht-apriorischen Wissen verschränkt ist, so fällt der Gedanke einer weiteren Aufstufung des Apriori in sich zusammen. Er kann nur diskutabel erscheinen aufgrund von Voraussetzungen, die der im Reich des Wissens gültigen Ordnung widerstreiten. Diese Ordnung ist verkannt und durchbrochen mit der Vorstellung, als könne das Apriori die Fühlung mit dem nicht-apriorischen Wissen, die es als vorgebliches "Apriori ersten Grades" aufrechterhalten, aufgeben und sich  in sich selbst  in eben der Art weiter aufstufen, wie es mit dem Übergang vom nicht-apriorischen zum apriorischen Wissen tatsächlich geschah. Recht besehen kann diese Fortführung überhaupt nicht in Gang kommen, weil, sobald das Wissen um das Einzelne, Konkrete, "Individuierte" außer Sicht ist - und das würde beim Aufstieg zum vorgeblichen "Apriori zweiten Grades" der Fall sein - jeglicher  Unterschied  verschwindet, aufgrund dessen die Stufen sich voneinander abheben und zueinander in Beziehung stehen könnten. Ist die Frage nach den "Bedingungen der Möglichkeit" des  nicht-apriorischen Wissens erledigt, und es wird dann doch noch in derselben Richtung weiter gefragt, dann kann nichts weiter herauskommen als eine eintönige und leere Wiederholung: auf die Bedingungen der Möglichkeit folgen die Bedingungen dieser Bedingungen usw. bis ins Unendliche. Und das ist dann wahrlich eine "schlechte" Unendlichkeit; denn was sollte aus diesem ufer- und konturlosen Einerlei an Wissen hervorgehen! In solche Ungereimtheiten kann sich die logische Reflexion verlieren, sobald sie das Apriori zu einer logischen "Schicht" verselbständigt denkt, die in Ablösung von der Fülle und Konkretheit des Nichtapriorischen einer autochthonen Entwicklung und Ausgestaltung fähig wäre.

Wenn wir also mit der letzten gedanklichen Wendung zu einer  vierten  Stufe der Reflexion aufgestiegen sind, so geschah dies durchaus nicht in der Absicht, dem auf der dritten Stufe aufgedeckten Apriori ein weiteres Apriori folgen zu lassen und so den Gang in die "schlechte" Unendlichkeit anzutreten. Im Gegenteil: die der vierten Stufe obliegende Rückbesinnung ist nicht zum wenigsten aus dem Grund so heilsam wie unerläßlich, weil sie diesem  progressus  einen Riegel vorschiebt. Sie tut es, indem sie uns überzeugt, daß wir in dem auf der dritten Stufe enthüllten Apriori - an dem die Verschränkung mit dem Nicht-apriori zutage liegt -  das  Apriori schlechthin und nicht lediglich seinen ersten Einsatz und Anlauf vor uns haben. Auf diese Weise wrid der scheinbar unvermeidliche Fortgang ins Unendliche, der das Denken mit einer zunehmenden Verflüchtigung bedroht, abgebrochen und das Apriori seiner ganzen Erstreckung nach ebenso streng an das Empirische gebunden, wie dieses sich an das Apriori gebunden zeigte. Es steht nunmehr fest: ist einmal das "erste" Apriori, das Wissen um die Voraussetzungen des empirischen Wissens, zu vollem Bewußtsein entwickelt, dann steht als weitere Leistung nur noch  eines  aus: die Reflexion auf die logische Struktur derjenigen Besinnung, durch welche dieses Bewußtsein zustande kommt. Diese Reflexion aber ist dann nicht mehr die Sache eines Wissens von höherem Rang, eines Wissens also, das in diesem "ersten" Apriori ähnlich so sein Anderes und von ihm Verschiedenes sich gegenüber hätte wie dieses in Gestalt des empirischen Wissens. Sondern auf der vierten Stufe geschieht nur dies, daß das apriorische Wissen, wie es zuvor - Leistung der dritten Stufe - die Struktur des auf die Voraussetzungen der Empirie bezüglichen Wissens durchleuchtet, so nunmehr sich  seine eigene  Struktur bis auf den Grund durchsichtig macht. Kurz gesagt: das Wissen umd das Apriori ist selbst apriorisches Wissen. Es ist Wissen nicht nur um das von ihm sich unterscheidende Wissen, sondern auch um sich selbst.

Es erübrigt sich, den Satz von der Apriorität jeglichen Wissens um das Apriori noch vor etwaigen Anzweiflungen in Schutz zu nehmen. Denn jede denkbare Anzweiflung könnte ja, sofern sie sich überhaupt durch Gründe zu stützen versucht, nur Gründe von nicht-apriorischer Art, also empirische Feststellungen, ins Feld führen. Damit würde sie sich aber in denselben Widerspruch verwickeln, dessen sich schon die weiter oben wiedergegebenen Einwände gegen das Apriori mußten überführen lassen: sie würde dasjenige Wissen zu stürzen versuchen, in dessen Zusammenbruch unweigerlich auch das empirische Wissen, also ihr eigener Kronzeuge, hineingerissen würde.

Daß das Erkennen mit dem Aufstiegt zur vierten Stufe nicht einen Weg antritt, der es ins Unendliche entführen müßte, sondern nur die bereits passierten Stufen noch gründlicher in Besitz nimmt, das bringt sich in einem durchlaufenden Grundmotiv dieses gedanklichen Fortgangs besonders eindringlich zur Anschauung. Es ist das Grundmotiv der Sprache (20). Wenn die Reflexion der  zweiten  Stufe alle geisteswissenschafliche Erfahrung auf das Ineinandergreifen von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen zurückführt, so hat sie damit auch schon die Sprache, diesen aus dem "Erlebnis" entsprungenen und ein optimales "Verstehen" ermöglichenden "Ausdruck", auf den ihr gebührenden Platz gestellt (weshalb dann auch unsere auf die allgemeinen Wortbedeutungen bezüglichen Erwägungen durchaus in diesen Zusammenhang hineingehörten). Indem nun die Reflexion, zur  dritten  Stufe aufgestiegen, den apriorischen Charakter all dessen aufgedeckt, was über das Grundgefüge von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen erkundet wurde, hebt sie auch das, was sich über die Sprache an Letztem und Grundsätzlichem ausmachen läßt, über das Niveau bloß induktiver Feststellungen empor. Sie tut es, indem sie zeigt, daß, wer über Sprache denkt und redet, durch dieses Tun bereits die Leistungskraft der Sprache sowohl voraussetzt als auch bewährt. Aber diese die Erkenntnis der zweiten Stufe betreffende Enthüllung tritt in sinngetreuer Wiederholung abermals in Kraft, sobald die Erkenntnis der dritten Stufe ihrerseits wieder vom Licht der Reflexion bestrahlt wird. Denn dann kann es nicht verborgen bleiben, daß sie, die sich ja gleichfalls in sprachlicher Form entwickelt und vorträgt, mit diesem ihrem Tun der Leistungskraft der Sprache nachweist. Und das Gleiche gilt dann schließlich auch von der diese Feststellung treffenden Erkenntnis der  vierten  Stufe.

So sehen wir die Sprache als bleibendes Grundmotiv durch das Ganze dieser Gedankenbewegung hindurchgreifen. Was aber dieses ihr Durchhalten besonders lehrreich macht, das ist folgendes: es ist dieselbe und doch auch wiederum nicht dieselbe Sprache, der wir auf den Stufen dieses Aufstiegs begegnen. Inwiefern ist es  nicht  dieselbe? Die Sprache, die von den empirischen Geisteswissenschaften geredet wird, ist, wie wir durch die Reflexion der zweiten Stufe belehrt wurden, die konkrete, die mit Anschauung gesättigte Sprache des Lebens. Die allgemeinen Wortbedeutungen haben, wenn sie im Dienst dieser Wissenschaften auftreten, nichts von der Allgemeinheit begrifflicher Inhaltsbestimmungen an sich. Aber so ist es nur auf der untersten Stufe dieser Bewegung. Anders wird es schon mit dem Anheben der Reflexion, die uns über die Sprache der Geisteswissenschaften die soeben wiedergegebene Auskunft gibt. Zu dieser Auskunft würde sie außerstande sein, wenn die Sprache,  die  sie redet, mit der Sprache,  von der  sie redet, von einerlei Art wäre. Von Wesen, Funktionsweise und Notwendigkeit jener Sprache des Lebens kann keine Rechenschaft gegeben werden in einer Sprache, die selbst nichts weiter wäre als eine fernere Äußerung eben dieser lebendigen Sprache. Diese Belehrung kann nur in einer Sprache erfolgen, die genau das an sich hat, was sie der von ihr besprochenen Sprache abspricht: die klare Bestimmtheit und eindeutige Festgelegtheit des  Begriffs Von den Freiheiten ursprünglich-wachstümlichen Sprachlebens läßt sich nur reden in Worten, die sich selbst diese Freiheiten versagen. Daß es so sein muß, geht schon daraus hervor, daß es  apriorische  Wahrheiten sind, die in dieser Sprache ausgesprochen sein wollen. Wie sollte die Unbedingtheit und Universalität der Geltung, die allen apriorischen Sätzen als solchen zukommt, sich mit der Wiedergabe durch eine Sprache vertragen, die ihre Bedeutungen nicht der schwebenden Vieldeutigkeit der Alltagsrede enthoben und zu strengster Bestimmtheit durchgebildet hätte! Und von dieser Strenge wird die Sprache im weiteren Aufstieg des Gedankens nicht mehr entbunden. Ist es doch in diesem Aufstieg nur darum zu tun, das Wissen um das Apriori zur vollen Klarheit über sich selbst emporzuentwickeln. Es erfolgt also im Vollzig dieses Stufengangs ein Umschlag: an die Stelle der unendlich bewegten, unbegrenzt bildsamen Sprache des Lebens tritt die zuchtvoll geregelte und zur Eindeutigkeit gestraffte Sprache des strengen Begriffs. Fürwahr ein Wandel von tief einschneidender Art! Und doch: ist es wirklich so, daß die eine Sprache von der anderen einfach so  abgelöst  würde, wie es der Ausdruck "an die Stelle treten" anzudeuten scheint? Keineswegs. Beide Sprachen sind genauso aufeinander angewiesen und ineinander verschränkt, wie empirisches und apriorisches Wissen es sind. Es gibt die Sprache des Lebens nicht anders als in einer Verwirklichung der Wesenszüge, von denen die Sprache der Reflexion redet. Und es gibt die Sprache der Reflexion nicht anders als im Bereden der Wesenszüge, die die Sprache des Lebens in sich verwirklicht. Und wenn es noch eines weiteren Belegs für die unlösliche Zusammengehörigkeit beider Sprachen bedürfte: es sind, recht besehen, gar nicht  zwei  Sprachen, deren Verhältnis hier zur Erörterung steht. Es ist ein und dieselbe Sprache, die uns beschäftigt, nur eben in zwei ebenso streng voneinander unterschiedenen wie aneinander gebundenen Formen ihrer Gestaltung. Wenn die Reflexion daran ist, Worte wie "Erlebnis", "Ausdruck", "Verstehen" zur Bestimmtheit der Bedeutung zuzuschärfen, die sie erst zur Bezeichnung von Begriffen tauglich macht, so bleibt sie in doppelter Hinsicht der Sprache verhaftet, über die sie mit ihrer Präzisionsarbeit hinausstrebt: sie dankt ihr die besonderen Wortbedeutungen, um deren logische Präzisierung sie sich bemüht, und sie dankt ihr das Insgesamt der weiteren Worte, Wortbedeutungen und Wortfügungen, durch welche sie diese Präzisierung vorzunehmen und durchzuführen in den Stand gesetzt wird. Unsere Untersuchung ist eine einzige fortlaufende Jllustration dieses Satzes. Durch ihr unverbrüchliches Festhalten an der Bedeutungs- und Formenwelt der gewachsenen Sprache gibt die Sprache der Reflexion handgreiflich zu erkennen, daß sie den Aufstieg über die Stufe der naiven Sprachwirklichkeit nicht in der Absicht unternommen hat, sich von diesem Mutterboden zu lösen und in den Äther einer "reinen", nur sich selbst gehörenden und aus sich selbst lebenden Begriffssprache zu entschweben. Sie bleibt vollkommen eins mit dem, was sie hinter sich zurückzulassen scheint.

Indem die Sprache als Sprache der Reflexion es fertig bringt, sich von sich selbst zu unterscheiden, sich über sich selbst zu erheben und dabei doch ihre Einheit und Selbigkeit ohne die kleinste Einbuße zu wahren, wird sie zur greifbaren Darstellung des Verhältnisses, das wir schon als Aufstieg des  Wissens  zu sich selbst kennengelernt haben. Genau so, wie die Sprache der Reflexion sowohl die von ihr sich unterscheidende Sprache - die Sprache der gelösten Anschauung - wie auch sich selbst - die Sprache des strengen Begriffs - im Wort zu erfassen und zu sichern die Fähigkeit besitzt, genauso ist es dem Wissen der Reflexion gegeben, sowohl das von ihm sich unterscheidende Wissen - das Wissen der Empirie - als auch sich selbst - das Wissen des Apriorie - Im Geist zu erfassen und zu sichern. Besser gesagt: es ist ein und dasselbe Lebensgefüge, das dort als von sich selbst sprechender, hier als um sich selbst wissender Geist zur Verwirklichung gelangt.

Für die Leistung, die der Geist als von sich selbst sprechender und um sich selbst wissender Geist vollbringt, hat HEGEL den treffenden Ausdruck  "übergreifend"  eingeführt. Übergreifend zu sein ist das Vorrecht dessen was es fertig bringt, sowohl bei sich selbst als auch über sich selbst hinaus bei "seinem Anderen" zu sein, sowohl über sich selbst emporzusteigen als auch an sich selbst festzuhalten. Wer die "übergreifende" Macht des Geistes einmal voll ermessen hat, der hat aufgehört, sich vor dem Schreckgespenst eines ins Unendliche fortgehenden  progressus  des Denkens zu ängstigen. Hat die fortschreitende Besinnung es dahin gebracht, daß das Wissen des Apriori um sich selbst weiß, dann biegt sich der scheinbar nach vorwärts weiterdrängende Gedanke zum Kreis zurück, und die Unruhe der scheinbar keinen Abschluß zulassenden Bewegung weicht der Sicherheit des bei sich selbst angelangten und damit in sich selbst beruhigten Wissens.

So wird die Rückbesinnung der vierten Stufe die auf der dritten Stufe vollbrachte Leistung des Erkennens vor dem Verdacht der Vorläufigkeit geschützt: es ist etwas Endgültiges und Unüberholbares, was hier beigebracht ist. Kraft dieser ihrer Endgültigkeit schließt aber die fragliche Erkenntnis, wie uns eine Rückbesinnung belehrt, auch die erlösende Antwort auf eine Frage in sich, mit der sich die Logik zu allen Zeiten nicht wenig und doch meist mit unbefriedigendem Erfolg abgemüht hat. Die alte und ewig neue Frage nach dem  Verhältnis des Allgemeinen und des Besondern  kann erst richtig gestellt und folglich auch erst richtig beantwortet werden, wenn das Denken auf der Höhenlage der dritten Stufe angelangt ist. Es ist weder Zufall noch Willkür, daß wir im Aufstieg zu dieser Höhenlage gewisse Formen, die dieses Verhältnis  auch  annimmt - Formen, die um ihrer Verbreitung und ihrer relativen Anschaulichkeit willen weithin als die normalen, wo nicht die einzig legitimen gelten - Revue passieren ließen. Dieser Fortgang gehorchte einer tiefen inneren Notwendigkeit. Denn einmal führt der einzige Weg zu Selbsterhellung jener endgültigen Gestalt über die vorläufigen Gestalten. Das Denken muß an den vorläufigen Gestalten das Unzulängliche der in ihnen sich anbietenden Lösung erfahren haben, um zur endgültigen Gestalt weitergetrieben zu werden. Andererseits gilt es nicht minder, daß die vorläufigen Gestalten als das, was sie sind und leisten, erst vom Standpunkt desjenigen Wissens aus durchschaut werden können, in dem sich die endgültige Gestalt ausprägt. Das Denken muß in der endgültigen Gestalt die vollkommene Lösung verwirklicht haben, um die vorläufigen Gestalten der Begrenztheit ihrer Herrschaft und der Bedingtheit ihrer Geltung überführen zu können. Es ist das uns bekannte Wechselverhältnis, zugespitzt auf das Problem "Allgemeines und Besonderes". Was wir, auf dieser Stufe angelangt, nicht mehr übersehen können, ist dies: weder durch die lebendigen Wortbedeutungen noch durch die beweglichen Induktionen der Geisteswissenschaft noch durch die strengen Klassifikationen der Naturwissenschaft werden Allgemeines und Besonderes so zueinander in ein Verhältnis gesetzt, daß sowohl dem einen als auch dem andern vollauf Genüge geschieht. Es ist, als ob, was dem Besonderen an Inhaltsfülle erhalten bleibt, der Bestimmtheit des Allgemeinen vorenthalten werden muß - als ob, was dem Allgemeinen an Schärfe zuwächst, der Konkretheit des Besonderen verlorengeht. Es ist, als ob die eine Seite immer etwas von dem draußen lassen muß, worauf es der anderen Seite gerade ankommt. Am logischen Schema der "Subsumption", in dem die herrschende Meinung die vorbildliche Ausgestaltung des fraglichen Verhältnisses erblickt, läßt sich dieses doppelseitige Ungenügten unschwer ablesen. Das Besondere muß, indem es sich der Subsumption unterwirft, diejenigen Züge zurücklassen, die, weil den zu subsumierenden Einzelbefunden nicht "gemeinsam", nicht als "allgemein" anerkannt werden können; es bringt also seine Besonderheit zum Opfer. Das Allgemeine, durch dieses Opfer des Besonderen scheinbar zu unbedingter Überlegenheit der Geltung emporgehoben, bleibt gleichwohl dem scheinbar unterworfenen verhaftet, weil jederzeit ein neues Besonderes auftauchen kann, das die vermeintlich gesicherte "Gemeinsamkeit" durchbricht und so die Berichtigung des Allgemeinen erzwingt. Allgemeines und Besonderes werden also, soweit das Schema der Subsumption die Herrschaft behauptet, in ein Verhältnis gesetzt, dessen Labilität weder das eine noch das andere recht zur Ruhe kommen läßt. Ganz anders steht es um das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen, wie es sich mit dem Aufstieg zum Apriori ausgestaltet. Hier kommt beides nicht in wechselseitiger Einschränkung, sondern recht eigentlich miteinander und durcheinander zu seinem Recht. Die Konkretheit des Besonderen hat nichts zu befürchten von einem Allgemeinen, das nur die Voraussetzungen ausspricht, die erfüllt sein müssen, damit das Besondere erkannt werden kann. Die Bestimmtheit des Allgemeinen hat nichts zu befürchten von einem Besonderen, das überhaupt nur unter den Voraussetzungen in Sicht kommen kann, die im Allgemeinen formuliert sind. Beide Seiten geraten einander nichts ins Gehege, weil sie sich nicht unmittelbar, sondern in einem Dritten - nämlich in den Voraussetzungen, die dort gemacht, hier bedacht werden - begegnen. Diese Vermittlung macht es möglich, daß die Fülle des Besonderen und die Strenge des Allgemeinen sich ohne Beeinträchtigung verschränken. Anders als im Schema der Subsumtion gibt hier das Besondere dem Allgemeinen, das Allgemeine dem Besonderen den festesteten Halt, ohne ihm das kleinste Zugeständnis zuzumuten.

Nichts bringt die Überlegenheit dieser Gestalt schlagender zum Ausdruck als die Tatsache, daß sie die anderen Gestalten des nämlichen Verhältnisses nicht als überholte Anläufe hinter sich läßt, sondern nach ihrem Wesen, ihrer Notwendigkeit und ihren Grenzen begreift und so dem Gesamtbau des Wissens einordnet. Als Wissen um die Leistungsformen des Geistes ist das Apriori sowohl das Wissen um dasjenige Allgemeine, das es in sich selbst verkörpert, als auch um diejenigen Gestalten des Allgemeinen, die, obwohl hinter ihm zurückstehend, von ihm nicht annulliert, sondern in ihren Grenzen bestätigt und begründet werden. Man sieht, wie heillos die im Reich des Wissens gültige Ordnung verwirrt werden muß, sobald man die Logik des subsumierenden Denkens zum Rang einer Musterform erhebt. Diese unverdiente Auszeichnung hat zu notwendigen Folge, daß die Labilität, deren dieses Denken um keinen Preis ledig wird, auf das ganze Reich des Wissens übergreift, während die übergeordnete Kontrollinstanz, die diese Labilität sehen, begreifen und damit eingrenzen könnte, außer Tätigkeit gesetzt wird.

Soviel über die  logische  Tragweite der auf der dritten Stufe sich erschließenden Einsichten! Aber ist mit dieser Aufklärung auch schon erschöpft, was diesen Einsichten an innerer Bedeutung zukommt? Ist aus ihnen nichts zu entnehmen, was die lebendige  Wirklichkeit  des Geistes selbst erhellt?

Es gibt eine weitverbreitete und auch zu philosophischen Theorien ausgesponnene Meinung, mit deren Bejahung sich alles weitere Nachdenken über diese Frage erübrigen würde. Schon oft ist das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen in einer Weise bestimmt worden, aus der sich ergeben würde, daß jegliche Reflexion über dieses Verhältnis mit unentrinnbarer Notwendigkeit von der Wirklichkeit weg- und in die Sphäre des "bloß" Gedachten hinüberführt. Das würde besagen, daß auch die von uns hinsichtlich ihrer Tragweite zu prüfende Erkenntnis, die ja in einer Bestimmung dieses Verhältnisses gipfelt, der Wirklichkeitsbeziehung ermangelt und nicht mehr als eine logische Aufklärung spenden kann.

Wenn die angeführte Meinung dem Denken, das sich auf das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen richtet, jede Möglichkeit der Wirklichkeitserhellung abspricht, so geht sie dabei von folgender Überlegung aus. "In Wirklichkeit" gibt es nur Einzelnes, Besonderes, Individuelles. Von einem Allgemeinen kann überhaupt erst die Rede sein, wenn das Subjekt an diese Wirklichkeit herantritt und sie zu erkennen versucht. Was dieses Subjekt sich gegenüber hat, das ist eine Unendlichkeit von unendlich vielgestaltigen Befunden, die in extensiver Vollständigkeit aufzunehmen und festzuhalten seine Kräfte übersteigt. Es muß die Einzelphänomene sichten, ordnen und nach Gruppen vereinigen, um den Gehalt dieser Welt geistig bewältigen zu können. Und diese Leistung vollbringt es eben in der Weise, daß es Vielheiten von besonderen Befunden in allgemeinen Begriffen "zusammenfaßt". Man sieht sofort: was diese ganze Überlegung trägt und möglich macht, das ist wiederum das Schema der Subsumption, nur daß es diesmal nicht der Deutung der logischen Formen als solcher, sondern der Deutung des Verhältnisses, das zwischen diesen Formen und der Wirklichkeit obwaltet, zugrunde gelegt ist. In dieser erweiterten Anwendung führt es zu dem Ergebnis: das Allgemeine ist das Mittel, das sich das Subjekt schafft, um denkend mit der Wirklichkeit fertig zu werden, nicht aber ist es ein dieser Wirklichkeit selbst in irgendeinem Sinn zugehöriges. Besonderes und Allgemeines treten in aller Schärfe auseinander als Wirklichkeit der Welt und Denken der Welt. Und daraus folgt dann weiter: eine Besinnung, die das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem zum Thema hat, kann nur die logischen Operationen aufklären, mit deren Hilfe das Subjekt die Wirklichkeit bemeistert; zur Erhellung dieser Wirklichkeit selbst kann sie nichts beitragen.

Es ist hier nicht der Ort, die hier wiedergegebene Theorie vom Wesen des Allgemeinen an allen Gebieten des Erkennens durchzuprüfen. Es bleibt dahingestellt, ob sie den in der Wissenschaft von der Natur sich vollziehenden Denkleistungen (mit denen sie scheinbar noch am ehesten zusammenzubringen ist) gerecht wird.

Daß die Wissenschaft vom  Geist  ihr zustimmen könnte, muß schon aus einem sehr einfachen Grund als fraglich erscheinen. Recht besehen ist doch jenes Denken, auf dessen Rechnung das Allgemeine ausschließlich kommen soll, eine Äußerung desselben Geistes, den zu erkennen der Wissenschaft von Geist obliegt. Hier scheint also das, was bloß als Arrangement des Subjekts gelten soll, irgendwie, in irgendeinem Sinn und Maß, doch auch auf der Seite des Objekts eine Stätte haben zu müssen. Die Allgemeinheit, in der der Geist von den einschlägigen Geisteswissenschaften gedacht wird, scheint doch nicht bloß eine vom forschenden Subjekt gestiftete und bloß für dieses Subjekt gültige Allgemeinheit zu sein.

Ohne Zweifel hat es nie ein Nachdenken über den Geist, seine Werke und seine Taten gegeben, in dem nicht  etwas  von dieser Gewißheit, sei es auch in einer der Rechenschaft sich entziehenden Form, lebendig gewesen wäre. Es ist das Große und Fruchtbare an dem von DILTHEY so eingehend gewürdigten Abschnitt der Geistesgeschichte, daß er diese Gewißheit zum vollen Durchbruch kommen und nach einer gedanklichen Rechtfertigung tasten läßt. In den eindringlichen Bemühungen, die mit der  Aufklärung  ihren ersten Gipfelpunkt erreichten, ging es um das Allgemeine - aber nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie um das Allgemeine als Form des die Wirklichkeit denkenden Geistes, sondern als Form dieser Wirklichkeit selbst. Das "natürliche System" setzte sich das Ziel, in sämtlichen Sphären des Daseins, die der Geist mit seinen Werken und Taten erfüllt, das Walten allgemeiner, der Individualität der Menschen, Völker und Zeiten überlegener Prinzipien sichtbar zu machen. "Allgemein" soll hier die Grundstruktur des Geistes selbst sein, wenn das Denken dasjenige, was es von dieser Grundstruktur erkundet, in die Form von allgemeinen Begriffen faßt, so liegt ihm nichts ferner als in dieser Form eine lediglich für das Subjekt belangvolle, das Objekt nicht berührende Ordnungsschematik zu erblicken. Vielmehr ist es gewiß, in diesem Allgemeinen das System der in der Wirklichkeit selbst arbeitenden Triebkräfte in die Helligkeit des denkenden Bewußtseins aufsteigen zu sehen. Aber die gleiche Gewißheit ist auch noch in der Bewegung lebendig, die, äußerlich gesehen, aus dem Aufstand gegen diese Thronerhebung des Allgemeinen geboren scheint. Gewiß hat die  historische Schule  zunächst das Recht des Individuellen, des Ursprünglichen und Eigentümlichen nicht anders als in der Abwehr des Allgemeinen, durch eine Zurückdrängung des Allgemeinen sichern zu können gemeint. Allein wenn sie sich dann in der Folge so angelegentlich bemüht zeigt, durch die Herausbildung von vergleichenden Methoden über die Erforschung des Einzelnen und Vereinzelten hinauszukommen - glaubte sie damit bloß den logischen Bedürfnissen des Subjekts eine Befriedigung zu bereiten? Wollte sie bloß dem Denken einen zusammenfassenden Überblick über das Erkundete verschaffen und die Verfügung über das Vielerlei der erforschten Einzelheiten erleichtern? Weit gefehlt! Auch sie ließ sich in diesem Bestreben von der Gewißheit leiten, einem in den Dingen selbst liegenden Zug zum Allgemeinen nachzuspüren (21). Beide einander scheinbar so völlig entgegengesetzten Bewegungen sind also einig in der Anerkennung eines Allgemeinen, das keineswegs bloß dem Ordnungstrieb des Subjekts sein Dasein verdankt, sondern einen bestimmenden Wesenszug am Objekt ausmacht.

Allerdings ist in den hier gemusterten Bewegungen das Problem zwar richtig gefühlt, aber nicht klar entwickelt und erst recht nicht gelöst worden. Die  Aufklärung vollkommen im Recht mit der grundsätzlichen Forderung, daß das Grundgefüge des Geistes in einem System von strengen Begriffen zu denken ist, mußte deshalb ihr Ziel verfehlen, weil sie es auf allzu kurzem und direktem Weg erreichbar glaubte. In dem Eifer, der Macht des Allgemeinen nur ja zur Anerkennung zu verhelfen, wollte sie an den Einzelerscheinungen der Geschichte nur das als wesentlich und bedeutsam gelten lassen, worin sie die allgemeinen Prinzipien des Geistes verwirklicht zu finden glaubte; was ihnen darüber hinaus noch zu eigen war, galt ihr als äußerliche Einkleidung und belanglose Zutat. Auf diese Weise wurden ihr die Individualgestalten des Geistes zu bloßen "Fällen" des durch sie repräsentierten Allgemeinen, und das bedeutet: in der Durchführung ihres Programms verbündete sie sich mit einer Sonderform des Begriffs, deren Herrschaft die Unterdrückung des Besonderen als solchen nach sich ziehen mußte. Das Allgemeine, für dessen Anerkennung sie sich einsetzte, verschmolz ihr mit dem Allgemeinen der Subsumption. Was herauskam, das war eine reglementierende Klassifizierung des geschichtlichen Lebens. Merkwürdige Verschlingung! Das Denken geht darauf aus, der Abwertung, die das Allgemeine durch die fälschliche Anwendung des Subsumptionsschemas erleidet, ein Ende zu bereiten, nimmt in der Ausführung dieser Absicht zu - dem nämlichen Schema seine Zuflucht und hat damit den Erfolg, daß nunmehr das Besondere der entsprechenden Abwertung zum Opfer fällt. Ohne Zweifel hat die  "historische Schule"  recht daran getan, das Besondere gegen diese Vergewaltigung durch eine abstrakte Schematik in Schutz zu nehmen. Aber wenn sie nun, auf daß dem Besonderen keine Schmälerung widerfahre, das Allgemeine nur noch in der Form von empirischer Generalisation zuzulassen bereit war, so verkannte sie damit die grundsätzliche Berechtigung des Anliegens, das hinter dem mißglückten Unternehmen des "natürlichen Systems" stand, und hätte doch dieses Anliegen zu bejahen allen Grund gehabt, weil ihre eigenen empirischen Aufstellungen auf Voraussetzungen ruhten, die als Allgemeines von strengster Form ausgesprochen und begründet zu werden verlangten. Aber zu diesem Allgemeinen, zu dieser höchsten Form des Begriffs durchzustoßen war sie deshalb nicht imstande, weil sie mit der von ihr bekämpften Aufklärung einen logischen Grundirrtum teilte: den Irrtum nämlich, daß vom Wesen des allgemeinen Begriffs die Unterdrückung des Besonderen nicht abgetrennt werden kann, die in Wahrheit nur den Begriffen des subsumierenden Denkens nachgesagt werden kann.

In all diesem Suchen und Versuchen geht es keineswegs bloß darum, dem logischen Klarheitsbedürfnis durch eine Analyse von Begriffsstrukturen Befriedigung zu verschaffen. Es ist das Leben des Geistes selbst, es ist das Gefüge seiner Wirklichkeit, das in diesen Kontroversen zur Klarheit kommen will. Ja, selbst mit dieser Kennzeichnung, die doch immer noch der Richtung des  theoretischen  Fragens gilt, ist noch nicht die ganze Schwere dieser Problemstellung getroffen. Sie geht über die Grenzen des bloß in theoretischer Hinsicht Belangvollen weit hinaus. In jenem Hin und Her zwischen einem Allgemeinen, das dem Besonderen nicht sein Recht lassen will, und einem Besonderen, das dem Allgemeinen die Herrschaft streitig macht, pulsiert eine innere Unruhe, von der sich alles, was wahrhaft im Geiste lebt, umgetrieben fühlt. Es gibt kein Bewußtsein von Rang, in dem nicht, uns zwar gerade als Ausdruck und Unterpfand einer höheren Berufung, ein Doppeltes lebt: einmal die Zuversicht, ganz und gar sich selbst zu gehören, als Einmaligs und Einziges von allem, was die Welt sonst noch enthalten mag, unterschieden und abgehoben zu sein, einem Auftrag zu unterstehen, der nur in dieser Einsamkeit erfüllt werden kann - andererseits die Gewißheit, in einem Umfassenden und Überlegenen zu atmen, zu sinnen und zu wirken, in dem sich jede Vereinzelung aufhebt, und seiner Bestimmung nur in einer Einheit mit diesem Gesamtleben genügen zu können. Was im Bewußtsein dieser doppelten Verpflichtung an Fragen und Bedenken enthalten ist, das ist nicht mehr bloß ein Anliegen des die Wirklichkeit  betrachtenden  Subjekts: es ist der in diese Wirklichkeit eingereihte, für diese Wirklichkeit mitverantwortliche Mensch, der sich diese Fragen zu stellen, diese Bedenken einzugestehen nicht umhin kann, weil er als  Handelnder  unausgesetzt auf sie hingestoßen wird. Indem dieser Mensch darauf aus ist, seinem Leben Gestalt und Ordnung, seinem Tun Richtung und Ziel zu geben, fühlt er immer wieder eine schicksalsschwere Frage in sich aufsteigen: soll er seine entscheidenden Impulse aus dem Besonderen entnehmen, auf das Besondere beziehen, als welches und in welchem er sein lebendig-gegenwärtiges Dasein führt - oder soll er sich vom Allgemeinen beauftragt, dem Allgemeinen verpflichtet glauben, das ihn mit einer so unüberhörbaren Mahnung aus seinem Sonderdasein herausruft? So vernimmt er zwei Stimmen in seiner Brust, von denen die eine ebenso entschieden dem Besonderen wie die andere dem Allgemeinen das Wort zu reden scheint. Kein Wunder, daß der so Umworbene sich bald hierhin, bald dorthin angezogen fühlt und schließlich zu der Überzeugung gelangt, dem einen nur auf Kosten des anderen, ja nur durch Abschwören des anderen das Seine geben zu können - ein Dilemma, das deshalb besonders peinlich empfunden wird, weil auch nach vollzogener Wahl die zurückgestellte Seite nicht aufhört, ihre Ansprüche anzumelden. Dieser durchlebte, nicht selten durchlittene Konflikt ist es, der den einseitigen Lösungsversuchen der Theorie nicht nur als seelische Triebkraft zugrunde liegt, sondern auch ihr eigentliches Schwergewicht verleiht. Diese Lösungsversuche sind eben nicht bloß Entscheidungen einer "freischwebenden" Theorie: sie sind aus der inneren Bedrängnis des Menschen geboren, den es zu wissen verlangt, wie er sich zu verhalten hat, um den in der Geisterwelt ihm angewiesenen Platz angemessen auszufüllen.

Bei dieser Sachlage kann es nicht anders sein, als daß jeder Irrtum, dem die einschlägigen Lösungsversuche zum Opfer fallen, nicht bloß die Theorie in Verwirrung bringt und auf Abwege führt, sondern auch die Lebensansicht des tätigen Menschen umnebelt und verzerrt. So kommt es dahin, daß die Besinnung, von der die innere Not sich Beistand und Aufhellung erhoffte, das Übel erst recht zur Reife bringt. Verfehlte Formen der begrifflichen Ordnung und die Zusammenfassung werden zur Quelle oder zumindest zur Stütze von Haltungen und Handlungen, die das Leben in seinem Grund verletzen, ja zerstören. Der Mensch glaubt sich durch die Stimme der Wahrheit selbst aufgefordert, sei es sich in das Besondere "einzuhausen" (ein Lieblingswort HEGELs) und dem Allgemeinen die Gefolgschaft aufzusagen, sei es sich ins Allgemeine aufzulösen und das Besondere von sich abzutun. Die Ideenentwicklung, der wir nachgegangen sind, ist ja gerade deshalb so lehrreich, weil sie in großem Maßstab das Schicksal sichtbar werden läßt, dem der Mensch verfällt, wenn er sich im Suchen nach seiner Bestimmung bei Denksystemen Rat holt, die schon in ihrer logischen Struktur dem Bau der Welt widersprechen. Die Geschichte des neutzeitlichen Abendlandes führt uns in einem lapidaren Stil zu Gemüte, daß wahrlich nicht bloß die Theorie den Schaden zu tragen hat, wenn das Denken untergeordneten Formen der Welterfassung eine ihnen nicht zukommende Herrschaft einräumt. Ist einmal das klassifizierende und subsumierende Denken zur Normalform des Weltbegreifens aufgerückt und jede andere Weise einer denkenden Wirklichkeitsdurchdringung verneint, dann ist jede Möglichkeit eines Friedensschlusses zwischen Allgemeinem und Besonderem verbaut und der Mensch - und zwar nicht bloß als Betrachter der Welt - dem ruhelosen Wechsel zwischen den Extremen ausgeliefert. Dann verehrt er bald im Besonderen das einzig Wirkliche, Lebendig-Gegenwärtige, Vollsaftig-Zeugungskräftige, vor dem das Allgemeine zum wesenlosen Gedankenschema verblaßt - bald feiert er im Allgemeinen das einzig Standhaltende, Notwendige, Verläßliche, Überdauernde, vor dem das Besondere sich in seiner ganzen Beschränktheit, Zufälligkeit und Vergänglichkeit enthüllt.

Aus diesem Hin und Her gibt es keinen Ausweg, solange man das Verhältnis Allgemeines-Besonderes nach den Anweisungen einer Begriffsbildung betrachtet, die beide nicht anders als durch eine wechselseitige Einschränkung in Beziehung setzen kann. Anders kann es erst dann werden, wenn das Denken zum Niveau einer höheren Begriffsbildung aufsteigt und damit den Standort erreicht, von dem aus ihm sowohl der Sinn und das Recht als auch die Bedingtheit jener untergeordneten Formen der Begriffsbildung durchsichtig werden. Denn erst dann kann es diese Formen im Bereich ihrer Sonderaufgaben gewähren lassen, ohne sich ihnen als bedingungslos und überall gültigen Erkenntnisprinzipien zu unterwerfen. Erst dann wird es ihm offenbar, daß auf jenen untergeordneten Stufen Allgemeines und Besonderes eben nur aus dem Grund nicht zu einem vollkommenen Einvernehmen gelangen, weil es nicht die letzten und höchsten Formen der Begriffsbildung sind, die auf diesen Stufen die Herrschaft führen. Die Unvollkommenheit dieses Einvernehmens hört auf, einen Stein des Anstoßes zu bilden, wenn ihr Sinn und ihre Notwendigkeit vom Standpunkt eines Denkens aus erkannt ist, das in sich selbst diese Unvollkommenheit überwindet und Allgemeines und Besonderes so zueinander in Beziehung setzt, daß das eine dem anderen nicht nur keinen Abbruch tut, sondern zum Halt dient.

Weil es in diesen Anstrengungen um mehr geht als um die Auflösung einer bloß die Erkenntnis bedrängenden Schwierigkeit, darum darf und muß dem, was in HEGELs Begriff des "Allgemeinen" - denn auf seinen Spuren bewegt sich unsere Untersuchung - zusammengefaßt ist, eine Bedeutung zuerkannt werden, die nicht bloß die Grenzen der Logik, sondern auch die Grenzen der Theorie überhaupt weit überschreitet. Es ist eine Erlösung nicht nur für den erkennenden, sondern auch und erst recht für den tätigen und schaffenden Geist, wenn er von der Notwendigkeit losgesprochen ist, immer wieder zwischen Allgemeinem und Besonderem wie zwischen unversöhnlichen Rivalen zu optieren. Es ist eine Wohltat, zu wissen, daß es möglich ist, ein Besonderes zu sein, ohne der Vereinzelung anheimzufallen, dem Allgemeinen zu leben, ohne im Grenzenlosen zu verfließen.

Wenn aber nun auf der Denkstufe, deren Leistung zu würdigen unsere letzten Überlegungen bestimmt waren, der scheinbar nicht zu schlichtende Streit des Allgemeinen und des Besonderen zur Ruhe kommt, dann heißt es doch nicht übersehen, daß es eine "Ruhe" von ganz besonderer Art ist, die hier gestiftet wird. Zunächst ist sie ganz unähnlich derjenigen Ruhe, zu der die kritisch beleuchteten Denksystem durchgedrunden zu sein vertrauten. Auch diesen war es ja, wie ersichtlich, vor allem darum zu tun, der Unrast einer endlos zwischen den Extremen pendelnden Bewegung ledig zu werden und einen sicheren Stand zu gewinnen. Sie glaubten zu dieser Sicherheit gelangen zu können, indem sie sich entschlossen auf die  eine  Seite schlugen und die andere aus ihrem Gesichtskreis verbannten. Aber die so erreichte Ruhe war nur der Schein einer solchen, denn sie war nur durch die gewaltsame Unterdrückung dessen bewirkt, was nach wie vor sein Recht forderte. Aber wenn nun HEGELs Begriff des "Allgemeinen" über alle Gewaltlösungen dieser Art hinausführte, so können wir doch auch in der Versöhnung, durch die er die verhärteten Antithesen aufgelöst glaubte, nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit anerkennen. Auch bei ihm kommt der Friede nicht ohne Einbuße der einen Seite zustande.

Wir konnten zum Punkt der möglichen Einigung erst vordringen, indem wir uns den logischen Vorrang zu Bewußtsein brachten, der das Apriorisch-Allgemeine allem Nichtapriorischen überordnet. Allein gerade diese Auszeichnung kann zu Mißverständnissen führen, die den Weg zum Ausgleich verbauen müßten. Schon oben traten wir der Neigung entgegen, die logische Priorität einer Denkstufe der Festigkeit einer "Grundlage" gleichzusetzen, die Anderes trägt, ohne dieses Anderen gleichermaßen bedürftig zu sein. Ohne Zweifel kommen im Ausbau von HEGELs System gedankliche Motive zum Durchbruch, durch welche dem Allgemeinen eine derartige Vorzugsstellung eingeräumt wird. Nicht als ob er je daran gedacht hätte, das Allgemeine sich zu einer Selbstgenügsamkeit abschließen und verfestigen zu lassen, in der es gegen die Besonderung vollkommen gleichgültig werden müßte. Niemand hat nachdrücklicher als er den klassifizierenden Begriff, mit dessen Kanonisierung sich diese Gleichgültigkeit so leicht verbindet, in seine Schranken gewiesen. Aber das hat nicht verhindert, daß auch das von ihm auf den Thron erhobene Allgemeine in der Entwicklung des Systems ein eigentümliches Übergewicht gewinnt und das Besondere wenn auch nicht ausgeschaltet, so doch nur in einer Auswahl und Akzentuierung zugelassen wird, die nun doch wieder von der  einen  Seite her bestimmt ist. Schon daß der erste Teile des Systems durch eine Logik gebildet wird, die die Grundlinien des Seins  vor  der Hinwendung zu den konkreten Gestalten der Wirklichkeit meint aufzeichnen zu können, besagt in dieser Hinsicht so gut wie alles. Dieser Aufbau des Systems war nur möglich, wenn und weil sein Schöpfer das Allgemeine schon in sich und aus sich bestimmt, geordnet und gegliedert glaubte und daher der philosophischen Durchdringung dieses Allgemeinen die Fähigkeit zutraute, den hinterherkommenden Wissenschaften von der wirklichen Natur und dem wirklichen Geist mit einem Schattenriß der durch sie zu begreifenden Wirklichkeit an die Hand zu gehen. Und das Gleiche ergibt sich aus der Durchführung der letztgenannten Aufgabe. Denn die Auswahl aus den Gestalten der realen, zumal der geschichtlichen Welt, die dieser großartigste Versuch begreifender Weltdurchdringung vornimmt, erfolgt wiederum nach Maßgabe von Prinzipien, die sich als Ausfluß einer  allgemeinen  Vernunft deutlich genug zu erkennen geben. So zeigt sich: die Sicherheit der Ordnung und Deutung, durch die dieses System gefangen nimmt, war doch wieder nur um den Preis zu haben, daß die in logischer Hinsicht unbestreitbare Priorität des höchsten Allgemeinen in eine sachlich-inhaltliche Überlegenheit uminterpretiert und das Besondere dem Spruch dieser maßgeblichen Instanz unterstellt wurde. In dieser, aber auch  nur  in dieser Hinsicht neigte also HEGEL doch mehr nach der Seite der erstmalig von einem "natürlichen System" bezogenen Position.

Allein hier heißt es nun wirklich Ernst machen und mit den letzten Resten einer Diktatur des Allgemeinen aufräumen. Die Sicherung, die das Besondere durch seine Verschränkung mit dem Allgemeinen erfährt, darf zu keiner Mediatisierung durch das Allgemeine werden. Und der Ausgleich, der einen Friedensschluß zwischen Allgemeinem und Besonderem möglich macht, darf nicht durch Vorbehalte zugunsten des Allgemeinen beeinträchtigt werden. Solche Vorbehalte liegen vor, wo immer das Denken es als möglich und geboten ansieht, das Allgemeine, wie ein in sich und aus sich Begründetes, in abgesonderter Untersuchung in Besitz zu nehmen. Denn daß von einem so zur Eigenständigkeit entlassenen Allgemeinen das Besondere irgendwie die Maße empfangen muß, das versteht sich von selbst. Wird umgekehrt das Allgemeine so, wie es hier geschehen ist, aus dieser Absonderung zurückgenommen, so hat das für das Besondere den Wiedereintritt in den Stand der Gleichberechtigung zur Folge. Die Überschattung durch das Allgemeine ist zu Ende.

An diese Wiederherstellung des Besonderen knüpfen sich Folgerungen von weittragender Bedeutung an. Sie kommt zunächst derjenigen  Erkenntnis  zugute, die am Besonderen ihren Gegenstand hat. Wie oft ist nicht dieser Erkenntnis, d. h. der individualisierenden Geisteswissenschaft, sei es die Geltung, sei es der Wert, sei es beides zugleich mit der Begründung abgesprochen worden, daß der Vorzug sowohl der Wißbarkeit als auch der Wissenswürdigkeit einzig und allein dem Allgemeinen zu eigen ist! Was hat nicht die Historie an Äußerungen der Geringschätzung hinnehmen müssen, die aus dieser Überzeugung entsprangen! Und doch ist diese Bevorzugung des Allgemeinen durch nichts zu rechtfertigen. Sie wird, soweit es sich um die Erkenntnis des  Geistes  handelt, an der Wahrheit zuschanden, daß zusammen mit der Erkenntnis des Besonderen auch die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, zusammen mit dieser Frage auch die Aussagen entfallen würden, in denen sie beantwortet wird. Diese Aussagen aber sind es ja gerade, in denen die Erkenntnis des Allgemeinen enthalten ist. Aber auch wenn die fragliche Schätzungsweise sich auf den Boden der  Natur wissenschaft zurückziehen und nur für das dort beheimatete Allgemeine das Monopol der Wißbarkeit und Wissenswürdigkeit reklamieren wollte, würde sie, wenn auch auf komplizierte Weise, mit derselben Wahrheit in Konflikt kommen. Erinnern wir uns doch: zwischen dem Allgemeinen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem Apriorisch-Allgemeinen besteht ein notwendiger Zusammenhang, der begründet ist in dem Umstand, daß auch das Naturwissen auf Leistungsmöglichkeiten des Geistes beruth, von denen das Apriori Rechenschaft gibt. Das Wissen um dieses Apriorisch-Allgemeine aber ist hinwiederum nicht vom Wissen um das Besondere zu trennen. Folglich steht auch das Wissen um das Natur-Allgemeine in einem Zusammenhang von logischen Relationen, aus dem das Besondere in keiner Form auszuscheiden ist. Daß dem so sein muß, wird offenbar, sobald man sich gegenwärtig hält, daß alle die Akte des Denkens, in denen sich das Naturwissen erzeugt,  besondere  Akte, d. h. Akte besonders gearteter, an besonderer Stelle existierender, in besonderen Situationen lebender und wirkender Menschen sind, folglich  sub specie [im Hinblick auf - wp] ihrer Erkennbarkeit genauso unter den im Apriori aufgedeckten Bedingungen stehen wie sämtliche anderen Handlungen des Geistes. Der Erforscher der Natur muß schon. wie es nicht selten geschieht - seinem eigenen denkenden Tun den Blick zuwenden sich weigern, um sich über das Zwingende dieser logischen Verflechtungen täuschen zu können.

Soweit also die Belange des  erkennenden  Geistes in Frage kommen, ist mit der Wiederherstellung des Besonderen ein Zustand herbeigeführt, der die Widerstreitenden versöhnt und insofern auf den Namen "Ruhe" vollen Anspruch hat. Allein diese Ruhe nimmt nun doch ein recht seltsames Gesicht an, sobald wir daran denken, daß der Mensch an der Welt des Geistes nicht bloß einen Gegenstand der Betrachtung, sondern auch die Stätte und den Stoff seines  Wirkens  hat. Denn jene Schwebelage, die entsteht, indem sich die Extreme die Waage halten, ist wahrhaftig nicht die Ruhelage, wie sie dem verantwortlich Handelnden als Ausgangssituation so sehr zusagen würde. Sie ist das Gegenteil einer solchen, und zwar gerade aus dem Grund, weil sie die Art von Stillegung ausschließt, die durch die einseitigen Lösungsversuche erreicht schien. Wäre es dem Menschen gegeben, sich in der Ausrichtung seines Handelns sei es an ein autonomes Allgemeines, sei es an ein autochthones [lokal - wp] Besonderes zu halten, so würde es für ihn in der Bestimmung dessen, was jeweils zu tun wäre, kein Schwanken geben. Er hätte entweder im Allgemeinen das strenge Gesetze, das sein Handeln regierte, oder im Besonderen die lebendige Form, die sein Handeln beseelt. Er würde, so oder so, mit einer Sicherheit seinen Weg gehen, an die keine Anfechtung heranreicht. Ist aber sein Tun zwischen  zwei  Instanzen eingespannt, von denen keine in die andere aufgelöst, auf die andere zurückgeführt werden kann, so befindet er sich in der Schwebelage dessen, der weder hüben noch drüben den festen Punkt erblickt, auf dem sich Fuß fassen ließe, sondern sich fort und fort zwischen beweglichen Polen im Gleichgewicht zu halten hat. In der Tat, die schon geschehen, dem Werk, das schon vollbracht ist, hat die Durchdringung des Allgemeinen und des Besonderen ihre bestimmte Gestalt bereits gefunden; sie liegt also dem  erkennenden  Geist als zweifelsfreies und greifbares Faktum vor. Für den  handelnden  Geist aber ist diese Durchdringung ein immer von Neuem erst zu Bewirkendes und damit eine offene Frage, die mancherlei Antworten zuläßt; erst der Spruch der Entscheidung setzt an die Stelle des Vielen, das möglich wäre, das Eine, das wirklich wird, und schafft so eine eindeutige Lage. Ob aber das Eine, für welches der Wille den Ausschlag gab, gerade dasjenige ist, das so vorgezogen zu werden  verdient - das ist die große Ungewißheit, mit der jedes verantwortliche Handeln belastet ist, und in den Selbstvorwürfen, denen diese Ungewißheit zum Nährboden dient, gelangt die Labilität jenes Gleichgewichts zu einem erschütternden Ausdruck. Es ist also keineswegs an dem, daß die Ruhe, die mit der Versöhnung de Allgemeinen und des Besonderen gestiftet ist, dem handelnden Menschen einen Frieden brächte, in dem es mit der Qual des Wählens und den Martern der Selbstbezichtung aus wäre. Diese Versöhnung bietet zwar dafür die Gewähr, daß in dem, was aus der Entscheidung hervorgeht, wie immer es aussehen mag, Allgemeines und Besonderes sich irgendwie ineinandergebildet haben. Aber in diesem "Irgendwie", das nicht fehlen darf, liegt der unmißverständliche Hinweis, daß vom Spielraum der Möglichkeiten, innerhalb dessen der Wille sich von Fall zu Fall zu entscheiden hat, durch jene Versöhnung nicht das Mindeste weggenommen ist, folglich die Not der Entscheidung nicht die kleinste Erleichterung erfahren hat. Wenn der Geist, zur Höhe des Wissens um sich selbst aufgestiegen, sich von der Nötigung befreit findet, das Allgemeine dem Besonderen oder das Besondere dem Allgemeinen aufzuopfern, so ist die damit errungene Gewißheit nicht die Gewißheit eines Besitzes, auf dem sich in Sorglosigkeit ausruhen ließe, sondern die Gewißheit einer Aufgabe, die immer von Neuem, auf die Gefahr von Irrtum, Fehltritt und Absturz, in Angriff genommen sein will. Und als echtes und vollgültiges  Wissen  darf die Erkenntnis der Versöhnung sich gerade deshalb in Anspruch nehmen, weil durch sie die Wirklichkeit des menschlichen Daseins, so wie es tagtäglich sich selbst erfährt, nicht beschönigt oder verschleiert, sondern in aller Schonungslosigkeit ausgesprochen wird.
LITERATUR: Theodor Litt, Das Allgemeine imAufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 93, Heft 1, Leipzig 1941
    Anmerkungen
    19) Vgl. über dieses Wechselverhältnis LITT, Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt, Seite 252f. - Daß das Wechselverhältnis zwischen apriorischen und nichtapriorischem Wissen bei einer  phänomenologischen  Grundlegung der Wissenschaft vom Geist einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis - dem Verhältnis des "Fundierenden" und des "Fundierten" - Platz macht, gehört zu den Tatsachen, die es mir unmöglich gemacht haben, bei einer phänomenologischen Aufklärung des Apriori stehen zu bleiben. (vgl. Anmerkung 18)
    20) Zum folgenden vgl. LITT, Kant und Herder, Seite 258, 280f; zur Selbsterkenntnis des Menschen: Seite 114f.
    21) Vgl. ERICH ROTHACKER, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Seite 100f.