p-4tb-2C. GöringR. EuckenStaudingerTh. AchelisE. Husserl    
 
ALEXIUS MEINONG
Über die Erfahrungsgrundlagen
unseres Wissens

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"Ist es mir gelungen, darzulegen, daß nicht nur den Wahrnehmungsvorstellun- gen Phantasievorstellungen, sondern auch den Urteilen Phantasieurteile (Annahmen) zugeordnet sind, ebenso den eigentlichen oder Ernstgefühlen, Phantasiegefühle, den Ernstbegehrungen Phantasiebegehrungen, dann bietet sich nun auch wie selbst eine neue, natürlichere Beschreibung dessen dar, was im Fall der Erinnerung an das Gefühl vorliegt: nicht die Phantasievorstellung eines Gefühls, sondern mehr als diese, aber doch kein Ernstgefühl, sondern ein Phantasiegefühl."


Dritter Abschnitt
Die Evidenz der inneren Wahrnehmung
[Fortsetzung]

§ 14. Der Anteil der Vermutungsevidenz

So ergibt sich also ganz allgemein, daß auch für die innere Wahrnehmung das normale Zeitverhältnis zwischen der Wirklichkeit und dem sie erfassenden psychischen Akt nicht das der Gleichzeitigkeit, sondern das der unmittelbaren Aufeinanderfolge ist (1). Hat man aber Grund, nach wie vor die strenge Gegenwärtigkeit des Wahrzunehmenden als den für das Erkennen günstigsten Fall zu betrachten, dann bedeutet, da eine Bürgschaft für Konstanz eines gegebenen Inhalts nicht besteht, die Entfernung von der Gegenwärtigkeitsgrenze eine wachsende Irrtumsgefahr. So treffen wir jedem einzelnen Gegenstand gegenüber neuerlich auf jedes Mehr und Weniger an Günstigkeit, das uns oben bei den verschiedenen Gegenstandsgruppen begegnet ist, diesmal aber unter Umständen, die uns gestatten, uns nicht nur von der äußerlichen Lage in Bezug auf die Wahrheit, sondern auch von der innerlichen Sachlage in Bezug auf den Evidenzzustand eine genauere Rechenschaft zu geben, als bloß durch direkte Beobachtung des Wahrnehmungsurteils in seinem Verlauf zu erzielen wäre.

Was uns hier nämlich zustatten kommt, ist die Tatsache, daß es neben der Wahrnehmung noch eine ganz andere Art von Existentialerkenntnis gibt, und zwar eine, die ausschließlich vergangene Wirklichkeit betrifft: die Erinnerung. Man hat die Vorstellungsleistigungen des Gedächtnisses in den letzten Jahren einer immer tiefer dringenden experimentellen Würdigung desselben für die ich vor nun gerade zwanzig Jahren einzutreten bemüht war (2), seither kaum erhebliche Fortschritte gemacht. Aber das dort Dargelegte hat sich inzwischen hoffentlich ausreichend bewährt, um nun auch zur erkenntnistheoretischen Bearbeitung der Wahrnehmungsvorgänge herangezogen zu werden.

Versucht man sich die erkenntnistheoretische Natur des Erinnerns in ähnlicher Weise klar zu machen, wie dies in der gegenwärtigen Schrift in Bezug auf das Wahrnehmen geschehen ist, so stößt man natürlich hier wie dort bald genug auf die quastio iuris, die sich auch dort nur durch einen Hinweis auf die den Erinnerungen zu kommende Evidenz beantworten läßt. Genauer handelt es sich hier darum, ob diese Evidenz eine unmittelbare oder bloß mittelbare, auf Beweis gegründete ist. Nun kostet es nur eine kurze Überlegung, um sich zu überzeugen, daß ein Nachweis für die Vertrauenswürdigkeit unseres Gedächtnisses ganz im Allgemeinen durchaus nicht erbracht werden kann. Steht einmal im Allgemeinen fest, daß man sich auf Erinnerungen verlassen darf, dann ist es ganz wohl möglich, eine bestimmte Einzelleistung des Gedächtnisses aufgrund anderweitigen Wissens zu kontrollieren, und der Einzelne mag daraus über die Zuverlässigkeit speziell seiner Erinnerungsdispositionen allerlei lernen. Aber das hier herangezogene Wissen ist entweder selbst wieder ganz direkt ein Gedächtniswissen, oder es besteht in der Verarbeitung von Erfahrungen, die selbst nicht weniger wie das Verarbeitungsergebnis nur im Gedächtnis aufbewahrt worden sein können. Selbst Aufzeichnungen oder sonstige Fixierungstechniken unterstehen diesem Gesichtspunkt, weil man zumindest über ihre Konstanz Erfahrungen gemacht haben muß. In dieser Weise setzt jedes Verifikationsverfahren zuletzt Gedächtnisdaten voraus, so daß durch keines das Gedächtnis als solches verifiziert werden kann. Auch fällt es ja niemandem ein, mit seinem Vertrauen auf sein Gedächtnis eine Beweisführung abzuwarten; jeder weiß sich zu einem solchen Vertrauen berechtigt auch ohne Beweis, d. h. aufgrund nicht mittelbarer, sondern unmittelbarer Evidenz.

Nur steht diese Evidenz zunächst in einem ganz erstaunlichen Gegensatz dazu, daß das Gedächtnis ja tatsächlich nicht allzuselten täuscht, und sich demgemäß kein Besonnener auf seine Erinnerungen mit voller Zuversicht stützt, vielmehr die Möglichkeit, sich zu irren, nie ganz aus dem Auge verliert. Aber hierin kommt gerade das zur Geltung, was den Gedächtnisurteilen eine so charakteristische Stellung in unserem Erkennen anweist und uns auch im gegenwärtigen Zusammenhang in erster Linie interessiert. Diese Urteile werden nicht mit Gewißheit gefällt, oder genauer: wer das ihm hierin zukommende Recht nicht überschreiten will, darf sie nicht mit absoluter Gewißheit fällen, obwohl es in der Praxis oft genug geschieht. Diese Urteile sind vielmehr ihrem Wesen nach nur Vermutungen, wenn auch unter günstigen Umständen so starke, daß sie sich von der Gewißheit kaum, eventuell gar nicht merklich unterscheiden mögen. Die Evidenz also, die ihnen dem Obigen gemäß zukommt, ist keine Evidenz für Gewißheit, sondern eine Evidenz für Vermutung. Denn es gibt, wie man z. B. auch auf dem Gebiet der berechenbaren Wahrscheinlichkeit bestätigt finden kann, den Gegensatz berechtigten und unberechtigten Urteilens nicht nur, wenn gewiß, sondern auch wenn ungewiß geurteilt wird. Und man kann etwas mit Recht vermuten, das gleichwohl nicht zutrifft, also falsch ist, was bei berechtigter Gewißheit natürlich nie vorkommen kann. Diese Vermutungsevidenz, die die Wahrscheinlichkeit des Urteilsobjektivs ganz ebenso in sich schließt, wie die Gewißheitsevidenz dessen Wahrheit, halte ich für eine Fundamentaltatsache der Erkenntnistheorie und hoffe in einem späteren Heft dieser Sammlung darlegen zu können, wie dieselbe für die Verarbeitung der Erfahrung nicht minder bedeutsam ist wir für deren Zustandekommen.

Das nämlich ist, wie nun wohl schon zu erraten war, das Ergebnis dieser vergleichenden Heranziehung der Erinnerung, daß auch bereits in die innere Wahrnehmung die Vermutungsevidenz in dem Maße eindringt, in dem der Wahrnehmungsvorgang sich vom Wahrgenommenen zeitlich entfernt, - wobei vorerst noch vorausgesetzt ist, daß der Gleichzeitigkeit die Gewißheitsevidenz entspricht. Man weiß ja, daß unter sonst gleichen Umständen [ceteris paribus - wp] unsere Erinnerung umso ungewisser wird, je mehr Zeit zwischen Erinnerung und Erinnertem liegt. Die bei einer Umkehrung der Betrachtungsrichtung sich hieraus ergebende Annäherung an die Gewißheitsgrenze finden wir nun innerhalb der Wahrnehmung selbst bis zum wirklichen Erreichen dieser Grenze fortgesetzt. Und daß diese Grenze im Sinne der obigen Darlegungen selbst nur in einem Zeitpunkt wirklich erreicht wird, entspricht bestens der Empirie, derzufolge auch der günstigste Fall innerlichen Wahrnehmens den Irrtumsverdacht nicht in absoluter Restlosigkeit als unstatthaft erscheinen zu lassen vermag.

Es versteht sich, daß die so der inneren Wahrnehmung anhaftende Ungewißheit für die Praxis noch viel weniger in Betracht kommen wird, als die Ungewißheit mancher Gedächtnisurteile. Anders natürlich, wenn die eben vorausgesetzte Bedingung, daß der Gegenwärtigkeitspunkt eine Gewißheit mit sich führt, nicht erfüllt ist. Daß es hiermit aber auch anders bewandt sein kann, das ist die noch unaufgehellt gebliebene Innenseite dessen, was sich uns oben als die verschieden günstige Erkenntnislage bei den vier gegenständlichen Wahrnehmungsgruppen dargestellt hat. Natürlich ist, was in dieser Hinsicht zu sagen war, noch weitaus nicht exakt genug, um daraufhin etwa zu behaupten, daß bereits in der zweiten Gruppe die Gewißheitsgrenze nicht mehr erreicht wird. Ganz im Allgemeinen aber dürfte durch den Hinweis auf die verschiedenen Stärken evidenter Vermutung das Wesen jener Gruppenabstufung oder zumindest derjenigen, die bei fortgeschrittener Untersuchung an ihre Stelle zu setzen sein mag, richtig gekennzeichnet sein.

Noch einer Frage ist hier aber kurz zu gedenken. Läuft die hier vertretene Auffassung nicht Gefahr, die so charakteristische Verschiedenheit von Wahrnehmung und Erinnerung zu verwischen? Darauf muß vor allem geantwortet werden, daß die Gefahr keine sehr große sein wird. Stimmen auch Erinnerung und Wahrnehmung in der zeitlichen Stellung des Erkenntnisaktes zum Erkannten überein, so bleibt doch der gerade psychologisch sehr auffallende Unterschied übrig, daß das Erkannte sich das eine Mal stets als Gegenwart präsentiert, das andere Mal ebenso stets als Vergangenheit. Das liegt natürlich daran, daß bei der inneren Wahrnehmung die Gegenwärtigkeitsgrenze allemal den Ausgangspunkt ausmacht, bei der Erinnerung dagegen nie. Daß hiervon abgesehen der Erkenntnischarakter der Wahrnehmung mit dem der Erinnerung tatsächlich fließend verbunden erscheint, das wird man eben auf sich nehmen müssen. Es ist weder das erste noch voraussichtlich das letzte Mal, daß eine fortschreitende Forschung dort Übergänge antrifft, wo man erst scharfe Grenzen vor sich zu haben meinte. Übrigens aber beweist auch bereits der Begriff der "Gedächtnisnachbilder", wie schon ganz die direkte Beobachtung auf so etwas wie einen Zwischengeist zwischen Erinnerung und Wahrnehmung aufmerksam geworden ist.


§ 15. Psychologisches über
Einwärtswendung
(3)

In Bezug auf eine Präsumtion [Vermutung - wp] zugunsten einer Identität zwischen Erkenntnis und Erkanntem, von der die eben durchgeführte Untersuchung ihren Ausgang genommen hat (siehe oben), haben wir also das Ergebnis zu verzeichnen, daß eine solche Identität auch bei der inneren Wahrnehmung günstigstenfalls nur an einem Grenzpunkt verwirklicht sein kann. In welcher Weise sich dies vollzieht, und wie die psychologische Sachlage beschaffen ist, der die Identität dann Platz macht, darüber soll hier zum Beschluß dieser Darlegungen über innere Wahrnehmung noch eine erste Auskunft zu geben versucht werden.

Wir nehmen unseren Ausgang von der herkömmlichen Weise, die Verbindung einer Erkenntnis mit ihrem Objekt aufzufassen. Um die Existenz eines Objektes O zu erkennen, bedarf ich in der Regel einer Vorstellung V, die mittels ihres Inhaltes J auf dieses Objekt O gerichtet ist, - außerdem des Urteils U, das dadurch, daß es sich an an V bzw. J anschließt, ebenfalls die Richtung auf O erhält und dieses so erfaßt. In dieser Beschreibung spielen metaphorische Verlegenheitsbehelfe sicher eine weit größere Rolle, als zu wünschen wäre; zurzeit aber wird man sich damit eben zufrieden geben müssen. Sowie sich nun bereits hier J als das dem O zunächst und eigentlich zugeordnete Moment darstellt, so kann auch im Falle innerer Wahrnehmung das für diese gleichsam verlangte Zusammenrücken des Erkennens und des Erkannten sich nur auf das Verhältnis des J zum O beziehen. Die Identität ist also nicht wohl anders zu denken als so, daß O in die Position des J eintritt, ohne daß es darum natürlich seiner Eigenschaft, O zu sein, verlustig ginge. Dabei würde O zunächst Vorstellungsinhalt und gewissermaßen erst durch die Vorstellung hindurch auch ein Beurteiltes. Da aber dem O doch von Natur Selbständigkeit zukommt, darf man hier fragen, ob denn eine solche Vermittlung durch das Vorstellen unerläßlich ist, ob sich nicht vielmehr das Urteil ganz unmittelbar (d. h. nur mit Hilfe des O selbst, sozusagen als Quasi-Inhaltes) auf O richten kann. Symbolisch könnte man sich die drei in dieser Weise zustande gekommenen Auffassungen so veranschaulichen:

I. VJU
      ↓
      O
II. VOU III. OU IV. O

wobei der Pfeil in Schema I eine Art Bezeichnung für jenes "Gerichtetsein" abgeben mag, das der Zuordnung von Inhalt und Gegenstand zugrunde liegt.

Daß hier aber neben den drei bereits exponierten Typen noch ein vierter Fall verzeichnet ist, der einer Erklärung ganz besonders zu bedürfen scheint, hat Folgendes zu bedeuten: Der Intensitätsgedanke kann auf eine noch viel einfachere Form führen als die von II und III und zwar eine, die schon manchen für sich eingenommen hat. (4) Wenn ich mir eines Gefühles "bewußt" bin, muß dieses "Bewußtsein" durchaus darin bestehen, daß ich über das Gefühl urteile? Reicht es nicht völlig aus, wenn ich das Gefühl eben habe, wenn ich es also erlebe? Innerlich wahrnehmen hieße dann soviel wie erleben (5) und man hätte genauer zu sagen: eine innere Wahrnehmung gibt es eigentlich gar nicht; man hat hier das Objekt weil man es erlebt, für eine Wahrnehmung des Objekts genommen. Es ist in erster Linie die außerordentliche Einfachheit, was diese Auffassung so sehr empfiehlt, und um derentwegen sie auch hier nicht unerwähnt bleiben durfte. Aber sie teilt, soviel ich sehe, mit vielem anderen Einfachen das Schicksal, für die Tatsachen eben doch zu einfach zu sein. Das scheint sich mir schon daraus zu erhellen, daß unter der Voraussetzung dieser Auffassung aus oben dargelegten Gründen die Wahrnehmung eines zeitverteilten Komplexes, also eigentlich jeder Wirklichkeit ausgeschlossen wäre, da ja jeder Punkt eines psychischen Geschehens genau nur zu seiner Zeit erlebt wird. Es ist nun aber einfach eine Tatsache, daß wir derartige Erlebniskomplexe erfassen, und in unserem Beispiel vom Gefühl ist es außerdem unter günstigen Umständen durchaus deutlich, daß dieses Erfassen nicht den Charakter eines Gefühls- sondern den eines intellektuellen Aktes an sich trägt. Man müßte also nur etwa den Urteilsvollzug gerade für die Zeit der Gegenwart des Erlebnisses in Abrede stellen, aber nachträglich doch einsetzen lassen, so daß am Ende zwar an Einfachheit der Auffassung nichts gewonnen, dafür aber an Natürlichkeit derselben viel verloren wäre.

Wir können also von Fall IV absehen und behalten für die innere Wahrnehmung Schema II und III sozusagen zur Wahl. Es fragt sich zunächst im Sinne von Schema II ob ein inneres Erlebnis Vorstellungsinhalt werden kann und ob es dies werden muß, um beurteilt werden zu können. Gegen die erstere Möglichkeit ist beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens vielleicht nichts Zwingendesef einzuwenden nur berührt es seltsam, anstelle des Inhaltes, den man sich am Ende doch nur als ein Stück Vorstellung und der Vorstellung als Ganzem gegenüber unselbständig denken muß, nun ein ganz für sich existierendes, selbständiges Erlebnis treten zu sehen. Die an zweiter Stelle verzeichnete Forderung ist aber überdies als bindend durchaus nicht einzusehen, so daß man sich eigentlich von beiden Seiten her auf Schema III hingedrängt findet. Der Gedanke freilich, es könnte etwas beurteilt werden, das gar nicht vorgestellt wird, widerstrebt recht deutlich der Traditioin, die dem Vorstellen eine Art grundlegenden Anteils an allen psychischen Erlebnissen zusprechen zu dürfen meint. (6) Aber im Grunde ist diese Tradition bereits beim Objektiv durchbrochen, das nicht durch ein Vorstellen, sondern nur durch ein Annehmen oder Urteilen erfaßbar ist, dann aber gleichwohl in die Stellung eines Urteilsobjekts treten, d. h. beurteilt werden kann. Dann aber liegt dieser Tradition doch ohne Zweifel jene ausschließliche Rücksichtnahme auf die äußeren Objekte und deren Beurteilungsweise zugrunde,, die der Bevorzugung entspricht, die die Erkenntnispraxis jenen äußeren Objekten tatsächlich zukommen läßt. Dem Verhalten zur äußeren Wirklichkeit ist das Schema I auch durchaus gemäß. Unser Verhalten zur inneren Wirklichkeit macht aber demgegenüber nicht etwa ein kleines Spezialgebiet aus, dem man die Stellung der Ausnahme gegenüber der sonst allgemein geltenden Regel nicht gern einräumen möchte. Es ist vielmehr dem Erfassen der äußeren Wirklichkeit zumindest koordiniert; und so möchte ihm so viel Eigenartigkeit, als Schema III in Anspruch nimmt, ganz wohl zuzutrauen sein.

So meine ich dann in der Tat für Schema III optieren zu sollen mit einem Vorbehalt, der dem zweiten Typus nun doch noch eine bestimmte, wenn auch beschränkte Geltung einräumt. Der Vorbehalt ergibt sich, wenn wir nun auch den oben gekennzeichneten Gegensatz der Einwärts- und Auswärtswendung in den Kreis unserer Erwägungen ziehen. Wir haben uns diesen Gegensatz oben nur sozusagen vom Standpunkt des Vorstellungsinhaltes als des zu "Wendenden" klar gemacht. Jetzt ist sofort deutlich, daß nicht nur der Vorstellungsinhalt eine Einwärtswendung gestattet, sondern nicht weniger ein Gefühl, ein Urteil, eine Begehrung, kurz ein inneres Totalerlebnis, das dann natürlich auch eine Vorstellung (zunächst einschließlich des Inhaltes) sein kann, nicht weniger jeder durch Abstraktion herauszuhebende Teil eines solchen Totalerlebnisses: alle innere Wahrnehmung beruth ja auf einer Einwärtswendung. Dagegen ist eine ähnliche Erweiterung des Gebietes, innerhalb dessen eine Auswärtswendung stattfinden kann, nicht zu vollziehen; ein vor kurzem gemachter interessanter Versuch, Gefühle, zunächst ästhetische, auswärts zu wenden (7), scheitert meines Erachtens an der Natur dieser Erlebnisse, womit aber nicht ausgeschlossen ist, daß außerintellektuelle Erlebnisse ihr Objekt unter Umständen indirekt charakterisieren helfen und insofern oft "Erkenntniswert", eventuell von hohem Grad, besitzen. Im Gesagten liegt nun bereits, daß unser obiges Schema I alle Fälle der Auswärtswendung repräsentiert. Dagegen trägt Schema III, das nur die Einwärtswendung betrifft, augenscheinlich gerade dem Fall nicht Rechnung, von dem wir seinerzeit ausgegangen sind: der Einwärtswendung von Inhalten, wie wir sie beim Erfassen der Pseudo-Existenzen angetroffen haben. Denn sofern Inhalte unselbständig sind, setzt unser obiges Symbol J jederzeit das Symbol V voraus: fügt man dieses zum Schema III hinzu, so erhält man Schema II. So kann man zusammenfassend sagen: Die Fälle der Einwärtswendung verteilen sich auf Schema II und III, und zwar derart, daß das Erfassen von Pseudo-Objekten sich nach Schema II vollzieht.


§ 16. Die Auswärtswendung von
Phantasieerlebnissen

Inzwischen gilt das bisher Dargelegte, wie eingangs bemerkt, nur von der Gegenwärtigkeitsgrenze, und es erhebt sich für uns nunmehr noch die Frage, in welcher Weise der im Sinne unserer drei Schemata einsetzende psychische Vorgang weiter verläuft, wobei natürlich derjenige Teil des Erkenntnisvorganges ausschließlich in Betracht kommt, der dem dauernden Erfassen genau desselben, auch seinerseits punktuell präzisierten Gegenstandes dient, - derjenige also, der in Figur 4 oben auf durch ein und denselben Horizontalstrich symbolisiert wurde. Auch hier versuchen wir, die kleinen Verschiedenheiten an den großen kennen zu lernen, und ziehen, wie oben, den Sachverhalt beim Erinnern heran, dem auch sonstiges Urteilen, sofern es kein Wahrnehmen ist, sowie urteilsloses Phantasieren an die Seite treten kann.

Wieder ist das, was die äußere Wirklichkeit angeht, das uns Vertrautere. Was man durch eine Außenwendung wahrgenommen hat, dessen erinnert man sich nachher mit Hilfe einer Phantasievorstellung der gleichen Inhalts, der natürlich auch hier außengewendet erscheint. Wie aber steht es mit den Erinnerungen an innere Erlebnisse? Solange man auch für diese besonderer Wahrnehmungsvorstellungen zu bedürfen meint, kann man ganz analog auch bei ihnen auf Phantasievorstellungen rechnen. Wie aber, wenn es bereits bei der inneren Wahrnehmung gemäß unserem Schema III zugeht? Wie fängt man es etwa an, sich eines erlebten Gefühls zu erinnern, wenn man dasselbe, da man es erlebte und etwa seiner bewußt war, gar nicht vorzustellen brauchte, am Ende wohl gar nicht vorstellen konnte?

Wer geneigt ist, in dieser Frage eine Verlegenheit und daher eine Instanz gegen die soeben vertretene Auffassung der Vorgänge inneren Wahrnehmens zu erblicken, wird gut daran tun, sich zu erinnern, wie oft man schon umgekehrt eine Verlegenheit, richtiger eine Gewaltsamkeit gegenüber der Erfahrung darin verspürt hat, daß die Theorie im Erinnerungsfall ein Vorstellen der Gefühle zu verlangen schien, und wie oft man versucht hat, dafür einzutreten, daß das, was man im Erinnerungsfall erlebt, keine bloße Vorstellung eines Gefühls, sondern selbst ein Gefühl ist. Übrigens verfügt aber heute die Psychologie, wie ich glaube, über die theoretischen Hilfsmittel, solchen Schwierigkeiten eine sie beseitigende Auffassung entgegenzusetzen. Ist es mir gelungen, darzulegen, daß nicht nur den Wahrnehmungsvorstellungen Phantasievorstellungen, sondern auch den Urteilen Phantasieurteile (Annahmen) zugeordnet sind, ebenso den eigentlichen oder Ernstgefühlen, Phantasiegefühle, den Ernstbegehrungen Phantasiebegehrungen (8), dann bietet sich nun auch wie selbst eine neue, natürlichere Beschreibung dessen dar, was im Fall der Erinnerung an das Gefühl vorliegt: nicht die Phantasievorstellung eines Gefühls, sondern mehr als diese, aber doch kein Ernstgefühl, sondern ein Phantasiegefühl. Dasselbe kann einwärts gewendet werden wie das Ernstgefühl, aber es gestattet auch im Gegensatz zum Ernstgefühl eine Auswärtswendung, und diese ist die Weise, wie das vergangene Ernstgefühl von uns intellektuell erfaßt wird. Dasselbe gilt dann natürlich auch für Begehrungen und Urteile sowie für Vorstellungen, bei denen die Sachlage nur dadurch verwickelter wird, daß bei der an die Phantasievorstellung sich knüpfenden Auswärtswendung zweierlei Eventualitäten in Erwägung zu ziehen sind. Ist der Inhalt für sich das Auswärtsgewendete, dann gilt das Urteil nur dem Gegenstand der einstigen Wahrnehmungsvorstellung; und nur wenn das Auswärtsgewendete die ganze Phantasievorstellung ist, betrifft die Erinnerung die einstige Wahrnehmungsvorstellung selbst. Es wäre kein Wunder, wenn man sich nicht immer imstande zeigen sollte, diesen Unterscheid ausreichend sicher festzuhalten.

Vielleicht kann ich diese Aufstellungen, die ungewohnt klingen mögen, um eine berechtigte Zurückhaltung im Leser wachzurufen, diesem durch den Hinweis auf eine Schwierigkeit etwas näher bringen, die mir früher gerade von nachdenklicheren Studierenden mehr als einmal vorgehalten worden ist, wenn ich die Behauptung vertrat, daß man nur vorher Wahrgenommenes erinnern kann. Es scheint ja nicht allzuselten zu begegnen, daß wir nachträglich an innere Erlebnisse zurückdenken, in Bezug auf welche wir eigentlich gar keinen Anhaltspunkt dafür haben, zu glauben, daß wir ihnen zur Zeit des Erlebens ein Wahrnehmungsurteil zugewendet haben sollten. Das verstößt unter der Voraussetzung, daß wahrgenommenes und erinnertes Psychisches vorgestellt werden muß, jenes durch Wahrnehmungs-, diese durch Phantasievorstellungen, vielleicht schon gegen das richtig übertragene Prinzip: "Nihil est in intellectu, quod non fuerit antea in sensu" [Es ist nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp], - jedenfalls aber gegen das eben formulierte Gesetz in Bezug auf die Begründung von Erinnerungsdispositionen; und ich erkenne heute erst recht, wie sehr ich denen, die mir dies vorlegten, eine wirklich befriedigende Lösung schuldig bleiben mußte. Durch die eben dargelegte Auffassung ist die Situation auch hier eine ganz andere geworden. Zunächst findet das Prinzip von intellectus und sensus, das, wie immer umgedeutet, doch stets ein Vorstellungsprinzip bleibt, gar keine Anwendung mehr, wenn es sich nicht um einen Fall nach Schema I handelt. Anders ausgedrückt: Sollte man auch berechtigt sein, für das Auftreten eines Phantasieerlebnisses ganz allgemein das Vorhergegangensein des zugeordneten Ernsterlebnisses zu verlangen, so liegt hierin für den Fall etwa des erinnerten Gefühls keine Schwierigkeit mehr. Das Ernstgefühl ist erlebt worden; dadurch ist das Auftreten des auswärts zu wendenden Phantasiegefühls sozusagen legitimiert. Was aber den Zusammenhang anlangt, vermöge dessen eine Erinnerungsdisposition stets auf die Wahrnehmung zurückweisen soll, so entstammt diese Gesetzmäßigkeit ja jedenfalls wieder dem Erfahrungsgebiet nach Schema I; ihre Übertragbarkeit auf die Verhältnisse der übrigen Gebiete ist zumindest nicht vorgängig gesichert. Daß Wahrnehmung auch hier eine Erinnerungsdisposition begründet, wir natürlich nicht zu bezweifeln sein. Aber es ist sehr glaubhaft, daß eine Erinnerungsdisposition auch schon vom unwahrgenommenen Erlebnis zurückgelassen wird.

Was jedoch speziell die hier für die Phantasieerlebnisse in Anspruch genommene Fähigkeit anlangt, ähnlich wie die Vorstellungsinhalte durch eine Außenwendung Urteilsgrundlagen abzugeben, so sei wenigstens vorübergehend darauf aufmerksam gemacht, daß sich diese Fähigkeit auch noch in ganz anderer Hinsicht bewährt. Nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Erlebnisse sind ja Gegenstände meines Denkens und insbesondere Erkennens. Wahrnehmungen solcher fremder Erlebnisse stehen uns natürlich nicht zu Gebote: woher immer wir aber die Berechtigung nehmen, an ihre Existenz zu glauben, auch ihnen gegenüber merkt man oft deutlich genug, wie da das "bloße Vorstellen" zu wenig wäre, wie es vielmehr darauf ankommt, sich in die innere Lage des anderen zu versetzen, sich, wie man jetzt immer häufiger sagt, "in ihn einzufühlen". Aber wieder ist hierfür das wirkliche oder Ernstgefühl ebenso wie ein andermal die Ernstbegehrung oder das Ernsturteil zu viel, so daß auch hier die Phantasieerlebnisse als dasjenige übrig bleiben, was die zum Erfassen physischer Objekte dienenden Vorstellungsinhalte ersetzt. Und wieder sind diese Erlebnisse, die natürlich selbst sehr wohl innerlich wahrgenommen werden können, in der eben in Rede stehenden Weise nur durch eine Außenwendung zu gebrauchen. Daß es dann bei der sogenannten ästhetischen Einfühlung im Prinzip ebenfalls nicht anders bewandt ist, versteht sich, nur daß es nicht Urteile sondern bloß Annahmen zu sein pflegen, durch die sich dann die Außenwendung vollzieht (9).

Ist es mit im Voranstehenden gelungen, die intellektuelle Bedeutung der Phantasie, und zwar nicht nur der intellektuellen, sondern auch der emotionalen, in ausreichend helles Licht zu rücken, dann bietet die Beantwortung der Frage, die zu den letzten Darlegungen den Anlaß gegeben hat, keine Schwierigkeit mehr. Wir wollten wissen, wie das innerliche Wahrnehmen beschaffen ist, sobald es sich von der Gegenwärtigkeitsgrenze entfernt. Wie es oben schon in Sachen der Evidenz durchgeführt wurde, so haben wir auch in den übrigen Hinsichten diese Entfernung, die Fortbewegung auf einer der Horizontalen in Figur 4 als Annäherung an jenen Zustand zu betrachten, der uns in den Erinnerungsurteilen deutlich entgegentritt. Was also an der Gegenwärtigkeitsgrenze ein Ernsterlebnis ist, geht nach dem Verlassen derselben in ein Phantasieerlebnis über, womit aber natürlich nicht etwa gesagt sein will, daß das ganze Ernsterlebnis nur punktuell ist. Die schräge Linie in Figur 4, die jetzt natürlich nicht etwa nur als Inhaltskurve, sondern ebensogut als Ernsterlebnis- bzw. Quasi-Inhaltskurve zu deuten ist, zeigt, wie diesem Ernsterlebnis gar wohl Dauer zukommt, und wie unsere Betrachtung allemal nur einen Punkt aus dieser Strecke herausgreift um die Veränderung zu verfolgen, die bei ihm ihren Anfang nimmt.

Vor allem wichtig ist nun, daß mit dem Verlassen der Gegenwärtigkeitsgrenze eine Umwandlung der Einwärtswendung in eine Auswärtswendung stattfinden muß. Da ich die direkte Empirie hierfür nicht als Zeugen anrufen kann, so erwächst daraus der skizzierten Theorie eine Hypothesenlast, die jedoch, wie ich hoffe, nicht unverhältnismäßig schwer ins Gewicht fällt. Zumindest wird man, daß sie sich der direkten Wahrnehmung entzieht, nicht sonderlich hoch anschlagen dürfen, wenn man bedenkt, wie schwer es uns schon den äußeren Vorgängen, insbesondere denen des organischen Lebens gegenüber wird, ihnen anders als durch Schnitte im wörtlichen oder übertragenen Sinn anschaulich beizukommen, und wie uns bei inneren Erlebnissen die Möglichkeit, solche Schnitte anders als in Gedanken zu vollziehen, völlig fehlt. Es kommt hinzu, daß uns das Wesen des Gegensatzes zwischen Einwärts- und Auswärtswendung noch so wenig bekannt ist, daß wir uns über die Art des Übergangs von einer zur anderen noch gar keine Gedanken bilden können. Hier weiter zu helfen, muß der Erkenntnispsychologie der Zukunft überlassen bleiben. Bis dahin mag das Voranstehende versuchen, dem Bedürfnis nach einem ersten Einblick in das Wesen der inneren Wahrnehmung Rechnung zu tragen.
LITERATUR - Poske/Höfler/Grimsehl (Hrsg), Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft, Heft 6, Berlin 1906
    Anmerkungen
    1) Unter der Voraussetzung, daß nur Gegenwärtiges real ist, bedeutet dies zugleich die Unhaltbarkeit der oben ausgesprochenen Forderung, alle Wahrnehmungsobjekt müßten real sein. Daß man aber weit eher an eine Abänderung des Realitäts- als des Wahrnehmungsbegriffs zu denken haben wird, vgl. "Über Gegenstände höherer Ordnung etc.", Seite 260f.
    2) "Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Gedächtnisses" Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1886, Seite 7f.
    3) Der in diesem und im folgenden Paragraphen gemachte Versuch, die Theorie der inneren Wahrnehmung psychologisch auszubauen, dürfte nichts enthalten, was für das Verständnis von Abschnitt IV unentbehrlich ist.
    4) vgl. PAULSEN, Einleitung in die Philosophie, erste Auflage, Seite 377.
    5) vgl. auch HÖFLER, Psychologie, Seite 270.
    6) vgl. HÖFLER, Psychologie, Seite 3
    7) EDITH LANDMANN-KALISCHER, Über den Erkenntniswert ästhetischer Gefühle, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. V, Seite 263f.
    8) Vgl. "Über Annahmen", besonders Seite 280f, auch RUDOLF SAXINGER, Über die Natur der Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen in den "Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie", Seite 579f. - R. SAXINGER, Beiträge zur Lehre von der emotionalen Phantasie, in der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 40, Seite 145f. - ERNST SCHWARZ, Über Phantasiegefühle, im "Archiv für systematische Philosophie", Bd. XI, Seite 481f.
    9) In meinen letzten einschlägigen Bemerkungen (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VI, Seite 55, bes. Anm.) ist immer noch vom Vorstellen des Psychischen die Rede. Im Obigen versuche ich zum ersten Mal, die neue Auffassung so weit zu führen, daß derartige Vorstellungen überhaupt entfallen.