ra-2p-4ra-1F. SchillerO. KülpeJ. Cohnvon KernA. TumarkinF. H. Jacobi    
 
WALDEMAR CONRAD
Der ästhetische Gegenstand
[eine phänomenologische Studie]
[4/4]

"Das, was dem Kunstwerk seine Einheit gibt, ist in erster Linie, wie bei jedem Wortzusammenhang, der gemeinte, zur Darstellung kommende Gegenstand. Diesem Gegenstand steht die poetische Form gegenüber, in der er zur Darstellung gekommen ist, wobei die Formung erstens in einem Bedeutungsmoment, zweitens im gewählten Zeichen liegt. Dieser Gegenstand ist hier die Liebesgeschichte von Müller und Müllerin. Der Liederzyklus ist eine Form der Darstellung."

"So bleibt von unserem ästhetischen Gegenstand für diese Weltauffassung nichts als die Wortlaute als das einzig Objektive, alles Übrige verteilt sich als psychische Vorgänge auf die beiden Personen, den Redenden und den Hörenden, und die Eindrücke des letzteren sind teils der Wirklichkeit entsprechend, teils nicht."

II. Wortkunst
b) Allgemeine Analyse eines
poetischen Gegenstandes

Wir wählen als Beispiel das durch die Komposition SCHUBERTs bekannt gewordene Gedicht von WILHELM MÜLLER "Ungeduld", vor allem, weil es seinerseits noch Teil eines größeren Ganzen, eines Liederzyklus "Die schöne Müllerin" ist.

Die schöne Müllerin
1. Das Wandern.
2. Wohin?
3. Halt!
4. Danksagung an den Bach
5. Am Feierabend
6. Der Neugierige
7. Ungeduld
8. Morgengruß
9. des Müllers Blumen
10. Tränenregen
11. Mein
12. Pause
13. Mit dem grünen Lautenband
14. Der Jäger
15. Eifersucht und Stolz
16. die liebe Farbe
17. die böse Farbe
18. Trockene Blumen
19. der Müller und der Bach
20. des Baches Wiegenlied.


Ungeduld
    Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein,
    Ich grüb' es gern in jeden Kieselstein,
    Ich möcht' es sä'n auf jedes frische Beet
    Mit Kressensamen, der es schnell verrät:
    Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!

    Ich möcht' mir ziehen einen jungen Star,
    Bis daß er spräch' die Worte rein und klar,
    Bis er sie spräch' mit meines Mundes Klang,
    Mit meines Herzens vollem, heißem Drang,
    Dann säng' er hell durch ihre Fensterscheiben
    Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!

    Den Morgenwinden möcht' ich's hauchen ein,
    Ich möcht' es säuseln durch den regen Hain;
    O leuchtet' es aus jedem Blumenstern,
    Trüg' es der Duft zu ihr von nah und fern!
    Ihr Wogen, könnt ihr nichts, als Räder treiben!
    Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!

    Ich meint', es müßt' ein meinen Augen stehn,
    Auf meinen Wangen müßt' man's brennen sehn,
    Zu lesen wär's auf meinem stummen Mund,
    Ein jeder Atemzug gäb's laut ihr kund;
    Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben:
    Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!
Dieser Zyklus - so wird jeder unbefangene, naive Beobachter sagen - zerfällt in die 20 einzelnen Lieder; das herausgegriffene Gedicht weiterhin in die vier Strophen, diese in die Verse bzw. die (selbständigen und unselbständigen) Sätze, wie sie von den Interpunktionszeichen angedeutet werden, und ein solcher Satzteil endlich in die einzelnen (eventuell zusammengesetzten) Worte. Wie sich das Wesen eines solchen Wortes in der naiven Deskription darstellt, sahen wir schon. In ähnlicher Weise würde dieselbe natürlich auch hier den "Inhalt" des Einzelgedichts und den Zusammenhang der verschiedenen miteinander beschreiben. - Das spezifisch Künstlerische würde man von einem solchen natürlichen Standpunkt aus offenbar zunächst in der Gesetzmäßigkeit von Reim und Rhythmus suchen, sodann aber in der eigenartigen Wirkung, die nicht nur Reim und Rhythmus, sondern überhaupt die Wahl der Worte durch Anschaulichkeit, Bilderreichtum, Wohllaut und sonstige Eigenschaften normalerweise in den Menschen hervorbringen. Die Beschreibung dieser "Wirkung" (und des "ästhetischen Zustandes") brauchen wir nicht weiter auszuführen, da gerade hierdurch ganz besonders die Beschreibung in die Fehler verfällt, die wir der "naiven Deskription" prinzipiell vorwerfen: daß sie
    1. nicht die rein ästhetische Geisteshaltung einnimmt, sondern immer neben dem ästhetischen Gegenstand vorbeischaut auf das, was "im Grunde", d. h. bei natürlicher Geisteshaltung vorliegt; daß sie die "eigentliche" Sachlage beschreibt und damit

    2. die Existenz der wirklichen Objektivitäten und deren Kausalbeziehungen voraussetzt,

    3. daß sie ihre Gegenstände nur relativ oberflächlich, so wie in einer gewöhnlichen Dingwahrnehmung ins Auge faßt, statt sich das Wesen derselben zur Selbstgelegenheit zu bringen. (41)
Wenn wir nunmehr zur phänomenologischen Analyse übergehen, so haben wir also nicht die Wirkung auf uns, aber auch nicht die Ursache dieser Wirkung und in diesem Sinn das Kunstwerk zu beschreiben, sondern - wie wir es früher schon ausdrückten - das Blickfeld der Aufmerksamkeit, so wie es sich darstellt, wenn es in der von einem ästhetischen Gegenstand vorgeschriebenen Weise ausgefüllt ist; wir nannten es zum Unterschied vom - zufälligen, subjektiven Schwankungen unterworfenen - "Blickfeld" das "Gegenstandsfeld" der ästhetischen Meinung. Es ist also wiederum nicht etwa das Gesamterlebnis zu beschreiben, das beim Hören der Gedichte vorliegt mit allen seinen Vorstellungen, Gefühlen und Wollungen, die direkt oder durch eine mehr oder weniger entfernte Assoziation oder ein "zufällig" hervorgerufen werden, sondern wir scheiden das zum gemeinten Gegenstand Gehörige vom übrigen. - Hier tritt jedoch eine erste Schwierigkeit auf, denn nach dem früheren ist ein poetisches Kunstwerk offenbar, wie jeder Wortkomplex, ein Bedeutungskomplex, der, getragen von Lautzeichen, einen Gegenstand meint. Als "ästhetischer Gegenstand" aber müßte augenscheinlich das Ganze, also auch Bedeutung und Lautzeichen in eine Gegenstandsstellung treten. Ich glaube, daß dies in der Tat der Fall ist. Damit ist zunächst natürlich nichts anderes als das intentionale Gegenständlichsein gemeint. Aber offenbar geht die Forderung sogar dahin, die Zeichen als solche zu beachten, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, wenn auch nicht bevorzugende und natürlich ohne daß die Auffassung als Symbol verloren gehen darf. Und die gleiche Forderung geht also auch an die Bedeutungen (42). Dies widerspricht - vor allem das erstere - durchaus der gewöhnlichen Verwendung der Worte im täglichen Leben, und so treten diese, wenn sie Teile eines ästhetischen Gegenstandes werden, eo ipso [schlechthin - wp] in eine außergewöhnliche Stellung, dies war bei den Tönen nicht der Fall, da dieselben normalerweise gegenständlich aufgefaßt werden. Daß ein Zeichen Zeichen bleiben kann, auch wenn es in eine derartige Stellung tritt, sahen wir schon weiter oben.

Wenn wir nun unser Beispiel, den Liederzyklus ansehen, so ist das erste, was uns auffällt, daß er eine Überschrift hat. In der gewöhnlichen, normalen Rede verwendet man keine Überschriften. Man sagt nicht "über den Mond", ehe man zu erzählen beginnt, daß heute Vollmond ist usw. Wissenschaftliche Arbeiten dagegen tragen allerdings ebenfalls einen Titel. Derselbe läßt sich hier wie dort natürlich zunächst einfach als Benennung zum Zweck der Mitteilung und Verständigung auffassen; aber er ist mehr als das, die Benennung nämlich mit einem Namen setzt voraus und deutet an, daß das Nachfolgende ein Gegenstandsganzes ist bzw. als ein solches aufgefaßt werden soll, - und zwar vielfach sogar im prägnanteren Sinn eines "Substantivgegenstandes", wie wir es nannten (43). Wenn wir nämlich den Namen aussprechen, so tritt uns das gemeinte Gedicht gegenständlich in diesem engsten Sinn gegenüber, wie etwa in den Akten, die beispielsweise die Wertung fundieren: das Gedicht "Ungeduld" ist schön; dabei muß nach dem Titel das ganze Gedicht selbst folgen, sofern die Wertung aufgrund einner wirklichen Anschauung gefällt sein soll (44). - Wir müssen jedoch hinzufügen, daß allerdings "normalerweise" bei Genuß eines Kunstwerkes der Titel gar keine Rolle spielt. Er gehört nämlich nicht zum eigentlich gemeinten Gegenstand selbst, sondern zu einer "mitgemeinten" "zeitlichen Umgebung", in dem Sinne, wie wir die Ausdrücke früher beim musikalischen Gegenstand gebrauchten. Einer solchen Überschrift würde bei der Musik in der Tat ein Präludium [Vorspiel - wp] (in der primitivsten und wohl ursprünglichen Form) von zwei, drei Takten, das vor allem die Tonart angibt und selbst aus einem bloßen Akkord bestehen kann, entsprechen (45). Und ebensowenig wie ein solches Präludium, gehört eine derartige Überschrift zum ästhetischen Gegenstand selbst, daher ist es auch nie einem Komponisten eingefallen, den Titel mitzukomponieren und mitsingen zu lassen, trotzdem er beim Rezitieren immer mitgelesen wird. Wenn der Titel aber derartig normal fungiert, müssen wir nun sagen, so ist der ästhetische Gegenstand auch nicht "substantivisch-gegenständlich", sondern nur intentional und Gegenstand der Aufmerksamkeit.

Der Titel hat uns aufmersam gemacht auf die "zeitliche Umgebung", er ist das einzige in Schriftzeichen wiedergegebene Moment derselben, aber ebenso wie bei der Musik ist der Gegenstandskern umgeben von einem "Hof" der Vorbereitung und des Nachklingens; und wie der ganze Zyklus, so auch jedes einzelne Gedicht, jedes hat seine Sonderüberschrift und seine Pause, die es von seinem Nachbarn abtrennt. Je nach der Art des Gedichts und insbesondere je nach der Größe des Gegensatzes zwischen zwei aufeinander folgenden Gedichten sind diese Pausen größer oder geringer zu denken. Und wir werden sehen, daß sie sogar eine Art Darstellungsfunktion für die dazwischenliegenden Zeiträume haben. Jeder hat wohl schon Gelegenheit gehabt, die Nichtbeachtung dieser ungedruckten Teile des Kunstwerkes auf das Empfindlichste zu spüren.

Fassen wir nun das Kunstwerk in seinem eigentlichen Kern ins Auge, so können wir, wie bei einem musikalischen Gegenstand, eine Gliederung (in zusammenhängende Stücke) einerseits, ein Sichaufbauen (aus sogenannten "Seiten", die sich an einem Gegenstand unterscheiden lassen) andererseits beobachten.

Wiederum ist eine Gliederung eine doppelte: es superponiert [überlagert - wp] sich die "rhythmische" über die "sinngemäße". Erstere ist diejenige in (die einzelnen Gedichte), die einzelnen Strophen, Verse und schließlich Rhythmuseinheiten im Sinne des "Daktylus", "Trochäus" [Versmaße - wp] etc., deren kleinste Elementareinheiten die Silben sind, wie in der Musik der Taktschlag. Diese Teilung ist zu bekannt, als daß wir sie an unserem Beispiel durchführen müßten. Die "sinngemäße" Gliederung, die nächst dem Einzelgedicht und der Strophe den Einzelsatz und weiterhin den relativ selbständigen (durch Kommata gekennzeichneten) Satzteil und schließlich den unselbständigen (Subjekt, Prädikat etc.) und das Einzelwort (die Silben nur zum Teil un in gewissem Sinne) abtrennt, deckt sich mit jener ersten sichtlich vielfache, aber keineswegs immer und notwendig; denn gleich die dritte Zeile in unserem Gedicht "Ungeduld" ("Ich möcht' es sä'n auf jedes frische Beet"), die rhythmisch ein Versganzes ist, wird erst durch den Zusatz "mit Kressensamen", der der nächstfolgenden Zeile angehört, ein sinngemäßes Ganzes.

Daß eine solche Superposition zweier Gliederungen keinerlei prinzipielle Schwierigkeiten enthält, brauchen wir hier nicht noch einmal darzulegen. (46)

Was nun den Aufbau aus Seiten anbelangt, so konstituiert sich das poetische Kunstwerk natürlich wie jedes Wortgebilde wesentlich aus jenen drei Momenten: Symbol, Bedeutung und Gegenstand. Das, was dem Kunstwerk seine Einheit gibt, ist in erster Linie, wie bei jedem Wortzusammenhang, der gemeinte, zur Darstellung kommende "Gegenstand". Ihn wollen wir daher ins Auge fassen, um so auch das spezifisch Künstlerische deutlich zur Abhebung zu bringen. Diesem Gegenstand, den wir bei unserer Analyse als gegeben voraussetzen müssen, steht nämlich die poetische "Form" gegenüber, in der er zur Darstellung gekommen ist, wobei die Formung erstens in einem Bedeutungsmoment, zweitens im gewählten Zeichen liegt (47). Dieser Gegenstand ist hier die Liebesgeschichte von Müller und Müllerin. Der Liederzyklus ist eine Form der Darstellung, die im Gegensatz z. B. der Form eines Romans oder der epischen Schilderung einzelne scharf gegeneinander abgegrenzte Momente herausgreift, um mittels dieser das zusammenhängende, über einen größeren Zeitrum sich erstreckende Ganze darzustellen. In dieser Wahl (der Form) liegt also gewissermaßen der erste Akt des künstlerischen Schaffens, der in der Tat auch die spezifische künstlerische Intution erfordert, um im Voraus das, was noch keine bestimmte Gestalt gewonnen hat, wertend jenen anderen Möglichkeiten (Epos, Roman etc) gegenüberzustellen. Die nächste Aufgabe des Künstlers ist dann - wenn wir die Form einer imaginären Genesis noch einen Augenblick beibehalten dürfen - ähnlich der der bildenden Künste, nämlich die "fruchtbarsten" Momente auszuwählen. Denn diese sollen eben mehr als nur den einen Zeitpunkt direkt abbilden, da ihre Gesamtheit die ganze kontinuierliche Zeitstrecke, über die sich das Liebesdrama erstreckt, darzustellen hat. Also die Gegenstände der Einzelgedichte haben ihrerseits noch eine Repräsentationsfunktion, das direkt Gegebene repräsentiert das nicht direkt Gegebene. Und hier wird es nun verständlich, wie auch die Pausen selbst teilnehmen an dieser Repräsentierungsfunktion: sie stellen die Zwischenzeiten direkt (wenn auch perspektivisch verkürzt) dar, ihre inhaltliche Fülle aber bekommen sie durch diese indirekte Repräsentation der angrenzenden Gedichte (48). - Wir gehen nunmehr zu unserem speziellen Beispiel "Ungeduld" über.

Das Thema dieses Gedichtes ist die stürmische, ungeduldige Liebe des jungen Müllerburschen, die er der Geliebten mitzuteilen sich sehnt, ohne daß er es doch wagt, dieselbe in Worten auszusprechen und der Schmerz, daß sie "nichts merkt" von all der Liebe. Dies ist der ganze und volle "Stoff" des Liedes, alles übrige ist Darstellungsfrom. Selbst daß es sich um einen Müllersburschen handelt, ist diesem Gedicht im Grunde nicht zu entnehmen, irgendwelche weitere, äußere oder auch innere Details ebensowenig. Es sind im eigentlichsten Sinne alles Variationen über dieses kleine Thema; in gewisser Weise über das Thema der sehnsüchtigen Liebe, das jede einzelne Strophe in anderer Form variiert, während der Gedanke, daß sie "nichts merkt von all dem bangen Treiben", nur ein einziges Mal, erst in der letzten Strophe auftritt. Von dieser wollen wir zunächst einmal absehen.

Dann stellt sich uns die erste strophe dar als eine vierfache Variation dieses Sehnsuchtsmotivs: "Ich schnitt es gern in alle Rinden ein - Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben." "Ich grüb' es gern in jeden Kieselstein - Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben" usw. Diese verschiedenen Formen sind natürlich verschiedene gedankliche Formen: mittels verschiedener Bedeutungen, nicht nur mittels verschiedener Wortzeichen wird derselbe Gegenstand gemeint (49). Und in der Wahl dieser Bedeutungsformen - wenn wir uns einmal der Kürze halber so ausdrücken dürfen - liegt hier die künstlerische Gestaltungskraft. Wenn nun aber dieser Gedanke die Form angenommen hat: "Ich schnitt es gern in alle Rinden ein" und nicht: "Gerne würde ich's in alle Baumrinden einschneiden" oder dgl., so ist hierfür maßgebend im wesentlichen die Rücksicht auf das Wortzeichen, den Wortlaut, durch den sich Reim und Rhythmus konstituiert. Es ist schon hiernach, wie in derartiger Poesie, die wir deshalb "Sprachpoesie" nennen können, Wortbedeutung und Wortzeichen die Faktoren für die spezifisch künstlerische Gestaltung sind, wie es aber auch, kurz gesagt, eine bloße "Bedeutungspoesie" geben kann, das ist Dichtung ohne Reim und Rhythmus, ja ohne Rücksicht auf den sprachlichen Wohllaut (z. B. das realistische Drama).

Mit diesen drei Faktoren aber, die wir als die wesentlichen, notwendigen Bestandteile jedes Wortes und Wortkomplexes erkannt hatten, kommen wir bei der Beschreibung eines poetischen Gegenstandes offenbar nicht aus. Es fehlt nämlich das Stimmungsmoment, das dem Ganzen und seinen Teilen (und zwar wiederum den "sinngemäßen" Einheiten, nicht den "rhytmischen") adhäriert [haftet - wp], wie wir auch von einer solchen Adhärenz der "psychischen Faktoren" an den Tonkomplex der Musik sprachen. Es fehlt andererseits vor allem das Moment des "Ausdrucks", das wir vom ersteren auch schon bei der Musik unterschieden hatten, das aber hier eine weit bedeutendere Rolle spielt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß jene stürmische Liebe, die wir vorher als den "gemeinten Gegenstand" des Gedichts ansahen, richtiger noch (wenigstens in erster Linie) als das in demselben "Ausgedrückte" zu bezeichnen ist.

Wir hatten bisher nicht betont, aber es ist leicht einzusehen, daß der in einem einzelnen Fall mit einem Wort oder einem Wortkomplex gemeinte Gegenstand abhängig ist vom zufälligen Zusammenhang der Rede, von der Persönlichkeit des Sprechenden, von der momentanen Umgebung desselben;, "dieser Tisch" bezeichnet je nach all diesen Bedingungen einmal dieses und dann wieder jenes Objekt. Ohne diese Bedingungen zu kennen, können wir wohl die (immer identische) Bedeutung der beiden Worte verstehen, allenfalls wissen, daß sie auf irgendein bestimmtes Objekt gemünzt sind, können aber schlechterdings nicht wissen,, welches Objekt gemeint ist. Und so in allen Fällen, wo nicht die Bedeutung bzw. der Begriff des Wortes selbst gemeint ist. Wenn wir nun einmal die Sachlage so realpsychologisch ins Auge fassen, so müssen wir noch weiter gehen und sagen: jedes Wort ist eine Menschenwort, die Äußerung eines uns bekannten oder unbekannten Menschen und erlaubt als solches stets, wie jede willkürliche oder unwillkürliche Handlung eines Menschen, Rückschlüsse auf die Ursache, inbesondere hier also die psychische Ursache, mag dieselbe nun ein Gedanke, ein Wollen oder ein Gefühl (50) oder auch all das zusammen sein. Dieses Hineinbeziehen der Persönlichkeit des Redenden ist nicht notwendig und spielt in der Wissenschaft normalerweise keine Rolle, daher haben wir mit HUSSERL in der Voruntersuchung das Wort in der engeren Fassung abgegrenzt, wo es sich nur aus Zeichen, der Bedeutung und den Gegenstand konstituiert. Jetzt aber bei der Kunst müssen wir diese Fassung erweitern; jede direkte Rede in der Kunst "sagt" nicht nur "aus", sondern "drückt" auch "aus". Das, was wir nämlich realpsychologisch als "Rückschluß" neu auffanden, das finden wir bei der phänomenologischen Analyse als ein deskriptives Moment wieder (51).

Ein Ausdruck wie "oh!" oder "ah!" sagt gar nichts aus und hat keine Bedeutung, ist also kein Wort in dem früher abgegrenzten Sinn, aber er "drückt" etwas "aus": Schrecken bzw. (freudiges) Erstaunen, und es ist ohne weiteres ersichtlich, daß dieser psychische Affekt ebenso unmittelbar nur in anderer Weise mit dem Lautzeichen verbunden ist, wie die "Bedeutung" eines Wortes, und nicht erst eines wirklichen "Rückschlusses" bedarf, daß er sich also deskriptiv am Phänomen nachweisen läßt. Dies ist das Ausdrücken im engsten Sinn. Nahe verwandt aber ist damit der andere Fall, daß jemand ausruft "Schaf"! Dies ist zunächst nichts als die Benennung einer Person (diese ist "der gemeinte Gegenstand", der mittels der "Bedeutung" des Wortes "Schaf" benannt wird), indirekt aber wird damit natürlich dem Gedanken "Ausdruck" gegeben, daß der Redende den Gegenüberstehenden (52) für einen dummen Kerl hält, sekundär dann äußert sich auch noch der Ärger des Redenden, also wie vorher ein Affekt. Sage ich schließlich imperativisch "geh!", so wird damit wiederum nicht nur etwas ausgesagt, sondern es "äußert" sich auch etwas, nämlich der Wille des Redenden, den anderen zum Fortgehen zu bewegen, gleichzeitig (durch die kurze Form des Ausdrucks) seine ärgerliche, ungeduldige Stimmung.

Die Beispiele waren absichtlich extrem gewählt, mehr oder weniger ist aber offenbar jedes Wort der lebendigen Rede auch "Ausdruck". Sofern die Kunst die lebendige Rede wiedergibtm, also die direkte Rede gebraucht mit "ich" und "du" und "dieser" usw., muß sie natürlich die Worte auch mit Rücksicht auf das, was sie äußern, verwenden; wir wollen kurz sagen: als "Ausdrücke" verwenden, so daß also der Terminus "Ausdruck" das reichere Phänomen bezeichnet, welches außer der meinenden, "bedeutenden" Funktion diese Funktion des quasie indirekten Mitbezeichnens, des Ausdrückens im engeren Sinne besitzt. Wir wollen zur Erläuterung hinzufügen, daß bei Gedichten der Ausdruck von Gefühlen, bei Dramen z. B. aber auch gerade der von Absichten, Wünschen und Wollungen eine Rolle spielen wird. (Wenn der Marquis Posa der Königin von Spanien die scheinbar so fernliegende Geschichte von "Fernando" und "Mathilde" erzählt, so sollen wir dabei den geheimen Zweck herauslesen, den er dabei verfolgt usw.) Und es ist ohne weiteres verständlich, in welchem Sinn man hiernach eine wesentlich subjektive Ausdruckspoesie und eine objektive Poesie unterscheiden kann (53), je nachdem die Worte wesentlich als Ausdrücke fungieren oder nicht. Ich habe das Beispiel ("Ungeduld") aus der Ausdruckspoesie gewählt, um gerade dieses phänomenologisch noch nie vom gemeinten Gegenstand getrennte Moment, das für die Kunst so charakteristisch, für die Ästhetik daher so wichtig ist, gut veranschaulichen zu können.

Das Thema "Ungeduld" ist nämlich unverkennbar die in jeder Sprache, in jedem Vers sich "äußernde" Stimmung des (supponierten) Redenden, nicht aber wirklich der ausgesagte und gemeinte Gegenstand. Ausgesagt ist einmal der Wunsch, die Worte "Dein ist mein Herz usw." in alle Rinden einzuschneiden, dann, sie in jeden Kieselstein einzugraben usw. All das steht nun zu der ungeduldigen Sehnsucht, die Geliebte seine Liebe wissen zu lassen, nicht im Verhältnis des Bedeutens, sondern eben des Ausdrückens. Und so ist dieses Gedicht in der Tat, wie schon der Titel andeutet, ein extremer Fall von Ausdruckspoesie, wo die Stimmung der ungeduldigen Sehnsicht in immer neuen und neuen Formen Ausdruck findet. Davon ist das andere vorher erwähnte Moment des "Stimmungscharakters" durchaus zu scheiden.

Erstens nämlich kommt natürlich auch der Poesie, die nicht in diesem Sinne "Ausdruckspoesie" ist, ein Stimmungscharakter zu (ohne das dürfte es überhaupt nicht Kunst sein, denn die Wertung scheint gerade an diesen anzuknüpfen, wie wir schon bei der Musik andeuteten). Auch die epische Schilderung einer Landschaft, die als Ausdruck der Gefühle des Dichters aufzufassen natürlich völlig den Forderungen des Kunstwerks widersprechen würde, wird von einer Stimmung der Großartigkeit oder Lieblichkeit usw. erfüllt sein. Zweitens aber kann das sich äußernde Gefühl sogar mit der (beabsichtigten, also) dem Kunstwerk adhärierenden Stimmung in Widerspruch stehen, so z. B. in einem humoristischen Gedicht, das etwa einen wortreichen Liebesschmerz ausdrückt, aber denselben parodiert und mit einem kritischen Lächeln gelesen sein will (54). Diese Unabhängigkeit von "Stimmungscharakter" und "Ausdruck" findet sich aber vor allem im Drama, überhaupt der komplizierten Dichtung, die in einem einzigen Rahmen mehrere Personen auftreten läßt, deren ausgedrückte Gefühle häufig miteinander kontrastieren, während doch eine einheitliche Stimmung das poetische Ganze oder den Teil umfaßt.

Ebenso wie es Gegenstände niederer und höherer Ordnung bis herauf zum "letztenendes gemeinten" Gegenstand gibt, so setzen sich natürlich auch die denselben adhärierenden Stimmungen nicht einfach additiv zusammen, sondern superponieren sich in ganz eigenartiger Selbständigkeit, so daß auch ein letztenendes tragisches Stück (eine "Tragödie") sehr wohl völlig heitere, mit nichts Traurigem untermengte Partien haben kann, über die sich die tragische Stimmung des Ganzen wie in einer höheren Schicht ausbreitet (55). So superponiert sich in unserem Gedicht die traurige Stimmung der Schlußworte "Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben" über den ungetrübt seligen Liebesjubel jeder Strophe und jedes Verses; (56) - wobei wir natürlich eine völlige Bekanntheit mit dem Gedicht voraussetzen, da wir sogar eine adäquate Anschauung postulierten. Nur das letzte Mal wird der Refrain "Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben" direkt beeinflußt von der Stimmung der vorausgehenden Worte. Übrigens ist die (mehrstimmige) Musik wohl besonders befähigt, derartige Superpositionen von Stimmungen wiederzugeben. - Wir haben nun endlich noch die Interessenverteilung kurz anzudeuten, die wir früher einer neuen Dimension verglichen haben, (57)in der sich all jene bisher aufgezählten Momente erstrecken.

Wenn wir nämlich zu Beginn dieses Abschnittes sagten, das, was wir analysieren wollten, sei "das Blickfeld der Aufmerksamkeit so, wie es sich darstellt, wenn es in der von einem ästhetischen Gegenstand vorgeschriebenen Weise ausgefüllt ist", kurz: das "Gegenstandsfeld" der ästhetischen Meinung, so schloß dieser Ausdruck im Grunde zweierlei in sich: erstens das Gegenstandsfeld im Sinne bloßer intentionaler Gegenständlichkeit - das ist es, was wir bisher analysiert haben -; zweitens aber das Feld der Gegenstände der Aufmerksamkeit im spezielleren Sinn des "Interesses", also das vorher Beschriebene mit den Schattierungen, die das Interesse hineinbringt und die dem Ganzen gewissermaßen die "Tiefe" geben, in dem Sinne also, wie man von einem Moment zu sagen pflegt, daß es im "Vordergrund", vom anderen, daß es im "Hintergrund" des Interesses steht. Und zwar handelt es sich hier nicht um eine subjektive, zufällige Zuwendung des Interesses, sondern um die vom Gegenstand geforderte, über die sich jene subjektive, zufällige unabhängig, aus irgendwelchen momentan bestimmenden, z. B. kritischen Gesichtspunkten heraus (unter Umständen) superponiert.

Wir hoben nun beim Einzelwort hervor, daß "gewissermaßen die pointierende Aufmerksamkeit (nicht auf das Zeichen, sondern) auf das Bezeichnete gerichtet ist" und daß "der wesentliche Kern eines Wortes" "die Bedeutung" ist, "die - einen Gegenstand meint". Zum "Wesen" gehörig, also schlechterdings unentbehrlich ist natürlich jeder der drei Faktoren; wenn wir daher einen derselben auszeichnen, so bedeutet das nicht, daß er besonders unentbehrlich wäre, sondern daß er in der geforderten Interessenverteilung ausgezeichnet ist. In dem Sinne haben wir bei der Beschreibung des "wesentlichen Kerns" des Wortes die "Bedeutung" (dem "Zeichen" und dem "Gegenstand") vorangestellt, und in eben diesem Sinn ist also die Aufmerksamkeitsbevorzugung zu verstehen, die wir dem "Gegenstand" zugeschrieben haben (58).

Während also das Zeichen der Träger der Bedeutung und diese ihrerseits sozusagen der Träger des bedeuteten Gegenstandes ist, ist die Reihenfolge dieser Momente in ihrem Interessenwert eine andere: an erster Stelle steht normalerweise der gemeinte Gegenstand, dann folgt die Bedeutung und dann erst das Zeichen.

Beim ästhetischen Gegenstand nun verschiebt sich diese Reihenfolge, insofern die "Bedeutung" dem "Gegenstand" gegenüber an Wichtigkeit zunimmt; außerdem tritt der "Ausdruck" (d. h. das Ausgedrückte) diesem letzteren gegenüber mehr oder weniger in den Vordergrund und teilweise an dessen Stelle. Fassen wir diese vier Momente als den "Kern" des poetischen Gegenstandes zusammen, so reiht sich ihnen als Nächstfolgendes der "Stimmungston" an, und als letztes wären die Vorstellungen, Gefühle und Wollungen zu erwähnen, soweit sie der Bedeutung und dem Ausdruck eine anschauliche Fülle zu geben haben. Der größte Teil derselben aber gehört offenbar nicht mehr in diese engere Sphäre des Interesses, die wir bisher im Auge hatten, die Sphäre des "Gemeinten".

Überschreiten wir jetzt die - natürlich nicht scharfe - Grenze, so kommen wir in die Sphäre des "Mitgemeinten". Hierher gehört erstens die früher schon erwähnte "zeitliche Umgebung". Hiervon abgesehen wird diese Sphäre vor allem erfüllt von der ganzen Welt der den Bewußtseinshintergrund ausfüllenden visuellen und akustischen Vorstellungen usw., soweit nicht ein ganz besonderer Nachdruck auf ihnen liegt; und hierin ist schließlich drittens alles zu rechnen, was (realpsychologisch gesprochen) irgendwie assoziativ "miterregt" wird (d. h. natürlich bestimmt ist, miterregt zu werden); diese Phänomene ("Gedanken" oder dgl.) stehen dann selbstverständlich in den mannigfachsten indirekten Adhärenzverhältnissen zum eigenlichen "Kern", doch können wir darauf hier nicht weiter eingehen. Ich führe nur als Beispiel an ein Wort das "Zitat" ist oder wenigstens "anklingt" an eine bekannte Stelle einer Dichtung oder selbst nur an eine gewisse Gebrauchssphäre erinnert, an die Bibel oder das Studentenleben usw.

Dies mag dem Zweck dieser Analyse, einen Überblick über die Mannigfaltigkeit zu geben, ohne das Ganze aus den Augen zu lassen, genügen.


c) Detailanalyse

Wir wollen nun den Anfang unseres als Beispiel herangezogenen Gedichts "Ungeduld" noch einmal auf die feineren Details hin analysieren, da sich gerade dabei die phänomenologische Methode als besonders heuristisch bewährt und wir so eine Vorstellung von der außerordentlichen Komplikation der Aufgabe geben können, die selbst ein relativ so einfaches poetisches Kunstwerk wie dieses kleine Gedicht an den Hörer und Leser stellt. Diese ganz überraschende Kompliziertheit aber ist, wie leicht einzusehen ist, speziell im Hinblick auf die Frage nach der Evidenz ästhetischer Werturteile von außerordentlicher Bedeutung. Denn ein Werturteil, das irgendeinen Anspruch auf Gültigkeit erheben will, darf nicht einfach einen zufälligen, subjektiven Eindruck des Sympathischen, Angenehmen usw. in das Objektive umwenden, sondern muß fundiert sein in die vollständige Erfassung des gewerteten Gegenstandes.

Daß der Titel außer der bloßen Benennungsfunktion die andere wesentliche Funktion hat, darauf hinzuweisen, daß das Nachfolgende als ein Gegenstandsganzes aufgefaßt werden soll, erwähnten wir schon, doch diese Bemerkung betraf nur das Wesen eines Titels überhaupt.

Die Wahl des besonderen Titels ist ihrerseits beachtenswert. Er heißt nicht "Die Ungeduld" oder gar "Über die Ungeduld", sondern nur "Ungeduld". Darin liegt angedeutet, daß "die Ungeduld" in diesem Gedicht nicht "behandelt", daß nicht "über" dieselbe etwas ausgesagt wird und sie nicht in diesem Sinn "Gegenstand" des Gedichtes ist, sondern daß sich vielmehr Ungeduld darin "ausdrückt". Ein solcher Titel ist nämlich offenbar als verkürzter Satz aufzufassen; das Gedicht ist durch ihn also als Ausdruckspoesie gekennzeichnet. Zweitens, bzw. drittens bereitet er uns nun auch vor auf das, was ausgedrückt wird durch die besondere Bedeutung des Wortes. Und diese Vorbereitungsfunktion spielt nicht etwa nur beim erstmaligen Lesen, dem Kennenlernen einer Rolle, sondern man kann geradezu sagen, die Überschrift gibt die (leere) Intention, der das Gedicht nachher sukzessive die "Fülle" zu geben hat. In unserem Fall ist sie aber noch insofern von besonderer Wichtigkeit, als sie zur Eindeutigkeit des Kunstwerks wesentlich beiträgt. Ohne sie nämlich würden die ersten drei Strophen naturgemäß (59) als bloßer überströmender Liebesjubel aufgefaßt werden, wie das auch SCHUBERT, nach der Komposition zu urteilen, offenbar getan hat (60), und erst beim letzten Vers würde sich die Trauer hineinmischen: "Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben!" Diese Auffassung liegt so außerordentlich nahe, daß man sich anfänglich geradezu über die Wahl des Titels wundert, solange bis man erkennt, daß das ganze Gedicht von Anfang an unter diesem schmerzlichen Gefühl stehen soll (und kann), daß all diese neuen und immer neuen Wendungen nicht Formen sind, in denen sich ein von Liebesjubel übervolles Herz Luft macht, sondern Formen, in denen der Liebende der Geliebten kundgeben möchte, was sein "stummer Mund" nicht zu sagen wagt (61); das Wasser, die Lüfte, die Blumen, seine Mienen sollen es ihr verraten; da sie es dort nicht herausliest, noch nicht herausgelesen hat, so wagt er nicht an ihre Gegenliebe zu glauben und ihr mit Worten seine Liebe zu gestehen (62).

Wenden wir uns nunmehr dem eigentlichen Kunstwerk und speziell dem ersten Vers zu, so ist etwa Folgendes zu sagen: Dieser Vers - "Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein" - ist, rhythmisch und als "sinngemäße Einheit" betrachtet, ein relativ abgeschlossenes Ganzes; jedoch durchaus nur relativ, denn er ist Teil des größeren Rhythmusganzen "Strophe" und ist auch kein wirklich vollständiger Satz, insofern als das "es" nur eine vorläufige Einschiebung ist, um uns wegen des fehlenden Objekts zu beruhigen, das erst im Refrain des Gedichts "Dein ist mein Herz -" gegeben wird. Vom Vers als Ganzem, und insbesondere vom "es" geht also eine unbefriedigende Intention aus, die erst in diesem letzten Vers ihre Erfüllung erfährt; ebenso wie auch eine Rhythmusintention auf das Ganze der Strophe geht, die gleichsam wie ein Versfußschema sukzessive erfüllt wird. Endlich enthält der Lautzeichenkomplex hier (bei dieser "Sprachpoesie") außerdem noch in klanglicher Hinsicht eine auf das Folgende hinweisende, hier noch unbefriedigte Intention in dem "Reim", der den Vers gleichsam als Hälfte des aus zwei aufeinanderfolgenden Versen bestehenden "Reimganzen" erscheinen läßt. (63)

Eine vierte Dimension aber, die an das durch den Refrain ergänzte Versganze anschließt (und ebenso nachher an jede andere der Ausdrucksformen: "Ich grüb' es gern -" usw.) ist dann die, welche auf der Auffassung als "Ungeduld" beruth, wie sie der Titel fordert, also ein Sinn- und Ausdrucksintention, die ihre eigentliche letzte Erfüllung nach der fast durch die ganzen Strophen sich hindurchziehenden Vorbereitung in den kurzen Worten findet: "Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben!" Das ist also eine Intention, die den ersten Vers mit den allerletzten verbindet und insbesondere das Ausdrucksganze herstellt, und umgekehrt natürlich den ersten Vers (auch mit seiner Ergänzung: "Dein ist mein Herz -") als eine unselbständige Einheit hinsichtlich des Ausdrucks erscheinen läßt (64).

Wir wenden uns nunmehr vom Versganzen den, als Einheiten zuerst in die Augen springenden, Einzelworten zu. Das erste Wort ist "Ich", dieses hat seine "Bedeutung" und meint einen "Gegenstand"; ich kann, wie gesagt, HUSSERL darin nicht zustimmen, daß diese Bedeutung von Fall zu Fall wechselt, aber der "gemeinte Gegenstand", die gemeinte Person im allgemeinen sicherlich. Hier aber ist sie offenbar nicht, je nach der Person des Lesenden (bzw. des Rezitators) eine andere und wieder andere, sondern gemeint ist immer "der" Müllerbursche dieser Lieder. Was im Fall verschiedener Rezitatoren wechselt, ist also nicht von einem wesentlichen Kern des Kunstwerks, sondern sind nur "Fülle" gebende Anschauungen. Dieses Verhältnis der Persönlichkeit des Rezitierenden zum Kunstwerk müssen wir aber noch näher ins Auge fassen. Dieser ist nämlich erstens nur in ganz entfernt bildlicher Weise, und nicht wie der Schauspieler, direkter Repräsentant der gemeinten Persönlichkeit (65), kann der auf sie zielenden Intention daher auch keine eigentliche anschauliche Fülle geben. Die fundamentale Rolle des Rezitators aber ist nich die des Repräsentanten (eines Redenden), sondern die des "Erzählers" (66).

Jedes Wort nämlich ist, wie wir schon einmal betonten, Menschenwort, ganz unabhängig davon, ob es sich zufällig um eine direkte Rede handelt, wie in unserem Beispiel. Seit der Erfindung der Schrift und des Phonographen kann uns zwar scheinbar ein selbständiges Wort und ein selbständiges Gedicht entgegentreten, aber natürlich nur scheinbar, und zum Wesen eines Wortes gehört immer noch das Zurückweisen auf einen redenden Menschen, wenn auch nur als den "mitgemeinten Träger" desselben, so wie bei der Musik. Und als solcher Träger des Wortes hat der Lesende in erster Linie zu fungieren. Wenn er zur direkten Rede übergehend dann eine Persönlichkeit als redend darzustellen hat, so ist das gewissermaßen eine Rolle in der Rolle des "Erzählers" (67). Un in dieser zweifachen Funktion gehört nun also auch in unserem speziellen Fall, beim Wort "Ich", die Persönlichkeit des Redenden hinzu. Daß nun der Müllerbursche, den der Erzähler selbst reden läßt, überdies noch von sich selbst redet, mit dem Wort "Ich" auf sich selbst hinweist, ist eine besondere Implikation.

Wir haben das Wort "Ich" bisher wie früher, d. h. wie ein einzelstehendes, ins Auge gefaßt. Wenn wir nun aber das zweite Wort ("schnitt") mitberücksichtigen, so wird es zweifelhaft, ob wirklich jedem derselben eine besonderer intentionaler Gegenstand zugehört. Das ist natürlich eine Frage von ganz fundamentaler Bedeutung nicht nur für die Poesie allein.

In einer Sprache wie dem Lateinischen würde bekanntlich dieses "Ich" keine gesonderte Übersetzung (etwa durch "ego") erfahren; der bloßen charakteristischen Endung aber würde offenbar niemand einen gesonderten intentionalen Gegenstand zuschreiben. Entweder ist nun keine getreuer Übersetzung (68) von all dergleichen Wortkomplexen möglich, die im Deutschen in dieser Weise ein Personalpronomen oder einen Artikel enthalten, oder das deutsche "Ich" ist äquivok und in solchen Fällen wie dem vorliegenden ist nur das äußere Symbol, nicht aber eine Bedeutung und ein gemeinter Gegenstand in zwei Teile gegliedert. Ich glaube, daß man entschieden von einer Äquivokation reden muß, daß aber trotzdem die Übersetzung in das Lateinische nie vollkommen adäquat sein kann. Denn eine Übersetzung ohne Personalpronomen kann den gemeinten ästhetischen Gegenstand offenbar nie getreu wiedergeben; das sieht man gerade hier sehr deutlich, wo ein Vers nach dem anderen mit diesem "Ich" anfängt:
    Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein,
    Ich grüb' es gern in jeden Kieselstein,
    Ich möcht' es sä'n auf jedes frische Beet usw.
Durch diese Wiederholung wird das Immer-neu-einsetzen besonders deutlich zum Ausdruck gebracht, und zwar spielt dabei nicht das bloße identische Lautzeichen, sondern das Lautzeichen, das zugleich eine identische Bedeutung besitzt, (die Gleichheit des "Wortes") eine Rolle. Denn wenn drei Verse etwa mit der gleichen Silbe "bal" begännen, aber die eine mit dem Wort "Ball", die andere mit "baldig", die dritte mit "Baldrian", so würd das entschieden nicht die gleiche Wirkung ausüben. Aber trotzdem kann man wohl kaum dem "Ich" einen selbständigen intentionalen Gegenstand zusprechen, sondern nur eine selbständige Bedeutung. Das "Ich" ist keine Form, mittels deren auf die Person des Müllerburschen hingewiesen wird; wenn etwas gegenständlich ist, so ist es die Bedeutung "Ich". Abgesehen davon aber kommt den Worten "Ich schnitt' ein", ja ich glaube sogar dem noch größeren Wortkomplex "Ich schnitt' es gern ein" ein gemeinsamer gemeinter Gegenstand zu, in dem nur potentiell jene Einzelgegenstände implizit enthalten sind in dem Sinne, daß, wenn man die Einzelworte (sozusagen entgegen den Forderungen des ästhetischen Gegenstandes) einzeln beachtet, dann jene Gegenstände sich aus dem Ganzen herausschälen, als ob sie darin gesteckt hätten. Danach wird also der erste intentionale Gegenstand des Gedichts erst vollständig mit dem Ende des ersten Verses, und die auf denselben gerichtete Intention erfährt also erst beim Wort "ein" ihren Abschluß. - Von der gesonderten Behandlung des Wortes "schnitt'", dessen Unselbständigkeit sofort in die Augen fällt, können wir absehen.

Was nun aber das Verhältnis dieser bisher in Betracht gezogenen beiden ersten Worte anbetrifft, so ist zu sagen, daß sie als Lautzeichen natürlich aneinander grenzen und außerdem der Einheit eines Versfußes angehören. Endlich haben sie mit "ein" bzw. "es gern ein" zusammen einen intentionalen Gegenstand gemein. Nun fragt es sich aber, worin das Verhältnis von "Subjekt" und "Prädikat" liegt, das man den beiden nach der üblichen Redeweise zuschreibt. Hierfür bleibt offenbar nur das "Bedeutungs"moment übrig. In der Tat sind es die Bedeutungen, die sich in diesem Verhältnis zu einem Ganzen einigen oder: das Satzganze gliedert sich in Bedeutungsteile, die in diesem ganz einzigartigen Verhältnis zueinander stehen, das - jedenfalls in diesem Zusammenhang - nicht weiter zu beschreiben ist (69). Und diesem gliedert sich dann (hinsichtlich seiner Bedeutung) das "es" als "Objekt" an, das wiederum keine Übersetzung im Lateinischen finden würde und das keinen eigenen intentionalen Gegenstand hat, das überhaupt sozusagen nur ein Pseudoobjekt ist. Folgte der Refrain sofort, so würde natürlich nicht erst dieses Wörtchen vorgeschoben, daher ist dieses kleine Wort also eine Vorbereitung darauf, daß sich noch mancherlei andere Wendungen dazwischenschieben, bis der letzten Endes gemeinte Gegenstand wirklich zur Aussprache kommt.

Während nun bei den beiden ersten Worten von Ausdrucks- oder Stimmungscharakter noch nicht die Rede sein konnte, kann man hier wohl sagen, daß die auf den letzten Vers gerichtete Intention von einem gewissen Gefühl der Spannung begleitet ist, ein Gefühl, das sich natürlich bei jeder Wiederholung des vorweisenden "es" (der folgenden Verse) steigert, während die rein sachliche Intention nur eine einfache Wiederholung erfährt. Dieses Spannungsgefühl, das in seinem wesentlichen Bestandteil nicht nur beim erstmaligen Lesen vorliegt, wo es von Spannung in einem noch spezielleren Sinn begleitet ist, nämlich der, die nachher eine "Überraschung", "Enttäuschung" usw. erfährt, dieses Spannungsgefühl ist also das erste uns entgegentretende Stimmungsmoment. Es ist sofort ersichtlich, daß dies in eine ganz andere Kategorie gehört als z. B. die "ausgedrückte" Stimmung der "Ungeduld", die übrigens erst bei einem größeren Stück des Kunstwerkes zur wirklichen Ausprägung kommen kann.

Und wiederum in eine völlig andere Klasse gehört das Gefühl, das nun von dem darauf folgenden Wort "gern" bezeichnet oder gegenständlich "gemeint" wird, wie wir uns ausdrückten; natürlich nicht "substantivisch" gegenständlich und insofern auch nicht "ein Gefühl", sondern ein Teil in und eine Nuance am gesamten Gegenstandsganzen: "Ich schnitt' es gern ein". Auch dieses Wort ist natürlich in seiner Weise (hinsichtlich der Bedeutung) an den vorangehenden Bedeutungskomplex und, wie ersichtlich, speziell an "schnitt" gebunden. Auch diese Verbindungen werden durch "Intentionen" hergestellt, die sich vom Subjekt auf das Prädikat und (Pseudo-)Objekt erstrecken, d. h. durch Intentionen, die jeweils durch das betreffende Wort ihre ganze oder partielle Erfüllung finden, und in dieses Gewebe wird auch das "gern" hinein verstrickt. Deutlicher als diese bisherigen Intentionen ist dann die vom Satzanfang und speziell dem "schnitt" auf das "ein" abzielende Intention. Hat man diese in die Augen fallenden aber erst einmal in ihrem wesentlichen Kern erkannt, so findet man auch die, welche die Zusammenhänge der anderen Teile herstellen. Es erübrigt sich wohl, die Analyse weiter fortzuführen, da uns hier nur das Prinzipielle interessiert.

Die bisherige Beschreibung faßte nur das, was wir den "Kern" des ästhetischen Gegenstandes nannten, ins Auge. Wenn wir noch einen Blick auf die Sphäre des "Mitgemeinten" werfen wollen, so wären vor allem die "Fülle" gebenden, illustrierenden Vorstellungsbilder zu beachten. - Der Satz als (bedingter) Wunschsatz, das "Gerne"-einschneiden-wollen ist natürlich nicht visuell zu illustrieren. Das was dieser Satzmeinung die Fülle gibt, ist der erlebte Wunsch (respektive die Vorstellung dieses Wunsches, welches von beiden, brauchen wir hier nicht zu entscheiden). Dagegen sind die "Rinden" beispielsweise "vorstellbar" in einem visuellen Sinn. Auch das "Ich" als Müllerbursche. Zu unterscheiden ist jedoch offenbar die Jllustrierung der "Bedeutungen" und die der gemeinten Gegenstände. Denn die Bedeutung, der Begriff von "Ich" ist natürlich nicht visuell illustrierbar, sondern nur durch etwas, was man wohl Ichgefühl oder auch Ichbewußtsein genannt hat, der Müllerbursche aber, der letztenendes - zumindest beim isolierten Wort - als der gemeinte Gegenstand zu gelten hätte, ist durch Phantasievorstellungen zu veranschaulichen. Denkt man sich denselben aber auch in der Situation, vor dem Baum stehend, im Begriff, die Worte der Liebe in die Rinde einzuschneiden, so wäre damit, wie die nähere Überlegung leicht zeigt, doch durchaus nicht der ausgesprochene Sachverhalt illustriert, sondern Anschauung und Satzintention stehen in einem anderen, entfernteren Verhältnis, jene ist durchaus nur ein "indirekter Repräsentant" für den bedeuteten Gegenstand (70).

Hier aber tritt nun eine Eigenart des ästhetischen Gegenstandes auf, die ihn von allen sonstigen Wortkomplexen unterscheidet: jedes poetische Kunstwerk fordert nämlich ein bestimmtes Tempo und das vorliegende ein so schnelles, daß an ein deutliches Ausmalen all der schnell wechselnden Bilder gar nicht zu denken ist. Aber nicht nur, daß dies den Menschen realiter bei normaler Konsitution nicht möglich ist, sondern, wenn es wirklich jemandem gelänge, so wäre es nicht im Sinne der Forderungen des ästhetischen Gegenstandes. Denn die immer wieder neuen, sich förmlich überstürzenden, bildhaften Wendungen sind Ausdruck einer hastenden, nichts festhaltenden Phantasietätigkeit; mit diesem Zustand des Hastens aber verträgt sich seinem Wesen nach ein ruhiges Ausmalen nicht (71). Und dieser Zustand soll in uns anschaulich, lebendig nachempfunden und nicht nur ("intellektuell") in einer bloßen, leeren "Auffassung als Ausdruck von Ungeduld" vorhanden sein; denn die "Ungeduld" ist das "Thema" des Gedichts.

Doch wir müssen uns hier mit der Heraushebung dieser wesentlichsten Momente begnügen.


d) Die Identität des
ästhetischen Gegenstandes

Was wir bisher zu beschreiben versucht haben, ist das Gegenstandsfeld, wenn es, den Forderungen des ästhetischen Gegenstandes entsprechend, erfüllt ist. Wir müssen jetzt aber wie früher fragen, wie streng die Forderungen sind, und speziell ob dies der ästhetische Gegenstand selbst ist, auf den wir es abgesehen hatten, oder nur eine der möglichen Wahrnehmungen, der möglichen "Ansichten" desselben, derart, daß es noch andere Fälle gibt, wo man von einer "Wahrnehmung desselben Gegenstandes" reden kann, und schließlich, was bei einer Überschreitung dieser Identitätsgrenze entsteht.

Wir unterschieden vier wesentliche Elemente, aus denen sich ein solcher poetischer Gegenstand in eigenartiger Weise zusammensetzt: Lautzeichen, Bedeutung, gemeinter Gegenstand und schließlich Ausdruck, bzw. ausgedrückter Gegenstand. Jedes dieser Momente besitzt zunächst eimal eine Sphäre der Irrelevanz, innerhalb deren Veränderungen möglich sind, ohne die Identität des Gegenstandes zu gefährden und ohne den Gegenstand in anderer "Ansicht" oder unvollkommener Realisation zu bieten.

Erstens können Aussprache, Sprechhöhe, Tonfall, Betonung, Tempo (72) usw. derartig innerhalb gewisser Grenzen variieren. Wir können hier nur andeuten, wie sich die verschiedenen Momente in dieser Beziehung verschieden verhalten, also gewissermaßen eine verschiedene Empfindlichkeit (gegen Schwankungen) besitzen; dieselbe wird offenbar mit der Bedeutung des Moments, aber nicht mit dieser allein, wachsen.

Die Aussprache besitzt von den obengenannten Momenten vielleicht die größte Empfindlichkeit; denn jedes Fremdartige darin, wie es der Ausländer zu haben pflegt, und jedes Dialektische macht aus der eindrucksvollen, idealen Rezitation eine bloße Bemühung und Wiedergabe (73), die leicht sogar den Charakter des Lächerlichen annimmt. Dabei genügt es, wenn die Abweichungen auch nur einen einzigen Laut betreffen, z. B. das s oder r, das der Vortragende etwas lispelt oder schnurrt, Abweichungen, die objektiv, naturwissenschaftlich betrachtet, ganz verschwindend klein sind im Vergleich mit zulässigen Abweichungen in anderer Hinsicht.

Die absolute Sprechhöhe z. B. kann, das sieht man sofort, innerhalb mehrerer Töne, ja Oktaven variieren, ohne die Vollkommenheit der Wiedergabe (74) wesentlich zu gefährden. Nur dürfte vielleicht ein Gedicht wie unser Beispiel an die Wiedergabe durch eine Männerstimme insofern gebunden sein, als es sonst doch wohl den Charakter der Bildlichkeit annimmt. Obwohl nämlich der Rezitator nur in entfernter Weise Repräsentant des Sprechenden ist und kein wirklicher Darsteller, wie der Schauspieler, so entsteht bei einer so ausgesprochen subjektiven Ausdruckspoesie (75) doch ein gewisses Gefühl der Diskrepanz, als Anzeichen, daß die Wiedergabe nur als eine uneigentliche aufgefaßt ist (76). Dagegen ist allerdings die Wiedergabe schon sehr viel sensibler gegen Variationen der relativen Tonhöhe bei einem Sprechenden; denn die in die Höhe geschraubte Stimme ist durchaus nicht mehr imstande, den poetischen Gegenstand "selbst" wiederzugeben. Übrigens ist dies, naturwissenschaftlich betrachtet, genau genommen eine Empfindlichkeit gegen die Klangfarbe, nicht gegen die Höhe.

Und wie gegen die persönlich-relative Tonhöhe, so ist die Poesie auch gegen die relative Tonhöhe im Sinne des Tonfalls wesentlich empfindlicher. Doch wir können dies hier nur andeuten.

Bei der Bedeutung muß man vor allem die Weite derselben im Hinblick auf die Gegenstände, die sie umfaßt, von ihrer Unbestimmtheit im Sinne der Irrelevanz unterscheiden. Doch ist es wohl selbstverständlich, daß wir nicht jedesmal wirklich identisch dasselbe Bedeutungserlebnis haben, wenn wir ein Wort verstehen. Was man bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit zunächst entdeckt, sind aber immer Variationen in den repräsentierenden (oder illustrierenden) Vorstellungen oder auch in den gemeinten intentionalen Gegenständen. Von diesen letzten ist es leicht nachzuweisen, z. B. von dem mit dem "Ich" gemeinten Müllerburschen, daß sie variieren können. Man kann sich denselben groß oder klein, ein Jahr älter oder ein Jahr jünger vorstellen, der ästhetische Gegenstand, das Gedicht als Ganzes bleibt deshalb durchaus "dasselbe". Wir hatten jedoch korrigierend gesagt, daß der Müllerbursch, als der mit dem verselbständigten "Ich" gemeinte Gegenstand, nur "implizit" mitgemeint ist, es wäre also erst zu untersuchen, wie oder ob überhaupt ein Gegenstandsganzes von den Änderungen seiner implizit mitgemeinten Teile mitbeeinflußt wird. Und andererseits hat man sich zu hüten, den gemeinten Gegenstand nicht mit den illustrierenden Vorstellungsbildern zu verwechseln; bei diesen ist es noch offensichtlicher, daß sie im weitesten Umfang variieren können. "Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein" läßt der Phantasie unendlich weiten Spielraum: jeder Müllerbursche, jede Art von Messer, jeder Baum kann dafür als indirektes, "Fülle" gebendes Moment dienen, ohne daß sich daraus eine ebenso vielfache Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes oder auch nur ein mehr oder weniger hoher Grad der Realisation ergäbe; all diese Variationen sind durchaus irrelevant.

Dagegen besitzt der Ausdruck entsprechend seiner fundamentalen Bedeutung gerade für die Ausdruckspoesie eine äußerst geringe Variationsmöglichkeit, und eine noch so kleine Abweichung macht leicht schon einen wesentlich "anderen" Gegenstand daraus.

Wird nun die Irrelevanzsphäre überschritten, so kann, wie schon erwähnt, Verschiedenes eintreten. Erstens kann die Realisierung unvollkommen sein, und dabei ist es für uns natürlich völlig gleichgültig, ob diese Unvollkommenheit von einem Rezitator oder unserem eigenen Ohr, von unserer Unaufmerksamkeit oder sonst etwas herrührt. Und diese Unvollkommenheit kann derartig zunehmen, daß man schließlich, wie bei der Musik, sagen wird, die Wiedergabe genügt nur, um uns ein "Bild" von einem Gedicht zu machen, oder daß man gar nur von einer "andeutenden" Wiedergabe spricht. So z. B. wenn ein Autor seine Gedichte oder sein Drama vorliest, der sich nicht als Rezitator und Schauspieler fühlt und daher lieber hinsichtlich des Ausdrucks auf die vollkommene Plastizität seines Werkes verzichtet, als daß er es riskiert, es zu entstellen. Und dieses "Entstellen" führt uns auf die zweite Möglichkeit, die hier in Betracht kommt.

Bei einer Überschreitung der Irrelevanzgrenze kann nämlich auch der Fall eintreten, daß der Hörer sich ein falsches Bild vom gemeinten Gegenstand macht, indem er die Wiedergabe für gelungen hält; respektive es kann der Lesende selbst das Gedicht anders auffassen, als es eigentlich (77) gemeint ist, also insofern einen anderen ästhetischen Gegenstand verwirklichen. Aber wenn man derartig beispielsweise das Gedicht "Ungeduld" in seinen ersten drei Strophen als überströmenden Liebesjubel auffaßt, ohne noch die Trauer der Worte "Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben" durchklingen zu lassen, dann wird man im natürlichen Sprachgebrauch doch nicht schlechthin von einem "anderen" Gedicht sprechen. Das Gedicht ist zwar als Individuum, genau genommen, ein "anderes", ist notabene [aufgemert! - wp] auch nicht "dasselbe" in einem anderen Entwicklungsstadium, in dem Sinne, wie man etwa die Identität einer Persönlichkeit festhält, es ist aber "dasselbe Gedicht" im Sinn eines vagen Gattungsbegriffs des gewöhnlichen Lebens, wo unter eine Gattung gefaßt und mit einem Eigennamen benannt wird, was im Großen und Ganzen dasselbe ist. Der Gattungsgegenstand jedoch, den wir hier im Auge haben, der niederste seiner Art, eben das Pseudo-Individuum; erst wenn diese Grenze ihrerseits überschritten wird, kommen wir in das Gebiet der Gegenstände, die sich auch der gewöhnlichen Beobachtung als "andere" darstellen. Unter irgendwelche übergeordnete Gattungsbegriffe ("Gedich" oder "Gedicht, welches Ungeduld ausdrückt" usw.) lassen sich dieselben natürlich immer fassen. Aber die Auffassung als identisches Individuum hat dann endgültig aufgehört.

Es fragt sich nun aber, ob in jener Auffassung nicht doch ein berechtigter Kern liegt, ob es nicht berechtigt und notwendig ist, bei gewissen Variationen des intentionalen Gegenstandes an der Identität des Gegenstandes festzuhalten. Wenn freilich derart wie bei unserem Gedicht "Ungeduld" die gesamte Auffassung (der ersten drei Strophen) eine so wesentliche Änderung erleidet, wie wir das vorher andeuteten, so wird die Identität des Kunstwerkes in jenem strengeren Sinn zweifellos zerstört. Aber wenn man beispielsweise das Gedicht in einem schnelleren Tempo liest, als es fordert, etwa um sich eine Übersicht zu verschaffen, so kann man sagen: man hat denselben Gegenstand nur in einem zeitlich verkürzten Maßstab, gleichsam in perspektivischer Verkürzung, vor Augen. Aun wenn man dem Verlauf der ausgedrückten Stimmung eine derartig bevorzugende Beachtung schenkt, daß man den Wortlaut, in dem diese Gefühle Gestalt gewonnen haben, darüber vernachlässigt, etwa weil man gerade diesen Stimmungsgehalt kennen lernen will, so ist auch das, was uns da gegenübersteht, "derselbe" Gegenstand, nur gleichsam von innen gesehen. Ja selbst, wenn wir uns bei einem Drama in irgendeine der Rollen speziell hineinversetzen (78), weil wir sie etwa später spielen sollen und so also eine ganz "zufällige", willkürliche und immer schiefe und unrichtige Stellung zum Ganzen einnehmen, kann der ästhetische Gegenstand, wie er gemeint ist, kann der richtige Gegenstand ins Auge gefaßt sein, sofern wir ihn auffassen als sich präsentierend von der "Seitenansicht". - Kurz: gerade all die Tatsachen, die das "Studium des Kunstwerks" ausmachen, fordern, daß die Gegenständlichkeit eines solchen poetischen Kunstwerks, ebenso wie die des musikalischen, im Gegensatz zu der bloß intentionalen Gegenständlichkeit in einem solchen Sinn gefaßt wird, daß verschiedene Wahrnehmungen "desselben" Gegenstandes möglich sind. Wir sprachen dann von verschiedenen "Ansichten" desselben, eine von den körperlichen Dingen entlehnte Redeweise, die hier bei der Poesie vielleicht noch näher liegt als bei der Musik. Unter diesen möglichen "Ansichten" ist aber also eine die "gemeinte", und darin liegt auch hier wieder der Gegensatz zum Naturobjekt. Dieses Naturobjekt wollen wir daher noch zumindest andeutungsweise gegenüberstellen.


e) Das Naturobjekt "Gedicht".

Zwar sagten wir eingangs, daß eine Verwechslung mit dem Naturobjekt hier nicht gut möglich ist, da wir gewohnt sind, das Gedicht "selbst" von seiner "Rezitation" zu unterscheiden; aber dennoch wird es zweckmäßig sein, die beiden einander einmal ausdrücklich gegenüberzustellen. Was wir im Auge haben, ist nämlich nicht nur der Unterschied der individuellen Realität gegenüber der identischen Idealität; so als ob also das ideierte Naturobjekt der poetische Gegenstand oder das realisierte Gedicht ein Naturobjekt schlechthin wäre. Der Unterschied liegt vielmehr weit tiefer. Wir haben hier zurückzugreifen auf die in der Einleitung aufgestellte und dann beim musikalischen Gegenstand schon durchgeführte Scheidung der "naiven", "natürlichen" und "naturwissenschaftlichen" (atomistisch-mechanischen) Gegenstandsauffassung.

Bei der naiven Geisteshaltung hört man Worte nicht nur in ihrer Bedeutung, sondern auch mit ihrem Ausdrucks- und Stimmungscharakter ohne jede Verwunderung (79), wie denselben etwas derartiges zukommen kann, und daher ohne jede Reflexion und ohne eine Verteilung dieser einzelnen Momente an die redende und hörende Person; die Wortlaute gelten als Phänomene der Wirklichkeit, denen man aber trotzdem unbefangen eine Bedeutung, einen Stimmungscharakter usw. zuschreibt. Diese Geisteshaltung ist der eigentlich ästhetischen noch nahe verwandt, doch fehlt ihren Gegenständen schon jenes letztlich erwähnte Charakteristikum der ästhetischen Gegenstände, daß eine ihrer möglichen Ansichten die gemeinte ist, und außerdem hat sie die ständige Tendenz, in die sogenannte "natürliche" überzugehen.

Man kommt (80) zu einer Kritik der Glaubhaftigkeit unserer Wahrnehmung, zu einer Scheidung von Schein und Wirklichkeit und zu einer durchgehenden kausalen Weltauffassung. Die gehörten Laute sind "wirklich", die gesamte Bedeutungs- und Ausdrucksfunktion aber ist diesen Wortzeichen nicht ansich zugehörig, sondern wird nur durch uns, und zwar einerseits durch den Sprechenden respektive Lesenden, andererseits durch mich, den Hörenden, mit denselben "verbunden", und eben hierauf, daß ich dies aufgrund eines Erlernens in der gleichen Weise tue wie der Redende, beruth die Mitteilungsfunktion der Worte, die wir bisher immer hatten ausschalten müssen. Sie spielt eben nur eine Rolle für diese natürliche Weltauffassung. Die Bedeutungsfunktion ist mit den Worten nur assoziiert, ebenso die Ausdrucksfunktion, bei beiden aber ist das Verhältnis des Redenden und Hörenden ein verschiedenes: der Redende - so muß man von diesem Standpunkt aus sagen - hat erst einen Gedanken oder ein Gefühl, und diesem gesellt sich dem gewohnten gemeinsamen Auftreten entsprechend das korrespondierende Wort zu; das Wort wird erregt durch den Gedanken, durch das Gefühl. Beim Hörer wird aber umgekehrt der Gedanke oder das Gefühl erregt durch die aufgenommene Wortvorstellung. Dazu kommt bei ihm aber noch der Rückschluß auf die psychischen Vorgänge im Sprechenden; daß wir dieselben wirklich "wahrzunehmen", aus den Worten zu "hören" meinen, ist von diesem Standpunkt aus bloß eine Täuschung, nur "Schein"; ebenso wenn wir im Gedicht selbst ein Stimmung wahrzunehmen meinen; im Grunde ist die Stimmung ein psychisches Phänomen in uns, das wir in die gehörten Worte projizieren, eventuell ist sie außerdem noch eine Stimmung im Redenden und wahrscheinlich auch im Verfasser des Gedichts, aber wirklich notwendig ist weder das eine noch das andere; die Stimmung in uns aber ist notwendig (wenn auch vielleicht eine vorgestellte Stimmung), denn sie ist das realpsychologisch Identische, das wir in das Gedicht hineinverlegen, "einfühlen", wie man sich auszudrücken pflegt. Auch wenn ich mich "eingefühlt" habe in einem engeren Sinn, z. B. in eine Person, so daß ich mich an ihre Stelle versetzt habe und nun nicht mehr sie reden "höre", sondern (eben an ihrer Stelle) rede oder zu reden meine, so ist das, von diesem natürlichen Standpunkt aus betrachtet, eine Täuschung, ein "Schein"; "in Wirklichkeit" ist das "Ich" an meinen Körper gebunden, abhängig von dessen Zuständen, daher unter anderem natürlich auch von dem, was er von außen an Eindrücken aufnimmt. So bleibt von unserem "ästhetischen Gegenstand" für diese Weltauffassung nichts als die Wortlaute als das einzig "Objektive", alles übrige verteilt sich als psychische Vorgänge auf die beiden Personen, den Redenden und den Hörenden, und die Eindrücke des letzteren sind teils der "Wirklichkeit" entsprechend, teils nicht (81). Aber auch dieser akustische Kern ist wesentlich anders, als wir es bei unserem ästhetischen Gegenstand beschrieben haben. Doch können wir hier auf das verweisen, was wir schon beim musikalischen Gegenstand ausgeführt haben: Rhythmus und Tonfall usw. entsprechen ganz dem Rhythmus und der Melodielinie in der Musik.

Wieder anders gestaltet sich das Bild, wenn wir diese Verhältnisse von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachten. Dort löst sich auch noch das bisher naiv hingenommene Phänomen des Wortlauts als bloßer "Schein" auf. Es bleibt wie beim akustischen Kern der Musik nichts als ein Komplex von Luftschwingungen einerseits und gewisse physiologische Vorgänge, die wir noch nicht derartig mechanisch ausdrücken können, andererseits.

So haben wir also auch nach dieser Untersuchung der Poesie daran festzuhalten, daß sich in den ästhetischen Gegenständen eine eigenartige Welt konstituiert, die man von einem natürlichen Standpunkt, dem des gewöhnlichen Lebens, allerdings mit Recht als eine Welt des "Scheins" bezeichnet, die aber im ästhetitischen Genuß und der ästhetischen Wertung denselben Anspruch hat, ihrerseits nicht mit fälschlich hineingebrachten Wirklichkeitsauffassungen vermengt zu werden.
LITERATUR Waldemar Conrad, Der ästhetische Gegenstand, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1908
    Anmerkungen
    41) vgl. den ersten Artikel in dieser Zeitschrift, Bd. III, 1. Heft
    42) Man ist sich der ersten dieser Forderungen, zumindest in der Regel, wohl auch bewußt gewesen.
    43) Natürlich ist nicht das Zeichen, sondern allein das Bedeutungsganze der "Substantivgegenstand".
    44) Auf die zahlreichen verschiedenen Arten von Überschriften, die bald den gedrängten Inhalt, bald den Namen des "Helden", das Kernproblem u. a. geben, können wir hier natürlich nicht eingehen (vgl. die 20 Lieder des zitierten Zyklus).
    45) Das Vorspiel, das bei Liederkompositionen der "Begleitung" zufällt, übernimmt für den musikalischen Teil des gemischten Kunstwerks eine ganz ähnliche Rolle.
    46) vgl. den ersten Artikel
    47) Dadurch, daß wir den letztenendes gemeinten Gegenstand, den "Stoff" oder die "Fabel", wie man es im Drama nennt, als gegeben voraussetzen, tritt unsere Analyse wiederum in einen strikten Gegensatz zur üblichen, historisch-genetischen. Denn tatsächlich ist der "Stoff" natürlich für den Dichter keineswegs ein starres Gegebenes, sondern erleidet vielfach im Verlauf der Arbeit die tiefgreifendsten Veränderungen, Veränderungen, die zu tiefgreifend sind, als daß man sie noch, wie die gleich zu besprechenden, ihrerseits als "Formung des Stoffes" auffassen könnte. Veranlassung dazu kann die Entwicklung des Dichters durch äußere oder innere Erfahrungen sein, ein momentaner Einfall, ein Paradoxon, das ihn so fasziniert, daß er den ganzen Plan umwirft, um es verwerten zu können. Für das Verständnis des (fertigen) Kunstwerks als intendierter ästhetischer Gegenstand ist diese zufällige Entstehungsgeschichte desselben natürlich völlig irrelevant, ebenso und in demselben Sinn wie für einen mathematischen Beweis der Weg, auf dem er gefunden wird (der bestenfalls nur ein gewisses psychologisch-menschliches Verständnis erschließen kann). Aber wir müssen noch weiter gehen und geradezu sagen, daß dieser "Stoff", den wir da als gegeben festhalten, keineswegs das zu sein braucht, worauf es dem Dichter am meisten ankommt, woran sein Interesse am meisten haftet und was er daher unbedingt festhält bei allen Umgestaltungen des Kunstwerks; denn dies kann irgendeine Figur sein, für die er eine ganz persönliche Vorliebe hat, weil sie ihn etwa an eine wirkliche Person erinnert, die aber trotz allem nicht der "Held" des Dramas oder Romans werden konnte, eine Charakterentwicklung, die trotzdem nicht das Zentrum des Kunstwerks oder eine "Tendenz", die nicht das Kernproblem werden konnte. Uns aber kommt es eben auf die Konstitution des (fertigen) Kunstwerks allein an und daher fragen wir zunächst nach dem dargestellten Gegenstand, der als der letztenendes gemeinte, diese oder jene Darstellungsform erfahren konnte und im vorliegenden Werk nun aus den und den künstlerischen Gesichtspunkten heraus eben diese erfahren hat.
    48) In vielen Fällen, besonders beim Drama, repräsentiert auch die worterfüllte Zeit eine andere in perspektivischer Verkürzung. Sieht man näher zu, so ergibt sich aber, daß auch bei unserem Beispiel diese worterfüllte Zeit eine andere, sagen wir imaginäre, wenn auch nicht derartig "verkürzt", repräsentiert.
    49) Wir werden diesen Ausdruck etwas zu korrigieren haben.
    50) Ich halte hier der Einfachkeit halber an der üblichen Dreiteilung fest.
    51) Dies hat HUSSERL anscheinend übersehen (vgl. a. a. O., Seite 33f), er spricht daher auch von der "Kundgabe", eine Terminologie, der wir uns nicht anschließen können, da sie sichtlich nur die kommunikative Funktion im Auge hat.
    52) Wobei natürlich der "Redende" und der "Gegenüberstehende" beide bloße imaginäre Personen sein können, so daß es sich also nicht um eine reale kommunikative Funktion (im real-psychologischen Sinn) handelt.
    53) Eine Scheidung, die sich kreuzt mit der anderen in "Bedeutungs-" und "Sprach-"Poesie.
    54) vgl. den ersten Artikel
    55) Insofern ist das Vorangehende auch etwas zu korrigieren: Wenn in einer dramatischen Szene verschiedene Personen verschiedene Gefühle haben und ausdrücken, so kommt den betreffenden Worten, sofern sie "ernst zu nehmen sind", auch ein mehr oder weniger korrespondierender Stimmungscharakter zu, und die "einheitliche" Stimmung ist eben eine sich superponierende.
    56) Insofern ist der Liebesjubel von Anfang an nicht "ungetrübt" und wenn die Musik SCHUBERTs dies gar nicht zum Ausdruck bringt, so wird sie der Stimmung des Gedichts ganz abgesehen von der letzten Strophe nicht voll gerecht.
    57) vgl. den ersten Artikel
    58) Von "Aufmerksamkeitsbevorzugung" kann man bei der "Bedeutung" nicht sprechen, da dieselbe in der gewöhnlichen Rede normalerweise "erlebt" wird und gar nicht gegenständlich ist.
    59) Das "naturgemäß" fällt, streng genommen, aus der phänomenologischen Betrachtungsweise heraus.
    60) vgl. Anmerkung 55
    61) Dabei bleibt es natürlich primär die Äußerung eines übervollen Herzens.
    62) Und eben hierin liegt dann auch die so charakteristische Empfindsamkeit jener Zeit. In gleicher Weise charakteristisch ist die Imagination eines solchen Müllerburschen. Jeden modernen Realisten muß dieselbe als eine lächerliche "Unwahrscheinlichkeit" anmuten. Bei der phänomenologischen Betrachtung aber fragen wir vorderhand nur, was das Gedicht (im Sinne des Dichters) fordert. Die Auffassung eines "Realisten" hat dann in dem hier in Betracht kommenden Sinn ein "anderes" Kunstwerk im Auge. (vgl. den folgenden Abschnitt über die "Identität des ästhetischen Gegenstandes".) Das Gleiche gilt von einem überschwänglichen Sprachstil. Wir haben uns zuvor aufgrund historischer Vorstudien und eines gewissen Anpassungsvermögens in die Empfindungs- und Sprechweise jener Zeit hineinzuversetzen, ehe wir an die phänomenologisch Analyse und eventuelle Wertung überhaupt herantreten können. Denn ohne das untersuchen und werten wir einen wesentlich verschiedenen, einen "anderen" ästhetischen Gegenstand. Im Drama SCHILLERs, dessen natürliches Pathos der moderne Realist belächelt, ist nich das Drama SCHILLERs. Hiermit will ich andeuten, wie sich die Phänomenologie allgemein dem ständigen Erneuerungsprozeß der Sprache gegenüber zunächst rein deskriptiv zu verhalten hat, dem Prozeß, in dem sich Bilder, Superlative, Modeworte und dgl. "abgreifen" und durch immer neue ersetzt werden müssen.
    63) vgl. DESSOIR, a. a. O.: "Der Reim ist nicht nur ein zufälliger Gleichklang, sondern er erfüllt die Aufgabe, für das Ohr die Verzeilen voneinander zu trennen, er unterstützt das Metrum etwa so wie die Farbe die Proportionen eines räumlichen Kunstwerks hervorzuheben vermag."
    64) Dadurch gestaltet sich die ganze Konstitution des Gedichts natürlich anders, als es zunächst den Anschein hat; dasselbe stellt keine Entwicklung der Gefühle dar, eine Wandlung aus dem Liebesjubel in Trauer, und dieser Liebesjubel erfährt nicht immer wieder neue Wiederholungen, so daß ein Vers wie der andere Ausdruck desselben Gefühls wäre, sondern das Ganze ist aufzufassen als ein von Vers zu Vers stetig sich immer mehr und mehr steigernder Ausdruck oder Ausdruck der sich steigernden Ungeduld als eines einheitlichen, wohlcharakterisierten Gefühls.
    65) Es muß bei der andeutenden Repräsentation bleiben, ebenso wie wir dies schon für den Gesang früher ausführten. - Wäre nicht vielleicht auch für das "dramatische Gedicht" (Versdrama, "idealistische Drama", "stilisierte" Drama usw.), das man entweder ganz dazu verurteilt "Lesepoesie" und "Buchdrama" zu bleiben oder in den Rahmen moderner, realistischer Bühnenkunst zwängt, eine Form der Wiedergabe zu finden, die einen Mittelweg einschlägt, derart, daß man es gewissermaßen als Gedicht, rezitiert in verteilten Rollen, auffassen kann, so daß die Worte (dieser wesentliche Bestandteil des "Gedichts") zur Geltung kommen, ohne durch den Kontrast zur übrigen Wiedergabe "unnatürlich" zu erscheinen?
    66) Ähnlich auch DESSOIR, a. a. O.: Es "darf der Vortragende - auch der Rezitator von Gedichten, Erzählungen, Dramen - dieses Hilfsmittel (der Gebärdenmimik) nur sparsam benutzen ... Denn er stellt keinen Menschen dar, sondern eine in Töne gesetzte Dichtung".
    67) vgl. Anmerkung 64, 65 und 66.
    68) Eine "getreue Übersetzung" in diesem engsten Sinn würde also eine "Bedeutungs-" und "Gegenstands-Identität" verlangen. (vgl. HUSSERL, a. a. O., Seite 47) Es wäre nicht ohne Interesse, noch einen weiteren Sinn abzugrenzen und im Hinblick auf diese deskriptiven Unterschiede eine sprachvergleichende Untersuchung anzustellen.
    69) Das Subjektsein ist offenbar ein der Klasse der "Auffassungen" zuzurechnendes deskriptives Moment am "Ich"; zugleich knüpft sich an dieses Wort die Prädikatsintention, die natürlich wesentlich anderer Art als alle bisher besprochenen ist, insbesondere anderer Art als die, welche das "schnitt" mit dem "ein" oder in einem musikalischen Gegenstand einen Ton mit dem benachbarten (oder mit der Tonika) verbindet.
    70) vgl. HUSSERL a. a. O., Bd. II, Seite 51f. Daß die Anschauung des real vor uns stehenden Rezitators, der ebenfalls (und a fortiori [umso mehr - wp]) nur ein indirekter Repräsentant ist, nicht der Wortintention eine eigentliche Fülle geben kann, sahen wir schon.
    71) Ähnlich betont DESSOIR a. a. O., Seite 367: "Gerade bei spannenden Stellen hastet der Leser weiter, ohne sich Zeit zu Sinnesvorstellungen zu lassen." Es kommt "für den Eindruck nicht auf die durch die Sprache gelegentlich suggerierten Sinnesbilder an, sondern auf die Sprache selbst und die ihr eigentümlichen Gebilde". Der Unterschied des Gesichtspunktes und der Methode bei DESSOIR tritt gerade bei solchen in gewisser Hinsicht ganz verwandten Stellen besonders deutlich zutage. - VOLKELT scheint mir dagegen ein viel zu großes Gewicht auf den "Phantasieleib" des Wortes zu legen (vgl. a. a. O., Seite 86, 116 und öfter).
    72) All diese Momente wären bei einer durchgeführten Detailanalyse natürlich zu berücksichtigen.
    73) Es gefährdet also zunächst die Vollkommenheit der Realisation, nicht die Identität des Gegenstandes oder seiner "Ansicht".
    74) vgl. Anmerkung 65
    75) Sofern sie inmitten einer epischen Erzählung stehen, können natürlich die Worte eines Mannes auch von einer Frau angemessen gelesen werden.
    76) Das alles sind zunächst und vor allem empirisch-psychologisch bedeutungsvolle Momente, von denen wir hier die phänomenologische Seite im Auge haben.
    77) Wir legen hier die Meinung des Dichters als die "eigentliche", der natürlichen Auffassung folgend, zugrunde.
    78) Der "Held" eines Dramas oder Romans gibt offenbar derartig den Gesichtspunkt an, von dem aus das Ganze gesehen sein will, und er fordert anscheinend eine bevorzugende "Einfühlung".
    79) Nicht als ob Kinder oder "naive", wilde Völker "glauben", Worte hätten eine Bedeutung und eine Stimmung, wie Gedanken und Stimmungen in Menschen leben, sondern imaginiert ist das Stadium vor jeder Reflexion, vor jeder "Verwunderung". Eine ganz analoge Auffassung finde ich bei DESSOIR (a. a. O., Seite 81). "Das ästhetische Leben mag sich in einer Sphäre abspielen, die diesen Dualismus (zwischen "Sein und Schein") nicht kennt" usw. Und dann wird ausdrücklich darauf hingewiesen, "das künstlerische Genie ... ist gleich dem Kind noch im Stand der Unschuld". Und Seite 82: "In einer unbefangenen Philosophie (werden) regelmäßig Gefühlsqualitäten den Gegenständen, ja sogar den Dingen ansich beigelegt".
    80) ideal-genetisch gesprochen.
    81) Je nachdem würde er sich in seinem "Handeln" danach "richten" oder nicht.