ra-2Paul TillichDie Trennung von Staat und KircheReinhold Niebuhr    
 
ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Psychologie und Erkenntnistheorie
in der Religionswissenschaft

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"Es muß möglich sein, daß im phänomenalen Ich die Persönlichkeit als Verwirklichung der autonomen Vernunft geschaffen und entwickelt werde, wobei das Intelligible aus dem Phänomenalen, das Rationale aus dem Psychologischen hervorbricht, es in der Zeit bearbeitet und gestaltet und zwischen beiden ein Verhältnis der geordneten Wechselwirkung, aber nicht des kausalen Zwanges stattfindet."

"Das Religion-Haben gehört also zu Apriori der Vernunft. Aber gerade indem die Religion hierauf reduziert wird, ist deutlich, daß das eben nur eine Reduktion ist, die von der empirischen Tatsächlichkeit ebenso abstrahiert, wie es die Kategorien der reinen Vernunft tun. Diese Abstraktion darf daher nie und nimmer selbst für die eigentliche Religion gehalten werden. Sie ist nur das rationale Apriori der psychischen Erscheinungen, aber nicht die Ersetzung der Erscheinungen durch die von Trübung freie Wahrheit."

Die  dritte  Änderung bezieht sich auf die Unterscheidung des empirischen und intelligiblen Ich, die KANT eng, ja fast unlösbar mit seinem erkenntnistheoretischen Grundgedanken des formalen, erfahrungsimmanenten Rationalismus verbunden hat. KANT rationalisiert die gesamte "äußere und innere" Erfahrung durch apriorische Gesetze zu einem in den Anschauungsformen von Raum und Zeit erscheinenden, streng kausal und notwendig verknüpften Ganzen gesetzlicher Wirklichkeit. Dieser Gedanke hat aber wunderliche Konsequenzen. Die aus der logischen Idee autonom sich bestimmende und dem psychologischen Ablauf sich entgegenstellende Freiheit bringt aus der trüben psychologischen Wirklichkeit dieses wissenschaftliche Bild der wahren Wirklichkeit hervor. Aber das Denkprodukt verschlingt seinen eigenen Schöpfer. Denn dieselben Freiheitsakte, die autonom das Bild der Gesetzeswirklichkeit hervorgebracht haben, stehen doch selbst im zeitlichen Ablauf des psychischen Geschehens und verfallen daher mit diesem selbst dem mechanisch-gesetzlichen Ablauf. Das intelligible Ich schafft die Gesetzeswelt und findet sich mit seinem Tun in dieser als empirisches Ich, das heißt, als Produkt des großen Weltmechanismus und seines kausalen Auslaufes. Es ist ein unerträglicher, gewaltsamer Widerspruch und es ist keine Lösung dieses Widerspruchs, das empirische Ich der Erscheinung und das intelligible der an sich bestehenden Realität zuzuweisen, wenn doch die Handlungen des intelligiblen Ich als Bestandteile des seelischen Geschehens in die Zeit fallen und damit rettungslos der Phänomenalität und ihrem Mechanismus verfallen. Aller Scharfsinn moderner KANT-Interpreten hat diesen Zirkel nicht erträglicher machen können, alle Abschiebungen auf verschiedene Betrachtungsweisen ein und derselben Sache haben nur die wissenschaftliche Terminologie durch Musterleistungen verklausulierter Vorsicht bereichert, aber den Anstoß nicht wegschaffen können, daß die zwei verschiedenen Betrachtungsweise in Wahrheit nicht parallel nebeneinander gehen, sondern in demselben Objekt aufeinander stoßen.

Besonders unerträglich ist dieser Zirkel für die Religionspsychologie und ihre erkenntnistheoretische Verwendung. Die Religionspsychologie zeigt uns durchaus die Grundempfindung aller Religion, nicht ein Produkt des mechanischen Ablaufs, sondern eine Wirkung des in ihr empfundenen Übersinnlichen selbst zu sein, sie will aus dem intelligiblen Ich stammen vermöge eines irgendwie gearteten Zusammenhangs mit der übersinnlichen Welt. Das aber wird völlig unmöglich bei der Kantischen Theorie vom empirischen Ich und alle Unterscheidung einer doppelten Betrachtungsweise kann daran nichts ändern, daß diese Betrachtungsweisen sich absolut ausschließen. Hier steht der psychologische Befund, der die Aussage des religiösen Gefühls nur bestätigen kann, indem er die Religion auch seinerseits auf nichts anderes kausal reduzieren kann, durchaus gegen die Konsequenzen einer solchen Erkenntnistheorie. Es gilt das für Moral und Kunst und auch für die Religion wird kein Hinweis auf zukünftige Triumphe einer noch tiefer in das Dunkel eindringenden Experimentalpsychologie eine solche Reduktion in Aussicht stellen können. Für KANTs Religionspsychologie galt es schon darum, weil er sie mit der Moral aufs engste verknüpfte. Aber auch die andersartige moderne Religionspsychologie kommt zum gleichen Ergebnis eines in der Religion tätigen autonomen Bewußtseins. Dann aber ist auch die Abgrenzung gegen den Fluß bloß psychologischer Verknüpfungen die notwendige Folge. KANT hat das praktisch auch selbst oft genug empfunden und spricht dann von der Freiheit als einer Erfahrung und von der Gemeinschaft mit dem Übersinnlichen als einer möglichen, aber unbeweisbaren Sache, während doch alles das bei strenger Festhaltung der Phänomenalität der Zeit und bei der daraus folgenden Theorie vom empirischen Ich völlig unmöglich ist. Hier kann nichts anderes helfen, als eine entschlossene Preisgabe derjenigen erkenntnistheoretischen Sätze, die dem psychologischen Befund widersprechen und die ja selbst erst Konsequenzen aus fraglichen Voraussetzungen sind. Es ist nichts anderes möglich als die Phänomenalität der Zeit dahin zu modifizieren, daß keineswegs alles, was der Zeit angehört, damit ohne weiteres auch von selsbt der Phänomenalität angehört, sondern daß die in den Zeitverlauf des Bewußtseins eingreifenden autonom rationalen Akte ihre eigene intelligible Zeitlichkeit besitzen. Damit ist dann auch der mit dem Zeitbegriff eng zusammenhängende Kausalitätsbegriff dahin zu modifizieren, daß es nicht bloß einen immanenten phänomenalen Kausalzusammenhang, sondern auch eine geordnete Wechselwirkung zwischen phänomenaler und intelligibler, psychologischer und rationaler Bewußtseinswirklichkeit geben müsse. Mit alledem ist dann überhaupt auch der Folgesatz aufgegeben, daß das Ich unbedingt und ohne weiteres schlechthin der Phänomenalität und der kausalen Notwendigkeit unterliegt, während dasselbe Ich dann ebenso wieder als Ganzes und schlechthin unter anderem Gesichtspunkt der Freiheit und Autonomie, d. h. der Selbstgesetzgebung durch Ideen, untersteht. Die beiden Ich müssen nicht neben-, sondern in- und übereinander liegen. Was dabei das phänomenale Ich, die gesamte Erfahrung einschließlich der Erfahrung vom fremden Bewußtsein und der Lokalisierung seiner Tätigkeit an bestimmten Punkten der Erfahrung oder dem Körper, bedeute, was insbesondere die "Notwendigkeit" der kausalen Verknüpfung dieser Erfahrung bedeute, mag hier auf sich beruhen. Hier sind alle kantischen Einzellehren wieder in Fluß geraten und nur dem spezialisierten Fachmann steht hier ein wirkliches Urteil zu. Hier kommt es nur darauf an, daß der ganze Ansatz des kantischen Denkens das Eingreifen der autonomen Betätigung des intelligiblen Ich in das psychologische Ich behaupten muß und daß dem nichts entgegensteht als die Behauptung einer kausalnotwendigen Verknüpfung all dessen, was in die Zeit fällt. Diese Behauptung selbst aber ist nichts anderes als die Erhebung der Grundsätze der klassischen Mechanik zu einer apriorischen Denkform, die dann um der Konsequenz willen auch die Zeitverhältnisse des auf keine Körperlichkeit bezogenen Geschehens und die des Zusammenhangs körperlichen und unkörperlichen Geschehens unter die gleiche Betrachtung gezogen hat. Es muß möglich sein, daß im phänomenalen Ich die Persönlichkeit als Verwirklichung der autonomen Vernunft geschaffen und entwickelt werde, wobei das Intelligible aus dem Phänomenalen, das Rationale aus dem Psychologischen hervorbricht, es in der Zeit bearbeitet und gestaltet und zwischen beiden ein Verhältnis der geordneten Wechselwirkung, aber nicht des kausalen Zwanges stattfindet. Diese freilich tief einschneidende Modifikation ist wiederum eine Annäherung der Kantischen Lehre an den Empirismus, aber in der Unterscheidung und Nebeneinanderstellung der phänomenalen und intelligiblen Welt, in der Betonung der aus der Vernunft-Einheit hervorgehenden einheitlichen Persönlichkeit doch zugleich die Festhaltung des Rationalismus. Indem aber die Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung des Rationalen und Empirischen den Ausgangspunkt des Kritizismus bildet und dieser Ausgangspunkt zugleich Formung und Gestaltung des Empirischen durch das Rationale und Ausscheidung des psychologischen Scheins verlangt, ist ja von Haus aus ein bloßer Parallelismus nicht möglich, sondern ein Aufeinanderwirken eingeschlossen und eine Aufgabe des Kampfes und der Arbeit gestellt, die das Rationale überall in das bloß Empirische eingreifen läßt. Schon im Ansatz liegt die Ausschließung des Parallelismus und die Behauptung des Ineinandergreifens. Das Ineinandergreifen selbst aber behauptet eben damit die Unterbrechung der kausalen Notwendigkeit und das Eingreifen der autonomen Vernunft in diesen Verlauf, ohne daß es selbst durch diesen Verlauf hervorgebracht wäre, auch wenn es durch ihn angeregt und gefördert oder gehemmt und geschwächt werden kann.

Damit ist dann aber auch in diesem Fall das Irrationale neben und im Rationalen anerkannt. Es ist in diesem Falle das Irrationale des Geschehens ohne kausale Nötigung durch etwas Vorausgehendes oder der Selbstbestimmung bloß aus der autonomen Idee. Es ist das Irrationale des schöpferischen Handelns, das aus sich heraus die Idee erfaßt und erst aus der gefaßten Idee. Es ist das Irrationale des schöpferischen Handelns, das aus sich heraus die Idee erfaßt und erst aus der gefaßten Idee die vernünftigen Folgen hervorbring. Dieses Irrationale aber spielt im ganzen seelischen Leben überall eine wesentliche Rolle und ist geradezu entscheidend für die Religion, die etwas ganz anderes werden müßte als sie ist, wenn ihr nicht mit Recht das zukäme, was ihre Grundaussage von sich selbst ist, nämlich, daß sie eine Tat der Freiheit und ein Geschenk der Gnade sei, eine das natürlich-phänomenale Seelenleben durchbrechende Wirkung des Übersinnlichen und eine die natürliche Motivation aufhebende Tat der freien Hingebung.

Mit alledem ist dann auch eine grundlegende Entscheidung getroffen im schwersten Konflikt, der die moderne Religionsphilosophie entzweit. KANT hat diese Entscheidung selbst gewollt und hat in ihrem Sinne empfunden; aber er hat sie noch nicht so schroff vollzogen, wie es seine eigenen Prämissen verlangen. Dieser Konflikt ist gegeben in den Einwirkungen der modernen klassischen Naturphilosophie seit GALILEI und DESCARTES auf unser Weltbild. Der Begriff der mit ihr gegebenen geschlossenen Naturkausalität, der im Begriff der Erhaltung der Masse und der Energie gipfelt und der sich im Begriff der jedesmal herzustellenden Kausalgleichung zwischen Ursache und Wirkung über alles ausbreitet, hat zu seiner notwendigen Konsequenz den Monismus, der, auch wo er antimaterialistisch das geistige Leben dem materiellen parallel zuordnet, doch stets nur kausal bestimmbare Umlagerungen und Umordnungen gegebener Elemente und Kräfte kennt. Die Konsequenz aber dieses Monismus für die Religionsphilosophie ist unausweichlich der moderne Pantheismus, wie ihn, auf die mathematisch-mechanische Naturgesetzlichkeit gestützt, SPINOZA klassisch entwickelt hat. Seitdem ist dieser Pantheismus immerdar ein Ingredienz der modernen Religionsphilosophie geblieben. Er liegt ihr in allen Gliedern und lähmt jede Bewegung. Wie sehr man auch diesen Pantheismus mit dem ganz andersartigen, auf dualistischer Mystik beruhenden Brahmanismus oder mit mystischen und lyrischen Gefühlen verbinden mag, um ihn dadurch als wirklich religiös zu erweisen, er bleibt der Tod aller wirklichen Religion, die nur lebendig ist, wenn sie aus dem Weltlauf zu dem von ihm verschiedenen Gott sich erheben und aus ihn Kraft zum Widerstand gegen den bloßen Weltlauf schöpfen kann. Daher hat es nie an Gegenwirkungen gegen diesen tödlichen Monismus gefehlt. LEIBNIZ hat die Individualität und den Pluralismus, KANT hat die Freiheit und die Irrationalität dagegen aufgerichtet. Aber indem KANT die Freiheit auf die intelligible Welt einschränkte, die phänomenale der naturgesetzlichen Kausalität des geschlossenen, notwendigen Naturzusammenhangs auslieferte und diese beiden Ichs, das empirisch-kausale und das intelligibel-freie, nur nebeneinander stellte, aber nie ineinander eingreifen ließ, hat er doch in dieser phänomenalen, allbeherrschenden Naturkausalität den Stamm stehen lassen, aus dem die Krone des monistischen Pantheismus wieder hervorwuch und hervorwachsen mußte, um schließlich in ihrem dichten Schatten die praktische Freiheit absterben und verkümmern zu lassen. Wird dagegen entschlossen anerkannt, daß dieses Ineinandergreifen schon in den Grundbegriffen des Kritizismus selbst liegt und daß ohne es kein Schritt weiter in ihm möglich ist, dann ist der empirisch-phänomenale Kausalitätsbegriff selbst modifiziert und auf die Durchbrechung durch herinwirkende andersartige Kräfte eingerichtet. Erst so ist dem Versuch der Marburger KANT-Schule, den Kritizismus und damit die Philosophie als wissenschaftliche Erzeugung einer allgesetzlichen und darum erst wahrhaft wirklichen Gesetzeseinheit zu fassen, womit die Reduktion der Religion auf die Vernunftidee der gesetzlichen, im Fortschritt des Denkens werdenden, Welteinheit verbunden ist, die Wurzel ausgebrochen. Und erst so ist auch den tausendfachen Versuchen naturwissenschaftlicher Religion oder unbestimmter monistischer Einheitsideen, wie sie die Dilettanten der Religionsphilosophie heute durchschnittlich beherrschen, der Boden entzogen. Es ist eine Korrektur, die aus den erkenntnistheoretischen Prämissen des Kritizismus selbst hervorgeht und mit dem Kampf des Logischen gegen das Unlogische, des unbedingt Wertvollen gegen das Wertlose und Wertfeindliche, von selbst gegeben ist. Wie weit sie auch von den Umwälzungen der heutigen Mathematik und Mechanik bestätigt werden mag, kann der Nicht-Fachmann nicht bestimmen. Aber sicherlich wird sie bestätigt durch den einfachen psychologischen Befund, der wohl überall Zusammenhänge, aber keineswegs überall kausale Notwendigkeiten aufweist, am wenigsten in der Entstehung religiöser, ethischer und ästhetischer Erfahrungen. So wird die Religionsphilosophie gerade bei der vollen Befolgung und Durchdenkung des Verhältnisses, das die Kantische Lehre zwischen Psychologischem und Erkenntnistheoretischem gesetzt hat, von der tödlichen Umklammerung des Monismus befreit, den nur die Phrase als wirkliche Religion feiern kann und den die monistischen Religionsfeinde besser in seiner Konsequenz verstehen. Es wird das Problme des Irrationalen als Problem der Freiheit und der schöpferischen Wahrheitserzeugung hervortreten, wie beim späteren SCHELLING und es werden dessen orthodoxe und gnostische Schrullen doch vermieden bleiben, weil in dieser Freiheit das Rationale und Allgemeingültige der Religion sich selbst erfaßt und von hier aus die geschichtliche Religion kritisch fortgestaltet.

Das  vierte  Problem entsteht, wenn wir das rationale, in Wesen und Organisation der Vernunft liegende Gesetz der Religiosität oder des Religion-Habens selbst ins Auge fassen. Als ein Gesetz des normalen Bewußtseins läßt sich das Religion-Haben aus dem immanenten Notwendigkeits- und Verpflichtungsgefühl, das der Religion zukommt, erweisen und aus ihrer organischen Stellung in der Ökonomie des Bewußtseins, das seinen Zusammenschluß und seine Beziehung auf eine objektive Weltvernunft erst durch sie empfängt. Das Religion-Haben gehört also zu Apriori der Vernunft. Aber gerade indem die Religion hierauf reduziert wird, ist deutlich, daß das eben nur eine Reduktion ist, die von der empirischen Tatsächlichkeit ebenso abstrahiert, wie es die Kategorien der reinen Vernunft tun. Diese Abstraktion darf daher nie und nimmer selbst für die eigentliche Religion gehalten werden. Sie ist nur das rationale Apriori der psychischen Erscheinungen, aber nicht die Ersetzung der Erscheinungen durch die von Trübung freie Wahrheit. Über ihm darf die psychische Wirklichkeit nicht vergessen werden, in der allein es wirksam ist. Das aber war nach zwei Seiten hin in der Kantischen Religionslehre der Fall. Es ist stets aufgefallen, daß das Apriori der praktischen Vernunft von KANT ganz anders behandelt wird, als das der theoretischen. Beim letzteren ist der Grundgedanke der erfahrungsimmanenten Synthese von Rationalismus und Empirismus festgehalten und ist das Apriori der reinen Anschauungsformen und der reinen Kategorien nichts ohne den Inhalt der konkreten Wirklichkeit, der in ihr gestaltet wird. Es mag sehr schwierig sein, das Zusammenwirken des Apriorischen und Empirischen im einzelnen wirklich zu fassen und es mag die Kategorienlehre KANTs ganz neu gebildet, vielleicht der Lehre von apriorischen, aber verifikationsbedürftigen Hypothesen angenähert werden müssen; immer aber ist doch das Prinzip selbst die Stellung des wirklichen und echten Problems allen Erkennens. Beim praktischen Apriori dagegen hat KANT zwar den formalen Charakter des ethischen, ästhetischen und religiösen Gesetzes streng betont, aber darüber dann doch die psychische Wirklichkeit ganz aus den Augen verloren. Sie erscheinen nicht als leere Formen, die erst in der Füllung mit den konkreten ethischen Aufgaben, künstlerischen Schöpfungen und religiösen Zuständen zu ihrer Wirklichkeit gelangen, sondern wie abstrakte Vernunftwahrheiten, die anstelle der Verworrenheiten des gewöhnlichen Bewußtseins zu treten haben. An diesem Punkt hat man mit Recht immer einen Rückfall KANTs in den abstrakten, analytischen Begriffs-Rationalismus empfunden und aus eben diesem Grund sind auch KANTs Äußerungen über diese Dinge zwar von großer Erhabenheit und Strenge des Prinzips, aber dürftig im Inhalt. Es gilt vielmehr auch bei diesem Apriori der praktischen Vernunft immer im Auge zu behalten, daß es ein rein formales Apriori ist und in Wirklichkeit sich stets auf die psychische Inhaltlichkeit zu beziehen hat, um dieser Inhaltlichkeit den festen Kern des Realen und das Prinzip der kritischen Selbstregulierung zu geben. So ist das Apriori der Moral nicht bloß rein für sich abstrakt darzustellen, sondern es ist in seiner Beziehung auf alle Aufgaben zu begreifen, die wir als gesollte empfinden und es erstreckt sich von da aus auf den gesamten Umfang der Vernunftbetätigung. So ist das Apriori der Kunst nicht bloß in der abstrakten Idee der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit zu bezeichnen, sondern im ganzen Umfang dessen aufzuweisen, was als künstlerische Gestaltung oder Auffassung seelisch vorhanden ist. So ist insbesondere schließlich die Religion nicht zu reduzieren auf den Vernunftglauben an eine sittliche Weltordnung und allen vermeintlichen Religionen anderer Art einfach entgegenzustellen, sondern das religiöse Apriori soll nur dazu dienen, das Notwendigkeitselement in der empirischen Erscheinung, aber ohne Abstreifung dieser Anschauung überhaupt, festzustellen und von diesem Element aus Verworrenheiten und Einseitigkeiten der psychischen Lage zu berichtigen, ohne sie selbst zu beseitigen. KANT ist durch seinen ursprünglichen Gedanken vom Apriori auch verschiedentlich zu solcher Auffassung gedrängt worden und hat geradezu die empirisch-psychologische Religion als phantasiemäßige Veranschaulichung des Apriori erkenntnistheoretisch konstruiert. Allein das ist doch nur gelegentlich und beherrscht nicht KANTs eigentliche Auffassung von Religion. Diese ist und bleibt im Grunde doch nur eine Übersetzung des üblichen theologischen Rationalismus in die Formeln des Kritizismus.

Die gleiche Korrektur ergibt sich nun aber auch noch von einer anderen Seite her. Ist die Religion ein Apriori der Vernunft, so ist sie an sich mit der Vernunft überhaupt gesetzt und alle Vernunft ist in dem Maße, als sie überhaupt verwirklicht ist, überall und immerdar auch religiös, auch wenn sie selbst es sich nicht zu Bewußtsein brächte. SCHLEIERMACHER hat in seiner Fortbildung der Kantischen Lehre das auch direkt ausgesprochen und, insofern bei KANT mit der Freiheit die praktische Vernunft sich überhaupt durchsetzt und daher mit der sittlichen Freiheitstat auch die Religion von selbst gesetzt ist, ist auch das von KANT selbst behauptet worden. Eine solche Behauptung widerspricht nun aber aller und jeder psychologischen Beobachtung. Wohl kann eine solche feststellen, daß an alle Vernunftregungen religiöse Empfindungen sich verhältnismäßig leicht anschließen, aber sie muß die blasse Religiosität des dunklen Gefühls übersinnlicher Ordnungen, das mit Kunst und Moral u. a. sich zu verbinden pflegt, doch scharf unterscheiden von der eigentlichen und charakteristischen Religiosität, in der jedesmal irgendwie ein persönliches Gegenwartsverhältnis zum Übersinnlichen stattfindet. Dieses ganze Problem aber bedeutet nichts anderes als das der Aktualisierung des religiösen Apriori, welche Aktualisierung immer in ganz spezifischen und bei aller Verschiedenheit wesentlich gleichartigen psychischen Erlebnissen und Zuständen zustande kommt. Dieses Problem der Aktualisierung des religiösen Apriori und seines Zusammenhangs mit konkreten, individuellen psychischen Phänomenen hat KANT in seinem abstrakten Religionsbegriff völlig übersehen oder vielmehr ausdrücklich vermieden, weil er darin, wie er an JACOBI schreibt, alle Gefahren des Mystizismus lauern sieht. Diese Befürchtung ist berechtigt, denn hier lauern in der Tat alle spezifischen Erscheinungen des Mystizismus von Bekehrung, Gebet und Kontemplation bis zu Schwärmerei, Vision und Ekstase. Aber ohne diesen Mystizismus gibt es die wirkliche Religion nicht und die Religionspsychologie zeigt aufs deutlichste, wie in den mystischen Erlebnissen der eigentliche Pulsschlag der Religion schlägt. Eine Religion ohne sie ist nur Vorstufe oder Nachhall der eigentlichen und wirklichen Religion. Diese Zustände sind nun aber von der Erkenntnistheorie aus sehr wohl zu begreifen, wenn man in ihnen die Aktualisierung des religiösen Apriori, die Hervorbringung der wirklichen Religion im Zusammentritt des rationalen Gesetzes und der konkreten, individuellen psychischen Tatsächlichkeit sieht. SCHLEIERMACHER nennt das die Erregung des "frommen Gefühls" und sieht ganz richtig diese Erreger in allen denkbaren Eindrücken, in Natur- oder Geschichtserlebnissen, in moralischen oder künstlerischen Ergriffenheiten, in vermittelnden persönlichen Einflüssen; aber er trennt das apriorische Wesen der Religion doch immer wieder von den Erregern und findet die Mystik der Religion im Rückgang auf diese "reine" Religion. Die wirkliche Mystik der Religion besteht aber in der inneren Verschmelzung von reiner Religion und Erregung und in der Verbindung der Erregung mit der in ihr gegenwärtigen Offenbarung und Selbstmitteilung der Gottheit. Hierin liegt der springende Punkt und hierin liegt die der Religion wesentliche naive Mystik, während die andere Mystik ein Kunstprodukt der Reflexion ist. Auch wird erst so Raum für die Tat der Bejahung und Ergreifung, in der aus der Dämmerung der bloßen apriorischen Immanenz der Religion in der Vernunft das Licht der gewollten und uns mit dem Realitätsgefühl erfüllenden Religion aufgeht. Der von der Religionspsychologie als wesentlich erkannte Mystizismus muß seinen Platz finden in der Erkenntnistheorie und er findet ihn als die psychologische Aktualisierung des religiösen Apriori, in der erst jenes Ineinander von Notwendigem, Rationalem, Gesetzlichem und Tatsächlichem, Psychologischem, Besonderem zustande kommt, das die wirkliche Religion charakterisiert. Die Gefahren eines solchen Mystizismus, die durch tausendfältige Erfahrung gekennzeichnet sind, können nicht durch die Beseitigung des Mystizismus überhaupt beschworen werden. Denn das hieße die Religion selbst beseitigen. Es wäre dasselbe, wie wenn man die Gefahren des Scheins und des Irrtums dadurch meiden wollte, daß man sich nur an die reinen Kategorien hält und darauf verzichtet, sie im wirklichen Erfahrungsdenken zu betätigen. Sie können vielmehr nur dadurch beschworen werden, daß in den mystischen Erscheinungen die Aktualisierung des rationalen Apriori erkannt wird und dadurch sowohl den Verworrenheiten als den Einseitigen der bloß psychologisch ablaufenden Religiosität vorgebeugt wird. Die psychologische Wirklichkeit der Religion muß sich immer auf den rationalen Kern der Religion besinnen und die Religion als Zentrum der Bewußtseinsökonomie in fruchtbare und ausgleichende Berührung mit dem Gesamtleben der Vernunft bringen. So berichtigt und reinigt die psychologische Wirklichkeit sich selbst aus ihrem Apriori, ohne doch aber sich selbst aufzuheben; die aktuelle Religion vielmehr wird immer stärker oder schwächer in der psychischen Kategrie der mystischen Erscheinungen verlaufen.

So kommt hier das Irrationale in seiner dritten Form zu Geltung, die wie die beiden anderen im Ansatz des Kritizismus schon enthalten ist, in der Form des Einmaligen, Tatsächlichen und Individuellen, das wohl eine rationale Grundlage oder ein rationales Element in sich hat, aber überdies doch eine reine Tatsache und Wirklichkeit ist. Es ist gerade der Vorzug der erfahrungsimmanenten Rationalismus oder des Kritizismus, daß er diesem Moment neben der allgemein-begrifflichen Rationalität seinen Ort einräumt. Er hat es ihm nur nicht in dem Umfang eingeräumt, in dem es ihm wirklich zukommt und er hat ihm insbesondere in seiner abstrakten Religionsphilosophie keinen Raum gelassen. Dieser Raum muß ihm durch die Theorie von der Aktualisierung des religiösen Apriori wieder eröffnet werden. Der Zusammenklang des Apriorisch-Rationalen-Allgemeinen mit dem Tatsächlich-Irrationalen-Einmaligen ist das Geheimnis der Wirklichkeit und das Grundproblem aller Erkenntnis. Mag das Allgemein-Rationale der Sphäre der naturgesetzlich-theoretisch denkenden Vernunft oder der wertgesetzlich-praktisch urteilenden Vernunft angehören, immer bleibt dieses Zusammensein das große unenträtselbare Grundgeheimnis des Lebens, das immer nur betätigt und nie begriffen wird, das aber in seiner Betätigung und in der Ausscheidung des Irrtums sich als Äußerung der allgemeinen, sein-sollenden, allein Wahrheit und Wirklichkeit stiftenden kosmischen Vernunft empfindet. Es ist auch das unauflösbare Geheimnis der Religionsphilosophie und auch die Religionsphilosophie ahnt in der Betätigung dieses Geheimnisses die verborgene Einheit der kosmischen Vernunft, in der Allgemein-Notwendig-Rationales und Tatsächlich-Individuell-Gegebenes eine unbegreifliche Einheit hat. Ja, gerade sie besonders zeigt in der hierbei entstehenden Empfindung von der Gegenwart und Wirkung des Göttlichen diese schaffende Urkraft, die der Inbegriff des Wirklichen und des Sein-sollenden ist und die in dieser Einheit doch zugleich das Unendlichviele und Mannigfaltige ist, die die hervorbringende Kraft aller dieser doppelseitigen Wirklichkeit ist und doch nur durch eine freie grundlose Tat der denkenden und praktischen Autonomie ergriffen werden kann. In diesem Zusammenklang ist die geheimnsivolle Pforte geöffnet, nach welcher alle Religionsphilosophie mit heißem Eifer sucht oder die sie mit ebenso heißem Eifer schließt, die Pforte der Einwirkungen des Göttlichen auf den menschlichen Geist, vermöge derer die religiöse Wahrheit göttliches Geschenk und menschliche Hervorbringung zugleich ist. Erst so sind die subliminalen und transmarginalen Vorgänge aufgehellt oder vielmehr - da die Verweisung auf das hier besonders großartig und greifbar hervortretende Grundgeheimnis der Wirklichkeit keine Aufhellung ist - in ihrem wirklichen Sinne angedeutet. Unter den deutschen Religionsphilosophen der Gegenwart sind es besonders EUCKEN und seine Schule, die diesem Gedanken nachgehen und die Substantialität der die Allgemeingültigkeit und Tatsächlichkeit in sich zur Lebenseinheit verbindenden Vernunft in das Zentrum stellen. Sie nennen das die "noologische Methode", welche die bloß psychologische und bloß erkenntnistheoretische Methode überbieten und ersetzen soll. Allein da sie sich doch zugleich verbieten, den Prozeß des Hervorgehens der Wirklichkeit aus dieser Substanz zu beschreiben und es bei ihrer Anerkennung der Irrationalität der Freiheit auch in der Tat nicht können, so vermag ich darin eine neue Methode nicht zu erblicken, sondern nur eine energische Betonung des Problems, das sich in der Zusammenfassung psychologischer und erkenntnistheoretischer Untersuchungen überhaupt und bei der Religionsphilosophie insbesondere ergibt. Was bei EUCKEN darüber hinausgeht, scheint mir auch bei ihm nicht klarer und überzeugender zu sein als bei anderen. Aber soweit er diesen Punkt betont und die Ergreifung der Substantialität der Vernunft im individuellen religiösen Erlebnis behauptet, scheint er mir richtige Gedanken weiter zu entwickeln, die aus der Kantischen Synthese des Empirisch-Psychologischen mit dem Rational-Erkenntnistheoretischen sich ergeben und die derart von der Erkenntnistheorie genauso als geltende Wahrheit erwiesen werden, wie sie von der Psychologischen mit dem Rational-Erkenntnistheoretischen sich ergeben und die derart von der Erkenntnistheorie genauso als geltende Wahrheit erwiesen werden, wie sie von der Psychologie eines JAMES als tatsächliche Vorstellungen erwiesen werden. Es kommt nur darauf an, dieses wildwachsende und vom Irrtum immer wieder verführte psychologische Datum aus seinem rationalen Kern stets wieder zu reinerem Zusammenklang des Rationalen und Empirischen zu regenerieren.

Fassen wir alles das zusammen, so ergibt sich eine Fülle von Zugeständnissen des erkenntnistheoretischen formalen Rationalismus an die Irrationalität der psychologischen Tatsächlichkeiten und eine mehrfache Durchbrechung des noch allzu strengen Kantischen Rationalismus. Andererseits aber ist doch auch die rein psychologische Untersuchung genötigt, von der unbegrenzten Fülle und der absoluten Irrationalität des Mannigfaltigen, des Durcheinanders von Schein und Wahrheit, auf ein rationales Kriterium zurückzugehen, das nur im rationalen Apriori der Vernunft und in der organischen Stellung dieses Apriori in der Bewußtseinsökonomie überhaupt gefunden werden kann. Von diesem Rationalismus aus allein läßt sich die Wahrheitsgeltung der Religion begründen und von hier aus allein lassen sich die Hervorbringungen des wildwachsenden psychischen Lebens kritisch regulieren. Die Religion wird in ihrer konkreten Lebendigkeit aufgefaßt und nicht verstümmelt; sie wird aber auch aus dem Wirrwarr ihrer Verworrenheiten, Verschmelzungen, Einseitigkeiten, Engen, Wucherungen und Verkehrungen immer wieder auf ihren Grundgehalt und auf ihre organischen Beziehungen zur Gesamtheit des Vernunftlebens, der geistigen, sittlichen und künstlerischen Leistungen, hingewiesen. Das ist alles, was die Wissenschaft für sie leisten kann, aber diese Leistung ist doch auch groß und unentbehrlich genug, um die Arbeit einer solchen Wissenschaft zu rechtfertigen.

Ob es noch andere Wege gibt, sich dem Objekt der Religion, Gott, zu nähern und ob es mit diesen andersartigen Erkenntnissen gelingen mag, die Erkenntnis der Religion zu stützen und zu befestigen, ist eine Frage für sich, die nicht in den Umkreis dieser Untersuchung fällt. Denn gibt es sie, so zeigen sie jedenfalls etwas anderes, als die Gottheit, die im religiösen Erlebnis nahe ist. Es handelt sich hier nur um die Frage, wieweit im religiösen, subjektiven Zustand selbst Wahrheitserkenntnis enthalten ist. Dazu bedurfte es der psychologischen Anschauung von der wirklichen Beschaffenheit der religiösen Zuständlichkeiten und der erkenntnistheoretischen Einsicht in den geltenden, Wahrheit bewirkenden, Gehalt dieser Zuständlichkeiten. Auf die Zusammenfassung von beiden kommt es von Haus aus und im allgemeinen für das Problem an und in der Zusammenfassung von beiden, in der Vereinigung des Bewußtseins um eine notwendige Idee mit der Verlebendigung dieser Idee in bestimmten, sie erregenden Erlebnissen und Vorstellungen, liegt der eigentliche Kern und Höhepunkt des Problems. Denn in dieser Zusammenfassung ensteht das Grundphänomen der Religion, die Empfindung der Gegenwart des Göttlichen in konkreten endlichen Ereignissen und Wirklichkeiten. Keine Theorie kann dieses Höchste und Letzte mehr erklären. Sie kann nur zeigen, daß in diesem Punkt die beiden Hauptbetrachtungsweisen, die psychologische und erkenntnistheoretische, zusammentreffen und daß ihre gegenseitige Durchdringung die religiöse Gegenwartsempfindung sowohl vor der Verflüchtigung in bloße abstrakte Gedanken als vor der Auflösung in allerhand Zufälligkeiten und Menschlichkeiten bewahrt. Die lebendige Produktion des inneren Lebens ist entscheiden, aber wir sind nicht ihrem zufälligen Fluß und seinen Unklarheiten ausgeliefert, sondern wir können aus ihm immer zum Zentrum und zur geordneten Verknüpfung der ganzen Vernunft mit diesem Zentrum streben. An diesem Ideal messen wir die verschiedenen Hervorbringungen des religiösen Lebens. Woher aber dasjenige kommt, das uns in der Einheit der notwendigen Idee eines Göttlichen und einer tatsächlichen Wirkung und Offenbarung entgegentritt, das vermögen wir nicht zu sagen. Dieses Etwas selbst, sein Kommen und Gehen, sein Dasein oder Nicht-Dasein, das bleibt im letzten Grunde das Geheimnis der Religion. Aber wo es ist, da ist es nicht da wie ein totes Ding, sondern da ergreift es die Freiheit und verlangt von ihr die Gestaltung des wirren Lebens aus der Einheit seiner Idee und die immer neue Durchdenkung und Klärung seines eigenen Wesens.

Nur, wenn so beides, der Empirismus und der Rationalismus, die Psychologie und die Erkenntnistheorie, zu seinem Recht kommt, ist die Religionswissenschaft eine Wissenschaft von der Religion, nicht eine Ersetzung der Religion durch Wissenschaft und nicht eine Wissenschaft gegen die Religion, auch nicht bloße Beschreibung der Religion ohne Wissenschaft. Das Wichtige an einer solchen wissenschaftlichen Behandlung der Religions ist, daß sie der Religion ihre Frische und Lebendigkeit, ihre Mystik und Irrationalität läßt, vermöge derer sie allein ist, was sie ist, daß sie aber doch eine Kritik und Regulierung, Selbstvertiefung und Fortentwicklung des religiösen Lebens gewährt, vermöge deren es mehr ist und werden kann, als was es in seiner trüben Massenerscheinung jedesmal tatsächlich zu sein scheint. Die Religionswissenschaft läßt die Religion als Religion bestehen und reguliert sie nur aus ihrem eigenen Apriori heraus, das in den großen geschichtlichen Offenbarungszentren jedesmal mit tieferer Klarheit und mit der Aufforderung zu engerer Verknüpfung der Gesamtvernunft im religiösen Zentrum hervortritt; die unvermeidliche Einseitigkeit der in ihnen sich herausdifferenzierenden religiösen Idee führt den gläubigen Anhang zu umso tieferer Hineinarbeitung der Idee in das Ganze des Lebens. Es bleibt zu Recht bestehen der grundlegende Glaube aller Religion, Offenbarung und Erleuchtung durch die Gegenwart des göttlichen Lebens in der Seele zu sein und aus verborgenen Gründen des unbewußten Lebens hervorzuwachsen, wo es zusammenhängt mit der Weltvernunft und aus denen heraus die Gottheit sich im aktuellen religiösen Vorgang offenbart. Sie bleibt auch unter den Händen der Wissenschaft das, was sie in natürlicher Gesundheit überall war und was sie nach Zeiten der Entbehrung und Selbstentfremdung wieder zu werden überall bestrebt ist, lebeniger Verkehr mit der lebendigen Gottheit. Nur dreierlei wird durch die Wissenschaft aus der gewöhnlichen Religionsanschauung beseitigt: erstlich die Meinung, daß diese Erleuchtung eine einfache, die Gottheit abbildende Wirkung des Göttlichen auf die Seele sei, während sie in Wahrheit ein komplexes Ineinander von Menschlichem und Göttlichem ist; zweitens die Meinung, daß die Wahrheit der einen Religion die der andern ausschließen müsse, während es sich in Wahrheit nur um stärkere oder schwächere, engere oder umfassendere, persönlichere oder unpersönlichere Erschließung des Göttlichen handelt; und drittens die Neigung der religiösen Mystik zum Beharren bei sich selbst und zum Genuß der eigenen Seelentiefen, während der Religion doch ebenso wie aller anderen Vernunftbetätigung die Aufgabe gestellt ist, den Zusammenhang mit der Gesamtbetätigung der Vernunft zu suchen.

So läßt sie Religionswissenschaft die Religion in ihrer Eigenart bestehen, aber sie gibt ihr kritische Grundsätze des Selbstverständnisses, der Vergleichung verschiedener Religionsbildungen, der Selbstreinigung und der Fortentwicklung. Denn alle göttliche Wirkung, die wir in ihr glauben mögen, ist nie zum Selbstgenuß da, sondern immer die Stellung einer Aufgabe, die in der Unterwerfung des bloß Tatsächlichen durch das Allgemeingültige und Notwendige besteht und die daher auch in der Religion vom bloß Tatsächlich-Psychologischen immer auf die Arbeit an der Gestaltung dieses Tatsächlichen zum Ausdruck des Notwendigen hingewiesen wird.

Welche Wirkung eine solche wissenschaftliche Betrachtung der Religion auf die verschiedenen positiven geschichtlichen Religionen haben müsse, das zu untersuchen liegt außerhalb der bisherigen Erörterungen und ist eine Aufgabe für sich. Jedenfalls dürfen sie nicht an einer rationalen Metaphysik gemessen und korrigiert werden, sondern sie müssen ihr eigenes Leben aus sich selbst heraus fortbilden und müssen dabei so weit gehen, als es die in ihren Grundgedanken enthaltenen religiösen Kräfte erlauben. Kommen sie an eine Grenze, wo ihnen bei solcher Selbstberichtigung ihre ganze bisherige Form zerbricht, so mögen sie nach einer anderen Religion ausschauen, in deren geschichtlicher Gestaltung eine tiefere und fortschrittsfähigere Kraft des religiösen Lebens enthalten ist und können sie eine solche nicht finden, so mögen sie neuer Erschließungen des religiösen Lebens warten und bis dahin mit dem Besten leben, was ihnen die bisherige Geschichte gebracht hat. Glauben wir aber an einen im Prinzip endgültig erreichten Höhepunkt, dann mögen über die Religionsgeschichte befestigen und vor allem handeln aus der Kraft dieses Glaubens, um uns an der stärkenden und reinigenden Wirkung dieses Glaubens, um uns an der stärkenden und reinigenden Wirkung dieses Glaubens auf das Leben, an der von ihm ausgehenden Vertiefung und Klärung der Gesamtvernunft, zunehmend von seinem Recht zu überzeugen.
LITERATUR Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts and sciences in St. Louis / Massachusetts, Tübingen 1905