ra-2Paul TillichDie Trennung von Staat und KircheReinhold Niebuhr    
 
ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Psychologie und Erkenntnistheorie
in der Religionswissenschaft

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"Es bleibt im Bewußtsein immer ein Rest des Unbegreiflichen, das deshalb unbegreiflich ist, weil es überhaupt nicht zu begreifen ist, das heißt: weil es Schein und Irrtum ist. Damit aber ist gesagt, daß die Wirklichkeit nie völlig rational ist, sondern in einem Kampf des Rationalen gegen das Anti-Rationale begriffen ist. Das Antirationale oder Irrationale im Sinne des psychologischen Scheins und Irrtums gehört also mit zum Wirklichen und liegt im Kampf mit dem Rationalen. Die vom Denken zu gewinnende eigentliche und rationale Wirklichkeit ist immer zusammen mit der uneigentlichen psychologischen, d. h. den Schein und Irrtum enthaltende Wirklichkeit. Das alles aber bedeutet, daß der Rationalismus der Erkenntnistheorie nur ein bedingter sein kann, teils wegen der immer sich korrigierenden und bereichernden Befruchtung durch das naturwüchsige und naive Denken, teils wegen der nie völlig sicher auszumerzenden Beimengung des Scheins und Irrtums."

Steht die Sache aber so, dann ist doch im Prinzip die Trennung der psychologischen von der erkenntnistheoretischen Aufgabe anerkannt und der Unterschied beider Behandlungen dahin bestimmt, daß die erste ledigliche Tatsachen nach Ähnlichkeit, Koexistenz und Sukzession gruppiert und zwischen ihnen Funktionsverhältnisse festgestellt, daß dagegen die zweite durch rationale, allgemeine Begriffe möglichst Allgemeingülitgkeit erstrebt. Wenn die geistreichen Untersuchungen von JAMES ein besonders gelungenes Beispiel oder Fragment der Religionspsychologie sind, so sind sie eben deshalb auch ein besonders schlagendes und lehrreiches Beispiel für die Unzulänglichkeit der reinen Psychologie. Es handelt sich vielmehr in Wahrheit um eine Synthese der psychologischen Empirie und der rationalen Erkenntnistheorie.

Freilich ist zur genaueren Erläuterung dieses Satzes nötig, zu bestimmen, was unter Rationalismus zu verstehen ist, der sich hier neben und gegen die Empirie stellt. Es gibt drei Formen des Rationalismus: erstens den spekulativen Rationalismus, der aus dem Inhalt eines Begriffs analytisch die Folgerungen entwickelt und, indem er einige Begriffe als denknotwendig, und d. h. als Realität bedeutend, bezeichnet; das ist der Rationalismus der apriorischen Metaphysik, wie er sich vom Neuplatonismus über den scholastischen Gottesbegriff zur rationalen natürlichen Theologie und zur HEGELschen Lehre von der Selbstexplikation der absoluten Idee zieht; zweitens den regressiven Rationalismus, der aus Tatsachen der Erfahrung durch Schlüse zu bloß gedachten, aber eben darum realen Gründen der Wirklichkeit gelangt und für die Bündigkeit dieser Schlüsse auf die apriorische Notwendigkeit dieser logischen Operationen verweist; es ist der Rationalismus, der im aristotelischen und stoischen Gottesbegriff und ihren Ausläufern durch kosmologische und teleologische Argumente eine aus der Erfahrung erwachsende Metaphysik hervorgebracht hat; drittens den formalen, erfahrungsimmanenten Rationalismus, der überall in der elementaren Erfahrung selbst schon das Walten des logischen Apriori konstatiert und nur verlangt, daß dieser überall von der Erfahrung selbst schon angesponnene Rationalismus sich aus ihr heraus mit Klarheit und Konsequenz erfasse und sie von sich aus zu einer rationell geordneten Wirklichkeit umforme, indem erst die gesetzliche Formung und Verknüpfung uns etwas als gesicherte Wirklichkeit gegen den psychologischen Schein sicher zu stellen erlaubt; es ist der Rationalismus, dessen Ausbildung in der Tendenz der platonischen Allgemeingbegriffe gelegen hat, den DESCARTES und LEIBNIZ mit der Mathematik auf die Erfahrung anwandten und den insbesondere KANT zu prinzipieller Klarheit entwickelt hat.

Handelt es sich also bei unserem Problem um Psychologie und Erkenntnistheorie, um irrationale Tatsächlichkeit und rationale Gültigkeit, so versteht sich von selbst, daß die erste Form des Rationalismus hier ganz ausscheidet. Sie hat höchstens den Wert einer Ahnung von der Vernünftigkeit der Welt, welche Ahnung mit dem Denken selbst freilich immer gesetzt ist; aber sie hat sich nie ohne die stärksten Anleihen bei der Erfahrung durchführen lassen. Aber auch die zweiter Form kommt nur nebenbei in Betracht, insofern etwa sich nach Erledigung des Hauptproblems die Begehung dieser Wege noch als notwendig herausstellen mag. Das Hauptproblem selbst aber ist ausschließlich durch die dritte Form des Rationalismus bezeichnet.  Es handelt sich um den formalen Rationalismus der religiösen Erkenntnistheorie und sein Verhältnis zur Religionspsychologie.  Dieser formale Rationalismus schließt von Haus aus die ernsteste Beachtung des rein Tatsächlichen und Psychologischen und das heißt des Irrationalen, ein, aber er holt aus diesem Tatsächlichen und Irrationalen das Rationale herau, um auf die so gewonnene rationale Gesetzes- und Verknüpfungsbegriffe diejenige Anerkennung des Wirklichen und Geltenden zu begründen, die für menschliches Denken, soweit das Denken als logisches Vermögen reicht, allein möglich ist. Dabei versteht sich von selbst, daß aus den Denkprodukten die Abhängigkeit vom Psychologisch-Zufälligen nie ganz ausgemerzt werden kann und daß alle Rationalisierung der Erfahrung immer nur eine annähernde, immer von neuem durch neue Erfahrung zu neuer Arbeit getriebene, ist. Alles Lebendigkeit und Konkretheit strömt aus der Erfahrung oder vielmehr aus dem Tatsächlichen, das in der Erfahrung enthalten ist und alle gesicherte Realitätserkenntnis stammt aus der Wissenschaft oder vielmehr aus der Selbsterfassung des Rationalen, das in der Erfahrung enthalten ist. So wird die Wissenschaft nur Vereinheitlichung und Reduktion der Erfahrung sein, aber die Erfahrung wird auch in demselben Maß vom Verdacht des Scheins und Irrtums befreit. Eine absolut vollendete, in allem Einzelnen gesicherte und im Ganzen vollständige Erkenntnis wird ein solcher Rationalismus niemals geben können, aber wohl eine beständige Eingrenzung und Zurückdrängung des Scheins und eine beständige Klärung und Zurechtfindung gegenüber dem verwirrenden Strom des psychologischen Gemenges.

In diesem Sinne ist die Synthese des Empirischen und Rationalen, der Psychologie und der Erkenntnistheorie, auch für die Religionswissenschaft zu verstehen. Auch hier gibt es wissenschaftlich niemals eine absolut gesicherte und vollständige Erkenntnis des Wahrheitsgehaltes der Religion; aber, was innerhalb der grenzenlosen Mannigfaltigkeit der empirisch-psychologischen religiösen Erscheinungen als das Geltende bewiesen werden kann, das stammt aus dem apriorischen Rationalismus, der das in der Religion waltende und sie produzierende Vernunftgesetz aufdeckt. Auch hier bleibt der eigentliche Gegenstand stets die unberechenbare Produktivität, das Irrational-Konkrete und Lebendige des Lebens selbst, aber dieses Leben kann und muß reguliert, auf sein Grundgesetz und seinen Zusammenhang im System der Vernunftgesetze zurückgeführt werden, wenn das Notwendige an diesem Gegenstand gegen Verwilderung und Verworrenheit, gegen Einseitigkeit und Verkümmerung, gegen Unsicherheit und Erschütterung geltend gemacht werden soll. Auch hier ist Schein und Wahrheit immer zu scheiden durch Reduktion auf ein allgemeines Gesetz, aber ohne daß darum das Gesetz an Stelle der lebendigen Wirklichkeit träte. Es ist in ihr und bleibt in ihr und wirkt aus ihr heraus gegen Schein und Verwirrung.

Eine solche Synthese des Rationalen und Irrationalen, des Psychologischen und Erkenntnistheoretischen ist nun aber das Grundproblem, das sich die Kantische Lehre gestellt hat und es ist die Bedeutung KANTs, das Problem in diesem Sinne klar und für immer gestellt zu haben. Wenn wir von der Psychologie eines JAMES nach einem Typus religionswissenschaftlicher Begriffe ausbliecken, wo gerade die von ihm nicht erledigten Fragen grundlegend behandelt sind, so kann es nur der alte und immer neu belebte KANT sein, an den wir uns zu halten haben. JAMES' angelsächsischer Pragmatismus liebt das grüblerische Wesen KANTs nicht; er wittert in ihm nur einen künstlich und umständlich mit der Erfahrung sich abfindenden Rationalismus und scheut allem Anschein nach die damit verbundene Grübelei. Allein ohne Rationalismus und ohne die Grübelei, die sich gerade das Verhältnis des Rationalen und Empirischen zum Gegenstand macht, können die von JAMES liegen gelassenen Probleme überhaupt nicht behandelt werden. Welche Bereicherung und Vertiefung eine psychologische Behandlung im Sinne von JAMES auch gebracht haben mag, das Hauptproblem bleibt unerledigt und für dieses Hauptproblem tritt auch ihm gegenüber die tiefsinnige Lehre KANTs ein. KANT ist reicher als der psychologische Empiriker, weil KANT Empiriker ist, indem er Rationalist ist und Rationalist ist, indem er Empiriker ist. Er hatte den gleich starken Sinn für die empirisch-tatsächlichen, wie für die rational-begrifflichen Elemente der menschlichen Erkenntnis und konstruierte die Wissenschaft als einen Ausgleich zwischen beiden. Er hat den a priori spekulativen Rationalismus der denknotwendigen Ideen und der analytischen Folgerungen aus ihnen, der aus der Denknotwendigkeit als solcher die Realität herauszuklauben unternimmt, für immer zerstört. Er hat den regressiven Rationalismus auf metaphysische Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten eingeschränkt, deren Evidenz auf der zu ihnen führenden Unausweichlichkeit logischer Operationen ruht, die aber allgemeine Begriffe ohne Anwendung auf Erfahrung verwenden und darum ins Leere geraten, also keine eigentliche Erkenntnis mehr gewähren. Dagegen hat er den formalen, erfahrungsimmanenten Rationalismus proklamiert, indem er die Wahrheit HUMEs mit der Wahrheit von LEIBNIZ und PLATO zu vereinigen strebte. Damit hat er in der Tat das große Problem des Denkens in der Wurzel gefaßt und die Lösungsversuche auf die richtige Basis gestellt. Es ist daher nicht bloß eine nationale Gewohnheit deutschen Philosophierens, wenn wir uns wesentlich an diesem größten deutschen Denker orientieren, sondern es ist auch an und für sich die fruchtbarste und scharfsinnigste Fassung des Problems. Die Lösungen allerdings, die KANT ihm gegeben hat und die eng mit der damaligen Präpoderanz [Vorherrschaft - wp]der klassischen Mechanik zusammenhängen, mit der Unentwickeltheit der damaligen Psychologie und mit der Unvollkommenheit des damals erst sich regenden historischen Denkens, sind inzwischen mannigfach wieder aufgegeben. Eine einfache Rückkehr zu ihnen ist daher unmöglich. Aber das Problem ist von ihm grundlegend gestellt und auch die Hauptlösungen werden nur einer Modifikation und Ergänzung bedürfen.

Alles das gilt nun auch für die Religionswissenschaft. Auch hier ist KANT denselben Weg gegangen, der ihm für die theoretische Erkenntnis der Naturwissenschaften und der Anthropologie richtig erschienen war. (1) Auch hier sucht er analog zu den Gesetzen der theoretischen Vernunft Gesetze der praktischen Vernunft, Grundgesetze des ethischen, ästhetischen und religiösen Bewußtseins, die schon in den elementaren Erscheinungen dieser Gebiete a priori enthalten sind und in der Anwendung auf die konkrete Tatsächlichkeit gerade diese Betätigungen der Vernunft hervorbringen. Auch hier gilt es nur, die im Leben selbst enthaltene Vernunft, das in der Buntheit der Erscheinungen selbst schon wirksame apriorische Gesetz, zu fassen, sich selber durchsichtig zu machen und dadurch zu einer Kritik des Ablaufs der seelischen Erscheinungen zu befähigen. In der praktischen Wirklichkeit sich selbst erfassend, kritisiert die praktische Vernunft die psychologische Gemengelage, stößt ab als Schein und Irrtum, was sich nicht in ein solches Gesetz fassen läßt, holt hervor, was desselben als des Haltes und Zentrums bedarf und doch der Klarheit über sich wegen mangelnden Zusammenhangs noch entbehrte, macht die Bahn frei für weitere Offenbarungen eines Lebens, das sich seiner inneren Gesetzlichkeit bewußt und dadurch zur Entwicklung kritisch gereinigter Erfahrung fähig geworden ist.

Wenn es sich daher um die heutigen Probleme der Religionsphilosophie handelt, so glaube ich, daß sie noch heute im Prinzip die Wege KANTs zu gehen hat. Und zwar ist damit gar nicht bloß das gemeint, was heute im allgemeinen als das eigentliche Kennzeichen einer kantisierenden Religionslehre gilt: die Lehre über Glauben und Wissen, die Scheidung der theoretischen und der praktischen, d. h. der naturwissenschaftlich-kausalgesetzlichen und der geschichtswissenschaftlich-wertgesetzlichen Vernunft. Das betrifft nur das Verhältnis der Religionswissenschaft zur Spekulation. Vielmehr meine ich das für die eigentliche und wesentliche Aufgabe der Religionsanalyse selbst, welche den in der Religion selbst verknüpften empirischen Elementen der tatsächlichen religiösen Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Wollungen und ebenso den rationalen Elementen des allgemeinen Bewußtseinsgesetzes der Religion nachgehen und beide aufeinander beziehen muß. Auf dem praktischen Charakter beruth für KANT nur die Trennung der Religion von der theoretischen exakt-zwingenden Wissenschaft, aber nicht die Wahrheitsgeltung der Religion. Und die Verknüpfung dieses rationalen Elementes mit einer unbefangenen Psychologie, welche das rein Tatsächliche und Irrationale im religiösen Bewußtsein unbefangen anerkennt, das ist das eigentliche und wirkliche Problem, das seine Religionslehre stellt. Sie hat das apriorische Bewußtseinsgesetz zu suchen, das sich in der Tatsächlichkeit des religiösen Lebens äußert und hat an diesem Bewußtseinsgesetz den letzten für die Wissenschaft erreichbaren Grund für die Feststellung des Wahrheitsgehaltes der Religion und eben damit auch ein Mittel der kritischen Reinigung und Fortentwicklung der naturwüchsigen psychologischen Religion. Der formale Rationalismus des apriorischen, in der Fülle seelischer Wirklichkeit wirkenden, Gesetzes ist für die Religionswissenschaft neben der unbefangenen Religionspsychologie zur Religionswissenschaft. Gerade das verkennt die auf KANT sich berufende Werturteils-Theologie; indem sie allen Nachdruck auf die Scheidung theoretischer und praktischer Vernunft legt und an der Religion stets nur die praktische Unentbehrlichkeit der von ihr beanspruchten Werte betont, verliert sie die Notwendigkeit des Objekts, an dem diese Werte haften und gerät sie an den Abgrund der Wunsch- und Jllusionstheologie. KANT selbst dagegen hat stets die Notwendigkeit der apriorischen religiösen Vernunft und das in ihr gesetzte Objekt betont und darum gerungen, dieses rational-notwendige Element mit dem empirisch-psychologischen der konkreten religiösen Vorstellungen und Gefühle zu verbinden. An diesem Punkt liegt dann auch das eigentliche und dauernde, das heißt das richtig gestellte, Problem. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß neben diese Hauptaufgabe noch andere Fragestellungen treten. Es wird unumgänglich sein zu fragen, wie sich die Ergebnisse einer solchen Untersuchung zu denen eines regressiven Rationalismus verhalten und ob sie in einem solchen irgendwie etwa eine weitere Stütze finden. Es wird weiter nötig sein, die verschiedenen Formen des religiösen Lebens einer geschichtsphilosophischen Wertabstufung zu unterziehen. Und es wird schließlich festgestellt werden müsse, welchen Einfluß das wissenschaftliche Weltbild auf die gedanklich oder vorstellungsmäßige Fixierung der Religion auszuüben berufen ist oder mit anderen Worten: welcher Einfluß dem modernen Weltbild in der bewußten Religionsgestaltung der Gegenwart einzuräumen ist. Aber all das kommt doch erst, wenn die Hauptaufgabe erledigt ist. Der feste Kern der Religionswissenschaft werden immer Psychologie und Erkenntnistheorie der Religion sein, beide in dem Verhältnis gefaßt, das KANT ihnen grundlegend angewiesen hat.

Gilt aber das, so ist freilich damit der Kantische Gedanke nur im Prinzip und im Ganzen behauptet. Die Durchführung selbst wird eine wesentlich andere sein müssen. Sein eigenes Prinzip der Synthese von Empirie und Rationalismus ist gerade von KANT selbst an diesem Punkt nicht entfernt mit der nötigen Strenge und Konsequenz durchgeführt worden. Auch liegt heute eine ganz anders entwickelte Religionspsychologie vor, der gegenüber die von KANT vorausgesetzte kahl und mager ist. Schließlich liegen in der ganzen Methodik des Kritizismus überhaupt noch ungelöste Probleme, deren Ungelöstheit oder voreilige Lösung gerade für die Religionswissenschaft besonders empfindlich ist.

Es gilt daher zur Klärung des heutigen Problemstandes vor allem, die Modifikationen zu bezeichnen, welche die Kantische Religionslehre erleiden muß, und zwar vor allem aus Anlaß einer verfeinerten Psychologie erleiden muß, wie sie bei JAMES vorliegt. Es sind  vier Punkte,  um die es sich dabei handelt.

Das  erste  ist die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Erkenntnistheorie schon bei der Feststellung der erkenntnistheoretischen Gesetze selbst. Ist nicht die Aufsuchung und Konstatierung der erkenntnistheoretischen Gesetze selbst nur in der Weise psychologischer Feststellung von Tatsachen möglich, also selbst schon eine psychologische Aufgabe und daher von allen Bedingungen dieser abhängig? Es ist die viel verhandelte Grundfrage nach dem Zirkel, der in den Ausgangspunkte des Kritizismus selbst liegt. Darauf ist nur zu sagen, daß dieser Zirkel im Wesen aller Erkenntnis selber liegt und daß er eben nichts anderes, als eine Grundvoraussetzung allen Denkens, das Vertrauen zu einer Vernunft, die im Gebrauch selbst erst durch sich selber festgestellt wird. Die unverkennbaren Elemente des Logischen drängen sich selbst als logisch im Unterschied vom Psychologischen auf und von hier aus muß der Vernunft zugetraut werden, daß sie dann des weiteren in allen ihren Trübungen und Verwicklungen sich überall selbst innerhalb des Psychologischen wieder erkenne. Es ist der Mut des Denkens, wie HEGEL sagt, der sich die Selbsterkenntnis der Vernunft zutrauen darf und Vernunft als im Psychologischen enthalten voraussetzen darf; oder es ist die ethisch-teleologische Grundvoraussetzung allen Denkens, wie LOTZE sagt, die an die Erkenntnis und die Gültigkeit ihrer Gesetze glaubt um des Sinnes und Zusammenhanges des Wirklichen willen und die daher auch sich aus dem psychologischen Gemenge herauszuerkennen trauen muß. Die Feststellung der erkenntnistheoretischen Gesetze ist so nicht selbst eine psychologische Analyse, sondern eine Selbsterkennung des Logischen, vermöge deren es sich aus den bloß psychologischen Gemengelage herauszieht. Die Erkenntnistheorie schließt so wie jeder Rationalismus allerdings ganz wesentliche Voraussetzungen über den sinnvollen, vernünftigen und teleologisch zusammenhängenden Charakter des Wirklichen ein und ohne diese Voraussetzung ist sie nicht haltbar; in dieser Entscheidung, die eine Entscheidung des Willens ist, liegt ihre Wurzel. Das ist eine alte Erkenntnis, deren Bedeutung aber stets von neuem hervorgehoben werden muß, wenn es sich um die Geltendmachung des Rationalen gegen das bloß Empirische handelt.

Wichtiger aber noch als dieser Satz selbst sind einige Folgesätze, die mit ihm gegeben sind. Die Feststellung der Bewußtseinsgesetze, in denen wir die Erfahrung hervorbringen, ist ein Hervorholen dieser Gesetze aus der Erfahrung selbst, eine Selbsterkenntnis der in der Erfahrung enthaltenen Vernunft durch die sie herausziehende Analyse. Dann aber ist sie eine unendliche, in immer neuem Anlauf zu vollziehende und immer nur annähernd lösbare Aufgabe. Die völlige Scheidung des bloß Psychologisch-Tatsächlichen und des Logisch-Notwendigen wird nie gelingen, sondern immer Zweifel offen lassen; es kann nur versucht werden, dieses Gebiet des Zweifelhaften immer stärker einzuengen. Und damit hängt eine Weiteres zusammen. Die unerschöpfliche Produktion des Lebens wird immer reicher sein an latentem Vernunftgehalt, als die Analyse es herausfindet, oder, anders ausgedrückt, die in das Licht der Logik erhobenen Gesetze werden immer hinter dem nicht ins Bewußtsein erhobenen Vernunftgehalt zurückbleiben und die bewußte Logik wird sich immer wieder aus den im Verkehr mit dem Objekt erwachsenden, naturwüchsigen logischen Operationen korrigieren und bereichern müssen. Es wir also nie, wie KANT meinte, ein fertiges System der apriorischen Grundbegriffe vollendet, sondern dieses System wird immer im Wachsen sein, sich beständig korrigieren müssen und offene Stellen behalten. Schließlich und vor allem bleibt bei dieser Sonderung ein Rest innerhalb der psychologisch bedingten Erscheinungen bestehen, der entweder noch unbegriffenes, später aber gesetzlich reduzierbares und damit begriffenes Phänomen ist, der der das nie werden kann und der dann Schein und Irrtum ist. Soll Psychologisches und Erkenntnistheoretisches geschieden werden, dann kann das nicht bloß geschehen, um zu zeigen, daß beides stets zusammen sein muß und erst zusammen wirkliche Erfahrung bildet; sondern dann muß sich auch eine Ausscheidung dessen ergeben, was eben bloß psychologisch und nicht auch zugleich rational ist, weil es Schein und Irrtum ist. Die Unterscheidung des Scheins und des Realen war der Ausgangspunkt, der zu der ganzen Problemstellung nötigte und so muß das bloß Psychologische oder Schein und Irrtum bleiben neben dem, was psychologisch und erkenntnistheoretisch zugleich ist. Es bleibt im Bewußtsein immer ein Rest des Unbegreiflichen, das deshalb unbegreiflich ist, weil es überhaupt nicht zu begreifen ist, das heißt: weil es Schein und Irrtum ist. Damit aber ist gesagt, daß die Wirklichkeit nie völlig rational ist, sondern in einem Kampf des Rationalen gegen das Anti-Rationale begriffen ist. Das Antirationale oder Irrationale im Sinne des psychologischen Scheins und Irrtums gehört also mit zum Wirklichen und liegt im Kampf mit dem Rationalen. Die vom Denken zu gewinnende eigentliche und rationale Wirklichkeit ist immer zusammen mit der uneigentlichen psychologischen, d. h. den Schein und Irrtum enthaltende Wirklichkeit. Das alles aber bedeutet, daß der Rationalismus der Erkenntnistheorie nur ein bedingter sein kann, teils wegen der immer sich korrigierenden und bereichernden Befruchtung durch das naturwüchsige und naive Denken, teils wegen der nie völlig sicher auszumerzenden Beimengung des Scheins und Irrtums. So ist das System der kategorialen Formen, wie es KANT für die theoretische und praktische Vernunft gebildet hat, längst wieder in Bewegung geraten und kann niemals die Starrheit erlangen, die KANTs Rationalismus ihm hat für immer verleihen wollen. Und so enthält die rationale, von der Vernunft hervorgebrachte Gesetzeswirklichkeit des Kritizismus immer zugleich neben sich und unter sich die bloß psychologische Wirklichkeit des Tatsächlichen, zu dem auch Schein und Irrtum gehören, die nie rationalisiert, sondern nur beseitigt werden können. Wie das radikal Böse eine Konsequenz des Kritizismus ist, der das Gesetz der praktischen Vernunft nur gegen den Widerstand einer wirklich andersartigen Motivierung gewinnen kann, so ist seine Konsequenz auch das radikal Sinnlose und radikal Dumme, das lediglich falsch ist und lediglich berichtigt werden muß in einem realen Kampf der Vernunft gegen das Noch-nicht-Vernünftige und Unvernünftige. Wäre der Gegensatz nicht da und käme es nicht zu einem realen Kampf, so würde die ganze Scheidung des Logischen vom bloß Psychologischen gar nicht entstehen.

Und all das gilt denn auch für die Religionsphilosophie: die rationale Reduktion der psychologischen Tatsachen der Religion auf in ihnen waltende allgemeine Bewußtseinsgesetze ist eine beständig neu aus dem Studium der Wirklichkeit aufzunehmende Aufgabe und folgt der Bewegung der naturwüchsigen Religion nach, um in ihr den rationalen Grund erst zu finden; die Reduktion ist weiterhin immer nur eine annähernde, kann immer nur die Hauptpunkge erfassen und wird vieles offen lassen müssen, dessen rationale Begründung nicht oder noch nicht durchsichtig ist; sie hat schließlich überall mit dem Irrationalen als Schein und Irrtum zu rechnen, das überall am Rationalen haftet und doch von ihm aus nicht erklärlich ist. Die zwei Wirklichkeiten, die der Kritizismus schon in seiner Grundlage anerkennen muß, bleiben nebeneinander auch im Ergebnis. Das Erkennen ist die Gewinnung einer rationalen und gültigen Wahrheit durch Gesetze; aber diese Gewinnung ist stets ein Kampf mit dem Irrationalen und Ungültigen; es holt sich in der Tat des Denkens aus seiner Vermengung mit dem bloß Tatsächlichen und mit dem Irrtümlichen heraus und einer objektiven Vernunftnötigung folgend, schafft es doch immer erst die dem Menschen geltende Wahrheit durch die Tat. Dann aber ist auch das Unternehmen, aus der psychologisch-geschichtlichen Wirklichkeit der Religion die Wahrheit der Religion herauszuerkennen, immer zugleich ein Kampf mit dem bloß Tatsächlichen und mit dem Irrtum und ist auch die Feststellung der religiösen Wahrheit stets eine Tat und Entscheidung, die, objektiver und vernunftgesetzlicher Nötigung gehorchend, doch erst im Kampf mit dem Irrtum und in der Bewältigung des bloß Tatsächlichen die Wahrheit erschafft, indem sie sie findet. KANT selbst hat im wesentlichen die empirische Religionsgeschichte so betrachtet, wenn er auch seine Betrachtung in die viel zu engen deistisch-rationalistischen Formen einer Beurteilung der geschichtlich-positiven Religion durch die reine Vernunftreligion einkleidete, wobei es diese reine Vernunftreligion als fertigen Inhalt und Maßstab für die wirklichen Religionen nach seinen eigenen Voraussetzungen gar nicht geben konnte. Die Religionsphilosophie der HEGELschen Schule hat uns dann daran gewöhnt, das rationale Bewußtseinsgesetz der Religion immer in seiner historisch-empirisch-konkreten Erfüllung zu denken. Allein ihr rationalistischer Monismus, der bei den weniger konsequenten, mit Gefühl, Herz und Willen paktierenden Nachfolgern von heute zu einem sträflichen Optimismus und einer behaglichen Gutmütigkeit geworden ist, hat dann nun auch alles Empirische in die Vernunft aufgenommen und für ihn gibt es keine radikale Unvernunft und keinen Irrtum. Die psychologische Erklärbarkeit und Nachfühlbarkeit der Motive läßt nicht bloß alles psychologisch verstehen und verzeihen, sondern taucht allen Wahnsinn und Aberwitz, allen Stumpfsinn und Wahrheitshaß, alle Greuel und Verbrechen, alle Gedankenlosigkeit und Verworrenheit der empirisch-psychologischen Religion in den dämmernden Nebel einer jedesmal an ihrem Ort vernünftigen Notwendigkeit. Das tötet allen Kampf und alle Arbeit an der Religion, ohne die es auch hier keine Wahrheit gibt; und, stünde die Sache so, dann wäre es nicht der Mühe wert, einen Gedanken anzuspannen und eine Feder anzusetzen für ein so ergebnisloses Ding, wie die Religionsphilosophie dann wäre. Nein, die recht verstandene und recht fortgesetzte Kantische Lehre fordert die genaueste Kenntnis der empirisch-tatsächlichen Wirklichkeit der Religion und die Herausgestaltung der Wahrheit aus dieser Wirklichkeit, die nur zum Teil göttlich-menschliche Wahrheit, zum anderen Teil aber einfacher menschlicher Irrtum ist.

Die  zweite  Korrektur der Kantischen Lehre ist nur die andere Seite dieses Sachverhaltes. Erfordert das Verhältnis von Psychologie und Erkenntnistheorie eine strenge Scheidung, so erfordert es diese Scheidung doch nur zum Zweck richtiger Beziehung. Die erkenntnistheoretischen Gesetze sind unterschieden von der bloßen psychologischen Tatsächlichkeit, können aber doch nur aus ihr hervorgeholt werden. Und so ist in der Tat die psychologische Analyse die Voraussetzung für die richtige Erfassung aller dieser Gesetze. Die Psychologie ist das Eingangstor zur Erkenntnistheorie. Das gilt für die theoretische Logik so gut wie für die praktische Logik des Sittlichen, Ästhetischen und Religiösen. Gerade an diesem Punkt aber drängt die Gegenwart aufgrund ihrer psychologischen Forschungen weit über die Urformen der Kantischen Lehre hinaus. Es ist hier nicht der Ort, das für die erstgenannten Gebiete näher zu beschreiben. Wichtig aber ist, hervorzuheben, daß das gerade für die Kantische Religionslehre vorzugsweise gilt. Die Kantische Religionslehre beruhte auf der Moral- und Religionspsychologie des Deismus, der die in der Erfahrung häufige Verknüpfung sittlicher Empfindungen mit religiösen Gefühlen zur alleinigen Basis der Religionsphilosophie gemacht und diese Verknüpfung in der Weise der Psychologie des 18. Jahrhunderts sofort in intellektuelle Reflexionen verwandelt hatte, denen gemäß das Sittengesetz seinen Urheber und Garanten fordert. KANT hat diese Religionspsychologie ungeprüft übernommen und darauf sein Grundgesetz des religiösen Bewußtseins aufgebaut, wonach ihm in der Religion ein synthetisches Urteil a priori wirksam ist, das aus dem sittlichen Erlebnis der Freiheit entsteht und die Welt als den Zwecken der Freiheit untertan zu betrachten zwingt. Das aber ist eine sehr einseitige Orientierung der Religionsanalyse gerade an den ethischen Elementen und eine sehr gewaltsame Übersetzung der religiösen Zuständlichkeiten in Reflexion. Der Irrtum dieser Religionspsychologie ist bereits von SCHLEIERMACHER aufgedeckt und berichtigt worden. Aber SCHLEIERMACHER hat dann doch seinerseits einer allzu raschen metaphysischen Ausdeutung des von ihm aufgezeigten religiösen Apriori ebensowenig widerstanden, indem er die apriorische Beurteilung der Dinge unter dem Gesichtspunkt der absoluten Abhängigkeit von Gott nicht bloß als ein dunkles Gefühl beschrieb, sondern dieses Gefühl vermöge der in ihm angeblich stattfindenden Indifferenz von Denken und Wollen, Vernunft und Natur, zum Weltprinzip erhob und den in diesem Gefühl enthaltenen Gottesgedanken im Sinne seines Spinozismus, seiner Indifferenz von Gott und der Natur im Absoluten deutete. Eine wirkliche Erkenntnistheorie der Religion wird sich weit unabhängiger von allen metaphysischen Voraussetzungen und Folgerungen halten müssen und sich das Wesen des religiösen Apriori aus einer völlig unbefangenen psychologischen Analyse zeigen lassen müssen.

Hier ist denn auch der Ort, wo Werke, wie das von JAMES eingreifen können. Die Religion als die besondere Kategorie oder Form psychischer Zuständlichkeiten, die sich aus der mehr oder minder dunklen Präsenz des Göttlichen in der Seele ergibt, die Gegenwarts- und Wirklichkeitsempfindung in bezug auf Übermenschliches oder Unendliches, das ist ganz zweifellos ein viel richtigerer Ausgangspunkt für die Analyse des rationalen Apriori der Religion. Hier liegen die Aufgaben der heutigen und zukünftigen Religionspsychologie. Einer solchen hat die praktische Analyse in Predigt, Meditation und Erbauung in allen Regionen vorgearbeitet. Hierher gehören die besten Gedanken eines AUGUSTIN, der Mystiker und Pietisten, hierher die Versuche eines JACOBI, SCHLEIERMACHER, HERDER und FRIES, die Selbsterforschungen eines VINET und KIERKEGAARD. Eine wirkliche wissenschaftliche Verarbeitung von alledem im Rahmen eigentlich psychologischer Begriffe aber ist noch eine Zukunftsaufgabe, zu deren Lösung die genannten Amerikaner die erste Hand angelegt haben. Wird aber diese neue psychologische Grundlegung wirklich fruchtbar gemacht für das eigentliche Ziel der Religionsphilosophie, die Erkenntnistheorie der Religion oder die Lehre vom Wahrheitsgehalt der Religion, dann werden die auffallenden Härten und die jedem instinktiv fühlbaren Mängel der Kantischen Religionslehre, ihr kühler Moralismus und ihr intellektueller Postulatencharakter, verschwinden, und es wird nicht mehr möglich sein, daß einer der besten Theologen sich an der ganz einseitigen Aufgabe abquält, die Religions als Kern der formalen sittlichen Autonomie zu erweisen und das Christentum als die wunderbare Wiederherstellung dieser Autonomie zu beschreiben, die im heteronom und damit sündig gewordenen Menschen durch den persönlichen Eindruck JESU neu entzündet wird. Dann wird auch erst der Weg frei werden, neben dem Christentum und seinen Religionen die andere größte Religionsbildung, den Hinduismus mit seinen Religionen, zu verstehen und mit wissenschaftlicher Billigkeit und Überlegung an die große Zukunftsfrage heranzugehen, die sich aus dem Zusammenstoß der christlichen Welt mit der ostasiatischen ergeben wird.
LITERATUR Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts and sciences in St. Louis / Massachusetts, Tübingen 1905
    Anmerkungen
    1) Für das Nähere verweise ich auf meine Arbeit "Das historische in Kants Religionsphilosophie".