ra-2Paul TillichDer Gottesbegriff bei Jakob BöhmeReinhold Niebuhr    
 
THEODOR ROHMER
Kritik des Gottesbegriffes
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"Der Theist steht hier vor einer jedem Knaben handgreiflichen, unauflöslichen Schwierigkeit. Wir kennen kein Sein, das nicht räumlich und zeitlich existiert. Die höchste Existenz aber, Gott, soll weder räumlich noch zeitlich existieren. Gott existiert also nach den Begriffen unserer Vernunft  nicht;  sein Dasein ist mit diesen Begriffen schlechthin unvereinbar."

"Wenn Raum und Zeit Trugbilder unseres Gehirns sind, welche Wahrheit bleibt noch übrig? Wenn die Grundvorstellungen der Vernunft uns gegeben sind, um uns zu täuschen, wie können wir uns unserer Vernunft überhaupt bedienen? Und wenn es wirklich keine unendliche Ausdehnung und keine unendliche Dauer gibt, wie kann es einen allgegenwärtigen und ewiglebenden Gott geben?"


III. Geistige Fehler des Theismus

1. Die versuchten Beweise für das Dasein Gottes

So wenig, als der Pantheismus das menschliche Herz, hat der Theismus bis jetzt die menschliche Vernunft zu befriedigen vermocht.

Alle bisherigen spekulativen Versuche zugunsten des Theismus sind entweder unwillkürlich im Pantheismus hängen geblieben oder haben eine wirkliche Begründung des Theismus nicht erreicht.

Keines der zahlreichen scholastischen Systeme, welche seit der Emanzipation der Philosophie durch SPINOZA Deutschland bewegt haben, hat den Spinzozismus überwunden. (1) LESSING hatte <LEIBNIZ vor sich und erklärte sich spekulativ unfähig, über SPINOZA hinauszukommen; JAKOBI hatte KANT erlebt und erklärte das Gleiche; SCHLEIERMACHER hatte die mannigfachen nach KANT entstandenen Systeme vor sich und war der nämlichen Meinung. Die neuen theistischen Erwartungen, welche seitdem SCHELLING im scholastischen Teil des Publikums erregt hat, sind durch die Veröffentlichung der "Philosophie der Offenbarung" für immer zerstört worden.

Die sogenannten "Beweise für das Dasein Gottes", deren sich seit langer Zeit die christliche Theologie bedient, sind teils auf den pantheistischen Gottesbegriff ebenso anwendbar, wie auf den theistischen, teils an sich ungenügend. Da jedoch die Philosophie, so geringschätzig sie oft auf diese Beweise herabsieht, im Wesentlichen nichts anderes zugunsten des Theismus hervorgebracht hat, so müssen wir sei einer kurzen Kritik unterwerfen.

Der sogenannte  ontologische  Beweis: - "wir denken ein vollkommenstes Wesen; zur Vollkommenheit gehört Existenz, folglich muß dieses gedachte Wesen existieren" - hat, wenn man ihn nicht von vornherein als Trugschluß verwerfen will, nur einen Sinn, sofern er vom Vorhandensein der Idee eines vollkommensten Wesens auf die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines solchen schließt. Die Idee eines vollkommensten Wesens ist jedoch in der Weise, wie sie hier der Theismus in seinem Interesse voraussetzt, keineswegs eine  allgemeine,  dem menschlichen Geist mit  Notwendigkeit  eigene Idee. Wäre das der Fall, so würde der Gegensatz der Gottesbegriffe, der seit Jahrtausenden die Welt bewegt, niemals entstanden sein. Was der menschliche Geist mit Notwendigkeit denkt, ist ein absolutes, d. h. ein lediglich von sich selbst bedingtes Wesen. Ob dieses Wesen die Welt selbst oder ein Gott außerhalb der Welt sei, ist eben  die Frage.  Der Begriff der Vollkommenheit aber, sowie er über die Idee des Absoluten hinausgehen soll, ist ein Begriff, der die  verschiedensten  Vorstellungen zuläßt. Der buddhistische Gott, der zuletzt als Alles in sich beschließender, vollbewußter seliger Geist seine Selbstvollendung erreicht, ist für den Buddhisten ein ebenso vollkommenes Wesen, als für den Theisten der von Anfang an fertige weltschöpferische Gott.

Der sogenannte  kosmologische  Beweis: - "was wir in der Erscheinung vor uns sehen, hat den Grund seines Daseins nicht in sich selbst, sondern in anderen früher vorhandenen Ursachen; von einer zur andern gehend, gelangen wir demnach zu einer letzten Ursache, welche den Grund ihres Daseins in sich selbst trägt" - ist mit dem eben Gesagten von selbst erledigt. Was dieser Beweis feststellt, ist nur die Notwendigkeit einer in sich unbedingten oder absoluten letzten Ursache. Wenn der Theismus aus dieser Ursache einen persönlichen Urheber oder Gott im populären Sinn macht, so setzt er als bewiesen voraus, was er eben erst beweisen soll: daß das Absolute nicht als Weltseele den Erscheinungen zugrunde liegt, sondern als Person vor und außer der Welt existiert.

Allerdings gibt der kosmologische Beweis den Pantheisten ein Rätsel zu lösen. Wenn es eine letzte Ursache gibt, welche den Grund ihres Seins in sich selbst hat, so kann diese letzte Ursache nicht wohl ein an sich Nichtseiendes, ein  nur  in den endlichen Geistern existierender Weltgeist sein. Denn ein Nichtseiendes kann "den Grund seines  Seins  nicht in sich selbst haben", weil es eben  nicht  ist. Der Pantheist reicht gegen diesen Einwand nicht aus, wenn er erwidert, daß die Ursache, welche den Grund ihres Seins in sich selbst hat, eben die Welt selbst sei. Denn die Welt, sofern sie uns nötigte, auf einen letzten Grund zurückzugehen, ist der Komplex der Erscheinungen selbst; die Welt Ursache der Welt nennen, würde also in diesem Zusammenhang nichts anderes heißen, als: "die Erscheinungen sind Ursachen der Erscheinungen" - eine offenbare Absurdität. - Da indessen der Theist den kosmologischen Beweis zwar als Argument gegen den Pantheisten gebrauchen,  seinen  Gott aber nicht genügend daraus entwickeln kann, so kann dieser Beweis so wenig als der vorige ein Beweis für das Dasein Gottes genannt werden.

Wichtiger ist der sogenannte  physikotheologische  Beweis: "In der Natur herrscht Ordnung, Zweckmäßigkeit, Plan und Vorsorge. Wo das der Fall ist, muß ein Handlen nach Ideen vorausgesetzt werden; der Grund der Welt muß demnach ein nach Ideen handelndes, d. h. reflektierendes und sittliches oder persönliches Wesen sein."

Gewiß gibt es in der Natur, z. B. in der Organisation der Tiere, verglichen mit dem Boden und dem Klima, worin sie gestellt sind, zahlreiche und entschiedene Anzeichen einer bestimmten, die speziellsten Zwecke verfolgenden und ins Einzelnste vorsorglichen Prämeditation [Vorbedacht - wp]. Es wird wohl schwerlich einen denkenden Menschen von reiferem Alter geben, der sich der Wirkung dieser Anzeichen gänzlich verschließen könnte. Fast jeder stößt einmal in seinem Leben auf eine Naturerscheinung, welche ihm das Bild eines allmächtigen und allweisen Werkmeisters der Natur, eines mit voller Freiheit handelnden, bis in's Kleinste sorgfältigen und liebevollen Künstlers vor die Seele führt. Der Pantheist wird diesen Eindruck niemals mit der Entgegnung beseitigen, daß auch seine Weltseele als potentieller Geistordnung, Harmonie und Zweckmäßigkeit in sich schließe. Der gesunde Verstand sagt jedem unfehlbar, daß die absichtliche Zweckberechnung, welch in der verschiedenen Ausstattung der Tiere und Pflanzen herrscht, nur von einem bewußt berechnenden Geist, nicht von einer Weltseele ausgehen kann, welche erst in den Pflanzen und Tieren selbst zu Bewußtsein kommt. Die pantheistische Weltseele kann, ihrem eigenen Begriff nach, nur nach einem unwandelbaren mathematischen Instinkt, nicht nach einem durchaus freien, die Mathematik unablässig für Detailzwecke modifizierenden Spiel des Willens operieren, - einem Spiel von so unberechenbarer Mannigfaltigkeit, daß es zuweilen der Laune eines zu seiner eigenen Ergötzung spielenden Künstlers zu entspringen scheint. Jener Eindruck ist deshalb so unerschütterlich und so groß, daß er ohne Zweifel die pantheistische Anschauung auch bei den gebildeten Klassen längst verdrängt hätte, würde er nicht von anderen ebenso mächtigen Eindrücken durchkreuzt.

Neben jenen von der entschiedensten Prämeditation zeugenden Erscheinungen der Natur gibt es nämlich ebenso viele andere, welche die Idee einer in sich gebundenen instinktiven mathematischen Weisheit erregen. Wenn der Theist uns die tierischen Organisationen vollführt, so kann niemand umhin, in seine Bewunderung der darin sichtbaren Reflexioin einzustimmen. Wenn er uns dagegen auffordert, in der Achsendrehung der Erde und der dadurch bedingten Verteilung der Wärme, oder im Gleichgewicht der Kontinente und Meere auf unserem Planeten die Prämeditation des Schöpfers zu erkennen, so wird wohl die Mehrzahl darin nur eine mathematische Selbstbildung der Natur finden, zu der es keiner Prämeditation bedarf. Und wenn er uns auf den gestirnten Himmel als das Werk eines persönlichen Künstlers hinweist, wird gar mancher, wenn er anders das in ihm sprechende Gefühl offen zu äußern wagt, ihm kopfschüttelnd erwidern: "Alles das ist nicht gemacht, es macht sich selbst; es wird nicht bewegt, sondern bewegt sich selbst; diese Massen wirken auf mich nicht, wie die willkürliche Schöpfung einer künstlerischen Freiheit, sondern wie das notwendige Produkt einer mathematisch operierenden Weltseele!" So wird die Frage für den Verstand und für das Gemüt auf's Neue in Zweifel gestellt. Die verschiedenen Eindrücke halten sich das Gleichgewicht und der Beweis verliert seine zwingende Kraft.

Die Theologie selbst gesteht den "Beweisen" nur einen relativen, keinen absoluten Wert zu. (2) Die Mehrzahl der orthodoxen Theologen leitet sogar aus der angeblichen Unfähigkeit der Vernunft, den Beweis des Daseins Gottes zu finden, die Notwendigkeit einer göttlichen Offenbarung ab und besiegelt so das alte Bekenntnis der mittelalterlichen Scholastik, daß die Vernunft für sich allein nicht imstande sei, über die Ewigkeit der Welt hinauszukommen. Die gegenwärtige katholische Theologie hat mit größerer Einsicht und Offenheit als je zuvor die pantheistischen Blößen der bisherigen philosophischen und theologischen Versuche aufgedeckt. Der neue spekulative Beweis jedoch, welchen sie selbst zu führen versucht hat, kann die gesunde Vernunft so wenig als die bisherigen befriedigen, wie das für Kenner der GÜNTHERschen Lehre aus dem Nachfolgenden von selbst hervorgehen wird.


2. Gott im Verhältnis zu Raum und Zeit

Wir bezeichnen jetzt, um den gegen den Theismus ausgesprochenen Vorwurf zu beweisen, der Reihe nach die Punkte, in welchen die theistische Anschauung der Vernunft widerspricht.

Gott ist nach dem Theismus außerhalb der räumlich und zeitlich existierenden Welt. Der Raum und die Zeit begannen also erst, als Gott die Welt schuf.

Der Raum ist, wie jedermann weiß, seinem Begriff nach  unbegrenzt. 

Jeder begrenzte Raum, den wir uns vorstellen, wäre er auch so groß als das gesamte von unseren Fernrohren erfaßbare Weltall, ist nur ein Teil des Raums; wir können uns Regionen denken, wo die gestaltete und sichtbare Materie ein Ende nimmt, aber es gibt keine Grenze für den Raum selbst, in dem sich die Materie bewegt. - Ebenso ist die Zeit, obwohl jeden Augenblick in sich endlich, doch ihrem Wesen nach nur  endlos  zu denken. Die äußerste Anhäufung von Zahlen, womit wir ihre Dauer ausdrücken können, ist immer nur ein Stück der Zeit. Unaufhörliche Dauer ist nur fortwährende Zeit. Versteht man also unter "Ewigkeit" unaufhörliche Dauer, so ist die Zeit selbst gleich Ewigkeit. Will man mit dem Wort ewig bloß das schlechthin  Zeitlose  bezeichnen, so ist freilich nur der Raum, ohne die Zeit gedacht, ewig. In dieser Bedeutung aber ist das Ewige kein  Sein,  sondern ein  Nichtseiendes,  da der Raum ohne die Zeit nicht ist. Sowie wir ein  Sein  denken, denk wir es zugleich als zeitlich, sei es nun als endlich zeitlich oder als endlos zeitlich. Wenn wir im gemeinen Leben das endlich zeitliche Sein schlechtweg "zeitlich" nennen, so verstehen wir gleichwohl unter der "Zeitlichkeit" nur einen  Teil  der Zeit, unter Ewigkeit die nicht endende  Zeit selbst.  Wir bedienen uns dieses Sprachgebrauchs bloß, weil sämliche uns bekannte Existenzen in ihrer Dauer nur einen  Teil  der Zeit, nicht die  Zeit selbst  umfassen.

Wenn nun Gott als allumfassendes, unbegrenztes Wesen  vor  dem Raum da war, wie konnte er im Raum ein zweites Allumfassendes neben sich setzen? Zwei unbegrenzte Dinge, d. h. zwei Dinge, neben deren jedem kein anderes Platz hat, schließen sich aus. - Wenn Gott ferner als ewiges Wesen  außer  der Zeit existiert, wie kann er wirklich existieren, da doch seine Ewigkeit, als bloße Zeitlosigkeit gefaßt, keine  Existenz  ist, als unaufhörliche Dauer gedacht, eine  zeitliche  Existenz bedingt?

Der Theist steht hier vor einer jedem Knaben handgreiflichen, unauflöslichen Schwierigkeit. Wir kennen kein Sein, das nicht räumlich und zeitlich existiert. Die höchste Existenz aber, Gott, soll weder räumlich noch zeitlich existieren. Gott existiert also nach den Begriffen unserer Vernunft  nicht;  sein Dasein ist mit diesen Begriffen schlechthin unvereinbar. - Und doch soll, nach dem Theismus, gerade die Beschaffenheit unserer Begriffe für das Dasein Gottes zeugen!

Wenn die Theisten, um die Schwierigkeit zu umgehen, mit KANT behaupten: "Die Vorstellungen von Zeit und Raum seien allerdings unserem Geist angeboren und zwar als Vorstellungen von unendlicher Ausdehnung und unendlicher Dauer, allein in der Wirklichkeit existiere nichts diesen Vorstellungen Entsprechendes," so ist es kaum nötig, ernsthaft auf eine Ausflucht einzugehen, die von ihren eigenen Vertretern nicht ernsthaft geglaubt wird. Wenn Raum und Zeit Trugbilder unseres Gehirns sind, welche Wahrheit bleibt noch übrig? Wenn die Grundvorstellungen der Vernunft uns gegeben sind, um uns zu täuschen, wie können wir uns unserer Vernunft überhaupt bedienen? Und wenn es wirklich keine unendliche Ausdehnung und keine unendliche Dauer gibt, wie kann es einen allgegenwärtigen und ewiglebenden Gott geben?

Indem der Theismus Gott außer Raum und Zeit hinaussetzt, zerstört er nicht nur das Dasein Gottes, sondern proklamiert auch geradezu, was er eben durch seinen Gottesbegriff ausschließen will: den ewigen Ursprung der Welt. Denn wenn die Welt mit der Zeit zugleich entstanden ist, kann sie wie die Zeit selbst ihren Anfang nur aus dem Zeitlosen genommen haben, d. h. nach gewöhnlicher Ausdrucksweise gar keinen Anfang gehabt haben.


3. Auffassung der Persönlichkeit Gottes.

Gott ist nach dem Theismus eine  Person.  Der Theist behauptet mit Recht, daß der Begriff der Persönlichkeit keineswegs mit dem Begriff der Endlichkeit oder Beschränktheit zusammenfällt. Persönlichkeit ist Selbstbewußtsein; und Selbstbewußtsein läßt sich auch als Unendliches denken. Kein Wesen kann jedoch bewußt sein, wenn nicht entweder  außer  ihm oder in ihm etwas ist, wovon es auch sich reflektieren kann. Bei Gott, der als das einzige ursprünglich vorhandene Wesen kein Wesen neben sich hat, kann nur das Letztere gedacht werden. Der Mensch selbst, obwohl von vornherein auf andere Wesen angewiesen, bedarf derselben doch nur zur vollen Entwicklung seiner Kräfte, nicht zur Erzeugung des Selbstbewußtseins an sich. Auch ohne Beziehung auf andere kommen wir zum Bewußtsein, indem unser Denken den Körper als etwas von ihm Verschiedenes wahrnimmt und sich mit diesem Verschiedenen als eins erkennt oder wenigstens empfindet. Die Persönlichkeit beruth sonach auf dem Gegensatz zweier Bestandteile. Sie wird sich als Ich bewußt, indem sie sich als denkend von der Voraussetzung ihres Daseins unterscheidet und zugleich als Einheit mit ihr zusammenfaßt. Der theistische Gott bedarf also, um bewußte Person zu sein, keines Wesens  außer  sich; aber er muß, um es zu sein,  in sich selbst  unendlicherweise die  nämliche  Doppelheit haben, welche wir bei den endlichen Organisationen Geist und Körper nennen.

Der Theismus versichert aber im Gegenteil, Gott sei schlechthin körperloser, immaterieller Geist. - Wenn man ihm einwirft, daß sich dabei schlechterdings nichts denken läßt, weil die Idee eines in sich gegensatzlosen und doch bewußten, immateriellen und doch lebendigen Geistes aus widersprechenden Begriffen zusammengesetzt ist, so erwidert er, sein Gottesbegriff sei zwar  über  der Vernunft, aber nicht  gegen  die Vernunft, - eine Phrase, die kaum einer Widerlegung bedarf. (3) - Es ist ebenso ungenügend, wenn sich die Theisten für ihren Gottesbegriff auf die unter allen Völkern verbreitete Vorstellung von  Geistern,  als lebendigen Wesen ohne Körper, berufen. Diese Vorstellung ist durchaus dem Begriff der wirklichen Persönlichkeit entnommen. Geister sind in der Meinung der Völker entweder Seelen der Verstorbenen, die sich nach Wiedervereinigung mit einem Leib sehnen und erst durch diese Wiedervereinigung (Auferstehung) wieder zu eigentlichen Personen werden; oder sie sind ideale Wesen (gute und böse Genien), welche nicht als wirkliche Organisationen, sondern nur als die in Gott lebenden jenseitigen Gedankenbilder der diesseitigen Organisationen gedacht werden; oder endlich sie werden mit einem Leib vorgestellt als wirklich körperliche Wesen, nur von einer feineren ätherischen Leiblichkeit. Alle diese Vorstellungen beweisen also, statt für den Begriff einer rein geistigen Persönlichkeit zu zeugen, vielmehr, daß der menschliche Geist sich wirkliche Persönlichkeit nur als Verbindung von Geist und Körper zu denken vermag. (4)

Dem Theismus nach hat Gott zweierlei Existenzen geschaffen: "Die unorganische Materie - die Weltkörper mit den Elementen - und die lebendigen Organismen." Die erstere hat er aus Nichts geschaffen, die zweite aus der Materie. (1. Mose 1, 11. 12. 21. 22. 24. 25.)

Der Ausdruck "Schöpfung aus Nichts" kann, richtig verstanden, nur besagen, daß Gott, um die Weltkörper zu schaffen, keiner Materie bedurfte, die  außer  ihm war; daß er nicht aus etwas ohne sein Zutun Vorhandenem, sondern lediglich aus eigener Schöpferkraft schuf. "Aus Nichts schaffen" heißt bei einem Wesen, außer welchem Nichts existiert, soviel als: "aus sich selbst schaffen." - Ist das aber so: wie konnte dann Gott, der "reine Geist", aus sich die Materie schaffen?

Einzelne Theisten glauben gerade im Gegensatz zwischen Gott und der Materie die Antwort auf diese Frage zu finden. "Wie der Mensch", meinen sie, "notwendigerweise nicht bloß sich selbst, sondern auch ein anderes als er selbst denkt, ebenso dachte Gott nicht bloß sich selbst, sondern auch ein anderes, als er selbst, ein Nicht-Ich. Dieses Nicht-Ich, welches bei uns Menschen (weil wir von vornherein andere Wesen neben uns haben) bloß ein  Anderes  als wir selbst ist, muß bei Gott als der ursprünglich einzigen Existenz das reine  Gegenteil  seines Wesens sein und dieses Gegenteil ist die Materie."

Allein diese Antwort schlägt sich selbst. Das Nicht-Ich des göttlichen Ichs, das Gegenteil Gottes, des absoluten  Seins,  ist das absolute  Nichts.  Könnte Gott dieses  Nichts  als objektives Gegenteil von sich denken und verwirklichen, - ein Absurdum an sich, weil er eben durch sein Dasein ein solches Gegenteil ausschließt - : so würde er sich  selbst  aufheben, weil es grenzenlos und endlos wäre, wie er selbst. Gott kann also nach dem theistischen Gottesbegriff selbst bloß schaffen, indem er  Teile  seines Ichs, - aber nicht, indem er sein Nicht-Ich zu besonderem Leben erhebt. Freilich ist jedes Geschöpf, obwohl Teilbild seines Wesens, zugleich im Verhältnis zu ihm ein anderes als er (sein Nicht-Ich); gerade so wie der Gedanke des Denkenden nicht der Denkende selbst, sondern ein anderes als der Denkende ist. Allein der Gedanke des Denkenden ist deshalb keineswegs das  Gegenteil  des Denkenden, sondern er ist ein Ausfluß, eine Teilbetätigung seines Wesens.

Es bleibt also im theistischen System unbegreiflich,  wie  Gott die Materie schaffen konnte. Ebenso unbegreiflich ist,  wozu  er sie schuf. Da es ihm nach theistischen Begriffen frei stünde, die lebendigen Wesen aus  Nichts  zu schaffen, warum schuf er sie denn aus Materie? Der  Zweck  Gottes bei der Schöpfung ist, wie alle Theisten zugestehen, nur die lebendige Kreatur. Wenn eine lebendige Persönlichkeit  möglich  ist ohne Materie, - wozu bedurfte es denn im Schöpfungssystem dieses zwecklosen und toten Mittelgliedes? Etwa dazu, den Geschöpfen außer seinem Ich (den ihnen mitgeteilten "Odem seines Geistes") auch sein "Nicht-Ich", das  Gegenteil  seines Wesens mitzuteilen und sie durch diese Verbindung  unglücklich  zu machen?

Die Materie bleibt sonach unerklärt in ihrem Zweck für die Geschöpfe. Sie bleibt es aber noch mehr in ihrem Dasein an sich. Woher hat sie ihre tagtäglich vor unseren Augen in den Weltkörpern sichtbare Bewegung? Der Theismus hegt über diesen Punkt zwei verschiedene Vorstellungen. Der eine Teil der Theisten (der, im Gegensatz zum kirchlichen Theismus, während des 18. Jahrhunderts den besonderen Namen "Deisten" erhalten hat) denkt sich die kosmische Natur vom ersten Schöpfungsakt an ein für allemal so geordnet, daß sie wie eine wohlkonstruierte Maschine ihre Bewegungen ohne weitere Teilnahme Gottes in gleichförmiger Gesetzmäßigkeit abspinnt. Der andere Teil denkt sich die Erhaltung der Natur als ein fortgesetztes Schaffen und nimmt demgemäß ein stetiges die Natur belebendes Walten Gottes in der Natur an. Wie man sich die Sache denken mag, ob als einmalige oder als ununterbrochene Einwirkung Gottes, in jedem Fall kann Gott - der "reine Geist" - auf die unorganische Materie nur durch einen  geistigen  Anstoß, d. h. also durch eine (wenn auch im Vergleich zu dem der organischen Schöpfung eingehauchten Geist noch so untergeordnete)  Mitteilung seines Geistes  einwirken. So bleibt denn zur Erklärung kein anderer Ausweg, als die alte von THOMAS von AQUINO und anderen christlichen Denkern wieder aufgenommene Annahme PLATOs: "daß Gott dem kosmischen Weltall eine Weltseele eingebildet und es dadurch zu einem sich selbst bewegenden und in seiner Weise lebendigen, ja selbst instinktartig vernünftigen Wesen gemacht habe." Demnach gäbe es in der Schöpfung zweierlei beseelte Organismen: den einen großen makrokosmischen Organismus und die zahllosen mikrokosmischen Organismen (Pflanzen und Tiere), welche innerhalb desselben leben. Aber in diesem Fall rückt uns der persönliche Gott in unendliche Ferne. Wir wären dann von einer Mitkreatur - der unorganischen Natur - bedingt, die uns unter ihre Gewalt beugt und über unser Leben verfügt, ohne von uns nur gekannt zu sein; Gott aber stünde außerhalb und würde höchstens zuweilen, wie durch ein Wunder, gegen die blinde Willkür des fremden Wesens einschreiten, an das er uns geschmiedet hat. Ein solcher Gedanke ist nicht nur irreligiös, sondern auch vernunftwidrig, denn an diesem Wesen, das unsere Autonomie beschränkt, ohne in irgendeinem inneren Bezug zu uns zu stehen, ist Nichts begreiflich und Nichts berechtigt.


4. Persönliche Eigenschaften Gottes.
Die Dreieinigkeitslehre

Dem Theismus nach ist Gott eine wirkliche Person; er hat also unendlicherweise alle Eigenschaften, welche uns endlicher Weise zukommen. Weder das Alte Testament, noch das Neue, noch der Koran scheuen sich daher, ihn zu  vermenschlichen.  Der Theismus dagegen in seinen aufgeklärten wissenschaftlichen Vertretern protestiert beständig gegen diese Vermenschlichung. Den einen ist Gott zu erhaben, als daß er mit seinen Geschöpfen irgendeine Wesensgemeinschaft haben sollte; die ander geben zu, daß der Mensch das Abbild Gottes und Gott das Urbild des Menschen sei, aber gleichwohl sollt Gott keine eigentlichen persönlichen Eigenschaften haben. (5)

Der Theismus will den Namen ohne die Sache oder die Sache ohne die Konsequenzen. Die Anthropomorphismen (menschlichen Bezeichnungen Gottes) in der Bibel und im Koran erfüllen ihn mit Entsetzen und zwar nicht bloß so weit sie Gott  beschränkt  persönlich darzustellen scheinen - darin hätte er Recht -, sondern so weit sie mit der Persönlichkeit überhaupt ernst machen. Gott ist ihm allerdings gerecht, allbarmherzig, allgütig. Wenn aber der Bauer im Geist der Bibel sich vor dem  Zorn  Gottes fürchtet, wenn er durch sein Gebet die  Stimmung  Gottes zu  erweichen,  durch seine Besserung den  Ratschluß  Gottes zu  verändern  hofft: dann ruft der aufgeklärte Theist Zeter über den Aberglauben, womit das gemeine Volk Gott auf seine Stufe herabziehen und Person gegen Person mit ihm verkehren zu können glaubt. Eine Persön aber ohne wirklich persönliche Eigenschaften, ohne  Leben,  ohne  Bewegung,  ohne  Wandel,  ohne  Affekte, ist keine Person  - sie ist ein leeres Gedankenbild. Entweder existiert Gott nicht oder die Beilegung menschlicher Eigenschaften an Gott, soweit der Mensch als höchster Ausdruck der Persönlichkeit von sich auf eine unendliche Person zurückschließen kann,  muß  vollständig und unumwunden anerkannt werden.

Es ist LUDWIG FEUERBACHs Verdienst, das der modernen Theologie gegenüber klar und scharf ausgesprochen zu haben. - Der  orthdoxe  Theismus innerhalb aller theistischen Religionen hat diese Wahrheit nie verkannt, unterliegt aber seinerseits einer  anderen,  gleichfalls von FEUERBACH hervorgehobenen Schwierigkeit. "Wenn Gott vor der Erschaffung der Welt als volle Person mit persönlichen Eigenschaften existierte, wie konnte er sich dieser Eigenschaften bedienen? Wie konnte er allmächtig sein, ohne seine Macht an irgendetwas auszuüben, wie allliebend sein, ohne einen Gegenstand seiner Liebe? Entweder war er vor der Schöpfung des Gebrauchs seiner Eigenschaften, d. h. des Lebens beraubt oder er mußte, um zu leben, die Welt erschaffen. Der theistische Gott ist also ohne die Welt gerade so wenig wirklicher Gott, als der pantheistische." Dieser Einwurf läßt nur  eine  Erwiderung zu. Ein Gott mit persönlichen Eigenschaften kann ohne andere Personen bloß existieren, wenn er einen Gegensatz  in sich  hat, der ihm mit sich selbst und an sich zu tun gibt, an dem er seine Macht und seine Liebe ausüben kann.

Das Gefühl dieser Schwierigkeit hat den christlichen Theismus bewogen, nach einem Ausweg zu greifen, welcher alle Einwände abschneiden sollte, in der Tat aber jede Möglichkeit der Versöhnung zwischen Vernunft und Theismus abgeschnitten hat.

Wir meinen die  spekulative Betonung der Dreieinigkeitslehre. 

Man sollte glauben, dieses Dogma hätte durch seinen eigenen Inhalt den denkenden Christen verhindern müssen, sich seiner zu spekulativen Fragen zu bedienen. Was der Mensch sucht, wenn er spekuliert, ist der  Urgrund  alles Vorhandenen, die  erste  Ursache, aus der alles entsteht. Dieses selbsterzeugende Prinzip ist nach christlichem Dogma Gott der Vater, von dem  alles  Vorhandene, mit Einschluß des Sohnes und des Geistes, Produkt ist. Allerdings zieht das Dogma zwischen Sohn und Geist als ewigen und primären und den andern Wesen als zeitlichen und sekundären Produkten Gottes eine bestimmte Grenze. Allein auch der Sohn ist doch nur der "Erstgeborene" der übrigen Geschöpfe und der Geist ist der dem Menschen bei seiner Schöpfung eingehauchte Geist. Was also auch der wahre Sinn dieser Lehre sein mag (welche bekanntlich von vornherein nicht aus einem  spekulativen,  sondern aus dem  psychologischen  Bedürfnis der Christen, sich über das rätselhafte Wesen JESU und des von ihm in ihnen geweckten Geistes zu orientieren, hervorgegangen ist): sie beansprucht nicht, über das Wesen Gottes des Urerzeugers an sich Aufschluß zu geben.

Gleichwohl hat die christliche Theologie seit Jahrhunderten geglaubt, sich ihrer zur rationalen Begründung des Theismus bedienen zu können. Der Erfolg aber war in allen Epochen der entgegengesetzte. Je öfter es geschah, umso heftiger reagierte der menschliche Verstand. Der Verstand  einer  Existenz in drei Personen, das Nebeneinander dreier unermeßlicher und unendlicher Personen, die Identifizierung eines geschichtlichen Menschen mit Gott: - alles das widerspricht dem gesunden Verstand, sobald es ihm als spekulative Wahrheit aufgedrängt wird, so  unbedingt,  daß ihm schlechterdings keine Wahl bleibt, als es entweder zu verwerfen oder sich selbst dem Glauben gefangen zu geben. Und wer weiß nicht, daß es diese spekulative Mißdeutung war, welche durch ihren Widerspruch gegen den gesunden Sinn der Völker MOHAMMED zur Stiftung einer neuen Religion ermutigt und  dem  Christentum die Hälfte seiner Bekenner entzogen hat?

Die christliche Theologie ist in jenem Versuch auf doppelte Weise zu Werk gegangen.

Ein Teil der Theologen such die Schwierigkeit, welche der Begriff des persönlichen Gottes mit sich bringt, zu umgehen, indem er mittels der Dreieinigkeitslehre die Persönlichkeit Gottes auf die Seite schiebt. "Die Gottheit", sagt er, "ist an sich dem Christentum nach keine Person, sondern existiert nur in drei Personen; sie ist also ihrem eigenen spekulativen Begriff nach  un persönlich." Dies ist jedoch eine nicht einmal durch das Dogma selbst gerechtfertigte Wortspielerei. Was die Wissenschaft die Gottheit nennt, ist im christlichen Dogma Gott der Vater, die erste Person. Eine von dieser ersten Person verschiedene unpersönliche Gottheit ist ein dem Christentum unbekanntes und dem gesunden Menschenverstand unbegreifliches Phantasma.

Ein anderer Teil sucht die Dreieinigkeit nach Maßgabe des menschlichen Bewußtseins zu erklären und dadruch auf eine Dreieinheit Gottes zu kommen. Merkwürdigerweise war es LESSING, welcher, nachdem die gesamte Theologie vor ihm sich vergeblich abgemüht hatte, aus den verschiedenen Kräften der menschlichen Seele auf eine Mehrheit von Personen in Gott zurückzuschließen, durch seinen Scharfsinn diesen Rückschluß eröffnete. "Die menschliche Persönlichkeit", sagt LESSING, "wird sich bewußt, indem sie eine Vorstellung von sich selbst faßt. Diese Vorstellung muß bei Gott, als er einzig vollkommenen Persönlichkeit, durchaus identisch mit ihm selbst sein; d. h. sie muß alle Eigenschaften enthalten, die Gott selbst hat, folglich auch wirklich existieren und es gibt dafür keinen richtigeren Ausdruck, als den christlichen Namen eines von Ewigkeit gezeugten Sohnes Gottes oder Gott-Sohnes. Da jedoch weiter der Vater und der Sohn nicht bloß identisch sind, sondern als wirkliche Personen sich dieser ihrer Identität auch bewußt sein müssen, so ergibt sich als die Vorstellung dieser gegenseitigen Identität eine dritte mit beiden identische Person, welche die lebendige Harmonie beider ist: - der heilige Geist."

Dieser Gedanke, den LESSING wie manchen andern als Hypothese hinwarf, ohne selbst davon überzeugt zu sein, enthält zwei logische Fehler.

Der nächstliegende, den LESSING selbst besser als jeder andere kannte, besteht darin, daß das identische Gedankenbild eines unendlichen Wesens, sowie es  wirklich existieren  gedacht wird, die Existenz seines  Erzeugers  auschließt, weil zwei allgegenwärtige oder alles erfüllende Existenzen keinen Platz nebeneinander haben. (6)

Der zweite, dem Gedankengang nach in der Tat  erste  Fehler ist, daß ein unendliches Wesen eine  identische,  d. h. ihm selbst schlechthin gleiche Vorstellung von sich selbst  gar nicht fassen  kann. Die endliche Persönlichkeit kann sich im Selbstbewußtsein vollständig erfassen, weil sie begrenzt und endlich ist; eine unendliche Person, ihr Dasein einmal gedacht, kann dies eben deshalb nicht, weil sie keine Grenze und kein Ende hat. LESSING selbst würde dies erkannt haben, wenn er seine eigenen Äußerungen näher verfolgt hätte. Er vergleicht die Vorstellung des Ichs von sich selbst mit dem physischen Bild der Persönlichkeit im Spiegel. Im Spiegel des Geistes aber, wie im wirklichen Spiegel kann sich nur eine umgrenzte, abgeschlossene Persönlichkeit sehen; eine nicht begrenzte, unendliche Person kann sich nicht vollständig, nicht abgeschlossen sehen, weil sie nicht abgeschlossen ist. Sie kann sich sehen, aber nicht  über sehen; sie kann sich denken, aber nicht  aus denken. Es wäre voreilig, daraus zu schließen, daß demnach ein unendliches Selbstbewußtsein überhaupt nicht zu denken sei; allein es ist sicher in ganz anderer Weise zu denken, als das endliche.

Wir haben den Gedanken LESSINGs zergliedert, weil die neuere Theologie auf die von ihm angeregte Analogie der Dreieinigkeit mit dem menschlichen Selbstbewußtsein ein neues System des Theismus im Gegensatz zum Pantheismus gebaut hat, - ein System, dessen Grundirrtum sonach (ganz abgesehen von der psychologischen Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Theorie des menschlichen Bewußtseins) keines Nachweises mehr bedarf.

LITERATUR Theodor Rohmer - Kritik des Gottesbegriffes in den gegenwärtigen Weltansichten, Nördlingen 1857
    Anmerkungen
    1) Wir nennen hier das System SPINOZAs als dasjenige, welches allgemein als der vollkommenste  systematische Ausdruck des Pantheismus  betrachtet wird. Man wird später sehen, daß die seitherige Philosophie, weit entfernt über SPINOZA hinauszukommen, vielmehr hinter ihn zurückgegangen ist.
    2) Der sogenannte "moralische" Beweis für das Dasein Gottes wird, da er sich selbst nur als moralischen, nicht als logischen gibt, in einem anderen Zusammenhang erwähnt werden.
    3) Was über der Vernunft liegt, liegt außer der Vernunft, ist also gegen die Vernunft. - Die obige Phrase konnte nur darum immer auf's Neue wiederholt werden, weil sie einen Sinn hat, sobald man unter Vernunft die beschränkte Vernunft  Einzelner  versteht. Was über  diese  geht, geht freilich nicht  gegen  die Vernunft, weil es nicht über die Vernunft  aller  geht. Wenn man aber sagt, was über die  Vernunft an sich  (über die Vernunft aller) geht, sei darum doch nicht gegen die Vernunft, so sagt man einen Widersinn.
    4) Wir bemerken hier beiläufig, daß jene Äußerung JESU CHRISTI, worauf sich der christliche Theismus so vielfach beruft: "Gott ist Geist", nach dem geschichtlichen Wortverstand in keiner Weise zugunsten der theistischen Auffassung Gottes als  "reinen  Geistes" ausgelegt werden kann. Wenn JESUS Gott einen Geist nannte, so konnte er im Einklang sowohl mit seinen eigenen Äußerungen über die Persönlichkeit Gottes, als mit der  damals üblichen Bedeutung des Wortes  darunter nichts anderes verstehen, als einen  persönlich lebendigen  Geist. Die Samariterin, mit der JESUS in jener Stelle sprechend eingeführt wird, dacht sich wie die meisten ihrer Landsleute den Dienst JEHOVAs an den Nationaltempel als Mittelpunkt geknüpft und von äußeren Zeremonien bedingt. Indem JESUS ihr sagt, "der wahre Gottesdienst sei die Anbetung Gottes des Geistes im Geist und in der Wahrheit": setzt er auf ganz verständliche Weise der nationalen und lokalen Beschränkung die Geistigkeit Gottes, dem Formwesen die aus der Geistigkeit von selbst entspringende Forderung innerer Wahrheit entgegen. Hätte er mehr als dies gewollt, hätte er erklären wollen: "Gott ist Geist ohne alle und jede Körperlichkeit", so hätte er sich  auf dem Boden, auf dem er stand,  darüber  bestimmt  erklären müssen. Das alte Testament schildert bekanntlich Gott durchaus als reale Person. JEHOVA regt sich, spricht, erscheint, hat Affekte; er ist nicht  beschränkt  körperlich, aber eben so wenig rein  un& körperlich. Hätte JESUS diesen alttestamentarischen Gottesbegriff zerstören wollen, so mußte entweder er selbst oder wenigstens seine Kirche, in Konsequenz seines Geistes, ihn ausdrücklich verdammen. Keins von beiden ist geschehen. JESUS und seine Kirche haben lediglich die Auswüchse des Mosaismus abgeschnitten, nicht den mosaischen Urbegriff der vollständigen Persönlichkeit Gottes. Wie diese zu denken ist, darüber erklärte sich JESUS nicht, weil spekulative Vorstellungen als solche außer seiner Sphäre lagen. Er bezeichnete mit dem Wort "Geist" einfach die lebendige allgegenwärtige Persönlichkeit, ohne irgendeine spezielle Vorstellung davon feststellen zu wollen.
    5) Die erstere Ansicht hat der Deismus des 18. Jahrhunderts, die andere der Rationalismus des 19. Jahrhunderts vertreten.
    6) Die griechische Mythologie hat dieser Wahrheit in der Fabel von SATURN, der seine Kinder bis auf ein durch List gerettetes verschlingt und dann von diesem gestürzt wird, sowie in der ganzen Erzählung vom Kampf der Götter, die sich gegenseitig verdrängen und  neben  einander nur bestehen können, wenn sie sich in das All  teilen,  einen schönen sinnbildlichen Ausdruck gegeben.