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PHILIPP WEGENER
Über die Grundfragen
des Sprachlebens

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"Die physischen Muskelbewegungen treiben Luftströme aus der komprimierten Lunge, nuancieren diese durch die wechselnden Stellungen der Stimmbänder, der Zunge, der Zähne, der Lippen und des den Nasenkanal schließenden Gaumensegels. Der Name Sprache ist also die abstrakte Zusammenfassung all dieser menschlichen Tätigkeiten."

"Die bestimmten Lautreihen, welche wir Worte nennen, als solche und ihre Verbindung oder Assoziation mit einem bestimmten Sinn, d. h. mit einer Vorstellungsgruppe, muß erlernt werden; denn dieselbe Lautreihe bedeutet in verschiedenen Sprachen ganz Verschiedenes."

"Es ist dem sprechfertigen Menschen geradezu unmöglich, ein Bewußtsein von den einzelnen Impulsen zu gewinnen, durch welche die Muskeln zur Sprachbewegung angeregt werden, oder von den einzelnen Muskelvorgängen selbst, oder von der Art der Verbindung dieser physiologischen Tätigkeit mit den Vorstellungsgruppen seiner Seele. Es herrscht hier dasselbe unbewußte Dunkel wie bei allen anderen Bewegungsvorgängen unseres Leibes."

"Hört der Jäger von Löffeln, so ist er zumindest ebenso geneigt an die Ohren des Hasen zu denken, als an die Suppenlöffel bei Tisch, selbst wenn er einen solchen bei Tisch in der Hand hält. So hat der Militär seine besonderen Gruppen der größten Assoziationsfähigkeit, andere der Jurist, andere der Seemann, andere der Philologe, andere der Geistliche usw."


Vorwort

Die nachfolgenden Untersuchungen sind in ihrer vorliegenden Form aus zwei Vorträgen hervorgegangen, die ich auf zwei provinziellen Philologenversammlungen in Magdeburg (Herbst 1883) und in Halberstadt (Exaudi 1884) gehalten habe. Über den ersten dieser Vorträge enthalten die "Berliner Zeitschrift für Gymnasialwesen" (1884) und die "Jahrbücher für Philologie und Pädagogik" desselben Jahres ausführlichere Referate. Der Inhalt und Umfang beider Abhandlungen, besonders der letzteren ist erweiter und vertieft.

Die Themata sind in beiden Fällen beibehalten und von ihrer Wahl und Begrenzung ist auch die Anordnung und Gruppierung des Stoffes bedingt geblieben. Hätte mir die nötige Ruhe und Muße zur Verfügung gestanden, so würde mir selbst eine systematische Bearbeitung der berührten und einiger verwandter Gebiete zweckentsprechender erschienen sein. Bei den gegebenen Verhältnissen mußte ich mich jedoch mit dieser loseren Form von Untersuchungen begnügen und eine systematische Ausgestaltung günstigeren Tagen oder weniger gebundenen Kräften überlassen.



Aus dem Leben der Sprache

I. Das Gebiet, aus dem ich einige Forschungen vorzulegen gedenke, habe ich das Leben der Sprache genannt, ein nicht selten gebrauchter Ausdruck, der die Sprache unter dem Bild eines wirklich lebendigen Organismus, etwa dem einer Pflanze darstellt, darum pflegt man auch vom Wachstum der Sprache zu reden. Die Lehre von diesem Leben könnte man die Biologie der Sprache nennen. Selbstverständlich ist jener Ausdruck ein Bild, - ein Bild, bei dem man nicht vergessen darf, daß die Sprache kein Wesen oder ein Organismus von räumlicher Selbständigkeit ist, wie etwa der sich selbst bestimmende Mensch, sondern nur ein Kollektivname, also eine Abstraktion, für gewisse Muskelbewegungen des Menschen, welche mit einem bestimmten Sinn bei vielen Personen einer gesellschaftlichen Gruppe verknüpft sind, oder wie der psychologische Terminus lautet, mit gewissen Vorstellungsgruppen und Vorstellungsreihen assoziiert sind. All das bildet nur einen Teil der gesamten psychischen und physischen Lebensäußerungen des Menschen, einen Teil, der mit den übrigen Vorgängen des menschlichen Organismus in engster Verbindung und regster Wechselbeziehung steht.

Die physischen Muskelbewegungen treiben Luftströme aus der komprimierten Lunge, nuancieren diese durch die wechselnden Stellungen der Stimmbänder, der Zunge, der Zähne, der Lippen und des den Nasenkanal schließenden Gaumensegels.

Der Name Sprache ist also die abstrakte Zusammenfassung all dieser menschlichen Tätigkeiten, die sich wie die menschliche Tätigkeit überhaupt aus zwei Faktoren bilden, dem physiologischen und psychologischen. Man hat die Wirksamkeit und die Gebiete beider Faktoren oder Prinzipien zu scheiden gesucht, so OSTHOFF in seinem Vortrag über das physiologische und psychologische Prinzip der Sprache, - doch meines Erachtens bisher noch ohne Erfolg. Sicher dürfen die Fälle progressiver Assimilation, wie der deutsche Umlaut und die deutsche Brechung, die Einwirkungsarten des griechischen "j" auf vorhergehende Laute, in ihren Gründen nicht zu den physiologischen Erscheinungen des Sprachlebens gerechnet werden, sie gehören dem psychologischen Gebiet an. Ferner darf die Erzeugung der erlernten Laute im Mund eines Menschen ebensowenig zu seinen rein physiologischen Tätigkeiten gerechnet werden, wie die Finger- und Handbewegung des Klavierspielers, die technische Bewegung des Schnitzers, Töpfers, Schreibers und dgl. Was man hier physiologisch nennt, ist nichts weiter als eine mechanisch und automatisch gewordene ursprünglich spontane Bewegung. Das Physiologische bei der Sache ist nur die Natur der Organe, ihre Stellung und Bewegungsform, dagegen der Impuls und die Regelung der Bewegung derselben hat mit der Lautphysiologie nur insofern zu tun, als die Natur der Organe der Intention des Menschen gewisse Schwierigkeiten und Hemmungen entgegensetzt. Die Art wie komplizierte Lautbewegungen hervorgebracht werden, ist also genau so zu beurteilen, wie die genannten technischen Bewegungen zustande kommen, ferner das Gehen, Laufen, Tanzen und dgl. Soll aufgrund dieser Mechanisierung etwas über die Gültigkeit, Ausnahmslosigkeit, Unumstößlichkeit der Lautgesetze ausgesagt werden, d. h. der Veränderungen, welche im Laufe der Zeit in der Aussprache der Laute innerhalb größerer Lautreihen eintreten, so darf man sich nicht darauf berufen, daß man es mit einem Naturgesetz zu tun hat, sondern man muß sich stets bewußt bleiben, daß man sich auf dem Gebiet automatischer, mechanisierter psychologischer Vorgänge befindet. Für die Untersuchung gerade dieses psychischen Gebietes bleibt eigentlich noch Alles zu tun; - die zweite Abhandlung wird auf dieses Gebiet für andere Fragen des Sprachlebens zurückkommen.

So viel ist jedoch deutlich, daß die physiologischen wie die psychologischen Vorgänge bei der Betrachtung der Sprache ins Auge gefaßt und untersucht werden müssen.

Die physiologischen Bedingungen des Sprechens sind mit Glück und Erfolg in der sogenannten Lautphysiologie oder Phonetik behandelt, welche ihre Untersuchungen selbstverständlich am lebenden Menschen angestellt hat. Daß auch diese Wissenschaft noch in ihren Anfängen steht, scheint mir gewiß. Sie grenzt offenbar die Lautvorgänge noch zu sehr nach den in der alten Grammatik unterschiedenen Lauten ab, offenbar sehr komplizierten Gebilden, so daß man darüber z. B. streitet, ob die Media [stimmhafte Verschlußlaute - wp] als tönender Verschlußlaut zu bezeichnen ist oder als Lenis [lind, sanf, leise - wp]. Offenbar ist doch das Tönen, d. h. die Verengung der Stimmritze eine Artikulation für sich, die ebensogut bei der Tenuis [stimmloser, unbehauchter "harter" Verschlußlaut - wp] stattfinden kann. Und das Tönen der Stimmritze ließe sich sehr wohl als eine Art Vokal bezeichnen, welcher beim Verschließen des Ansatzrohrs, während des Verschlusses und beim Öffnen desselben fortdauert. Tatsächlich findet sich dieser reine Stimmton und zwar silbenbildend, während der Verschluß hergestellt wird, im Niederdeutschen zumindest westlich von Magdeburg in den proklitischen [sich an ein folgendes betontes Wort anlehnend - wp] Formen op mik, et iss, ik bin. Ich habe statt des bloßen Stimmtons die Vokal der Pausaform geschrieben, was natürlich ganz ungenau ist. Die Verengung der Stimmritze muß natürlich die Exspiration [das Aushauchen - wp] verlangsamen, vor der Media so gut wie vor der Tenuis.

Viel zu tun bleibt ferner der Lautphysiologie in ihrer Anwendung auf die Sprachgeschichte, richtiger würde diese Aufgabe allerdings der Sprachgeschichte selbst zuzuweisen sein. So ist für die Entstehung von sehr vielen Lautveränderungen mit Sicherheit ein Kontinuum der Organverschiebung von einem Punkt aus in einer bestimmten Richtung anzunehmen, bis die sprachgeschichtlich konstatierte Stelle erreicht ist, z. B. beim Übergang von "s" zu "r". Zum vollen Verständnis eines solchen Übergangs gehört die Kenntnis des Ausgangspunktes, der Entwicklungsstufen dieser Organbewegung und des Endpunktes. Die lautphysiologische Betrachtung der Sprachgeschichte hat also z. B. die Artikulationsweise aufzusuchen, bei der "s" zu "r" werden konnte. Der Übergang geschah lateinisch und deutsch beim Tönendwewrden des "s". Das neu entstandene "r" mußte ein Zungen-r sein, man mag dies unmittelbar an den Alveolen bilden oder vorn am harten Gaumen, - der bei dieser Artikulation ohne Vibration der Zungenspitze entstehende s-Laut ist nicht das sogenannte reine "s", sondern ein "š" Aus dieser Betrachtung ergibt sich daher für das Lateinische, Griechische, wie das Deutsche das gerechte Bedenken, ob die graphischen Zeichen "s" wirklich die sogenannten reinen s-Laute waren, vielmehr waren sie zumindest an dieser Stelle ein "š". Dieselbe Tatsache des Übergangs von "š" zu "s" beweist das französische raison aus rationem; wurde "tj" zu "t" mit Zischlaut, so konnte dieser zunächst kein anderer sein als tš, entsprechend wird das italienische ci, ce artikuliert; dieselbe Tatsache ist für das griechische ζ = dš z. B. in nomizo, für griech. ττ oder σσ anzusetzen, also pratto wurde wenigstens zu einer bestimmten Zeit prâtš gesprochen. Wenn im Griechischen die σ zu h wird zwischen Vokalen, also ein tönendes σ, so muß die Zunge sich zunächst etwas entfernen vom Gaumen und bei dieser Entfernung zunächst eine Enge entstehen, welche nicht ein sogenanntes reines "s" gibt, sondern š.


Weiter, viel weiter zurück ist die Erkenntnis der psychologischen Vorgänge trotz des vortrefflichen Buches von HERMANN PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle 1880.

Genannt müssen auch werden die verdienstlichen Schriften von STEINTHAL und LAZARUS; genannt muß ferner werden WHITNEY, der bei seiner nüchternen Untersuchungsweise manches gesund beurteilt hat. Der Grund des langsamen Fortschreitens dieser Erkenntnis ist einerseits in dem wohlverdienten Mißkredit zu finden, den sich die logische Behandlungsweise der Sprache zugezogen hat, der aber leider so vielfach zum rohesten Empirismus zurückgeführt hat, - andererseits in der einseitigen Neigung der modernen Sprachforschung, das überlieferte Material vergangener Sprachepochen statistisch festzustellen oder nur alte Sprachstufen als würdige Gebiete der Forschung zu betrachten. Eine gesundere Richtung ist in Bezug auf den letzten Punkt allerdings vor Allem bei den jüngeren Germanisten zu konstatieren. - Wie die physiologischen Erscheinungen nur aus der Beobachtung des lebendigen Sprechens und zwar in erster Linie des Sprechens der eigenen Person klar werden konnten, also in erster Linie ein Bewußtwerden dessen, was wir täglich tun, - ebenso muß die lebendige, heute gesprochene und dem Sprechenden bis in die feinsten Nuancen verständliche Sprache, also die lebendige Muttersprache den Boden und das Orientierungsgebiet aller psychologischen Beobachtungen bilden. Erst diese Untersuchungen können sichere Sprachgesetze ergeben, aus denen dann wieder folgenreiche Rückschlüsse auf die erstorbenen Sprachen möglich werden.

Wie der Physiologe nicht an altägyptischen Mumien oder an Petrefakten [Versteinerungen - wp] seine Studien machen wird, sondern am lebendigen Tier- oder Menschenleib, ebenso müssen wir die Gesetze vom Leben und Wachsen der Sprache an den uns durchsichtigsten Spracherscheinungen der lebendigen Muttersprache erst kennenlernen, um hieraus den großen Trümmerhaufen der Überlieferung von den ausgestorbenen Sprachen sichten, ordnen, verstehen zu lernen.

II. Die bestimmten Lautreihen, welche wir Worte nennen, als solche und ihre Verbindung oder Assoziation mit einem bestimmten Sinn, d. h. mit einer Vorstellungsgruppe, muß erlernt werden; denn dieselbe Lautreihe bedeutet in verschiedenen Sprachen ganz Verschiedenes, so ist niederdeutsch ssett = setze lautlich dem französischen sept = sieben gleich. Der redefertige Mensch läßt sich daher vergleichen mit einem geübten Klavierspieler, der nur die Note, einen ganzen Akkord, einen ganzen Takt oder mehr auf dem Notenblatt zu sehen braucht, um ohne Besinnen die entsprechenden Tasten auf dem Instrument zu greifen. Der sprechfertige Mensch braucht nur ein Haus, einen Baum zu sehen, eine Handlung wahrzunehmen, oder ohne Wahrnehmung sie zu Bewußtsein bringen, nur einen Wunsch zu hegen, so findet er ohne bewußte Überlegung der einzelnen Momente das entsprechende Wort und den sinngemäßen Satz.

Ja, es ist dem sprechfertigen Menschen geradezu unmöglich, ein Bewußtsein von den einzelnen Impulsen zu gewinnen, durch welche die Muskeln zur Sprachbewegung angeregt werden, oder von den einzelnen Muskelvorgängen selbst, oder von der Art der Verbindung dieser physiologischen Tätigkeit mit den Vorstellungsgruppen seiner Seele. Es herrscht hier dasselbe unbewußte Dunkel wie bei allen anderen Bewegungsvorgängen unseres Leibes.

Alle diese Bewegungen erlernt der Mensch in einer Zeit des Lebens, in der noch Alles in ein bewußtloses Dunkel gehüllt ist, in das niemals das Licht des Bewußtseins hineinleuchtet. Ja, es ist sogar schwer, sich einzelner Resultate der Bewegungen bewußt zu werden, z. B. daß bei dem u-Laut die Lippen gerundet waren, daß wir bei den Nasalen den Nasenkanal öffnen, ob wir das r mit dem Zäpfchen sprechen, oder alveolar [mit der Zungenspitze - wp] an den Zähnen. Ja, der orthographische Unterricht beweist die Schwierigkeit der Zerlegung der Worte in ihre Laute. Also die ganze Erlernung der Muttersprache, sicher in den ersten Jahren des Lebens und zum allergrößten Teil auch in den späteren Lebensjahren vollzieht sich im Dunkel des Unbewußten. Man ersieht schon hieraus, welch methodischer Fehler es ist, Spracherscheinungen aus bestimmt reflektierter Absicht der Sprechenden zu erklären.

Natürlich ist es bei diesem unbewußten Erlernen der Sprache nicht ausgeschlossen, daß auf späteren Stufen der Kindheit der Erwachsene korrigierend dem unvollkommenen Sprechen des Kindes zu Hilfe kommt. Doch welche Mittel verwendet dabei der naive, überhaupt ein jeder lautphysiologisch nicht gebildete Mensch? - Er sagt dem Kind: du darfst nicht L sagen, sondern R, nicht â sondern ô usw. Er gibt also nicht Anweisungen über den richtigen Gebrauch der Organe, sondern führt dem Kind das korrekte Tonbild zum Bewußtsein, in der unbewußten aber richtigen Voraussetzung, daß alle lautliche Bewegungen des Kindes in der Nachbildung solcher Ton- oder Lautbilder bestehen. Also in großen Zügen besteht das Erlernen der Sprache beim Kind in folgenden Vorgängen:
    1. Tonbilder oder Lautbilder werden empfunden, die Muskeln suchen dieselben nachzubilden, es gelingt mehr und mehr die Laute diesen Originalbildern gleich zu bilden.

    2. Diese gehörten und wieder erzeugten Lautbilder werden unter gewissen Verhältnissen empfunden, verschiedene Lautbilder unter verschiedenen Verhältnissen: das eine, wenn das Kind gewisse Schmerzgefühle hat wie Hunger oder Durst, das andere, wenn gewisse optische Empfindungen erregt sind usw. Gleichzeitig mit diesen Empfindungen oder richtiger in unmittelbarer Folge treten die Lautbilder in die Seele, d. h. kurz nachher oder vorher, und bilden mit diesen zeitlich verknüpfte Vorstellungsreihen. Je häufiger diese Reihen in der Seele auftreten, desto stärker und unzerstörbarer werden sie, desto fester verknüpfen sich die einzelnen Glieder dieser Reihe untereinander.
Nun hat der Mensch niemals bloß Lichtempfindungen oder bloß Gehörsempfindungen, unmittelbar mit diesen verbunden sind auch stets Tast- oder Druckempfindungen, vermittelt durch das fein organisierte Nervengewebe der Fingerspitzen oder durch andere gröbere und stumpfere Teile der Epidermis [Oberhaut - wp], welche durch den Druck der Lage und Stellung des Körpers affiziert [gereizt - wp] werden. Dazu kommen die ununterbrochenen Empfindungen, welche der Ablauf des Stoffwechsels mit sich bringt. Hört das Kind das Lautbild Milch, so geschieht dies also unter den geschilderten psychologischen Verhältnissen, es wird dieses Wort oft in Verbindung mit dem Schmerzgefühl des Hungers und Durstes hören, es wird bei diesem Wort die Lichtempfindungen der weißen Flüssigkeit in der glänzenden Flasche haben, es wird die glatte und harte gewärmte Flasche betasten, es wird saugen und das Unlustgefühl des Hungers verlieren. Sehr oft wird sich dieser Vorstellungsablauf beim Wort Milch, Fläschen und anderen Worten wiederholen. Nach dem psychologischen Gesetz, daß gleiche Vorstellungen verschmelzen und sich verstärken, ungleiche sich hemmen, wird also das stets Gleiche als Vorstellungsgruppe mit dem Lautbild Milch fest und unzerstörbar verbunden. Wir nennen die so entstandene Vorstellungsgruppe den Inhalt oder Sinn des Lautbildes, d. h. des Wortes.

Vorstellungsgruppen, hier also Lautbild und Inhalt, welche miteinander verbunden sind, können sich gegenseitig in das Bewußtsein rufen; wird also das Lautbild Milch gehört, so tritt jener Inhalt in das Bewußtsein, umgekehrt ruft der bewußt gewordene Inhalt das Lautbild hervor; das Lautbild war durch das häufige Aussprechen mit dem Gefühl der Muskelbewegungen verbunden, welche beim Aussprechen des Wortes notwendig eintreten müssen, also wir auch das Muskelgefühl assoziiert und durch dieses die Muskelbewegung selbst erzeugt, welche jenes Lautbild sprachlich hervorbringt.

Die Worte, welche die Kinder in der ersten Zeit erlernen, sprechen sie sehr unvollkommen aus:
    1. die Laute sind denen der Erwachsenen noch nicht vollständig gleich,

    2. die Worte, d. h. die Lautreihen sind unvollständig.
Der Grund für die letztere Erscheinung ist ein dreifacher:
    1. gewisse Laute machen besondere Schwierigkeit für die Nachbildung, so das L und die R-Laute. Vielfach ist es den Kindern in den ersten Lebensjahren noch nicht gelungen, die entsprechenden Muskelbewegungen für diese Laute zu finden, die Laute bleiben daher unausgesprochen.

    2. Nicht alle Teile eines Wortes werden mit der gleichen Energie vom Sprechfertigen exspiriert, man unterscheidet hochbetonte und minderbetonte Silben und auch bei diesen mehrere Grade. Im Satz wird das Betonungsverhältnis noch mannigfaltiger, da hier eine Abstufung der einzelnen Worte vor und nach dem Tonwort eintritt, gewisse Worte akzentlos werden, wie die Enklitika [Anlehnung an das vorausgehende Wort - wp] und Proklitika [Anlehnung an das folgende Wort - wp]. Die schwächer betonten Silben und Worte müssen nach einem bekannten psychologischen Gesetz, dem Weberschen Gesetz, nämlich daß die Empfindungen wachsen wie die Logarithmen, wenn die Reize wie die Zahlen wachsen (1), - also die Empfindungen, welche das Kind beim Hören der minderbetonten Silben hat, müssen in einem angegebenen Verhältnis schwächer sein als die Empfindungen für die hochbetonten Silben. Man findet daher in der Kindersprache der ersten Jahre die Tonsilben der stark verstümmelten Worte verhältnismäßig korrekter und präziser wiedergegeben als die unbetonten Silben.

    3. Man findet oft in der Kindersprache eine Verwechslung von Lauten. Ich erinnere mich von einem etwa vierjährigen Kind den Satz gehört zu haben: sonne mân von dinne wette füttn statt soll ich mal von diesen welche pflücken. Offenbar ist der L-Laut dem Kind schwierig gewesen und darum ersetzt durch N oder in der schwierigeen Verbindung mit F fortgelassen, der K-Laut ist ersetzt durch T. Es ist deutlich, daß das Muskelgefühl für den K- und T-Laut in der Seele des Kindes zusammengefallen ist, eine Ähnlichkeit der akustischen Empfindung bei diesem Laut ist ja handgreiflich, ebenso wie bei N und L.
Es ergibt sich hieraus, wie aus einer Reihe anderer Tatsachen, daß die einzelnen Laute eine Assoziation in der Seele eingehen können, durch die Ähnlichkeit der akustischen Empfindung und des Muskelgefühls. Ähnliche Laute werden als partiell gleich, bei ungenauer Beobachtung als total gleich empfunden und verschmolzen. Dergleichen sprachwidrige Verschmelzungen verschiedener Laute müssen in der Weiterentwicklung der Sprache des Kindes wieder gelöst werden.

III. Das Kind hört nicht bloß einzelne Worte, die meisten Worte hört es im Zusammenhang des Satzes. Und doch spricht es zunächst nur einzelne Worte selbständig aus. Also lösen sich die von ihm in den ersten Stadien seiner Sprachentwicklung gebrauchten Worte erst aus größeren Gruppen, den Sätzen, aus. Dieser Prozeß ist schon oben geschildert als unbewußte Abstraktion, bei der Gleiches sich verbindet und verstärkt, Ungleiches sich hemmt. Doch dabei bleibt es noch unklar, warum nicht sämtliche gleich häufig gebrauchten Wörter nebeneinander auf der ersten Sprachstufe gebraucht werden. Die Anzahl der auf dieser Stufe wirklich verwendeten Wörter ist sehr gering. Es muß also unter den durch jenen Abstraktionsprozeß in der Kinderseele aufgespeicherten Wörtern ein Unterschied in der psychischen Wirksamkeit und Intensität bestehen. Ein solcher Unterschied wird auf doppelte Weise herbeigeführt.
    1. die Wörter desselben Satzes haben verschiedene Stärke der Betonung, also muß auch die Empfindung des hörenden Kindes von verschiedener Stärke sein und genauso wie bei den verschieden betonten Silben desselben Wortes eine verschiedene Präzision der Nachbildung und Verwendbarkeit bedingen. Da nun die betonten Wörter die für den Sinn wichtigsten Bestandteile des Satzes sind, so wird das Kind gerade durch die besondere Stärke der für seine Bedürfnisse und seine Vorstellungswelt wichtigsten Worte auch diese am ehesten kennen und anwenden lernen. Diese Betrachtung führt auf den zweiten Gesichtspunkt, nach dem sich der Schatz der anwendbaren Wörter beim Kind bestimmt:

    2. Die wichtigsten Wörter sind diejenigen, welche mit der Befriedigung der Strebungen und Bedürfnisse des Menschen, hier also des Kindes, assoziiert sind. Worte, welche regelmäßig mit einem starken Lust- oder Unlustgefühl verbunden sind, haben eine unverhältnismäßig größere Empfindungsstärke als andere. Also die mit Lust- und Unlustgefühlen in der Kinderseele verknüpften Worte sind es, welche an der Stärke der Empfindung und an der Fähigkeit reproduziert zu werden die übrigen weit übertreffen.
Das hier ausgesprochene psychologische Gesetz ist in seinen Wirkungen so bekannt, daß ich nur an Tage der Freude oder des Leids zu erinnern brauche, von diesen sagen wir: siw werden uns unvergeßlich sein. Durch dieses Gesetz wird das Kind früh in den Stand gesetzt, für seine Bedürfnis- und Strebungszustände Wortbezeichnungen anzuwenden. Die frühesten Worte des Kindes sind daher Worte wie Mama, Fläschchen, Milch, Babá, Kuckelicht, Ticktack, Puppe, oppa (auf den Arm) und dgl.

IV. Es tritt beim Kind in den ersten zwei Jahren eine Entwicklungsstufe ein, wo es nicht mehr bei einem Unbehagen bloß weint, sondern auch Mama, Fläschchen oder andere derartige Worte ruf, Worte die in seiner Seele fest eingegliedert sind in die Empfindungsreihe vom Schmerzgefühl z. B. des Hungers bis zur Stillung desselben. Und zwar ist das Wort in dieser Reihe an der Stelle eingefügt, wo die Linderung des Schmerzgefühls eintritt, es ist also fest assoziiert auf der einen Seite mit dem Gefühl der Unlust, auf der anderen Seite mit dem nachfolgenden Gefühl der Lust. Es tritt nun die Wahrnehmung hinzu, daß diese Lauterzeugung vorhandene Unlustgefühle zu beseitigen pflegt, denn die Mutter kommt auf den Ruf und weiß das Kind meist zu trösten. So wird das Wort zur Hilfe oder zum Mittel ein vorhandenes Unlustgefühl zu beseitigen.

Diese Hilfe wird angewandt, wenn ein Schmerzgefühl vorhanden ist; das Schmerzgefühl erzeugt die Reflexbewegung des Weinens, das Wort also unter Weinen ausgesprochen ist das Mittel eine Abhilfe des Schmerzes zu fordern. Das Kind wird zugleich von den Eltern erzogen, man sucht ihm das "Weinen bei jeder Gelegenheit" abzugewöhnen, es gelingt fast immer, d. h. der Ausbruch des Weinens wird unterdrückt, doch auch jetzt noch stellt der Schmerz die Muskeln zum Weinen ein, man hört daher, auch wenn das Weinen unterdrückt ist, noch immer einen weinerlichen Ton. Dieser Ton wird im späteren Leben mehr und mehr gemildert, doch ein Rest bleibt stets in einem schmerzlichen Ton auch des Erwachsenen, der sich zu beherrschen weiß. Ich mache darauf aufmerksam, daß hier ein ethischer Faktor in die Sprachentwicklung und in die Form der Lautgebung eingreift.

Das Wort also, welches das Kind weinend oder weinerlich spricht, ist für das Kind ein Mittel das Unlustgefühl zu beseitigen, für den Hörenden, vor Allem die Mutter, die Aufforderung Hilfe zu bringen. Dieses Wort ist der Imperativ des Kindes, den Niemand mißversteht. Der Grund aber, daß diese Form des Ausdrucks vom Hörenden als Imperativ gefaßt wird, ist in erster Linie ein ethischer, das Gefühl der Verpflichtung, dem hilfebedürftigen, leidenden Menschen zu helfen, als das Gefühl der Sympathie. Später werden wir auf diese Punkte näher eingehen.

Insofern diese Äußerungsweise des Kindes ein Schmerzgefühl konstatiert, insofern ist sie Ausdruck der Gegenwart. Und bleibt das Herz des Anwesenden kalt bei diesem Schmerzausdruck, bleibt der Hörer ein bloßer Beobachter, so wird er nicht die Forderung der Hilfe dabei empfinden, nicht einen Imperativ heraushören, sondern die einfache Tatsache, daß das Kind Schmerz empfindet. So wird der Arzt dem leidenden Kind gegenüberstehen, ähnlich wie der Physiologe den Zuckungen des Hundes oder des Kaninchens. Schon hier ist ersichtlich, daß nicht die Form des Ausdrucks als solche, sondern die Art der Verknüpfung in der Seele des Hörenden bestimmend ist für die Bedeutung und den Inhalt der Worte.

Insofern jedoch der Schmerz durch den Gebrauch eines Wortes als Mittel auf die Linderung hinweist, insofern ist jene Äußerungsweise Ausdruck der Zukunft. - Reine Gegenwart zeigt das Kind, wenn es aufschreit im Schmerz, oder aufjauchzt vor Lust beim Anblick von Licht oder eines glänzenden Gegenstandes, oder in der Freude des Spiels. Das jubelnde Kuckelicht, Ticktack oder auch das verwunderte mein Wagen, meine Puppe, wenn eine Veränderung mit diesen Dingen vorgegangen ist, oder wenn die Dinge dem Kind unerwartet aufstoßen, ist reiner Ausdruck der Gegenwart. Greift jedoch das Kind nach der Lampe, und kann es diese nicht fassen, so tritt das Schmerzgefühl der gehemmten Strebung und getäuschten Erwartung ein, ein nun weinerlich klingendes Kuckelicht ist reiner Ausdruck des Strebens, die Zeit, welche jetzt in der Kindesseele die Herrschaft hat und vom Hörer erschlossen wird, ist die Zukunft. Ähnlich wenn das Kind einen Gegenstand sucht und nicht findet, es ruft vielleicht: mein Wagen, eine Äußerung, die als Imperativ, als Frage und als reine Strebungsäußerung gedeutet werden kann.

Hat sich das Kind gestoßen, so läuft es weinend zur Mama und weinend oder weinerlich ruft es stoßen, Tür, Stein und dgl. und die Mutter weiß daraus mit Sicherheit den Schluß zu ziehen, daß sich das Kind gestoßen hat. Oder hat das Kind die Lampe gesehen, läuft es zur Mutter und ruft Kuckelicht, so weiß diese, daß das Kind die Lampe gesehen hat. Hier haben wir die Bedeutung des eigentlichen Perfectums, welches die Vollendung einer Handlung und deren Fortdauer in der Gegenwart berichtet. Die ganze Schärfe der Bedeutung dieses Tempus wird nur im Gefühlsleben des Menschen klar, wo die Handlung als Lust- oder Schmerzgefühl im Sprechenden noch fortdauert.

Kommt der Vater nach einiger Zeit zu dieser Familienszene, und erzählt ihm das Kind ohne Spuren des Schmerzes mit gleichgültigem oder gar fröhlichen Gefühl: stoßen, so sind die Folgen und das Nachleben des Schmerzgefühls geschwunden, die Handlung ist reiner Aorist. [Ausdruck eines abgeschlossenen Vorgangs in der Vergangenheit - wp] Ebenso beim Lustgefühl. Die Tatsache selbst lebt in der Erinnerung fort, doch Freude und Schmerz sind nur noch blasse Momente des Wissens, nicht mehr lebendige Gefühle. Darum ist die grammatisch ausgebildete Form des Aorists, nicht die des Perfekts, das rechte Tempus für die kalte Erinnerung des Erfahrenen; dies ist der sogenannte aoristus gromicus oder empiricus.

Die Dinge existieren für uns nur durch unsere Empfindungen von ihnen, die ersten Existenzen, deren sich der Mensch bewußt wird, sind die, welche Lust- und Schmerzgefühlen entsprechen. Die verblassende, gefühllose Erinnerung an diese gibt die wichtigsten Bausteine für die psychischen Gebilde, welche wir die Dinge nennen. Somit bedarf der Mensch jener ersten Stufe der Gefühlssprache einer sprachlichen Benennung der Formen des Seins nicht, die Ausdrucksformen des Seins sind eben die Reflexbewegungen, welche die Empfindungen in den Stimmorganen der Menschen hervorbringen.

Somit hätte sich herausgestellt, daß das Kind das Wort als Satz gebraucht. Ja, diese Sätze zeigten dieselben temporalen Nuancen, welche die ausgebildete Sprache aufweist: Präsens, Futur, Perfect, Aorist, die Begehrungsform, doch nicht das Imperfectum. Das Kind meint den Satz in diesem temporalen Sinn, sobald es bemerkt hat, daß es so verstanden wird, - denn dadurch wird die Lautform zum Mittel, also zur Ausdrucksform, - und die Mutter versteht das Kind wirklich so. Also das Kind spricht einen wirklichen und verständlichen Satz. All diese Sätze, mit Ausnahme des aoristischen Satzes, waren von irgendeiner Erregung des Gefühls begleitet.

V. Dassselbe Wort konte für die verschiedenen Satzformen und die verschiedenen Zeiten gebraucht werden, also nicht das Wort als solches, nicht der Wortkörper bildet den Satz, neben diesem ist der Ton oder die Art des Vortrags, die actio, wie es die römischen Rhetoren nennen, ein zweites wesentliches Element dieses Wortsatzes. Vom weinenden und weinerlichen Ton ist die Rede gewesen, die Mutter erkennt daran die Stärke des Schmerzes oder der Freude und die Begehrungen des Kindes. Das Wort ist für den Hörenden die Erklärung oder Jllustration des Gefühlsausbruchs, indem es ihm die Sphäre der Gefühle oder das Objekt derselben, oder das Ziel der Begehrungen andeutet.

Der Subjektsbegriff, d. h. die Person, an der das Prädikat zur Erscheinung kommt, oder welche das Gefühl hat, ist nicht im Wort ausgesprochen, sondern liegt
    1. im Ton angedeutet, der es ja zweifellos macht, daß eben das Kind es ist, welches sich freut, den Schmerz empfindet oder die Verwunderung zeigt. Und

    2. wird der Subjektsbegriff durch die unbewußte ganz allgemeine Voraussetzung der Mutter gewonnen, daß das Kind sich nur um die eigenen Empfindungen der Lust oder Unlust kümmert.
Erst der intellektuelle Fortschritt des Kindes aus den eigenen Äußerungen der Gefühle Rückschlüsse auf die anderer Personen zu machen und der ethische Fortschritt, für die Gefühlsäußerungen Anderer ein Mitgefühl zu empfinden erhebt das Kind über diese Stufe des einseitigen elementaren Egoismus hinaus.

Auch beim sprechfertigen Menschen kann jedes Wort durch den Ton zum Imperativ werden, oder grammatisch ausgedrückt, in den Imperativ treten: Brot, Kuchen, essen, trinken, fort, mir, her, hierher, hier, auf der Stelle, mehr, was anderes, noch etwas, vorwärts, nun, schnell usw. Diese von Kindern mit weinerlichem oder unzufriedenem Ton so oft gebrauchte Ausdrucksweise, z. B. Butterbrot, Apfel, mein Hut, meine Stiefel ist für die Umgebung nicht mißverständlich, gilt aber für ungezogen, und wir verbieten diese Form der Forderung, da sie den Willen und freien Entschluß der angeredeten Person nicht respektiert, also rücksichtslos und unhöflich ist.

Doch nicht der Ausdruck durch das einzelne Wort wird verpönt, das Bittende: ein Stückchen Brot des Bettlers ist durch die Unterwürfigkeit des Tons ethisch durchaus unantastbar. Dieser Ton erkennt die Berechtigung und Möglichkeit an, daß die Forderung vom Angeredeten abgeschlagen wird, mit diesem Ton tritt das Wort in den Bittmodus.

So zeigt sich, ein wie mächtiger Hebel für die Mitteilung der Ton des Vortrags ist, die Nuancen und Modifikationen desselben sind außerordentlich mannigfaltig. Sie sind bedingt:
    1. von der Ordnung, Reihenfolge und Distanz der musikalischen Töne, also der Satzmelodie,

    2. von der Stärke, der Form und dem Tempo, mit der der Luftstrom aus der Lunge tritt,

    3. von der Stellung der Organe, wie sie durch gewisse Reflexbewegungen, besonders Weinen und Lachen, geschaffen wird, und ebenso von der ethischen Gegenwirkung gegen diese Reflexbewegungen, so dem Verkneifen des Weinens, Unterdrücken des Lachens, Zurückhalten des Luftstroms beim Stöhnen.
Und neben dem Ton her geht die beredte Sprache des Auges, der Miene und des Gestus, der Gefühlsausdruck ist ja nur die weitere Fortsetzung der Reflexe, welche den Sprachton nuancieren, und oft auch die Bewegung von Arm und Hand.

Die Satzmelodie und die Reflexe differenzieren die Qualität der auszusprechenden Empfindungen von Lust und Schmerz und damit weiter die Qualität der Mitteilungsform, des Befehls, der Bitte und des Wunsches, der Verwunderung und Frage, der Behauptung, - die Intensität und Form der Exspiration nuanciert die Grade der Leidenschaft oder des Gefühls, so der laute Ton der Stimme, die Hast, mit der gesprochen wird, die Ruhe oder das Phlegma usw. Natürlich treten diese drei Faktoren stets verbunden im Satz auf. -

Der Vorleser, Redner und Schauspieler kennt, zumindest unbewußt, die außerordentliche Mannigfaltigkeit dieser Nuancen des menschlichen Stimmorgans, sein Erfolg vor dem Publikum ist zum großen Teil von der richtigen Wahl und Anwendung dieser Tonmittel bedingt. Ich kann hier nur wenige Fälle dieser Nuancierung anführen, da für die Spezialuntersuchung noch eben nichts getan ist: Wir unterscheiden mit Sicherheit einen schmeichelnden Ton der Stimme bei gelindem und verlangsamenden Druck der Muskeln auf die Lunge und einer Satzmelodie, welche sich on viner hohen Note bedeutend senkt und am Schluß wieder hebt. Dieser Ton stimmt in der Satzmelodie mit der Frage und Verwunderung überein, unterscheidet sich aber in der Form und Energie der Exspiration. Wird ein Befehl auf diese Melodie gesungen, so wird in den Worten außer der Aufforderung noch die Anfrage verstanden, ob der Angeredet die Bitte erfüllen will. Dies ist der Ton, den wir von einem wohlerzogenen Kind in der Bitte fordern, weil wir in diesem Ton den nötigen Respekt vor dem Eigenwillen der gebetenen Persönlichkeit finden. Tritt uns dieser Ton in einem Behauptungssatz des redefertigen Menschen entgegen, so empfinden wir dabei Anerkennung der Würde und Rücksicht auf die angeredete Person, der Ton wird von uns als verbindlich empfunden.

Das Studium und die genaue statistische Fixierung dieser Nuancen ist für die Sprachwissenschaft ein dringendes Bedürfnis. Schon das Gesagte kann zeigen, welch tiefgreifende Bedeutung die fundamentalen ethischen Anschauungen des Menschen für das Verständnis dieser Tonnuancen als Mittel des sprachlichen Ausdrucks haben, wie für die Verwendung und Ausgestaltung dieser Mittel. Jene Ausdrucksformen erhalten ihren Vorstellungsinhalt erst durch die Erkenntnis einer gleichen Organisation des Menschen, die Fähigkeit auf den Willen zu wirken erst durch die Anerkennung der sittlichen Pflichten, mit dem Leidenden mitzuleiden und ihm zu helfen. Hier weist die methodische Sprachforschung auf eine Perspektive für die Erkenntnis des menschlichen Geistes hin, die weit über das Gebiet der Spracherkenntnis im gewöhnlichen Sinn hinausgeht.

Der Ton bildet erst den Schlüssel zum Verständnis des Wortes oder Satzes, nicht bloß in der Kindersprache. Wenn wir im Kaufladen oder im Gasthof sagen: "Ich bitte um die Speisekarte, um dieses oder jenes", - so wird die Bitte meist mit einer Bestimmtheit des Tones ausgesprochen, daß von einer Frage, ob es dem Kellner, Wirt oder Verkäufer genehm ist, uns das Geforderte zu geben keine Rede mehr sein kann. Ähnlich ist oft die Form, deren sich der höher stehende gegen den Untergeordneten bedient, so sagt der Vorgesetzte zum Untergebenen: "Ich bitte die Akten in acht Tagen fertig zu stellen." Der Ton sagt uns trotz der sprachlichen Form der Bitte, daß wir es mit einem strikten Befehl zu tun haben. Offenbar sind einmal dieselben ethischen Rücksichten maßgebend gewesen, welche beim brüsken Fordern und Befehlen des Kindes erwähnt wurden; man wollte auch im geschäftlichen und dienstlichen Verkehr die freie Persönlichkeit des Anderen rücksichtsvoll und höftlich respektieren. Aber sobald der Ton der sprachlichen Bitte befehlend ist, so wird der Wortausdruck zu einer leeren Form, bei der zunächst eine Inkongruenz [fehlende Übereinstimmung - wp] mit dem Inhalt empfunden wird; schließlich schwindet jedoch dieses Gefühl, und Inhalt und Form erscheinen als kongruent, nur bleibt an der Form das stilistische Gefühl haften, daß die Bittform eine feinere oder edlere Ausdrucksform des Befehls ist, wie sie die Verkehrssprache der höheren Gesellschaft fordert. Einen gleichen Vorgang haben wir vermutlich im lateinischen Prohibitiv [Verbotsform - wp] der klassischen Zeit, wo die Verkehrssprache der höheren Stände den Imperativ verpönt hatte und diesen durch den wünschenden conjunctiv perfecti oder durch noli cave [Sei nicht vorsichtig! - wp] ersetzt hat. Die beiden letzteren Ausdrücke sprechen die Abwehr einer Handlung nicht im Interesse des Sprechenden, sondern rücksichtsvoll in dem des Angeredeten aus.

VI. Eine Zeitungsannonce oder eine mündliche Bekanntmachung teil mit:
    "Der Verein Concordia feiert am 7. Juni sein Stiftungsfest im Saal der Vereinigung zu Berlin."
Ein jugendliches Mitglied dieses Vereins hört oder liest die Bekanntmachung und ruft erfreut den Seinen gegenüber aus "Stiftungsfest im Saal der Vereinigung". Die Angehörigen verstehen den jungen Mann oder die junge Dame, wissen sie doch von keinem anderen Stiftungsfest, über das der Jüngling sich freuen könnte, als dem der Concordia, sie kennen auch den Tag der Feier und die Stadt derselben. Doch warum hat das Kommitté des Vereins die umfängliche Bekanntmachung erlassen, der junge Mann war knapper?

Das Zeitungsblatt, in dem die Mitteilung veröffentlich wurde, wendet sich an sehr viele Leser, auch sehr viele, die nicht Mitglieder der Concordia sind, oder vielleicht von diesem Verein gar nichts wissen; es gibt auch noch andere Vereine als die Concordia. Die ersten Worte dienen also dazu, die Adressaten der Mitteilung zu bezeichnen, ihnen zu sagen, daß ihnen die Mitteilung gilt. Die Mitglieder ersehen hieraus, daß ihnen die Mitteilung gilt. Die Mitglieder ersehen hieraus, daß ihnen eine Vereinsmitteilung gemacht werden soll, - etwa über die Beiträge oder einen Gesellschaftsabend? Nein, - betreffs des Stiftungsfestes, dessen Feier am 7. Juni den Vergesslichen eingeschärft wird. - Nun, was wird denn eigentlich mitgeteilt? - das Stiftungsfest und seine Feier schwerlich, sondern der Ort, wo dasselbe abgehalten werden soll: im Saal der Vereinigung.

Alles außer dieser Ortsangabe ist für die Mitglieder ganz interesselos, das Übrige dient nur dazu, den Kern der Mitteilung verständlich zu machen, - verständlich auch für Nichtmitglieder, aber für diese wird der Kern der Mitteilung schwerlich von Interesse sein. Also die Angaben außer der Ortsangabe sind wie die Exposition eiens Romans oder Dramas, wie die Vorerzählung einer Anekdote nur Vorbereitung für die Pointe. Der Kernpunkt der Mitteilung wird ausgesagt von dem, was zur Einführung und Orientierung ausgesprochen ist, genau so wie von einem Haus gesagt wird: "Das Haus in der Wilhelmsstraße ist fertig." Dieses Verhältnis pflegt man grammatisch durch die Ausdrücke Subjekt und Prädikat zu bezeichnen, die Gruppe von Vorstellungen von der eine Aussage gemacht wird, nennen wir "Subjekt", die Aussage selbst "Prädikat". Das Subjekt ist das interesselose Bekannte, die Aussage das Interessierende und Neue, allerdings nicht immer findet dieses Verhältnis zwischen grammatischem Subjekt und grammatischem Prädikat statt. Bei der Betonung: "Dein Vater hat gesagt", ist das Neue und Interessierende das grammatische Subjekt, aber logisch das Prädikat. Man darf darum jene Exposition das logische Subjekt, das Interessierende und Neue dagegen das logische Prädikat nennen. Allerdings ist dabei der Übelstand, daß der Ausdruck logisches Subjekt ein fester Terminus in der Grammatik schon geworden ist: Man versteht darunter das handelnde Subjekt, besonders wenn dieses die Form des grammatischen Subjekts, den Nominativ, nicht hat, wie in dem Satz: "Der Baum ist vom Knaben gesehen", hier ist logisches Subjekt vom Knaben. Vorzuziehen ist darum der Deutlichkeit wegen statt "logisches Subjekt" Exposition zu sagen.

Die Exposition dient dazu, die Situation klarzustellen, damit das logische Prädikat verständlich wird. Die Situation ist der Boden, die Umgebung, auf der eine Tatsache, ein Ding usw. in Erscheinung tritt, doch auch das zeitlich Vorausliegende, aus dem heraus eine Tätigkeit entsprungen ist, nämlich die Tätigkeit, welche wir als Prädikat aussagen, und ebenso gehört zur Situation die Angabe der Person, an welche die Mitteilung gerichtet ist. Die Situation wird bei der sprachlichen Mitteilung nicht bloß durch Worte bestimmt, viel gewöhnlicher und ausgedehnter durch die umgebenden Verhältnisse selbst, durch die unmittelbar vorhergegangenen Tatsachen und die Gegenwart der Person, mit der wir sprechen. Die durch die umgebenden Verhältnisse und die Gegenwart der angeredeten Person gegebene Situation kommt uns durch die Anschauung zu Bewußtsein, wir nennen sie daher die Situation der Anschauung.

Stehe ich mit Jemandem vor einem Baum, so genügt vollständig das Wort Linde, um zu sagen: "Dieser Baum ist eine Linde." Der vor uns stehende Baum bildet, auch unbenannt, das Subjekt des Satzes. Oder sage ich bei dieser Situation: "Das ist eine Linde", so erhält doch das Pronomen erst durch die gegenwärtige Anschauung seinen Inhalt. - Stelle ich Jemanden in einer Gesellschaft vor, so wäre es geradezu unpassend zu sagen: "Dies ist Herr Müller", ich weise nur mit der Hand auf ihn hin, um ihn von den übrigen anwesenden Personen zu unterscheiden und sage: "Herr Müller". Die lebendige Anschauung, präzisiert durch den Gestus, ist die Situation und das Subjekt. Es ist klar, daß ein gegenwärtiges Anschauungsbild nicht so einfach ist, daß alle Teile desselben das Subjekt sein könnten, noch auch das gesamte Anschauungsbild. Neben jener Linde im Park steht vielleicht auch eine Eiche, und vieles Andere ist sichtbar, die angeredete Person ja auch. Der Gestus und die Richtung der Augen geben Anhaltspunkte für die Ausscheidung eines Teils aus dieser komplizierten Masse, doch auch ohne diese Jllustration bleibt ein derartiges Prädikat beziehbar. Ja, der Gestus selbst ist ja eine Tätigkeit, die Hand, der Arm, ein Finger wird dabei gezeigt, warum bezieht der Hörende das Prädikat nicht auf diese Teile der Anschauung? Es muß ein Schluß vom Hörenden aus der Natur des Prädikats, wie auch aus dem Inhalt der Anschauung gewonnen werden, um die Beziehung richtig zu machen. Ich deute hier diese Frage nur an über welche die zweite Abhandlung einigen Aufschluß geben soll.

Setzt Jemand ein Glas Wein vom Mund und sagt: "Vortrefflich!", so zweifle ich keinen Augenblick, daß er den eben genossenen Wein so nennt; selbst wenn ich nur das leere Glas sehe, so ergänze ich den Ausruf zu dem Satz: "Der Wein ist vortrefflich." Also die Situation wird auch bestimmt durch vollendete Handlungen, die noch im Vordergrund unseres Bewußtseins stehen. Und das zu denkende Subjekt ist nicht bloß die gesamte Handlung, wie hier das Weintrinken, sondern ein Moment dieser Handlung, der Wein, - also auch hier liegt ein Schluß des Verstehenden vor, von dem später die Rede sein wird. Diese Situation wird passend Situation der Erinnerung genannt werden.

Sind die Augen von Tausenden auf ein großes Schauspiel, z. B. eine Krönung gerichtet gewesen, so ist der Ausruf schön, herrlich, auch beim Auseinandergehen der Menge noch verständlich, durch die Voraussetzung, daß alle Zuschauer nur das Gesehene im Bewußtsein tragen. Die Situation der Erinnerung besteht in den Vorstellungen, die unmittelbar vor dem Sprechen oder dem Hören des Gesprochenen bewußt gewesen sind, an die sich unmittelbar in der Zeit eine sprachliche Äußerung anschließt. Wegen des Prävalierens [bevorzugen - wp] der unmittelbar in der Zeit vorausgegangenen Vorstellungen wird die expositionslose sprachliche Äußerung aus ihnen ergänzt. Es zeigt sich hier eine neue Schwierigkeit bei der Beurteilung dieser Verhältnisse, die Situation der Erinnerung ist zu einer Zeit in der Seele des Hörenden das logische Subjekt, wo auch eine Anschauung für den Hörenden vorhanden ist, und doch wird nicht diese zur Exposition vom Hörenden verwandt, sondern jene.

Schon so viel ist jetzt ersichtlich, daß die Bewußtseinselemente oder Vorstellungsgruppen, welchen im Augenblick das größte Interesse zugewandt ist, auch die größte Fähigkeit besitzen müssen, die expositionellen Elemente abzugeben. Nun gibt es aber anhaltende und feste Interessen und Neigungen des Menschen, die natürlich gleichfalls diese Fähigkeit besitzen müssen, und die sogar im hohen Maß geeignet sind, eine fehlende Exposition zu ersetzen. Bei ihrer hohen Intensität sich auch diese Interessen imstande, die durch Anschauung und Erinnerung des unmittelbar Vorhergehenden gegebenen Vorstellungen so zu verdunkeln, daß diese die Schwelle des Bewußtseins nicht überschreiten, und sie selbst haben die größte Fähigkeit durch andere Vorstellungen, selbst solche, welche nur eine entfernte Beziehung zulassen, in das Bewußtsein gehoben zu werden. Sie bilden ein sehr wichtiges Vorstellungsmaterial, aus dem andere Vorstellungen ergänzt werden. Man denke, Jemand sagt: "Die Bretter sind heute frisch gestrichen", der gewöhnliche Mensch wird darunter irgendwelche Bretter am Haus oder sonstwo verstehen, er wird sich wahrscheinlich umsehen, wenn er diese Äußerung ganz abrupt hört, ob in der Anschauung Bretter vorhanden sind, die gemeint sein könnten, der Schauspieler versteht darunter zumindest sehr leicht "die Bretter, die die Welt bedeuten". Hört der Jäger von Löffeln, so ist er zumindest ebenso geneigt an die Ohren des Hasen zu denken, als an die Suppenlöffel bei Tisch, selbst wenn er einen solchen bei Tisch in der Hand hält. So hat der Militär seine besonderen Gruppen der größten Assoziationsfähigkeit, andere der Jurist, andere der Seemann, andere der Philologe, andere der Geistliche usw. Daher die hübsche Anekdote, welche STEINTHAL erzählt, daß ein Menschenkenner sich anschickt, aus den Antworten, welche verschiedene ihm unbekannte Personen auf eine Rätselfrage geben, ihren Stand zu bestimmen. Diese verschiedenen Interessenkreise haben daher ihre eigenen Ausdrucksweisen, die bekannten termini technici, welche ihren Inhalt aus der Situation des Bewußtseins, d. h. aus den fest gewordenen Interessen ergänzen, so die Löffel, der Lauf des Hasen, der Schweiß des Wildes, die vielen juristischen Termini und die große Menge der Handwerkerausdrücke; testudo bei den Römern kann die Schildkröte, das militärische Schilddach, eine Leier sein.

Die genannten Arten der Situation sind die wichtigsten; doch darf nicht vergessen werden, daß alle Empfindungen und Gefühle, welche während der sprachlichen Äußerung vorhanden sind als expositionelle Massen von Bedeutung werden können. Die durch eine augenblicklich vorhandene Anschauung und durch die Erinnerung an kurz vorhergegangene Tatsachen erregten Gefühle der Freude und des Schmerzes gehören zu den beiden oben erwähnten Kategorien der Situation, der der Anschauung und der Erinnerung. Aber wie neben den momentan erregten Interessen die festen Interessen hergehen, so wird das momentane Gefühl begleitet von der festen Gesamtempfindung, welche der gehemmte oder leichte Ablauf der physischen Lebensfunktionen und der seelischen Vorstellungen mit sich bringt, ebenso von dem Gefühl, welches einem gewünschten oder behinderten Ablauf der Lebenszwecke zu folgen pflegt, diese festgewordenen Gefühle sind die Stimmungen des Menschen, die wir als feste Größen im geisten Leben des Menschen auch vielfach Temperamente nennen. Diese heiteren und lebendigen Stimmungen, oder traurigen und melancholischen Gefühle äußern sich im gesamten Vorstellungsleben des Menschen und daher auch in seinem sprachlichen Ausdruck, sie färben den gesamten Ton der Stimme, die actio fröhlich oder schmerzlich und tragen damit direkt ein positives Stimmungselement in die Äußerungen des Sprechenden hinein. Sie sollten also den Hörenden auch zu Rückschlüssen auf ein vorhergegangenes fröhliches oder trauriges Ereignis veranlassen, auf einen momentan vorhandenen Schmerzenszustand, der Abhilfe fordert, wie dies beim Imperativ der Fall war und wie es in der Frage geschieht. Doch wenn der Hörer sieht, daß Heiterkeit und Schwermut der allgemeine Charakter oder die Natur des Sprechenden ist, so sieht er von dieser wie von jeder anderen Charaktereigenschaft des Sprechenden beim Auffassen des Inhaltes der Mitteilung ab. Die Wirkung dieser Stimmung auf den Hörer bleibt nur eine stilistische. Für die Poesie und Literatur ist es von großer Wichtigkeit diese individuellen Stimmungen der literarischen Persönlichkeit zu kennen, ebenso werden die Urteile des Menschen nach Wert und Unwert erst aus dieser Quelle voll verstanden und gewürdigt, denn der Melancholiker wird in seinem Urteil leicht pessimistisch, und er sieht Galle, wo das heitere Gemüt Honig zu schmecken glaubt, er sieht Verwesung, wo ein Anderer heiter blühendes Leben erblickt. Und somit geben diese festen Stimmungen ein nicht unwesentliches Material expositioneller Elemente, - doch für das Wortverständnis der lebendigen Rede ist diese Seite des physischen Lebens ohne tiefere Bedeutung.

Wir sprachen von der Situation der fest gewordenen Interessen, doch nicht bloß einzelne Stände oder Klassen innerhalb einer Volksgemeinschaft, nicht bloß einzelne Familien und Individuen haben solche gemeinsame Interessen, auch ganzen Völkern, ganzen Zeiten und Kulturepochen sind derartige feste Interessen gemeinsam. In diesem Fall pflegt man von den herrschenden Ideen einer Zeit zu reden. Man denke z. B. in Berlin hätte man Freiheit gerufen im Jahr 1809, würde das Volk bei diesem Ausruf dieselben Vorstellungen gehabt haben als das Pariser Volk in den Jahren der großen Revolution der Preuße würde die Befreiung von der Fremdherrschaft, der Franzose die spezifisch politische Freiheit und Gleichheit im inneren Staatsleben verstanden haben. Im heutigen Paris würde der Ruf revanche vermutlich eine ganz bestimmte Deutung finden, es würde als Aufruf zum Rachekrieg gegen uns empfunden werden. Welcher Vorstellungsinhalt verbindet sich dem modernen Franzosen mit dem Wort Prussien und welcher Inhalt dem Preußen, wenn er stolz bekennt: "Ich bin ein Preuße!" - was dachte der Römer des goldenen Zeitalters bei Graecus oder Graeculus, und was wird der beim Namen der Perser vorgestellt haben, der bei Salamis mitgekämpft hat?

Sprachlichen und literarischen Äußerunngen einer Zeit, ihren Dichtungen und Schriftwerken merkt man sofort an, daß eine Menge von Expositionselementen unausgesprochen bleiben, die wir aussprechen würden. Wir denken und fühlen anders als jene Menschen, das Ganze hat für uns etwas Fremdes, die unausgesprochenen Expositionselemente kann man auch die Vorurteile der Zeit nennen. Wenn Brunhild in den Edda-Dichtungen den Sigurd zu morden sucht aus unbezwingbarer Liebe, so ist uns die Voraussetzung der Frau nicht unmittelbar bewußt, die Voraussetzung, daß sie im Jenseits mit ihm vereint zu sein hofft. Wenn dasselbe gewaltige Weib ihr Dienstgesinde durch Geschenke zu bestimmen sucht, ihr freiwillig in den Tod zu folgen, so ist das für uns unverständlich, wir kennen nicht den Wunsch jener altgermanischen Zeit, geschmückt und geehrt ins Jenseits einzugehen. Die Edda-Dichtung verliert kein Wort zur Exposition, nur aus einer nachträglichen Vorstellung der Brunhilde läßt sich die Anschauung erschließen. Man denke, ein moderner Dichter wollte diese Tatsachen für moderne Leser gestalten, er würde sicher entweder episch oder dramatisch die leitenden Ideen und bestimmenden Vorurteile jener Zeit zu exponieren bestrebt sein. Die Zeit selbst ist sich einig über diese Anschauungen und verliert darüber kein Wort.

Da die ganze Art die Welt zu denken und aufzufassen von solchen Ideen bestimmt ist, die Beurteilung der ethischen Werte, die Anschauungen vom Zusammenhang der Dinge unter sich, mit dem Menschen und mit Gott, die Anschauungen von den Kräften des Lebens und der Welt, die Anschauungen von den Pflichten des Menschen gegen sich, gegen Andere und gegen die Gottheit, - so nennt man diese Situation auch die Weltanschauung des Menschen oder der Zeit und Teile dieses Weltbewußtseins das religiöse und sittliche Bewußtsein. Wie verschieden diese Weltanschauung in den verschiedenen Völkern und Kulturepochen ist, bedarf keiner Ausführung, die literarischen Denkmäler solcher Zeiten und Völker werden uns ja erst verständlich durch ausführliche Kommentare, d. h. Expositionen zu Äußerungen, welche jenen Zeiten ohne diese Expositionen zu Äußerungen, welche jenen Zeiten ohne diese Expositionen verständlich waren. Beginnt HORAZ das achte Lied im dritten Buch:
    Martiis caelebs quid agam Kalendis,
    Quid velint flores et acerra turis
    Plena miraris positusque carbo in
    Cespite vivo -
    [Was ich da treibe, unbeweibt, wie ich nun einmal bin,
    am ersten März?
    Was die Blumen sollen und das Kästchen voll
    Weihrauch und die Kohle auf grünem Rasenaltar?
    Da bist du verwundert ...]
so war dem religiösen Bewußtsein der damaligen Zeit sofort mit dem ersten März die Feier der Matronalien gegeben, die Personen, welche dieses Fest feierten, seine Kultusform und vielleicht die religiöse Bedeutung und damit das Staunen des Mäzen [Förderer der Künste - wp] verständlich. Wir müssen uns erst mühsam aus anderen Notizen diese Tatsachen zusammensuchen, um zu verstehen, warum MAECENAS sich über des HORAZ' Festfeier wundern soll.

Sprach der Römer sein pluit aus, so gibt er keine Situation keine Exposition, es versteht sich ihm von selbst, daß der Regengott der Jupiter Pluvius den Regen bringt, bedeutet uns das expositionslose "es regnet" dasselbe?

Hieran schließt sich von selbst, daß die kulturellen Differenzen der verschiedenen Völker und Zeiten bedeutende Differenzen in der Exposition hervorbringen müssen. Sagen wir heute: "Er nahm das Holz um Feuer zu machen", so wird ein Jeder darunter Holz verstehen, das durch vorhandenes Feuer oder durch Zündmasse erzeugtes Feuer in Brand gesteckt werden soll. Würde auch der Kulturmensch diese Vorstellung damit verbinden, welcher das Entzünden des Feuers nur durch die Reibung von Hölzern kennt? Würde dieser die Äußerung Stahl und Stein verstehen? Diese Situation nennen wir die Kultursituation.

Erst durch den Vergleich unserer Weltanschauung und unseres Kulturzustandes mit anderen kommen wir zur Empfindung und zum Bewußtsein, was wir beim Sprechen mit Genossen derselben Weltanschauung und derselben Kultur voraussetzen und ohne Exposition lassen. Der gesamte Inhalt der Worte von allen Tätigkeiten, Lebensformen und Werkzeugen, also den Dingen, die jenem Wandel unterstehen, ist bedingt von diesen Voraussetzungen der Weltanschauung und des Kulturlebens.

Das soll genügen, um eine Vorstellung vom Vorstellungsmaterial zu geben, das ich die Situation genannt habe.

VII. Je klarer und vollständiger die Situation durch die Anschauung gegeben ist, umso weniger sprachlicher Mittel bedarf es. Also die sprachliche Äußerung, welche auf eine gegenwärtige Anschauung gerichtet ist, wird am knappsten gehalten werden können. Unter den poetischen Kunstgattungen bedarf das auf der Bühne gespielte Drama der wenigsten Worte, der Pantomimus kommt sogar ohne sprachliche Mittel aus. So fallen bei der Darstellung auf der Bühne alle Bühnenbemerkungen des Schauspielers fort, denn das Ensemble der Szene stellt die in diesen Bemerkungen angegebenen Tatsachen und Verhältnisse eben direkt und körperlich dar. Wie einfach wird durch dieses Ensemble der Bühne das Verständnis der Worte z. B. im Anfang des Egmont:
    Soest: "Nun schießt nur hin, daß es alle wird! Ihr nehmt mir's doch nicht! Drei Ringe schwarz, die habt ihr eure Tage nicht geschossen. Und so wär' ich für dies Jahr Meister. -
Wie wäre man ohne die Anschauung der Gruppen auf der Bühne imstande zu erschließen, daß ein Armbrustschießen stattfindet, daß Soest ein Krämer oder zumindest ein Bürger, daß Jetter, an den er jene Worte richtet, gleichfalls ein Bürger ist? Wer würde wissen, daß während dieser Worte auch Soldaten anwesend sind? Wer könnte auch nur ungefähr die Zeit der Handlung erraten, oder den Ort, ob die Handlung im Wald, im Dorf, in der Stadt etc. stattfindet? Der Dramatiker also benutzt als ein sehr wesentliches Expositionselement die lebendige, gegenwärtige Anschauung. Wie langer Expositionen würde ein Roman bedürfen, der die eben berührte Situation wählen würde? Der Roman und überhaupt die Erzählung braucht die meisten Worte, weil er die meisten expositionellen Mitteilungen zu machen hat.

Die Situation wird undurchsichtiger
    1) je weiter und mannigfaltiger die Zahl der umgebenden Personen und mannigfaltiger die Zahl der umgebenden Personen und Gegenstände ist. Hier kann vielfach der Hinweis der Hand noch aushelfen. Aber die einzelnen Vorgänge bei den einzelnen Personen können nicht mehr mit gleicher Vollständigkeit beachtet werden. In einem großen und gefüllten Weinhaus würde es sehr zweifelhaft werden, ob ein am fernen Tisch gehörter Ruf vortrefflich sich auf den Wein, auf eine Speise, auf eine Anekdote, einen Vorschlag oder sonst was bezieht. Undurchsichtig wird

    2) ferner die Situation, wenn eine räumliche Trennung stattfindet:
      a) zwischen den Personen, die miteinander sprechen;
      b) zwischen der sprechenden und hörenden Person einerseits und den Personen und Dingen, von denen sie sprechen, andererseits.

    Also weniger deutlich und umständlich ist die Mitteilung in einem Brief als die mündliche Besprechung über ein gegenwärtiges Anschauungsbild und ebenso eine Mitteilung über eine Landschaft Indiens in Europa als an Ort und Stelle. - Undurchsichtig wird die Situation

    3) ferner durch die zeitliche Trennung vom Objekt der Mitteilung, dies ist der Fall, den ich beim Egmont berührt habe. Soll der Romandichter uns in ferne Zeiten z. B. der ägyptischen oder griechischen Geschichte führen, so empfindet er eine viel größere Schwierigkeit der Exposition als wenn er uns wie Spielhagen in das moderne Leben einer deutschen Stadt versetzt. Schwieriger wird nun

    4) schließlich die Exposition, je größer der Kreis der angeredeten Personen ist. Ein Dichter, der sich an eine ganze Nation wendet, oder an die gesamte gebildete Welt, kann nicht auf eine Situation rechnen, welche durch festgewordene Interessen geschaffen wird und nicht auf die Beihilfe zur Exposition, wie sie der Handwerker bei seinen Zunftgenossen findet oder das Kind im Schoß seiner Familie, wo der Vater eben sein Vater, Karl sein Bruder, der Schrank ein ganz bestimmter Schrank ist usw.
Je verschiedenartiger die Interessen der angeredeten Personen, umso größere Anforderungen werden an die sprachliche Exposition gestellt. Und je höher die Individualität innerhalb einer Sprachgemeinschaft entwickelt ist, umso mannigfacher sind die Interessenkräfte, umso höher wachsen die Anforderungen an die Exposition. Man vergegenwärtige sich den tausend und abertausenden Individualitäten der modernen gebildeten Gesellschaft eines Volkes gegenüber die enge Welt der Kinderstube, von deren leicht verständlichem Stammeln wir ausgegangen sind, oder den engbegrenzten Horizont und die Gleichheit und Konstanz der Beschäftigungen und der Lebensweise bei einem kleinen Stamm von Wilden. - Hierauf beruth zum guten Teil das Gesetz, daß die räumliche Trennung oder Verschiedenheit in der Lebensweise bei ursprünglich eng verbundenen Teilen derselben Sprachgenossenschaft schnell Verschiedenheiten, allerdings nicht sowohl in der lautlichen Form, als in der Ausdrucksweise herbeiführen.
LITERATUR - Philipp Wegener, Über die Grundfragen des Sprachlebens, Halle/Saale 1885
    Anmerkungen
    1) Vgl. Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, Bd. 1, Seite 108f.